Die Rolle der Medien für eine europäische Öffentlichkeit


Diplomarbeit, 2003

105 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Europa – Traum und Wirklichkeit
2.1 Versuch einer Abgrenzung
2.2 Die Europäische Union als Staatengebilde
2.3 Chancen einer europäischen Identität

3 Eine Identität für Europa
3.1 (Europäische) Identität schaffen
3.2 Identität und Integration
3.2.1 Identität.
3.2.2 Integrationstheorien
3.2.3 Integration als Prozess – spezifische Probleme in Europa
Exkurs 1: Systemtheorie

4 Öffentlichkeit und Kommunikation
4.1 Der Begriff der Öffentlichkeit
4.2 Die Aufgaben von Öffentlichkeit für eine Demokratie
4.3 Die Funktionalität von Öffentlichkeit
4.4 Kommunikation und Medien
4.5 Wege in eine europäische Öffentlichkeit
4.6 Öffentlichkeit in Europa heute – Probleme und erste Erfolge
Exkurs 2: Medien in Europa
Mediensysteme.
Kommunikationsraum Europa
Medienmarkt Europa
Trends auf dem europäischen Medienmarkt.

5 Medienpolitik in Europa
5.1 Skizzierung
5.2 Kritische Würdigung
5.3 Plädoyer für öffentlich-rechtliche Sender.
5.4 Nutzung der Verstärkerfunktion der Medien
5.5 Subventionen für das kulturelle Überleben Europas

6 Die Zukunft einer europäischen Öffentlichkeit.
6.1 Öffentlichkeit für Europa – die Utopie einer Arena.
6.2 Ausblick/Rahmenbedingungen.

7 Fazit: Der Beitrag der Medien zur Europäischen Öffentlichkeit

Bibliografie

Anhang

Tabellen und Schaubilder

1. Abgrenzung Europas

2. Legitimität eines Regierungssystems

3. Integrationstheorien

4. Strukturell-funktionaler und funktional-struktureller Ansatz in der Systemtheorie

5. Ebenen von Öffentlichkeit

6. Politisches Beziehungsdreieck

7. Aufgaben der Öffentlichkeit

8. Formierungsmöglichkeiten europäischer Öffentlichkeit

9. Theorien zur Klassifikation von Mediensystemen

10. Trends auf dem europäischen Medienmarkt

1. Einleitung

Italiener essen nur Pizza und Spaghetti. Alle Schwedinnen sind hübsch; und in Deutschland hört man ausschließlich Volksmusik. Klischees, die sich ganz sicher nicht belegen lassen, die aber trotzdem klare Bilder der verschiedenen Nationen malen. Was aber macht Europa zu mehr als nur der Summe seiner nationalstaatlichen Teile? Was macht ihn aus, den Europäer – nicht nur kulinarisch, ästhetisch oder musikalisch? Politisch und auch rechtlich wächst Europa in der Europäischen Union immer mehr zusammen. Der Europakonvent schuf den Entwurf einer gemeinsamen Verfassung, der rein gesetzliche Weg zu einer immer engeren Verknüpfung innerhalb der Grenzen der europäischen Union ist beschritten. Eine europäische Kultur jedoch, die über den gemeinsamen christlichen Glauben, der Europa noch immer zumindest grob definiert, hinausgeht, gibt es nicht. Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit nicht nur die Politiker, sondern auch die Bürger der Union sich als ein großes Ganzes fühlen? Diese Frage und die Rolle der Medien bei einer Entwicklung hin zu der Utopie eines vereinigten Europas werden in der vorliegenden Arbeit untersucht.

Soll die Idee Europa nicht stagnieren, ist eine europäische Identität unumgänglich. Nur wenn die Europäer bereit sind, füreinander und für Europa einzustehen, kann das Staatengebilde als Ganzes sprechen. Ohne Identität hat die Europäische Union auf lange Sicht weder politische Handlungsfähigkeit, noch Legitimität, noch die Fähigkeit zur demokratischen Konfliktlösung. Eine Identität bedeutet jedoch nicht den nuancenlosen Europäer; vielmehr sollen kulturelle Unterschiede explizit bestehen bleiben. Dennoch können die Bürger Europas lernen, sich als ein Ganzes zu fühlen, indem sie sich mit der Politik auf einen gemeinsamen Weg zu einem ebenso gemeinsamen Ziel verständigen, das nicht die „Vereinigten Staaten von Europa“ heißen muss, sondern ein bisher gänzlich unbekanntes Format aufweisen kann.

Eine solche Kommunikation sowohl zwischen Politik und Bürgern, als auch unter den Bürgern der verschiedenen Mitgliedstaaten ist nur mit einer funktionierende europäische Öffentlichkeit möglich. Eine Öffentlichkeit, die bisher nicht existiert. Im Dezember 2000 diagnostizierten die Regierungschefs im Vertrag von Nizza zum wiederholten Mal ein Öffentlichkeitsdefizit der Union, das sie in der Zukunft therapieren wollen.[1]

Nach einem näheren Blick auf Europa und seine besonderen Merkmale, sowie einer Erläuterung der Frage, wo uns die Europäische Union letztendlich hinführen soll, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit dem Problem der Identität und Integration. Hier wird sowohl auf die rein theoretischen Grundlagen, als auch auf die europäischen

Spezifika einer Vereinigung verschiedener Identitäten eingegangen. Eine Klärung des Begriffes der Öffentlichkeit und ihrer Aufgaben für eine Demokratie soll Klarheit darüber schaffen, welche Rolle ein öffentlicher – und nicht nur medialer – Diskurs in Europa spielen kann. Um letztendlich die Ausgangsfrage zu beantworten, welchen Beitrag die Medien zu einer solchen Öffentlichkeit und damit auch zu einer Vereinigung Europas leisten können, wird die europäische Medienpolitik näher untersucht. Den Abschluss der Arbeit bildet ein Ausblick auf die Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen, um die Utopie einer europäischen Öffentlichkeit als legitimierende Arena für den europäischen Diskurs und Dialog wahr werden zu lassen.

Der Titel „Die Rolle der Medien für eine europäische Öffentlichkeit“ bezieht sich in der vorgelegten Arbeit auf das Europa innerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Der Begriff Europa wird – in Abgrenzung zur Europäischen Union, die für das gesetzliche Gefüge der Staaten steht – für die Idee, den Gedanken eines vereinten Kontinents verwendet. Im Sprachgebrauch dieser Arbeit wird durchgehend der Ausdruck Europäische Union verwendet. Um Missverständnissen vorzubeugen, wird ungeachtet der zeitlichen Einordnung von der EU gesprochen, anstatt einen Unterschied zwischen Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft zu machen.

2. Europa – Traum und Wirklichkeit

Das Vorhaben, eine Arbeit zu schreiben, die von Europa handelt, stellt die Autorin vor die unumgängliche Frage, was genau der Untersuchungsgegenstand Europa denn eigentlich ist. Unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte, wie etwa Geografie oder Geschichte wird im Folgenden der Versuch einer Abgrenzung Europas vorgenommen werden. Kapitel 2.2 wird den wissenschaftlichen Ansätzen eine ideelle Seite hinzufügen und sich mit der Frage auseinandersetzen, in welche Richtung Europa sich in der Zukunft entwickeln soll.

2.1 Versuch einer Abgrenzung

Europa ist etwas Gewachsenes, eine Idee, aber auch ein rein geografischer Raum. Allerdings keiner, der sich so leicht abgrenzen ließe. Weder Geografen, noch Historiker sind sich einig, was Europa, eines der Schlagworte unserer Zeit, eigentlich ist, wann und wo es beginnt und endet, und welche Richtung es einschlagen wird. Hans J. Kleinsteuber und Torsten Rossmann gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie zeigen nicht nur die Schwierigkeit auf, Europa geografisch und historisch abzugrenzen, sondern definieren es gar über die spirituelle, ideologische, von Menschen in deren Köpfen geschaffene Identität, statt über den rein materiellen Gedanken.[2] Ein politisches Gebilde wie das neue Europa, die sich formende und ständig wachsende Union, hat es noch nicht gegeben. Fest steht, dass Europa eine fällige Alternative zum überholten Modell des Nationalstaats darstellt, dessen Grenzen in der verschärften Nord-Süd-Problematik, den daraus folgenden supranationalen Zusammenschlüssen sowie globalen ökologischen Krisen und neuer Migration deutlich werden.[3] Die Europäische Union wirft Fragen auf, die so bisher noch nicht gestellt wurden und werden mussten. Demos und Ethnos, die bisher nur zusammen existierten, werden in ihr voneinander gelöst. Die EU ist ein Demos mit vielen Demoi.

„Die Problemdiagnose veränderter Staatlichkeit ist relativ einfach: Die – historisch zumindest annäherungsweise gegebene – territoriale Kongruenz von politischer Herrschaft, Wirtschaftsorganisation, rechtlicher Verfassung und gesellschaftlicher Selbstdefinition, die das Modell des Nationalstaats ausmacht, löst sich langsam auf“[4],

schreiben Markus Jachtenfuchs und Beate Kohler-Koch 1996 und bringen das Problem damit auf den Punkt: Es ist klar, dass neue Ansätze nötig sind, um mit dem Forschungsgegenstand unseres heutigen Europas umgehen zu können. Wo aber diese neuen Definitionsansätze liegen könnten, bleibt relativ unklar.

Einen Versuch, Europa an greifbaren Merkmalen zu erfassen, unternahm Wolfgang Settekorn im Jahr 2000 über den Ansatz der Inklusion und Exklusion. Auf verschiedenen Ebenen fragte er sich, welche Gemeinsamkeiten die Länder innerhalb Europas haben und welche Unterschiede sie gegen andere Staaten abgrenzen.[5]

Geografisch reicht Europa vom Atlantik im Westen bis zum Ural im Osten. Diese natürlichen Grenzen bleiben zwar auch in Zukunft bestehen; sie haben aber keinerlei Einfluss auf das tägliche Leben der Menschen innerhalb dieser Gemarkung.

Die politisch-geografischen, die Staatsgrenzen, decken sich nicht mit eben jenen rein geografischen Grenzen, liegt doch etwa das Uralgebirge inmitten des Staates Russland. Die Landesgrenzen der EU-Staaten zueinander werden mit Schengener Abkommen und gemeinsamem Binnenmarkt immer unwichtiger, während es die Außengrenzen der Union sind, die an Bedeutung zunehmen.

Die historische Abgrenzung Europas gegen andere Kontinente war schon immer durch Zuwachs gezeichnet und befindet sich noch heute in einem steten Wandel. Europa ist auf Wachstumskurs.

Religiöse Grenzen eines Landes, in Europa der gemeinsame, weit verbreitete Glaube des Christentums, haben immer weniger Geltung. Zum Einen, da Religion in der westlichen Welt eine immer kleinere Rolle spielt. Kreuzzüge finden nicht mehr statt, und Terroranschläge aus Glaubensgründen gehören eher nach Israel und Palästina als nach Europa. Irland gehört trotz religiösem Fanatismus ins christliche Glaubensgebiet. Zum anderen aber auch, da die EU-Osterweiterung vor allem in Richtung der Türkei dem Islam Zugang zu der Gemeinschaft Europas gewährt, was das Christentum als denkbare Abgrenzung Europas ausschließt. Eben diese Tatsache wird viel diskutiert, weil ein Zugang des Islams zum christlichen Europa Grenzen verschiebt und alte Definitionen aufweicht.

Ein kulturell-summativer Ansatz, der die europäische Kultur gegen andere abgrenzt, ist in einer Welt der Globalisierung prekär. Zunehmende Amerikanisierung und eine Vermischung der vielseitigen Kulturen innerhalb Europas lassen Grenzen nur schwer erkennen.

Ähnlich ist es mit dem Versuch, linguistische Grenzen zu ziehen. Europa spricht nicht eine, sondern zur Zeit elf Sprachen; nach der nächsten Beitrittswelle im Jahr 2004 werden es 21 sein. Eben diese europäischen Sprachen werden aber auch in anderen Gebieten der Erde gesprochen, so ist Südamerika größtenteils spanischsprachig; in Nordamerika und Australien wird Englisch gesprochen. Große Sprachenvielfalt innerhalb und teils geringe Unterschiede zu den Sprachen außerhalb der Europäischen Union widersprechen der Idee, Europa über seine Mundart zu definieren. Zwar bildet sich nach dem Französischen nach und nach das Englische als Verkehrssprache der Union heraus; diese Entwicklung ist aber nicht nur europäisch, sondern global erkennbar.

Die einflussreichsten Faktoren auf das Leben in Europa sind sicherlich der politisch-institutionelle, der mediale und vor allem der ökonomische Rahmen.

Mit den europäischen Institutionen, etwa der Kommission, dem Parlament oder dem Rat, hat die Europäische Union einen gemeinsamen politisch-institutionellen Rahmen und wird zum „post-modernen“, „mehr-dimensionalen“ politischen System, „das durch eine Intensivierung der Zeit-Raum-Kompression geformt wird, die für die heutige Globalisierung/ Post-Modernität charakteristisch ist.“[6] In diesem Zitat des Politikwissenschaftlers Stephen Gill, der sich hauptsächlich mit internationaler politischer Ökonomie beschäftigt, wird deutlich, dass jegliche Beobachtung Europas zwar dazu dienen kann, es gegen andere Staaten, Kontinente oder Staatenbunde abzugrenzen, dass Europa aber nie unabhängig von seiner Umwelt und den weltweiten Trends betrachtet werden kann.

Patrick Ziltener, Schweizer Soziologe, bezeichnet das Staatengebilde der Europäischen Union als „stronger than a mere international organization, weaker than a state“, „less than a federation, more than a regime“, „patchwork of regimes or political systems“ und „government without statehood“[7] – ein Netzwerk aus politischen, sowie gänzlich unpolitischen Institutionen und Organisationen, die über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg agieren.

Ein medialer Rahmen Europas ist auch nur schwer abzustecken, besteht zumindest das Programm der Fernsehsender doch zu einem großen Teil aus amerikanischen Produktionen, zum anderen aus nationalen Eigenproduktionen. Fest steht aber für das Teilsystem der Massenmedien, dass es sich der Aufgabe widmen muss, die Bürger – hauptsächlich national – zu informieren und zu orientieren, so wie das politische Subsystem Entscheidungen treffen und umsetzen muss, damit das System Europäische Union funktioniert.[8]

Ökonomisch vereint sich die Europäische Union in einem gemeinsamen Binnenmarkt, der die Waren aus anderen Ländern durch Zölle und Einfuhrbestimmungen aus- oder zumindest preislich abgrenzt. Auch dieser Binnenmarkt ist jedoch in eine globale Entwicklung eingebettet. „Die ganze Welt bildet jetzt ein einheitliches, auf wirtschaftliches Wachstum nach westlichem Muster ausgerichtetes System.“[9]

Versuch einer Abgrenzung Europas

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1 – Abgrenzung Europas

Quelle: Settekorn in Faulstich: Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung, S.24

Auch wenn eine solche Abgrenzung auf rein theoretischer Ebene trotz erster Unklarheiten möglich ist, ist es eine andere Ebene, die betrachtet werden muss, soll die Frage der weiteren Entwicklung der Europäischen Union, speziell der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, untersucht werden. Europa ist nicht nur ein Gebilde mit geografischen Grenzen, einer teils gemeinsamen Politik oder mit gemeinsamen sportlichen Wettkämpfen. Europa ist vor allem etwas Gewachsenes, vielleicht ein Traum, eine Utopie. Die Idee eines gemeinsamen starken Europas, als Gegengewicht zur Weltmacht USA oder als Zusammenhalt der alten Welt, ein Europa, das irgendwann einmal mit den dann stark erweiterten Grenzen der Europäischen Union konform gehen soll, ist nicht zu erklären durch die Ostgrenze im Ural oder den Atlantik im Westen. Die Idee Europa gründet sich nicht auf den gemeinsamen Binnenmarkt oder den vorherrschenden christlichen Glauben. „Europa ist, historisch gesehen, nicht von den Territorialherren und ihrer nationalstaatlichen Enge begründet worden, sondern ist ihnen zum Trotz in den Köpfen der miteinander kommunizierenden Bürger entstanden.“[10]

Im Verlauf dieser Arbeit wird das Augenmerk nun auf Europa innerhalb der Grenzen der Europäischen Union liegen. Nur dieses Gebilde hat gemeinsame Regeln und Gesetze, arbeitet auf einem Binnenmarkt zusammen und verständigt sich über gemeinsame Ziele. Zwar legt die Europäische Union die Regeln für Medien und Kommunikation in ihrem Rahmen fest; dennoch ist sie als Kommunikationsraum kein starrer Bereich, an dessen Grenzen die Kommunikation abgeschnitten wird. Kommunikationsräume kennen keine Ländergrenzen; Satellitenfernsehen ist auf der ganzen Welt zu empfangen, und selbst der Kernbereich der Europäischen Union unterliegt einem ständigen Wandel durch immer neue Erweiterungsverhandlungen und Beitritte neuer Länder. Im Folgenden wird nun von Europa gesprochen werden. Gemeint sind damit die Mitgliedstaaten der Union, aber auch all jene Länder und Individuen, die sich an der Kommunikation der Europäischen Union – aktiv oder passiv – beteiligen, also all diejenigen, die auf Hörfunk und Fernsehen der EU-Mitgliedstaaten zugreifen.

Gerade diese über die Grenzen der Union hinausgehende Kommunikation hilft dabei, Europa zu definieren und gegen den Rest der Welt, gegen alles, was Nicht-Europa ist, abzugrenzen.

2.2 Die Europäische Union als Staatengebilde

Josep R. Llobera stellt in seinem Aufsatz The Role of the State and the Nation in Europe die entscheidende Frage: Was ist es, dieses Europa, dem wir mit der Gründung und ständigen Erweiterung der Europäischen Union näherzurücken versuchen? “After all, what is Europe? A unique civilizational area or just a geographic denomination? An entity of the past, of the present or of the future or maybe just a utopia?”[11] Auf welchem Weg befinden wir uns, und welchem Traum laufen wir entgegen – oder nach? Mut zur Utopie, das ist es, was die Idee, den immateriellen Gedanken hinter allen Entwicklungen vorantreibt. Die Gestalt, die die Europäische Union heute hat, gleicht einem Staat, obwohl sie ein Staatengebilde ist. Der Staat zeichnet sich nach Demirovic durch autonomes und souveränes Handeln nach innen und außen, geltende Gesetze, die durch die Justiz geschützt werden, ein Finanzapparat und eine staatliche Polizei aus. Aus diesem Blickwinkel beurteilt er die Europäische Union wie folgt:

„Die Europäische Union handelt bislang nach außen nicht souverän, aber sie entwickelt eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die vielfach mit der NATO verzahnt ist. Die polizeiliche Zusammenarbeit wird koordiniert, es entstehen gemeinsame Polizei- und Militäreinheiten. Der Europäische Gerichtshof fällt in zahlreichen Rechtsmaterien Entscheidungen, die für die Nationalstaaten verpflichtend sind. Auch im Fall der Rechtssprechung kommt es zu einer Verschränkung mit internationalisierten Formen der Rechtsfindung. Die EU hat seit langem Wirtschaftsapparate als Kerninstitutionen aufgebaut, eine eigenständige europäische Statistik dient der Selbstbeobachtung Europas als zusammenhängender Gesellschaft.“[12]

Llobera definiert den Staat als ein abstraktes Konstrukt[13], Anthony D. Smith als eine Konstruktion aus Institutionen und Gesetzen.[14] Dagegen ist die Nation eine Einheit, die nicht nur durch Regeln und Recht zusammengehalten wird, sondern eine kulturelle, eine soziale Verbundenheit spürt.[15] Die Nation ist „an object of love, attachment, devotion and even passion, and for which one is prepared to make the most harrowing sacrifices [...] and commit the most horrendous of crimes […]”[16] Aus dem Staat oder Staatenbund Europa als der Europäischen Union soll eine Nation werden. Zu Form und Stärke dieser Nation gibt es noch keine konkreten Pläne. Europas Väter, Vorreiter der EU, wollten die „Vereinigten Staaten von Europa“[17] ; heute gehen die Bemühungen eher hin zu einem Bund einzelner, autonomer Nationalstaaten.[18] Welcher Rahmen letztendlich aber auch gewählt werden wird, fest steht, dass ein Gemeinschaftsgefühl der Europäer geschaffen werden muss: „There is an urgent need to build a European consciousness, to create a sense of community which can safeguard and nourish the basic elements of European culture”[19], schreibt Erik Holm.

Aus der Europäischen Union eine Europäische Gemeinschaft zu machen, die ihrem Namen auch gerecht wird, in der die Bürger den Gedanken der Einheit unterstützen und sich selbst als Teil des Ganzen fühlen, ist aus zahlreichen Gründen wünschenswert. Allen voran ist sicherlich die Legitimität eines Regierungssystems zu nennen. Christoph O. Meyer schreibt dazu: „[P]olitische Macht [kann] nicht als eine permanente, unabhängige Größe betrachtet werden, sondern ist davon abhängig, inwieweit die von Regierungsentscheidungen Betroffenen die Ausübung dieser Macht mittragen, billigen oder zumindest tolerieren.“[20] Nach Meyer legitimiert sich eine Regierung – und das gilt für die Europäische Union ebenso wie für Nationalstaaten – über drei Hauptfaktoren: Input-, Output- und kommunitäre Legitimation.

Legitimität eines Regierungssystems

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2 – Legitimität eines Regierungssystems

Quelle: Meyer: Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortung, S.41

Die Input-Legitimation der Europäischen Union ist zumindest ansatzweise durch Europawahlen gegeben, die alle fünf Jahre stattfinden. Über die europäische Verfassung, über deren Inhalt der Europa-Konvent[21] bis zum Frühsommer 2003 beriet, soll eventuell durch ein Referendum abgestimmt werden. Dennoch partizipiert der einzelne Bürger relativ wenig an der EU-Politik. Das gewählte Parlament hat nur eingeschränkte Entscheidungsgewalt; die Kommission wird von den Nationalstaaten berufen.

Die Output-Legitimation der Europäischen Union steckt noch sehr viel mehr in den Kinderschuhen. Gesundheitssystem und Arbeitslosenhilfe liegen in der Verantwortung der einzelnen Nationalstaaten und werden dort auch in Zukunft verbleiben. Zusammenschlüsse wie Europol[22] schlagen aber den Weg hin zu einer europäischen Output-Legitimation ein.

Die kommunitäre Legitimation der gesamten Union gestaltet sich deshalb am schwersten, weil sie nicht nur aus politischen oder wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besteht – diese sind etwa durch den gemeinsamen Binnenmarkt geschaffen – sondern zu einem großen Teil auf den Emotionen der Bürger beruht. Weder eine soziale Homogenität, noch ein gemeinsames Gefühl für Tradition oder Risiko existieren in Europa – diese Themen sind noch immer staatenbezogen. Input- und Output-Legitimation, in seinem Falle bezeichnet durch die Teilnahme an Entscheidungsprozessen als politische und den Wohlfahrtsstaat als soziale Absicherung der Demokratie, definiert auch Klaus Eder als zwei zentrale Fragen oder Bedingungen für die viel beschworene „citizenship“, das Bürgergefühl in der Union.[23]

“Eine demokratische Selbstbestimmung kann erst zustande kommen, wenn sich das Staatsvolk in eine Nation von Staatsbürgern verwandelt, die ihre politischen Geschicke selbst in die Hand nehmen. Die politische Mobilisierung der ‚Untertanen’ erfordert jedoch eine kulturelle Integration der zunächst zusammengewürfelten Bevölkerung.“[24]

Erst das Gefühl, eine Nation zu sein, kreiert Solidarität und die Bereitschaft zu „Opfern“ für die Gemeinschaft; so zum Beispiel Wehrdienst oder Länderfinanzausgleich.[25] „Die bislang auf den Nationalstaat beschränkte staatsbürgerliche Solidarität muß sich auf die Bürger der Union derart ausdehnen, dass beispielsweise Schweden und Portugiesen bereit sind, füreinander einzustehen.“[26] Europa ist laut Klaus Eder demnach auf der Suche nach funktionalen Äquivalenten zu den bisher im Nationalstaat gegebenen Formen der Koppelung von rein geografischem Territorium, politischem Wirkungskreis der jeweiligen Regierung und einem Staatsvolk. Hierzu sei, so Eder, eine gut organisierte Institutionenlandschaft für Gesamteuropa nötig.[27] Europäisierung kann aber nicht mehr nur Institutionen-Bildung bedeuten, sondern muss die Grenzen der Nationalstaaten aufheben und neue Grenzen Europas gegenüber anderen Regionen der Weltgesellschaft schaffen.[28] Richard Münch spricht von einem „simplen Freund-Feind-Schema“ als Voraussetzung einer gemeinsamen Identität.[29] Hierbei kann es nicht darum gehen, Europa zu homogenisieren oder einfach all seine vielfältigen Teilidentitäten zu addieren. Im Gegenteil: Kleinsteuber und Rossmann bezeichnen das Ganze als mehr als nur die Summe seiner Teilchen. Ein Ganzes, in dem heterogene Strukturen insgesamt als schützenswert interpretiert werden.[30] Kollektive Identität ist also nicht gleichzusetzen mit vollkommener Gleichheit aller Mitglieder.

2.3 Chancen einer europäischen Identität

Die Idee Europa findet unter den Bürgern der Union große Zustimmung. 53% der Einwohner der 15 EU-Staaten befürworten die Mitgliedschaft. Dem gegenüber stehen nicht etwa 47% Skeptiker. Nur elf Prozent der Bevölkerung sehen in der Europäischen Union eine „schlechte Sache“; die Übrigen sind indifferent. Angeführt wird die Liste der positiv denkenden Staatsbürger von den Bewohnern Luxemburgs. Nach dem neuesten Eurobarometer befürworten hier 81% der Bevölkerung die EU-Mitgliedschaft. Am skeptischsten sind die Briten mit 32% Befürwortern, denen aber auch 21% Prozent der Bevölkerung gegenüberstehen, die die Mitgliedschaft in der Union ablehnen würden, hätten sie die freie Wahl.[31] Dieses insgesamt recht positive Bild wird relativiert durch die Entwicklung über die Jahre hinweg: Schon 1981 unterstützten 53% der EU-Bürger die Idee eines Zusammenschlusses. Im Jahr 2002 hat sich dieser Wert, nach Schwankungen in beide Richtungen, wieder eingependelt.[32] Bei einer funktionierenden Integration hätte die Zustimmung in über 20 Jahren zunehmen müssen. Gründe für den geringen Erfolg sieht Smith in unüberbrückbaren Defiziten in Europas Vergangenheit: “[…] ‘Europe’ is deficient both as idea and as process. Above all, it lacks a pre-modern past – a ‘pre-history’ which can provide it with emotional sustenance and historical depth. In these terms it singularly fails to combine […] affect with interest.”[33] Diese fehlende gemeinsame Geschichte wird besonders dann deutlich, wenn Traditionen und gemeinsame Erinnerungen eine Rolle spielen.

“The revival of ethnic myths, memories and traditions, both within and outside a globalizing but eclectic culture, reminds us of the fundamentally memoryless nature of any cosmopolitan culture created today. Such a culture must be consciously, even artificially, constructed out of the elements of existing national cultures.”[34]

Eine gemeinsame Nation, ein Wir-Gefühl muss also konstruiert und hart erarbeitet werden. Eine Aufgabe, die schwer zu lösen sein wird, bedenkt man, wie heterogen Europa ist. “Europeans differ among themselves as much as from non-Europeans in respect of language […], territory […], law […], religion […] and economic and political system […] – as well as in terms of ethnicity and culture”[35], schreibt Anthony D. Smith. Eben jene geteilten Traditionen und Werte gilt es zu finden, die Europa trotz fehlender Homogenität vereinen.

“[…I]f ‘Europe’ and ‘European’ signify something more than the sum total of the populations and cultures that happen to inhabit a conventional demarcated geographical space, what exactly are those characteristics and qualities that distinguish Europe from anything or anyone else?”[36]

Sobald diese Gemeinsamkeiten, sozusagen als kleinster gemeinsamer Nenner, gefunden sind, erscheint Smith der Konflikt zwischen Nation, Nationalität und Nationaler Identität nicht mehr gar so unüberbrückbar.

„If we [...] view the nation as a seamless, organic cultural unit, then the contradiction becomes acute. If, on the other hand, we accept a more voluntaristic and pluralistic conception and regard the nation as a rational association of common laws and culture within a defined territory, then the contradiction is minimized.”[37]

Den positiven Werten des Eurobarometers, die eine bejahende Einstellung der Bürger gegenüber der Union konstatieren, stehen bedenkliche Zahlen gegenüber, was die Kenntnis der europäischen Institutionen angeht. Während das Europäische Parlament noch einem Großteil der Bevölkerung ein Begriff ist, kennen den Ausschuss der Regionen oder den Konvent zur Reform der Union nur noch 27 bzw. 28%.[38] Wieder liegt Luxemburg vorne: Der durchschnittliche Bekanntheitsgrad der zehn EU-Institutionen/Organe[39] beträgt hier 71% gegenüber gerade mal 41% beim Schlusslicht Großbritannien.[40] Demnach sind die Europäer einer Vereinigung zwar zugeneigt, beschäftigen sich aber nicht eingehend mit den Rahmenbedingungen, was auf ein eher geringes Interesse an tatsächlicher Mitwirkung schließen lässt.

Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich die Überzeugung, dass die Europäische Union eine gemeinsame Identität braucht, soll sie sich weiterentwickeln und dabei handlungsfähig bleiben. Nur durch „gemeinsame kulturelle Identität und Weltsicht“[41] können Probleme wie zum Beispiel Ökologie angegangen und gelöst werden. Auf dem Gebiet der Umweltverschmutzung kann ein einzelnes Land keine allzu großen Erfolge erzielen. Nur das gemeinsame Wirken, für das kollektive Wertvorstellungen unabdingbar sind, kann effektiv sein. Die Länder Nordeuropas sind viel eher bereit, umweltschonende Gesetze zu verabschieden oder Grenzwerte niedrig zu halten als die südlicheren Staaten, in deren Wertekanon das Gut Umwelt keinen so hohen Stellenwert einnimmt, weil an erster Stelle das Ziel steht, den im Norden bereits existierenden Wohlstand zu schaffen. Wo es auf nationaler Ebene stets oberstes Ziel war, eine Konsensbildung herbeizuführen, muss an europäischer Stelle die Absicht stehen, eine gesamteuropäische Identität herauszubilden.[42] Bei der Schaffung dieser Identität soll es nicht darum gehen, „den Europäer“ zu schaffen, der in Italien nicht vom schwedischen Europäer zu unterscheiden ist. Eine „Nation Europa“, in der die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten eingeebnet werden, ist weder möglich noch wünschenswert.[43] Vielmehr kommt die europäische Identität zu den nationalen Identitäten hinzu, als eine Art übergeordnete Identität. Anthropologen und Soziologen wie Anthony D. Smith von der Universität Cambridge gehen in der Regel ohnehin davon aus, dass die Menschen multiple Identitäten vereinen. Für jedes Individuum ist Identität situationsabhängig. Je nach Aufenthaltsort oder Gesprächsinhalt fühlt ein Mensch sich entweder seinem Geschlecht, seinem Alter, seiner Religion oder eben seiner Nationalität am meisten zugehörig.[44] So fühlen Deutsche und Franzosen sich selten so sehr als Europäer, wie wenn sie geschäftlich mit Japanern verhandeln oder Urlaub in Amerika machen.[45] Um Europäer zu sein, müssen wir also nicht aufhören, Deutscher zu sein; Identitäten sind multipel und konzentrisch; nationale und europäische Identität müssen nicht zwangsweise in einem Konkurrenzverhältnis stehen. „Die europäische Doppel- bzw. Mehrebenen-Identität ist nicht nur ein Artefakt der aktuellen Operationalisierung der Identitätsfrage durch Eurobarometer, sondern ein Stück weit auch eine empirische Realität.“[46] Diese Erkenntnis Kohlis sollte die Herstellung einer europäischen Identität eigentlich erleichtern. Dem Individuum fällt es nicht allzu schwer, seinem Kontingent an Identitäten eine weitere hinzuzufügen. Schwieriger als die Frage, ob eine neue Identität schwierig zu akzeptieren wäre oder gar alte Identitäten auslöschen könnte, ist die Frage, auf welchem Weg sie in das Bewusstsein der Menschen gebracht werden kann. “European identity […] cannot in any case be constructed exclusively from above. Europe will exist as an unquestionable political community only when European identity permeates people’s lives and daily existence.”[47] Für die Herstellung europäischer Identität muss also ein Weg gefunden werden, konstruierte Strukturen in den Köpfen der Menschen zu verankern, indem man sie in den Alltag integriert.

3. Eine Identität für Europa

Erste zaghafte Versuche einer europäischen Identität lassen sich bereits erkennen. So wird beispielsweise der Euro vielerorts nicht nur als Währung, sondern als Zeichen der gemeinsamen Wertegemeinschaft EU, als Bindeglied und Symbol für das Zusammenwachsen Europas, gehandelt. Aber die Europäisierung nimmt auch negative Formen an. So diagnostiziert Eder einen „neue[n] Rassismus, der den Raum Europas vom nicht-europäischen abzugrenzen sucht.“[48]

Eine Gefahr der Europäisierung liegt laut Eder darin, der Versuchung zu erliegen, den Bürger als nicht ganz so wichtig zu erachten. „Die Repräsentation nationaler Regierungen erlaubt es, vom Ideal eines gemeinsamen Volkes abzurücken und an die Stelle von Bürgern Nationen zu setzen.“[49] Politisch und wirtschaftlich schreitet die Integration immer weiter voran, während die Kultur, und somit die Menschen selbst, hinten an stehen. Ergebnis ist ein Flickwerk von Regierungen, Organisationen und ihren Beschlüssen, das zwar institutionell funktioniert, in der Bevölkerung aber keinen ausreichenden Rückhalt genießt. „Die Verdichtung ökonomischen Austausches und die Vereinheitlichung der Rechtsordnung in der europäischen Gemeinschaft findet kein Gegenstück in einer kollektiven Identität der Europäer [...].“[50] Miriam Meckel spricht in diesem Zusammenhang von einem „cultural lag“, einer Verzögerung des kulturellen Aspekts der europäischen Integration.[51] Die Zukunft der Europäischen Union wird das Problem der Integration nicht von selber lösen; es werden im Gegenteil immer mehr Schwierigkeiten auftreten. So befürchtet Peter Graf Kielmannsegg, die Erweiterung der Gemeinschaft habe „zur Folge, daß es immer mehr Mitgliedstaaten gibt, deren Mitgliedschaft ihre Wurzeln nicht mehr in den Gründungsideen, im Gründungsethos der Nachkriegszeit hat, sondern in einem fast ausschließlich ökonomischen Kalkül.“[52] Daraus ergibt sich für Jürgen Habermas ein enormes Identifikationsproblem der Bürger mit Europa. „Wirtschaftliche Erwartungen reichen als Motiv [...] nicht aus, um in der Bevölkerung politische Unterstützung für das risikoreiche Projekt einer Union, die diesen Namen verdiente, zu mobilisieren. Dazu bedarf es gemeinsamer Wertorientierungen.“[53] Auf einer Fachkonferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung zur europäischen Identität sprach die Präsidentin der Europa-Universität Frankfurt/Oder, Gesine Schwan, von einer normativen Wahl der Demokratie, der Individualität und Würde des Menschen als Kern der politischen Identität Europas.[54]

Rhodes und Mazey sehen das Problem in einem sich auflösenden Beweggrund für Europas Zusammenhalt: “[…T]he Cold War fear of Soviet aggression created the impetus for Western European integration […].”[55] Was bis heute zumindest zum Teil noch von der historischen Idee Europas leben konnte, braucht in Zukunft jedoch mehr als nur das – eine gemeinsame Identität, um nicht auseinanderzubrechen. Gerade mit den wirtschaftlich schwächeren Staaten, die mit der nächsten Beitrittswelle Mitglieder der Union werden, wird Solidarität und die Bereitschaft, füreinander einzustehen, immer wichtiger werden. Eine kollektive Identität darf hier nicht nur als Nebenprodukt der Institutionenbildung auf europäischer Ebene abfallen. „Dass Institutionen Identitäten schaffen können, läßt sich zweifelsfrei belegen; die Konstruktion von Institutionen wird jedoch ebenso zweifelsfrei erleichtert, wenn sie sich auf eine schon bestehende kollektive Identität stützen kann“[56], schreibt Martin Kohli. Obwohl eine Identität für Europa also keine zwingende Voraussetzung für die Gründung von überstaatlichen Institutionen ist, brächte sie den Vereinigungsprozess doch erheblich voran.

3.1 (Europäische) Identität schaffen

Die Entwicklung hin zum Binnenmarkt und einem vereinten Europa wirft die Frage auf, ob sich bereits bestehende Kulturidentitäten, an denen nationale Gruppen sich zu orientieren gewöhnt waren, auflösen, und welche neuen Identitäten, etwa eine gesamteuropäische Kulturidentität, ihre Rolle übernehmen können. Das Schaffen einer europäischen Identität ist nicht nur deshalb schwierig, weil die Bürger überzeugt werden müssen, die Anstrengung auf sich zu nehmen, sich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen, während sie eigentlich mit ihrer eigenen zufrieden sind und nicht die Notwendigkeit sehen, sich anderen zu öffnen. Nicht nur der praktische Teil wirft somit Schwierigkeiten auf, sondern schon in der Theorie stößt der Soziologe Smith auf Unebenheiten. Werkzeuge für das Schaffen einer europäischen Identität können nur die nationalen Identitäten selbst sein, die eigentlich überwunden werden sollen.[57] Miriam Meckel zitiert hierzu den Jenaer Soziologen Prof. Dr. Hans-Joachim Giegel und spricht von einem „Konsensparadoxon der Moderne“:

„Für ausgesprochen plurale [...] Gesellschaften stellt sich die Herbeiführung von Konsens deshalb immer problematischer dar, weil einerseits die Notwendigkeit von übergreifendem Konsens eben aus dieser Vielfalt der Lebensformen und -möglichkeiten heraus [...] immer notwendiger, andererseits die Chance auf Konsensbildung aus den gleichen Gründen immer schwieriger wird.“[58]

Es stellt sich also die Frage, wie man Europas Vielfalt kombinieren kann. Jürgen Habermas schrieb dazu in der Wochenzeitung Die Zeit, „[...] die Herausforderung besteh[e] nicht so sehr darin, etwas Neues zu erfinden, sondern darin, die großen Errungenschaften des europäischen Nationalstaates über dessen nationale Grenzen hinaus in einem anderen Format zu bewahren.“[59]

Staatsbürgertum, Integration und Identität haben nach Habermas nicht die Voraussetzung einer gemeinsamen Sprache und Kultur; „das Volk“ ist keine Schicksalsgemeinschaft, sondern etwas explizit Geschaffenes.[60] Wenn die Formation innerhalb der Grenzen Europas jedoch heterogen bleibt, wird es umso wichtiger, das Gefüge nach außen hin abzugrenzen. Bernhard Giesen, Soziologie-Professor an der Universität Konstanz, meint hierzu, kollektive Identität beruhe zu großen Teilen auf der Konstruktion von Differenz und Gleichheit.[61] Der Prozess einer Vergemeinschaftung beinhaltet, die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und vor allem deutlich zu machen, warum andere Gruppen diese nicht teilen. „Constructing boundaries and constructing a basis for trust, solidarity and communal equality are two aspects of such processes. Collective identity is produced by the social construction of boundaries. [T]hey establish a demarcation between inside and outside, strangers and familiars […]”[62], so Shmuel Noah Eisenstadt. Giesen formuliert diese Erkenntnis 1993 wie folgt: „Kollektive Identität ergibt sich nicht aus der zufälligen Gleichheit der Interessen, sondern sie beruht auf der Konstruktion von fundamentalen Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen einer Gemeinschaft der Gleichen und einer Vielfalt von Außenstehenden, Fremden und Andersartigen.”[63]

Dennoch sind Grenzen nach Außen nicht die Patentlösung bei der Schaffung einer gemeinsamen Identität. Giesen selber betont, dass kollektive Identität nicht nur auf Differenzen und Grenzen zwischen Innen und Außen beruhe, sondern auch auf der Überwindung interner Verschiedenartigkeit und der Herstellung von Gleichheit zwischen den Mitgliedern eines Kollektivs.[64] Wie bereits erwähnt, ist europäische Identität heute etwas, das Europäer hauptsächlich außerhalb der Unionsgrenzen - zunächst in interkontinentaler Kommunikation – als einendes Merkmal erfahren. Die Verdichtung der globalen Kommunikation und das zunehmende Maß an interkontinentalen Begegnungen auf Konferenzen und Tagungen, aber auch im Tourismus, werden langfristig zu einer Stärkung der kollektiven Identität der Europäer führen.[65] Neben einer Verstärkung dieses Symptoms durch erweiterte transnationale Beziehungen muss es aber auch Ziel der europäischen Regierung sein, die Gemeinschaft innerhalb der Union spürbar zu machen und in das alltägliche Leben der Europäer zu integrieren.

3.2 Identität und Integration

Das Zusammenwachsen der Bürger Europas hängt eng mit den Begriffen der Identität und der Integration zusammen. Während die einzelnen Nationen bereits prägende Identitäten besitzen, wird zu klären sein, ob und wie eine kollektive Identität für Europa herzustellen ist. Der Weg in diese Richtung führt über das Konzept der Integration verschiedener bereits existenter Identitäten.

3.2.1 Identität

Das Wort Identität hat den gleichen Wortstamm wie das Adjektiv identisch. Bei der Betrachtung der Mitgliedstaaten der Europäischen Union fällt auf den ersten Blick nicht viel Identisches ins Auge.

„Wir fragen [aber] nicht, was etwas Identisches ist, sondern wie das erzeugt wird, was dem Beobachten als Identisches zu Grunde gelegt wird. Damit verschiebt sich der Begriff der Identität in eine Richtung, die heute als ‚konstruktivistisch’ bezeichnet wird. Er bezeichnet nicht mehr die Form, in der Seiendes in Übereinstimmung mit sich selbst existiert, sondern zunächst ‚idealistisch’ eine Leistung der Synthese, von Eindrücken externer Herkunft [...].“[66]

Geschaffen werden muss also eine europäische Identität, die die verschiedenen Systeme interagieren, miteinander kommunizieren lässt und somit den Eindruck von Zusammengehörigkeit weckt. Diesem Prozess kommt zugute, dass der Mensch sich in einem steten Wandel befindet und sich selbst immer neu definiert: „A person is an open system: it is in continuous interaction with its environment through output and input.”[67]

Für eine Identitätsbildung wird also einerseits ein gemeinsames Agieren nach außen, andererseits aber auch innere Homogenisierung[68] durch Interaktion, durch Kommunikation benötigt. Da es in Europa nicht nur um die Identität des Individuums geht, sondern um sogenannte kollektive Identitäten, muss eine klare Definition des Wir, die Europäer stattfinden. Kollektive Identitäten bezeichnen Zugehörigkeitsvorstellungen zu Gruppen, Familien, Schichten, Klassen, Nationen oder ganzen Zivilisationen.[69]

Wie bereits erwähnt, benötigt jedes System Input-Legitimation, also Bürgerbeteiligung, Output-Legitimation, also die „Effektivität und Effizienz von Regierungshandlungen gemessen an gesellschaftlichen Präferenzen und Interessen“ und kommunitäre Legitimation, die als Vorbedingung für die Konstitution politischen Gemeinwesens angesehen werden kann.[70] Wenn alle Teilsysteme des Gesamtsystems, in diesem Fall also alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ähnliche Strukturen aufwiesen, erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit einer gelingenden Kommunikation.[71] Die Heterogenität Europas macht Kommunikation selbst und somit auch die Legitimation der Union durch Kommunikation schwierig. Jürgen Habermas sieht in der demokratischen Organisation der Union das Gerüst für eine funktionierende Gemeinschaft. Lücken der sozialen Integration können im demokratischen Verfassungsstaat demnach durch die politische Partizipation seiner Bürger geschlossen werden.[72]

„Weil der demokratische Prozeß schon dank seiner Verfahrenseigenschaften Legitimität verbürgt, kann er, wenn nötig, in die Lücken sozialer Integration einspringen und im Hinblick auf eine veränderte kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung eine gemeinsame politische Kultur hervorbringen.“[73]

Demokratie alleine wird diese gemeinsame Kultur oder Identität aber nicht schaffen können. Soziale Integration ist der Faktor, der aus einem Staatsvolk eine Nation machen, eine europäische Identität schaffen kann.

3.2.2 Integrationstheorien

Die Integration verschiedener Volksgruppen in eine andere, bereits bestehende, oder die unterschiedlicher Gruppen zu einem neuen Ganzen ist ein eigenes Forschungsfeld. Dennoch sollen hier zumindest die wichtigsten Integrationstheorien kurz skizziert werden, um eine bessere Einordnung der Situation in der Europäischen Union in den wissenschaftlichen Kontext zu ermöglichen.

Im Theorieangebot zur Integration herrscht Pluralität – es gibt keine allgemeingültige Meinung, wie genau Integration abläuft. Dennoch lassen sich drei Hauptströmungen erkennen: Föderalismus, Intergouvernementalismus und Funktionalismus.[74] Allen Theorien ist gemein, dass sie aus der Erkenntnis gelernt haben, welch großes Leid der Nationalstaatsgedanke hervorgebracht hat und dementsprechend nach Wegen zur friedvollen Kooperation suchen.

Der Föderalismus verfolgt ein klares Integrationsziel: die Schaffung eines föderal organisierten, supranationalen Staates mit effektivem Gewaltmonopol, Entscheidungszentrum und Allokation sowie Verteilung von Ressourcen.[75] Integration wird hier als politische Angelegenheit betrachtet und wird deshalb von oben aufoktroyiert. Der Föderalismus folgt dem Prinzip des function follows form, der „machtbetonte[n] Entscheidung durch Setzen einer supranationalen Verfassung.“[76] Nach der Schaffung dieses institutionellen Rahmens, zu dem nicht nur eine Verfassung, sondern auch die Etablierung supranationaler Körperschaften gehört, folgt der zweite Schritt, in dem diese gesteckten Rahmen mit Inhalten und Funktionen gefüllt werden.[77] Der föderalistische Integrationsansatz versucht, Einheit mit Vielfältigkeit zu verbinden[78] und ist der Auffassung, nur so seien Frieden und Sicherheit zu erreichen.[79]

Dem gegenüber steht der Intergouvernementalismus, der den supranationalen Instanzen jegliche gestaltende Rolle abspricht. Dieser Auffassung zufolge wird Integration immer eine rein begrenzte Vereinbarung zwischen souveränen Staaten sein. Jegliche Lösung besteht aus einem Kompromiss, und die Schaffung supranationaler Instanzen hat einzig und allein den Vorteil der Kosten-Reduktion.[80] Nach dem Schweizer Soziologen Ziltener ist Intergouvernementalismus dementsprechend ein „determinierendes Merkmal internationaler Regime“ und dient nicht immer der Vergemeinschaftung.[81]

[...]


[1] vgl. Gerhards, 2002, S.136

[2] vgl. Kleinsteuber/Rossmann, 1994, S.44

[3] vgl. Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig, 2002, S.7f

[4] Jachtenfuchs/Kohler-Koch, 1996, S.34

[5] siehe dazu Tabelle 1, S.6

[6] Gill, 2000, S.24

[7] Ziltener, 2000, S.79

[8] vgl. Meyer, 2002, S.67

[9] Münch, 1993, S.8

[10] Kleinsteuber/Rossmann, 1994, S.51

[11] Llobera, 1993, S.77

[12] Demirovic, 2000, S.63

[13] vgl. Llobera, 1993, S.65

[14] vgl. Smith, 1992, S.61

[15] ebd., S.61

[16] Llobera, 1993, S.65

[17] So sprach Winston Churchill am 19. September 1946 vor der Universität Zürich von den Vereinigten Staaten von Europa, die von den früheren Antagonisten Frankreich und Deutschland angeführt werden sollten.

vgl. hierzu: Nelsen/Stubb, 1994, S.5

[18] vgl. Habermas, 2001, S.7

[19] Holm, 1993, S.IX

[20] Meyer, 2002, S.39

[21] nähere Informationen unter http://european-convention.eu.int

[22] Europol ist eine internationale Organisation, die grenzübergreifende Kriminalität bekämpft und die Polizei der EU-Mitgliedstaaten in ihrer Arbeit unterstützt.

[23] Eder, 2000, S.179

[24] Habermas, 1998, S.99

[25] vgl. ebd., S.100

[26] ebd., S.150

[27] vgl. Eder, 2000, S.168

[28] vgl. ebd., S.167

[29] Münch, 1993, S.16

[30] vgl. Kleinsteuber/Rossmann, 1992, S.10

[31] vgl. Eurobarometer 57, S.22

[32] vgl. ebd., S.21

[33] Smith, 1992, S.62

[34] ebd., S.66

[35] ebd., S.70

[36] Smith, 1992, S.68

[37] ebd., S.56

[38] Eurobarometer 57, S.16

[39] Parlament, Kommission, Zentralbank, Gerichtshof, Ministerrat, Rechnungshof, Bürgerbeauftragte, Wirtschafts- und Sozialausschuß, Reformkonvent und Ausschuß der Regionen

[40] Eurobarometer 57, S.17

[41] Münch, 1993, S.13

[42] vgl. Meckel, 1994, S.22

[43] vgl. Habermas, 1998, S.150

[44] vgl. Smith, 1992, S.59

[45] vgl. Giesen, 1993, S.494

[46] Kohli, 2002, S.125

[47] García, 1993, S.15

[48] Eder, 2000, S.171

[49] ebd., S.175

[50] Giesen, 1993, S.492

[51] vgl. Meckel, 1994, S.174

[52] Kielmannsegg, 1996, S.48

[53] Habermas, 2001, S.7

[54] Berlin, 16.6.2003

[55] Rhodes/Mazey, 1995, S.10

[56] Kohli, 2002, S.117

[57] Smith, 1992, S.67

[58] Meckel, 1994, S.21

[59] Habermas, 2001, S.7

[60] vgl. ebd., S.7

[61] vgl. Giesen, 1993, S.493

[62] Eisenstadt, 1993, S.485

[63] Giesen, 1993, S.492

[64] vgl. Giesen, 1993, S.495

[65] vgl. ebd., S.494

[66] Luhmann, 1990, S.21

[67] www.stephweb.com/capstone/5.htm

[68] vgl. Münch, 1993, S.20

[69] vgl. Kaelble/Kirsch/Schmidt-Gernig, 2002, S.15

[70] vgl. Meyer, 2002, S.40f

[71] vgl. Sievert, 1998, S.69

[72] vgl. Habermas, 1998, S.117

[73] ebd., S.113

[74] siehe dazu Tabelle 3, S.21

[75] vgl. www.europa-reden.de/info/theorie.htm

[76] Kleinsteuber/Rossmann, 1992, S.10

[77] vgl. www.europa-reden.de/info/theorie.htm

[78] vgl. Meckel, 1994, S.26f

[79] vgl. www.europa-reden.de/info/theorie.htm

[80] vgl. www.europa-reden.de/info/theorie.htm

[81] vgl. Ziltener, 2000, S.79

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Die Rolle der Medien für eine europäische Öffentlichkeit
Hochschule
Hochschule Bremen  (Fachbereich Allgemeinwissenschatliche Grundlagenfächer)
Note
1,6
Autor
Jahr
2003
Seiten
105
Katalognummer
V17824
ISBN (eBook)
9783638222983
Dateigröße
1054 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rolle, Medien
Arbeit zitieren
Birte Müller-Heidelberg (Autor:in), 2003, Die Rolle der Medien für eine europäische Öffentlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17824

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