Das Judenspanische im Osmanischen Reich

Soziale Netzwerke und Sprachkontakt in der Diaspora


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2011

48 Seiten


Leseprobe


1. EINLEITUNG

Nachdem die reyes católicos 1492 mit Granada die letzte maurische Bastion auf der Iberischen Halbinsel für das Königreich Kastilien erobert hatten, strebten sie nicht nur die politische sondern auch die religiöse Einheit Spaniens an. Mit einem Vertreibungsedikt stellten sie noch im selben Jahr die spanischen Juden (Sephar-den) vor die Wahl, zum christlichen Glauben zu wechseln oder aber ihren Besitz zu veräußern und das Land zu verlassen. Ein Großteil der Juden, die nicht kon-vertieren wollten und sich daher für die Emigration entschieden, wanderte in der Folgezeit zunächst nach Nordafrika, Portugal, Navarra, Frankreich sowie Italien und fand schließlich auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, im östlichen Mit-telmeer- und Balkanraum, eine neue Heimat. Mit ihrer Ausweisung waren die Se-pharden gezwungen ihre gewohnte Umgebung, die seit der Antike in den spani-schen Städten bestehenden jüdischen Viertel, zu verlassen, um sich auf fremdem Boden neu organisieren und eine neue soziale sowie ökonomische Existenz auf-bauen zu können.

Im Folgenden soll mit umfassendem Bezug auf ausgewählte Werke der Sekun-därliteratur zum Sephardischen diskutiert werden, welche Auswirkungen die Ver-treibung der Juden von der Iberischen Halbinsel auf ihre Sprache, das Juden-spanische (JS), hatte und welche Rolle dabei die Verlagerung der sephardischen Lebenswelt in einen differenten Sprach- und Kulturraum, das Osmanische Reich, gespielt haben könnte.

2. AUSWIRKUNGEN VON MIGRATIONSPROZESSEN AUF DAS SPRACHVER-HALTEN

Der Begriff Migration geht zurück auf lat. migratio („Wanderung“). Gemeint ist damit zunächst einmal eine Bewegung durch Raum und Zeit, wie sie sowohl Tiere als auch Menschen, die über einen entsprechenden Bewegungsapparat verfügen, selbstständig bewerkstelligen können (vgl. Ehlich 1996: 182). Nach Krefeld (2004: 12) stellt die Migration für den Migranten eine grundlegende räumliche Neuorientierung seiner Lebenswelt dar, einschließlich der Sicherung seines Le-bensunterhalts und des sozialen Netzwerks, in dem er sich bewegt. Anhand die- ser Merkmale ist auch schnell eine Definition für den Begriff Migrant gefunden, wie z.B. die folgende:

[Le migrant] vient à designer toute personne plongée dans un milieu géographi-que et linguistique nouveau, quelles que soient les circonstances sociales et la du-rée de ce changement. (Lüdi/Py 2003: 18)

Migranten sind, wie alle Menschen, Teil eines sozialen Netzwerkes, das keine na-türlichen Grenzen aufweist.[1] Sie bewegen sich zumeist innerhalb ihres Freundes- und Bekanntenkreises u. a. als Familienmitglieder, Arbeitnehmer oder Kunden in Läden und verkehren Zeit ihres Lebens mit den verschiedensten Personen: Ver-wandten, Freunden, Nachbarn, Arbeitskollegen, Ladenbesitzern, Vereinsmitglie-dern, Fremden, Bekannten eines Bekannten usw. (vgl. Degenne/Forsé 1999: 19; Lüdi/Py 2003: 47).

Degenne/Forsé (1999: 28/29) sehen eine gute Möglichkeit der Beschreibung so-zialer Netzwerke darin, diese im Rahmen von Verhaltensmustern zu betrachten, wie z.B. ins Kino gehen, Nachbarschaftshilfe, Vereinssitzungen, gesellige Abende, usw. Auch lassen sich so wichtige gesellschaftliche Mechanismen und Faktoren wie Informationsaustausch, Dienstleistungen und Warenverkehr, emotionale Bin-dungen zwischen bestimmten Individuen, der Status einer Person innerhalb einer Gruppe oder auch die Identifikation einzelner Personen mit einer bestimmten Gruppe bzw. ihre Abgrenzung von anderen Gruppen untersuchen.

Krefeld (2004) unternimmt den Versuch, die Theorie der sozialen Netzwerke mit der sprachlichen Wirklichkeit von Einzelindividuen innerhalb einer Gruppe von Sprechern zu verbinden. Zu diesem Zweck führt er den Begriff Glossotop als Grundeinheit des kommunikativen Raumes ein:

Das nicht sprach- sondern sprecher(-gruppen)basierte Konzept fasst die varietä-tengebundenen kommunikativen Gewohnheiten sowohl der Gruppenmitglieder un-tereinander als auch die zwischen Gruppenmitgliedern und eher locker verbunde-nen oder ganz außenstehenden Sprechern zusammen. (Krefeld 2004: 25)

Er unterscheidet dabei drei Typen von Glossotopen: 1) den kommunikativen Nahbereich , Ort der Alltagskommunikation mit vertrauten Personen, und außerhalb davon 2) die areale Umgebung , welche alltägliche Behörden und In-stitutionen wie z.B. Post oder Schule und Einkaufsmöglichkeiten umfasst, sowie 3) das sogenannte Territorium mit alltagsfernen Behörden und Institutionen (vgl. ibd.: 28-32).

Die räumliche Neuorientierung und Verlagerung der kommunikativen Lebenswelt, welche die Migration bewirkt, bezeichnet Krefeld (2004: 23) mit dem Begriff Ex-traterritorialität : die Migranten werden zu Sprechern, die außerhalb des Gel-tungsbereiches (Territorium) ihrer Erstsprache leben. Wenn nun entsprechende Netzwerke, in denen diese allochthone Varietät Verwendung findet, im Gastland fehlen bzw. nicht aufgebaut werden können, gehen die Migranten häufig sehr schnell zum Gebrauch der autochthonen Varietät über (vgl. ibid.: 55).

Beispiele wie China Town und Little Italy in den Großstädten der USA oder auch die türkischen Viertel in deutschen Städten wie Berlin, Hamburg und Köln zeigen jedoch, dass Migrantengruppen mit einer großen Zahl von Mitgliedern in der Lage sind, sich sehr wohl im Gastland als eigenständige Gruppe mit eigener Kultur und Sprache zu etablieren und zu behaupten (vgl. Riehl 2004: 61). Die Stadt als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum einer Region übt seit jeher eine große Anziehungskraft auf Zuwanderer aus. Insbesondere wenn durch immer neue Ein-wanderung der Kontakt mit Sprechern der Ursprungssprache über einen längeren Zeitraum nicht abreißt und die betreffende Migrantengruppe fortwährend neue Mitglieder gewinnt, ist es möglich die allochthone Kultur und Sprache im Gast-land zu erhalten und zu pflegen, wie der Fall der Hispanos in den USA zeigt:

Muchos de los norteamericanos ven el español como un idioma de inmigrantes, el cual desaparecerá de la sociedad siguiendo los pasos de otros grupos inmigrantes [...] que después de tres generaciones han pasado a ser monolingües de inglés [...]. [Admito que] el español sí puede morir a nivel de individuo o de familia, pero no a nivel de sociedad o de región, porque como idioma se ve continuamente re-novado con la llegada de nuevas olas de inmigración hispana. (Ramírez 1992: 182 ff.)

Wo immer Sprecher unterschiedlicher Sprachen aufeinander treffen und in Kon-takt treten, kommt es zu Sprachkontakt :

Contactul [dintre limbi] poate fi pe același teritoriu (considerat contact direct: amestec de populație, conviețuire de durată variată) sau pe teritorii diferite (con-siderat contact indirect: relații culturale, economice și politice). […] Distincția din-tre cele două tipuri de contact între limbi, cauzată de factori extralingvistici […], este foarte importantă fiindcă, în cazul contactului direct, care are ca urmare apa-riția unui stadiu de bilingvism, rezultatele contactului dintre limbi sunt de regulă mult mai importante decât in cel de-al doilea caz. [...] În contactul indirect se ajunge la un contact superficial. (Sala 1997: 31-33)[2]

Lüdi/Py (2003: 28) unterscheiden mehrere Arten von Sprachkontakt bei Migran- ten: 1) möglicherweise verkehren sie nur selten mit Sprechern der Gastsprache und halten sich fast ausschließlich im Kreise ihrer Landsleute (Familie, Freunde, Bekannte) auf; 2) Migranten, die allein eingewandert sind, können auch Kontakt zu ihren Landsleuten aufbauen; je nachdem welche Ziele sie mit der Migration verfolgen und welche sozialen Bedürfnisse sie haben, werden sie die Gastsprache allerdings mehr oder weniger schnell lernen, und 3) Individuen, die in große Mi-grantengruppen eingebunden sind, haben oft die Möglichkeit, in ihrer Ursprungs-sprache zu kommunizieren, können aber auch relativ intensive soziale und pro-fessionelle Kontakte zur einheimischen Bevölkerung unterhalten.

Hat ein aus einem anderen Land eingewanderter Migrant erst einmal Kenntnisse in der Sprache des Gastlandes erworben, so kann man ihn als zweisprachiges In- dividuum bezeichnen. Im Sinne U. Weinreichs (1953) ist ein bilingualer Sprecher auch selbst als ‚Ort des Sprachkontakts’ anzusehen: Zwei oder mehr Sprachen stehen in Kontakt, wenn sie von ein und demselben Menschen abwechselnd ge-braucht werden (vgl. Bechert/Wildgen 1991: 1; Riehl 2004: 11). Ebendas ist bei Migranten oft der Fall: in der Familie und mit Freunden sprechen sie ihre Mutter-sprache, in der Schule oder am Arbeitsplatz sowie im Umgang mit Behörden ver-wenden sie hingegen die Gastsprache (vgl. Lüdi/Py 2003: 111; Riehl 2004: 11). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Zwei- und Mehrsprachigkeit als Eigen-schaft sprechender Individuen einerseits einen Sprachkontakt bewirken, anderer-seits aber auch als ein Resultat desselben angesehen werden können (vgl. Ehlich 1994: 110; Riehl 2004: 11).

Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, zu klären, inwieweit die zahlreichen sprachlichen Besonderheiten des JS als Resultat des fortwährenden Kontakts der Sepharden mit Angehörigen anderen Glaubens und anderer Sprach-gemeinschaften anzusehen sind. Im Zentrum des Interesses stehen dabei einer-seits der Sprachkontakt innerhalb der sozialen Netzwerke und zentralen Lebens-bereiche der spanischen Juden in den Jh. vor ihrer Vertreibung von der Iberi-schen Halbinsel sowie andererseits die sozialen, wirtschaftlichen und schließlich sprachlichen Veränderungen, denen die Sepharden im Zuge der Auswanderung und im Anschluss an ihre Ansiedlung im östlichen Mittelmeerraum unterlagen.

3. JÜDISCHES LEBEN IN SEFARAD

3.1 Sepharden im frühchristlichen Spanien

Die ersten Handel treibenden Juden gelangten vermutlich bereits v. Chr. mit den Phöniziern über die Hafenstädte Gades (Cádiz) oder Abdera (Adra) bzw. mit den Griechen über Malakka (Málaga) und Ampurias (Castelló d’Empuriés) auf die Ibe-rische Halbinsel (vgl. Heinen 2002, Bd. 1: 211):

[Mit dem] Argument der vorchristlichen Ansiedlung auf der Iberischen Halbinsel sowie der Tatsache, dass bereits in der hebräischen Bibel ihre Heimat Sefarad[3] na-mentlich erwähnt werde, wiesen die Sepharden seit dem Mittelalter auch entschie-den den Vorwurf der spanischen Christen zurück, sie seien für den Tod Jesu am Kreuz verantwortlich. (ders., Bd. 2: 13)

Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 n. Chr. flüchteten vie-le aus dem Heiligen Land vertriebene Juden nach Spanien oder wurden von den Römern als Gefangene dorthin verbracht (vgl. Ben-Chanan 1999: 7). Nachdem Kaiser Hadrian den von Simeon Bar Kosiba angeführten Aufstand in Palästina (132 - 135 n. Chr.) niedergeschlagen hatte, erreichte eine weitere große jüdische Flüchtlingswelle die Iberische Halbinsel (vgl. Kowallik/Kramer 1993: 1).

Schon von Anfang an gerieten Juden und Christen miteinander in Konflikt. Be-sonders seitdem das Christentum 312 n. Chr. zur römischen Staatsreligion aus-gerufen worden war, wurden die Juden immer wieder mit Isolationsmaßnahmen, Berufseinschränkungen, Missionsverbot, Verfolgung, Zwangstaufen und Vertrei-bung bedrängt (vgl. ibid.: 11/12). So auch in westgotischer Zeit, obgleich im Frühmittelalter die antijüdische Gesetzgebung sich aufgrund der relativen Schwä-che der staatlichen Instanzen weit weniger gravierend auf den Alltag der spani-schen Juden auswirkte (vgl. ibid.: 13).

3.2 Sepharden im maurischen Spanien

Nach dem Sturz der Omajjaden-Dynastie (Kalifat von Damaskus) im Jahre 750 n. Chr. setzten die neuen Herrscher, die Abbasiden, in Spanien Gouverneure ein. Dem Omajjaden-Fürsten Prinz Abd ar-Rahman I. gelang jedoch die Flucht auf die Iberische Halbinsel, wo er die dortigen Gouverneure entmachtete und 756 den ersten vom Kalifat unabhängigen Staat gründete, das Emirat von Córdoba (vgl. Heinen 2002, Bd. 1: 213). Da sie wie die Muslime Monotheisten waren, erhielten Christen und Juden unter maurischer Herrschaft als dhimmiyyūn („Geduldete”), auch kitābis („Menschen des Buches”) genannt, volle Religionsfreiheit:

Der Islam toleriert andersgläubige Monotheisten, wenn er ihnen in seinem Herr-schaftsgebiet auch keine Teilhabe an der Herrschaft gestattet. [...] Wenn sie die politische Autorität des Islam anerkennen und pünktlich ihre Steuern bezahlen [...], unterstehen die Dhimmijjún zwar der Verfügungsgewalt des muslimischen Staates, haben aber Anspruch auf ein normales Leben und auf vollen Rechts-schutz. (Ben-Chanan 1999: 8)

Den dhimmiyyūn war es zwar nicht gestattet, neue Kirchen bzw. Synagogen zu errichten, dafür konnten sie aber alte verfallene Gebäude wieder in Stand setzen. Ansonsten durften sie Gottesdienste nur in ihren Wohnhäusern abhalten (vgl. Ben-Chanan 1999: 9).

Die jüdische Kultur gelangte unter Abd ar-Rahman III. (912-961) zu voller Blüte. Vor allem Córdoba war in dieser Zeit zu einer Insel der Toleranz geworden, die auf Juden besonders anziehend wirkte (vgl. Haßler 1998: 117/118; Kowallik/ Kramer 1993: 13).

Als später Al-Andalus aufgrund politischer Uneinigkeit zusehends zerfiel, Berber-stämme aus Nordafrika auf die Iberische Halbinsel drangen und viele unterein-ander rivalisierende Kleinkönigreiche ( taifas ) entstanden, verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Juden. Im Jahre 1086 kamen die Almoraviden ins Land, fanatische Verfechter des Islam, die das Zeitalter der Toleranz gegenüber Andersgläubigen in Al-Andalus beendeten: sie wandten die Dhimmiyyūn-Gesetze restriktiv an, und verdrängten die Juden u. a. aus öffentlichen Ämtern. In der Folge flohen viele Juden zusammen mit den Christen Richtung Norden in den Schutz der christlichen Könige, nach León, Kastilien, Navarra und Aragonien. Die Almoraviden wurden 1146 von den aus Nordafrika herüberkommenden Almoha-den abgelöst. Den neuen Herrschern gelang es, den Islam erfolgreich gegen die Christen zu verteidigen und weite Gebiete zurückzuerobern. Sie verfolgten eine kompromisslose Islamisierungspolitik und beschuldigten die dhimmiyyūn der Zu-sammenarbeit mit den Christen im Norden. Abermals suchten Juden und Chris-ten ihr Heil in der Flucht und wanderten nach Kastilien und Aragonien ab (vgl. Ben-Chanan 1999: 12-15; Clot 2004: 13/14).

3.3 Sepharden in den zurückeroberten Gebieten bis 1492

Das christlich-jüdische Zusammenleben auf dem Gebiet der christlichen König- reiche war im Mittelalter nur selten so harmonisch wie in Al-Andalus. Allerdings genossen die Juden den Schutz der christlichen Herrscher, die großes Interesse an ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihren weitreichenden Beziehungen hat-ten (vgl. Ben-Chanan 1999: 16). Die zahlreichen im Zuge der reconquista nach Norden geflohenen Juden wurden vielfach in den zurückeroberten und weitgeh-end entvölkerten Frontregionen (z.B. Extremadura) angesiedelt (vgl. Heinen 2002, Bd. 1: 216).

Das 11. Jh. kann als das Goldene Zeitalter der Juden im christlichen Spanien, insbesondere im Königreich Castilla y León, bezeichnet werden. Die Juden waren den Christen rechtlich nahezu gleichgestellt und durften u. a. Land besitzen oder als Handwerker tätig sein (vgl. Clot 2004: 15). Da sie gut über den Islam sowie die politischen Verhältnisse in Al-Andalus Bescheid wussten, stiegen gelehrte Juden außerdem zu Ratgebern der christlichen Fürsten auf, oder aber sie waren als Verwaltungsfachleute tätig (vgl. ibid.: 198, 267).

Demgegenüber herrschte in den spanischen Städten des 14. Jh. allgemein eine eher antijüdische Haltung:

Die neu in die christlichen Städte strömenden jüdischen Flüchtlinge wurden von den einheimischen Handwerkern bald als überlegene Konkurrenz empfunden […]. Beim kleinen Volk machte auch die judenfeindliche Predigt der Kirche, zumal des niederen Klerus, der selbst zumeist den unteren Schichten entstammte, zuneh-mend Eindruck. Man fühlte sich überfremdet, fürchtete um Arbeitsplätze und Kundschaft, und man empfand es als kränkend, dass ausgerechnet diese gottes-mörderischen Juden erste Plätze im Staat und in der Wirtschaft besetzt hielten. (Ben-Chanan 1999: 17)

Im Sommer 1391 kam es schließlich in ganz Spanien zu Judenpogromen, u. a. in Sevilla, Córdoba, Toledo, Valencia, Barcelona, Logroño und Lérida. In der Folge traten viele Juden zum Christentum über: ca. 20.000 von insgesamt 200.000 ließen sich taufen. Andere flohen nach Nordeuropa, Italien, Portugal, Nordafrika und Palästina oder ins maurische Königreich Granada (vgl. Heinen 2002, Bd. 1: 221/222; MacKay 1992: 46).

Die meisten der Neuchristen ( conversos ) dürften aber wohl insgeheim ihrem Glauben treu geblieben sein (vgl. Clot 2004: 16). Zudem zogen nicht wenige aus ihrer neuen Lage den größtmöglichen Vorteil: da sie nun frei von allen Beschrän-kungen waren, denen sie als Juden unterlagen, verschafften sie sich Zugang in die höchsten Kreise von Verwaltung, Armee und Kirche. Nicht zuletzt konnten jü-dische Händler auf ihre Erfahrung und vielfach noch auf alte Verbindungen zu-rückgreifen, sodass sie wirtschaftlich weiterhin sehr erfolgreich waren. Schließlich nahmen die Aversionen der Altchristen gegen die conversos so zu, dass diesen in der Folgezeit immer mehr Rechte entzogen wurden.

3.4 Zentrale Lebensbereiche und soziale Netzwerke

Während des Mittelalters waren die Sepharden in allen Bereichen des alltägli-chen Lebens auf der Iberischen Halbinsel präsent. Sie lebten überwiegend in den Städten und waren meist als Ärzte, Apotheker, Kaufleute, Händler, Handwerker oder staatliche Amtsträger sowie Gelehrte tätig.[4] Die Juden spielten eine große Rolle in der Finanzpolitik, vergaben Kredite oder beaufsichtigten die Steuerein-treibung. Allerdings stellten reiche und einflussreiche Sepharden nur einen klei-nen Teil der jüdischen Bevölkerung, weit mehr Juden waren einfache Leute und führten ein bescheidenes Leben (vgl. Ben-Chanan 1999: 29; Clot 2004: 50; Ke-dourie 1992: 9). Sepharden, die in ländlichen Regionen lebten, besaßen und ver-pachteten Ackerflächen, Weinberge und Gemüsegärten, waren Bienenzüchter oder nannten große Schafherden ihr Eigen (vgl. Ben-Chanan 1999: 28).

Im maurischen Spanien waren die Sepharden in ganz ähnlichen Bereichen tätig. Wegen ihrer guten Sprachkenntnisse wurden sie als Diplomaten eingesetzt, jüdi- sche Händler hatten ein weites Handelsnetz aufgebaut, das sich bis zum Vorde- ren Orient erstreckte, und jüdische Ärzte dienten u. a. am Fürstenhof in Córdoba und Granada. Auch die Fähigkeiten der Sepharden auf dem Gebiet des Finanzwe- sens und der Seefahrt wurden hoch geschätzt. Auf dem Land lebten viele jüdi-sche Bauern, Obst- und Gemüsegärtner und Plantagenbesitzer. In den Städten wiederum arbeiteten viele jüdische Handwerker, z.B. Gold- und Waffenschmiede, Juweliere, Ziseliere, Sandalenmacher, Schneider und Weber (vgl. Ben-Chanan 1999: 11; Clot 2004: 198).

Die spanischen Juden zogen es vor, sich in größeren Gemeinden zu organisieren, anstatt weit verstreut und voneinander isoliert zu leben. Denn einerseits mussten die Wohnviertel in der Nähe von Flüssen oder Bächen errichtet sein, um den Ge-meindemitgliedern die nach jüdischem Glauben vorgeschriebenen rituellen Bäder zu ermöglichen, andererseits war für alle der Zugang zu einer Synagoge sowie zu einem jüdischen Metzger, der koschere Fleischwaren lieferte, unabdingbar. Von den christlichen Herrschern wurde diese Tendenz der Abgrenzung noch zusätzlich unterstützt: da die Sepharden unter dem Schutz des Königs standen und nicht selten antijüdische Übergriffe zu befürchten waren, befanden sich die jüdischen Viertel aus Sicherheitsgründen zumeist in unmittelbarer Nähe der Burgen. Außer-dem versuchten die Herrscher, die Andersgläubigen von ihren christlichen Unter-tanen abzuschotten, um einer Beeinflussung der spanischen Christen durch jü-disches Gedankengut vorzubeugen. So erließen dann auch die reyes católicos am 28. Mai 1480 ein Edikt, welches die Einrichtung von durch Mauern vom Rest der Stadt abgeschlossenen Judenvierteln vorsah (vgl. Heinen 2002, Bd. 2: 19; MacKay 1992: 27/28).

Dennoch blieben auch nach 1480 die Grenzen zwischen den christlichen und jüdi-schen Wohnbezirken fließend, da bereits ein gutes Jahrzehnt nach dieser Ghettoi- sierung die Juden aus Spanien vertrieben und in der Zeit zwischen 1492 und 1609 (Einnahme Granadas und endgültige Vertreibung der Morisken) die Siedlungspoli-tik der Krone sich ins genaue Gegenteil verkehrte, indem die Durchmischung der Bevölkerung gefördert wurde, um eine schnelle Assimilation und Integration der unterdrückten, aber insgeheim als Kyptojuden (Marraner) bzw. Kryptomuslime (Morisken) weiterlebenden Neuchristen ( cristianos nuevos , conversos ) zu errei-chen. (Heinen 2002, Bd. 2: 20)

Heinen (2002, Bd. 2: 24) gibt zu bedenken, dass Juden, Christen und Muslime schon während des Früh- und Hochmittelalters im täglichen Leben miteinander sehr engen Kontakt pflegten: gemeinsam nutzten sie öffentliche Bäder, Mühlen, Märkte und Geschäfte. Juden boten Christen ihre Dienste an und umgekehrt, z.B. als Knechte, Mägde oder Ammen. Folglich konnte es auch zu sexuellen Kontakten zwischen Christen, Juden und Muslimen kommen, die nach christlichem, jüdi-schem und islamischem Recht allerdings grundsätzlich verboten waren und von der Justiz stets streng geahndet wurden.

Unbestrittener Mittelpunkt des sephardischen Lebens blieb in allen Zeiten jedoch die Gemeinde:

Hier wurde gemeinsam gebetet, hier wurden die Kinder ins Judentum eingeführt, hier lernten auch die Erwachsenen weiter die Tora, hier brachte man die Toten auf dem gemeinsamen Friedhof zur Ruhe. Auch die sozialen Probleme wurden hier ge-löst, und der einzelne Jude fand hier Halt und Schutz in Krisenzeiten. (Ben-Cha-nan 1999: 18)

In den Judenvierteln befanden sich alle wichtigen jüdischen Einrichtungen: die Synagoge, welche als Versammlungsraum, Schule und Herberge für jüdische Gäste und Reisende Verwendung fand; die Mikwe, eine spezielle Badeanstalt für rituelle Bäder, die durch ihre Nähe zu einem Gewässer mit fließendem Wasser versorgt werden konnte; Schlachtereien und rituelle Schlachter verpflegten die Bevölkerung mit koscherem Fleisch, eigene Bäckereien lieferten ungesäuertes Brot; der jüdische Gerichtshof ahndete Verstöße gegen die jüdischen Religions-vorschriften, schlichtete Nachbarschaftstreitigkeiten, etc.; und außerhalb der Stadtmauern befand sich der jüdischer Friedhof (vgl. Heinen 2002, Bd. 2: 26/ 27).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Sepharden sich auf der einen Seite zwar in abgeschlossenen Gemeinden organisierten und dort ihre jüdischen Tradi-tionen pflegten, auf der anderen Seite aber auf allen Ebenen des wirtschaftlichen sowie kulturellen Lebens der sie umgebenden und allgemein vorherrschenden islamischen bzw. christlichen Welt vertreten waren. Darüber hinaus nutzten sie zahlreiche öffentliche Einrichtungen gemeinsam mit Christen und Mauren. Folg- lich liegt die Vermutung nahe, dass die Sepharden häufig und intensiv mit An-dersgläubigen in Kontakt traten. All diese Lebensumstände dürften sich auch auf ihre Sprache, das Judenspanische, ausgewirkt haben. Dieser Frage soll nun im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

3.5 Judenspanisch in Sefarad

Vom 8. bis 13. Jh., als die politischen Verhältnisse in Al-Andalus noch stabil wa-ren und die maurische Zivilisation auf der Iberischen Halbinsel dominierte, war das Arabische die hauptsächliche Zweitsprache der Sepharden (vgl. Габинский 1992: 38). Da die Juden in das wirtschaftliche und kulturelle Leben der Mauren stärker eingebunden waren als die hauptsächlich in den Königreichen im Norden ansässigen Christen, pflegten sie engeren Kontakt mit der arabischsprachigen Welt und übernahmen diverse arabische Wörter, die unter den Christen nicht gebräuchlich waren (vgl. Wagner 1920, 1930):

[...]


[1] Das soziale Netzwerk als gedankliches Konstrukt ermöglicht die schematische Darstellung indivi-dueller Beziehungen und Bekanntschaften innerhalb einer Gruppe von Personen. Im Mittelpunkt einer Vielzahl kleiner miteinander verbundener individueller sozialer Netzwerke, sogenannter per-sonal networks (vgl. Degenne/ Forsé 1999: 14), steht dabei jeweils eine bestimmte Person, die viel-fältige Beziehungen zu den sie umgebenden Verwandten, Freunden und Bekannten unterhält. Gleichzeitig befindet sich jedes einzelne dieser Individuen im Zentrum seines eigenen sozialen Netzwerkes, das ihn wiederum mit anderen personal networks verbindet.

[2] „Zu [Sprach]Kontakt kann es auf ein und demselben Territorium kommen (direkter Kontakt: Be-völkerungsvermischung, Zusammenleben unterschiedlicher Dauer) oder auf verschiedenen Territo-rien (indirekter Kontakt: kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen). […] Die Unterschei-dung zwischen diesen beiden Typen des Sprachkontakts aufgrund extralinguistischer Faktoren […] ist sehr wichtig, da im Falle des direkten Sprachkontakts, welcher das Auftreten eines Stadiums der Zweisprachigkeit zur Folge hat, die Resultate des Sprachkontakts i. A. schwerwiegender sind als im zweiten Fall. […] Beim indirekten Kontakt kommt es zu einem oberflächlichen Kontakt.“ (Übers. P. R.)

[3] Der hebräische Name Spaniens.

[4] Die Liste der in der Sekundärliteratur aufgezählten jüdischen Berufe ist lang: Architekten, Astro-nomen, Bankiers, Buchbinder, Diplomaten, Dolmetscher, Dichter, Färber, Fleischer, Finanzfachleu-te, Geschichtsschreiber, Goldschmiede, Kartographen, Knopfmacher, Künstler, Landvermesser, Ma-ler, Musiker, Naturwissenschaftler, Notare, Pfandleiher, Philosophen, Saumsattler, Schlosser, Schmiede, Schneider, Schreiber, Schriftsteller, Schuster, Seifenmacher, Übersetzer, Wassertechni-ker, Weber u. v. a. m. (vgl. Ben-Chanan 1999; Cantera 1958; Clot 2004; Heinen 2002).

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Details

Titel
Das Judenspanische im Osmanischen Reich
Untertitel
Soziale Netzwerke und Sprachkontakt in der Diaspora
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Autor
Jahr
2011
Seiten
48
Katalognummer
V178140
ISBN (eBook)
9783640999378
ISBN (Buch)
9783640999255
Dateigröße
744 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Judenspanisch, Sepharden, spanische Juden, Sprachkontakt
Arbeit zitieren
Patrick Roesler (Autor:in), 2011, Das Judenspanische im Osmanischen Reich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178140

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