Kants transzendentale Ästhetik: Ihre metaphysische und transzendentale Erörterung und die Konsequenzen für die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori


Hausarbeit, 1997

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Die transzendentale Ästhetik der ersten Kritik ist eine Wissenschaft der Prinzipien der Sinnlichkeit oder Anschauung a priori. Sie unter­sucht deshalb nicht die Anschauung insgesamt, sondern nur ihre rei­nen Formen, Raum und Zeit als Quellen der Erkenntnis.

Die These Kants ist, dass zur Anschauung und damit zur Sinn­lichkeit erfahrungsfreie Elemente gehören. Ausgangspunkt der trans­zendentalen Ästhetik ist demzufolge, dass sich Erkenntnis im logi­schen, nicht im psychologischen Sinne, dem Zusammenwirken von zwei Erkenntnisstämmen verdankt: der Sinnlichkeit und dem Ver­stand. In der Anschauung wird Einzelnes in seiner bestimmten Form unmittelbar erfaßt und im Denken zu einer Erfahrung bzw. Erkenntnis verarbeitet. Um Einzelnes erfassen zu können, muss dieses als Gegen­stand gegeben sein. Dies ist nur möglich durch die Rezeptivität der Sinnlichkeit, wodurch wir affiziert werden, d.h. Empfindungen haben wie einen bestimmten Geruch, eine bestimmte Farbe oder einen spe­zifi­schen Geschmack. Würde der Verstand als kombinatorisches Ele­ment fehlen, hätten wir keine konkreten Empfindungen, die sich be­nennen ließen, sondern lediglich unbestimmte, diffuse Wahrnehmun­gen. Der Verstand ist die Steuerungseinheit, die das Material bündelt und unter Begriffe bringt, welche uns Zusammenhänge ermöglicht und uns zu Aussagen über die Welt kommen läßt. Sinnlichkeit und Verstand sind in Kants Konzeption als Vermögen gleichberechtigt und wechselseitig aufeinander angewiesen. Diese Annahme von zwei menschlichen Er­kenntnisstämmen begründet Kant nicht, aber er ver­mutet, dass sie "vielleicht aus einer gemeinschaftlichen uns unbekann­ten Wurzel ent­springen" (B29). Es liegt daher nicht in seiner Absicht, eine Letztbe­gründung der Erkenntnis zu leisten - der methodische Ort seiner Aus­führungen ist die Vernunftkritik. In einer Synthese von Ra­tionalismus und Empirismus lautet so auch Kants Grundsatz: "Ohne Sinnlichkeit würde kein Gegenstand uns gegeben und ohne Verstand keiner ge­dacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauun­gen ohne Begriffe blind". (B76)

Dieser Versuch einer Vermittlung zwischen den nach Kant aporetischen Positionen des Empirismus und des Rationalismus wirft Probleme auf, die dann im Deutschen Idealismus zu anderen Entwür­fen führen, die über eine Kritik der Vernunft hinausführen sollen.[1]

Der erste Teil der Kritik der reinen Vernunft, die transzenden­tale Ästhetik, hat zwei deutlich unterschiedene Teile: In der metaphy­sischen Erörterung versucht Kant zu zeigen, dass Raum und Zeit keine Begriffe, sondern reine Anschauungsformen sind. Die transzendentale Erörterung soll den Nachweis erbringen, dass sie synthetische Er­kenntnisse a priori ermöglichen. In seinen Erörterungen geht Kant deshalb zuerst einmal von der Frage aus, was Raum und Zeit sind. Sind es wirkliche "Wesen" oder nur Bestimmungen oder auch Ver­hältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zu­kommen würden, auch wenn sie nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur den Formen der Anschauung allein anhaften? Diese Fragestellung und die These, dass auch zur Sinnlichkeit erfahrungs­freie Elemente - Räumlichkeit und Zeitlichkeit an sich - gehören und diese die Grundlage des mathematischen und physikalischen Denkens sind, ist die vieldiskutierte, in Zweifel gezogene und sogar als "verhängnisvoll" betrachtete, zugestandenermaßen aber genuine Lei­stung Kants.[2] Einige wesentliche Punkte dieses Entwurfs sollen hier aufgegriffen und untersucht werden.

Aus dem Gesamtkomplex der Erkenntnis isoliert Kant die Komponente der Anschauung von der des Verstandes und abstrahiert in dieser von allem, was zur Empfindung gehört: Farben, Töne, Gerü­che, Wärmeeindrücke etc. Nach seiner Aussage bleiben die erfah­rungsunabhängigen Formen der Anschauungen, Raum und Zeit, übrig. Hierbei geht es nur um den Anschauungsraum, um Verhältnisse des Außer- und Nebeneinander, bzw. um die Anschauungszeit, um Ver­hältnisse des Nacheinander und des Zugleich.[3] Im ersten Teil der transzendentalen Ästhetik setzt sich Kant mit der metaphysischen Erör­terung der Begriffe von Raum und Zeit auseinander, um sie als Prin­zipien der Erkenntnis a priori aufzuweisen.

Zuerst einmal sollte man sich die Frage stellen, was Kant unter einer "Erörterung" versteht. Er definiert Erörterung (expositio) als "die deutliche (wenn gleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört". Es handelt sich somit nicht um eine Darle­gung eines Grund-Folge-Verhältnisses oder um einen logisch durch­kon­struierten Argumentationsgang, sondern um die Entfaltung dessen, was als Vorstellung einem Begriff innewohnt, bzw. in diesem impli­ziert wird. "Metaphysisch", so Kant, "aber ist die Erörterung, wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff, als a priori gegeben, darstellt" (B38). Letzteres mag erst einmal auf sich beruhen. So gesehen aber ist es der Versuch, den Begriff des Raumes und der Zeit in seiner Bedeu­tung begreiflich zu machen, d.h. eine Einsicht darüber zu gewinnen, was man sich unter diesen Begriffen vorzustellen hat. Wie verfährt Kant, um die Begriffe Raum und Zeit als "reine Anschauungen" aufzu­weisen, und gelingt ihm dieser Versuch?

Raum und Zeit konstituieren sich Kant gemäß in unserem Be­wußtsein als innerer und als äußerer Sinn: Neben der Innenwelt unse­res zeitlichen Werdens bauen wir also eine Außenwelt räumlicher Ko­existenz auf. Dem inneren Sinn als Ordnungselement kommt dabei Vorrang zu, denn er ist das logisch frühere, da jede Vorstellung des äußeren Sinnes dem Subjekt durch ihn vermittelt wird. Die Zeit ist deshalb die Form aller Anschauung - unmittelbar der inneren, mittel­bar der äußeren. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Raum nur eine Unterart der Zeit ist, aber um Relationen im Raum setzen zu können, muß die Zeit als Konstituens der Bewegung und Veränderung zugrun­deliegen. Als Unterstützung der Anschauungsargumentation kann Kants Erläuterung im zweiten Argumentationspaar hinzugenommen werden - Raum und Zeit können nur einheitlich gedacht werden, wo­hingegen Begriffe sich auf Einzelexemplare beziehen, selbst wenn sie allgemeiner und klassenbildender Natur sind. Strawson räumt in sei­nem Kant-Kommentar ein, dass "die beiden ersten numerierten Absät­ze der Metaphysischen Erörterung, ... , in diesem Lichte klarer wer­den."[4] Zur Erläuterung sollen an dieser Stelle die zweimal zwei Ar­gumente der metaphysischen Erörterung, welche die These Kants unterstützen sollen, dass Raum und Zeit reine Anschauungsformen sind, angeführt werden.

1. Die metaphysische Erörterung vom Raum und der Zeit

Metaphysisch bezeichnet Kant die folgende Erörterung, da sie die grundlegenden Vorstellungen von Raum und Zeit - Räumlichkeit und Zeitlichkeit an sich - als a priori gegebene Anschauungen aufzeigen soll.

Er argumentiert, dass Raum und Zeit keine empirischen Be­griffe sein können, da sie jeder der äußeren Erfahrung zugrundeliegen. Damit ich gewisse Empfindungen auf einen anderen Punkt des Rau­mes, in welchem ich mich befinde, beziehen kann und sie zudem an anderen Orten befindlich identifizieren kann, muß die Vorstellung des Raumes - so Kant - zugrundeliegen. Um einen Gegenstand als "außer mir" und einen anderen als "neben mir" wahrzunehmen, muss ich also über die Vorstellung von mir und den Gegenständen eine Vorstellung eines Außen projizieren, d.h. einen Raum voraussetzen, in dem die jeweiligen Gegenstände und empirisches Ich eine bestimmte Position zueinander einnehmen. Der Raum ist damit keine Eigenschaft dersel­ben. Entsprechend haben die seelischen Vorgänge Qualitäten, die in zeitlicher Reihenfolge empfunden werden, ohne dass irgendeine Empfindung selbst die Qualität von Zeit hätte.[5] Kant argumentiert im Anschluß daran positiv, dass Raum und Zeit aus diesem Grunde "notwendige" (B38, A24), weil nicht anders denkbare Vorstellungen seien. Der Begriff notwendig ist jedoch nicht als eine zwingende Folge auf­grund eines Kausalverhältnisses zu interpretieren, sondern wie Kant sagt: Wir können uns Raum und Zeit in einem Gedankenexperi­ment zwar ohne Gegenstände und Erscheinungen vorstellen, aber nicht, dass kein Raum oder keine Zeit sei. Raum und Zeit müssen des­halb als die apriorischen Formen des erkennenden Subjekts bezeichnet werden. Dagegen könnte man einwenden, dass "dieses Argument wirklich zu kurzschlüssig" sei und man lediglich die Tautologie ent­nehmen könne, "dass wir Gegenstände nicht als räumlich aufeinander bezogen wahr­nehmen könnten, wenn wir nicht die Fähigkeit dazu hät­ten".[6] Doch bedeutet nicht gerade das, was Kant als apriorische An­schauung ver­standen wissen will? Gegenstände können sich nur dann als solche konstituieren und als an einem bestimmten Ort plaziert er­kannt wer­den, wenn ein Raum für sie eröffnet ist. Dies kann aber nur der Fall sein, wenn nicht nur eine Differenz von Räumlichkeit und Zeitlichkeit einerseits, sondern ebenso diese Differenz stiftende, d.h. Relationen herstellende Anschauung vorausgesetzt wird:[7]

[...]


[1] Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, S. 73.

[2] Vgl. Peter F. Strawson, Grenzen des Sinns, S. 16: In der Konstruktion des "verhängnisvollen Modells" Kants wird ihm dennoch zugestanden, dass sich dessen Genie aber in der "Identifizierung der grundlegendsten dieser Bedin­gungen in ihrer allgemeinsten Form" zeigt, nämlich: "die Möglichkeit der Un­terscheidung zwischen einer zeitlichen Ordnung subjektiver Wahrnehmung und einer Folge und Anordnung, die die Gegenstände solcher Wahrnehmungen unabhängig kennzeichnet - ein einheitliches und dauerhaftes System von Rela­tionen zwischen Bestandteilen einer objektiven Welt." Strawson merkt dazu noch an: "Fast ebenso wichtig ist seine Erkenntnis, dass diese Unterscheidung den Begriffen, unter die die Inhalte der Erfahrung gebracht werden, immanent sein muss, weil es so etwas wie Wahrnehmung des reinen Bezugssystems nicht gibt."

[3] Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, S. 76

[4] Peter Strawson, Grenzen des Sinns, S. 57.

[5] Vgl. Otfried Höffe, Immanuel Kant, S. 77.

[6] Peter Strawson, Grenzen des Sinns, S. 49.

[7] Vgl. dazu auch einen anderen erkenntnistheoretischen Ansatz wie beispielsweise Niklas Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988. Für Luhmann steht Erkennen im direktem Zusammenhang mit Beobachtung, d.h. Unterscheidungen zu treffen, die den "unmarked space" zu einer bezeichneten Welt mit darin georteten Ge­genständen macht: "Und wieder dasselbe ist gemeint, wenn man sagt, daß alles Beobachten eine Grenzziehung, einen Schnitt durch die Welt, eine Verletzung des 'unmarked space' voraussetzt." Luhmanns Theorie, als eine empirische Theorie setzt natürlich die Welt voraus, die jedoch als solche für ein System (Subjekt/Objekt-Struktur ist in Luhmanns Konzeption in System/Umwelt auf­gehoben) durch das Differenzieren, d.h. Beobachten konstruiert wird. Hierbei ist der entscheidende Punkt das Setzen einer Differenz, um Erkenntnis zu ermöglichen. In der transzendentalen Erkenntnistheorie Kants ist die erste Differenz, die gesetzt wird, um Erkennen zu ermöglichen, die von Raum und Zeit.

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Details

Titel
Kants transzendentale Ästhetik: Ihre metaphysische und transzendentale Erörterung und die Konsequenzen für die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Phil. Fakultät)
Note
1,0
Autor
Jahr
1997
Seiten
22
Katalognummer
V177748
ISBN (eBook)
9783640998753
ISBN (Buch)
9783640999002
Dateigröße
458 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kants, ihre, erörterung, konsequenzen, möglichkeit, urteile
Arbeit zitieren
Sigrid Eckold (Autor:in), 1997, Kants transzendentale Ästhetik: Ihre metaphysische und transzendentale Erörterung und die Konsequenzen für die Möglichkeit synthetischer Urteile apriori, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177748

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