Vereinzelung und Sprachlosigkeit als grundlegendes Moment in Gertrud Kolmars Roman „Die jüdische Mutter“


Referat (Ausarbeitung), 1994

12 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Vereinzelung und Sprachlosigkeit als grundlegendes Moment in Gertrud Kolmars Roman „Die jüdische Mutter“

"...und hatte dies starr geschlossene, abweisende Gesicht nicht bloß dann, wenn einer im Hausflur, vorm Laden mit ihr ins Gespräch kommen wollte. Ob sie mit ihrem Lose, mit ihrer Arbeit zufrieden sei, fragte und wusste niemand; sie fegte wortkarg die Stuben, saß an der Nähmaschine, vertrieb ihre freie Zeit mit einem Buch oder ging ein, zwei Stunden ganz allein durch entferntere Straßen spazieren."(S. 14)

Diese erzählerische Rückblende auf die Jugend der Hauptfigur im zweiten Kapitel des ersten Teils der Erzählung etabliert nach vorangegangenen Hinweisen im ersten Kapitel ein in der Handlung wiederkehrendes Motiv: Das Schweigen, die Sprachlosigkeit, als Ausdruck des in sich verschlossenen Charakters der Hauptfigur. Im Beziehungsgeflecht der Figur Marthas zu Ehemann, Kind, Geliebten und anderen Menschen, erscheint immer wieder ihre Unfähigkeit, sich aus ihrem Inneren und ihrem subjektivistischen Blickpunkt zu lösen. Dies kristallisiert sich als Ursache ihres Scheiterns in ihrer Existenz heraus, wie ich im Verlauf dieser Analyse versuche, aufzuzeigen.

Die Erzählinstanz der Handlung lässt den Leser über den Grund von Marthas strengem Wesen und über ihr Schweigen im Unklaren. Vereinzelte Hinweise auf die Kindheit - der erwähnte frühe Tod der älteren Schwester Regina und anderer Geschwister, der aber nur durch den Ausdruck "jüngstes und letztüberlebendes Kind der Eltern“ vermutet werden kann - lassen keine schlüssigen Erklärungen für Marthas Verschlossenheit zu. Erlebnisse, die dazu geführt haben könnten, kann der Leser nur erahnen.

Die Sprachlosigkeit Marthas ist eine ausschließlich äußere Sprachlosigkeit. Erzähltechnisch zeigt sich dies in der Handlung in Dialogen, die kaum von ihren Sprechakten getragen sind; in Opposition dazu aber in vielen inneren Monologen und erlebter Rede. Kompensiert wird ihre Verschlossenheit und nach außen wirkende Gefühlskälte jedoch durch eine poetische Sensibilität, die erzählerisch aus Marthas Perspektive Landschaftsbilder, Tiere und Stimmungen beschreibt. Die erzählende Instanz und Martha haben gleichermaßen poetische Sensibilität, und die Analogie ihrer Sprache lässt in diesem Bereich auf eine Identifikation von Erzählerin und personalem Medium schließen.

Zwei Beispiele, um diese Aussage zu belegen, finden wir in der Einleitung des ersten Kapitels, die aus der Erzählperspektive geschrieben ist, und der im folgenden zitierten Schilderung aus Marthas Blickpunkt:

"Jahrelang kam sie nun heim, stets wieder hingenommen von diesem, was sie zum ersten Male betroffen, als sie die Gasse und hinter der Mauer das schweigsame Haus entdeckt,Dies war ein Klösterliches, der Friede, die Abgewandtheit, Abseitigkeit eines Stifts, etwas Träumendes, etwas Vergangenes,... Solche Häuser liegen immer im Abend, und leise spiegeln die blassen Scheiben verschwelendes Untergangsrot." (S.(8/9).

Und ein Beispiel einer Tierbeschreibung aus Marthas Sicht:

"Den Kondor wollte sie grüßen. Denn sie liebte den wunderbaren Vogel, der von allen in höchste Einsamkeit dringt, in eisesklare, schweigendste Luft, den Vogel der Sonnenmeere Er war gefangen hier, arm und fremd, und hockte, im kleinen, rötlichen Blick die frostige Trübseligkeit des Verbannten. Des Welkenden." (S.90).

Der Leser, der Einblick in Marthas Bewusstsein erhält, erkennt ihren inneren Sprachreichtum und ihre scharfe Beobachtungsgabe. Ihre poetischen Schilderungen der Umgebung sind aber auch Ausdruck ihres Wesens: Worauf ihr Auge fällt, was ihre Aufmerksamkeit fesselt und vor allem, wie sich die Dinge für sie darstellen, das beschreibt auch ihren Charakter.

In der Erzählung wird die Person Marthas nicht nur aus deren Innenperspektive definiert. Die erzählende Instanz vermittelt durch Außenperspektiven dem Leser immer wieder kritische Distanz zur Hauptfigur. Das Schweigen Marthas ist aus dem Blickpunkt einiger sie umgebenden Menschen Ausdruck ihrer Fremdheit, Andersartigkeit und wird von diesen mit Gefühlskälte und Härte gleichgesetzt. Der "alte Wolg", der gegen die Heirat seines Sohnes mit Martha ist, bezeichnet sie als "Trauerlappen", als "kalt". Ihre Strenge werde sie hindern, "dem Manne Kameradin und Freundin zu sein". (S.15). Ihr Wesen wird vom Vater ihres zukünftigen Ehemannes zudem mit ihrer jüdischen Herkunft begründet: "Alttestamentarisch sieht sie schon aus... Jerusalem am Nordpol." Jüdisch, herb und schweigsam scheinen synonymisch verwendet. Aus dem Blickpunkt Friedrich Wolgs - Marthas Verehrer - lässt die Erzählerin ihre ruhige Art zu Beginn ihrer Beziehung vorteilhaft zu einigen durcheinander-schwätzenden Damen kontrastieren.

Die Beobachtungen des alten Wolg scheinen jedoch nicht völlig unbegründet. Friedrich Wolg, Marthas junger Ehemann, ist bald enttäuscht, denn Martha kann Nähe nur in der körperlichen Umarmung zulassen. "Ihr Wesen, das er bei Tage kannte, bedrückte und langweilte ihn". Die erzählende Instanz, die in einem Perspektivenwechsel hinter Friedrich Wolg als personales Medium zurücktritt, zeigt dem Leser, dass Marthas Sprachlosigkeit von ihm als Zeichen ihres Desinteresses an seiner Person interpretiert wird. Diese Verweigerung ihrerseits treibt ihn aus ihrem Leben. Die Erzählerin benutzt Friedrich Wolgs Blickpunkt, den er in der Aussage mit der der Figur des Vaters zusammenfallen lässt, um Marthas Wirkung auf andere darzustellen: "Es war ein Seltsames da, ein Fremdes, etwas ... er suchte den Namen dafür. Dies vielleicht, dass sie aus anderem Blut, dass sie Jüdin war". Hier setzt die Erzählerin erneut das Fremde ihrer Figur mit dem jüdischen Glauben gleich.

Fremdheit des Wesens in der Gleichsetzung mit Fremdheit des Glaubens ist auch an anderen Stellen der Erzählung wiederzufinden. In der Begegnung mit dem Rechtsanwalt beispielsweise, in welcher Martha ihre Rachepläne damit rechtfertigt, dass sie Jüdin ist und von ihr deshalb keine christliche, und damit implizierend - keine vernünftige Reaktion zu erwarten sei. Inwiefern hier eine Identität hergestellt ist zwischen Erzählinstanz und personalem Medium, bzw. der Reflektorfigur wäre zu prüfen; auch ob diese Haltung das Judentum nicht eher negativ konnotiert.

In der Erzählhandlung wird denn auch gezeigt, dass Marthas Sprachlosigkeit immer dann aufbricht, wenn es um ihre Grundüberzeugungen geht. Im ersten Streit mit ihrem Ehemann, in dem es um die Taufe des Kindes geht, drängt eine Bedrohung an die Oberfläche, die aus der Perspektive Friedrichs dem Leser unheilvoll verkündet: "Sie ist imstande und tötet das Kind; das ist eine Medea!".

Als das gemeinsame Kind geboren ist, wird mit außenperspektivischem Blick anderer personaler Medien in einer Sprache mit Tiermetaphern dargestellt, dass das Schweigen der Hauptfigur nur mühsam ihre ungestüme Wesensart verschleiert: nach Aussage der Schwiegereltern stürzte sich Martha auf das Kind "einer hungrigen Wölfin gleich", Friedrich sieht Martha als "eine Wilde jetzt, die er gewaltsam im Käfig hielt, die nur trachtete, auszubrechen", ihren Blick empfindet er als fremd und unheimlich flackernd, "wie eine Tiermutter, die um ihr Junges zittert" (S.18).

[...]

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Vereinzelung und Sprachlosigkeit als grundlegendes Moment in Gertrud Kolmars Roman „Die jüdische Mutter“
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Note
1,0
Autor
Jahr
1994
Seiten
12
Katalognummer
V177747
ISBN (eBook)
9783656001133
ISBN (Buch)
9783656001430
Dateigröße
437 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vereinzelung, sprachlosigkeit, moment, gertrud, kolmars, roman, mutter“
Arbeit zitieren
Sigrid Eckold (Autor:in), 1994, Vereinzelung und Sprachlosigkeit als grundlegendes Moment in Gertrud Kolmars Roman „Die jüdische Mutter“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177747

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