Die Rolle der Verfassung bei Abbé de Sieyès und in den Federalist Papers


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Sieyès
2.1 Dritter Stand und Privilegien
2.2 Pouvoir constituant und pouvoir constitué
2.3 Naturrecht, Verfassungsrecht und Gesetzesrecht

3. The Federalist Papers
3.1 Privilegien in Amerika
3.2 Verfassungsgebung und geschaffene Gewalt
3.3 Verfassung, Gesetz und Amendments

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

“Ich stelle mir das Gesetz als Mittelpunkt einer gewaltigen Kugel vor; zu ihm befinden sich alle Bürger auf der Kugeloberfläche ausnahmslos in derselben Entfernung und nehmen dort gleiche Plätze ein; alle sind sie gleichermaßen vom Gesetz abhängig, alle übertragen sie ihm den Schutz ihrer Freiheit und ihres Eigentums; und diese bei allen gleichen Rechte sind es, was ich diegemeinsamen Bürgerrechtenenne.”[1]

Mit diesen Worten revolutionierte Abbé de Sieyès die verfassungsrechtliche Einstellung seiner Zeit im Jahre 1789. Sieyès ist somit einer der Wegbereiter für den historischen Strukturwandel, der sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa vollzog. Er definierte die Rolle der Verfassung im Zuge der Französischen Revolution neu und prägte die Begriffe vompouvoir constituantund dempouvoir constitué, also der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt. Seine Schriften bilden die Wurzeln der heutigen Auffassung von Volkssouveränität. Sie begründen zum ersten Mal in der französischen Geschichte die Abschaffung von Privilegien und betonen die Wichtigkeit der Bürger des dritten Standes als Nation.

Fast zur gleichen Zeit, jedoch ein wenig vor Sieyès` Aufsatz “Was ist der Dritte Stand?” veröffentlichten Hamilton, Madison und Jay die Federalist Papers in amerikanischen Zeitungen. Von Oktober 1787 bis Mai 1788 erschienen ihre Artikel unter dem Pseudonym Publius[2]. Sie erklärten den Entwurf der Bundesverfassung, der beim Verfassungskonvent von Philadelphia entworfen worden war, und forderten seine Ratifizierung. Interessanterweise gibt es viele Parallelen zwischen dem Denken von Sieyès, das in seinen theoretischen Werken niedergeschrieben ist, und den Federalist Papers, die so etwas wie einen authentischen Verfassungskommentar darstellen. Dies wird schon im einführenden Aufsatz zu den Federalists von Jürgen Gebhardt deutlich, der schreibt: “Aber es scheint, dass nach Publius das Volk die Fülle seiner Souveränität nur im feierlichen Akt der Verfassungsgebung ausübt – eine Handlung, die nicht zu oft wiederholt werden soll und an die das Volk selbst, respektive die Volksvertretung gebunden bleibt.”[3]

In dieser Arbeit möchte ich in einem ersten Schritt das Denken Sieyès` beleuchten. Dabei werde ich den Dritten Stand und die Rolle der Privilegien bei Sieyès behandeln. Danach wird es nötig sein, auf die Lehre vompouvoir constituantund dempouvoir constituéeinzugehen, bevor man die Rolle von Verfassung, Gesetz und Naturrechten bei Sieyès erörtern kann. Der nächste Schritt wird der Vergleich mit den Federalist Papers sein. Dementsprechend ist die Rolle der Privilegien in Amerika ein zu behandelnder Punkt, genauso wie die Verfassungsgebung und die geschaffene Gewalt. Am Ende meiner Betrachtungen zu den Federalists kann dann ein Vergleich der Rolle der Verfassung wie der Gesetze und Amendments zur Verfassung gezogen werden. Ein Fazit wird zeigen, inwiefern Sieyès und die Federalists ähnlich dachten, als sie die Rolle der Verfassung klären wollten. Dabei sollte man nie vergessen, dass Sieyès theoretische Schriften die Grundlage für das neue Verfassungsdenken und die neue Einstellung in Bezug auf Volkssouveränität in Europa begründeten, während die Federalists in Amerika die erläuterten Punkte nicht allein als theoretisches Manifest ansahen. Ihre Artikel stellen Erläuterungen zur Verfassung dar, die in Amerika 1788 tatsächlich ratifiziert wurde.

2.Sieyès

Schmidt und Reichhardt bezeichnen Sieyès als “Wegbereiter der Konzeption der Verfassunggebenden Gewalt”[4]. Um seine Schriften zu verstehen, ist es nicht unerheblich, den politischen Hintergrund seiner Zeit zu kennen. Sieyès lebte von 1748 bis 1836, seine wichtigsten Schriften verfasste er um die Zeit der französischen Revolution. Sein erster Aufsatz, “Vues sur les moyens d´exécution dont les représentants de la France pourront disposer en 1789” schrieb er im Jahr 1788. Es folgten die wichtigsten Schriften “Essai sur les privilèges” und “Qu´est-ce que le Tiers Etat?”. Sieyès, der aus einer armen Familie stammte, aber durch ein kirchliches Stipendium eine hohe Bildung genossen hatte, war einer der Vertreter des dritten Standes vor, in und nach der Revolution. Dessen Ziele waren einerseits eine Rechtsgarantie der persönlichen Freiheit und andererseits Chancengleichheit mit den Privilegierten, vor allem was eine politische, militärische oder kirchliche Karriere betraf.

2.1 Dritter Stand und Privilegien

Frankreich gliederte sich lange Zeit in drei Stände: den Adel, den Klerus und den so genannten Dritten Stand, in dem sich praktisch alle Bürger befanden, die keinen Titel geerbt hatten und keine Geistlichen waren. Sieyès beantwortet die Frage, die sein Aufsatz bereits im Titel stellt, nämlich “Was ist der Dritte Stand?” bereits ganz zu Beginn des Werkes: ALLES. Das bezieht sich einerseits auf die Angehörigen des Standes: alle (bis auf o. g. Ausnahmen) sind im Dritten Stand vereint. Andererseits bezieht es sich auf die Rolle, die diese Bevölkerungsschicht im öffentlichen Leben des 18. Jahrhunderts spielen sollte.

Laut Sieyès ist der Dritte Stand bis zur Französischen Revolution in der politischen Ordnung nichts gewesen und verlangt nun einzig, etwas zu sein.[5]Er ist “ein gefesseltes und unterdrücktes Alles.”[6]Sieyès behauptet im ersten Teil des Aufsatz sogar, dass nur dieser Stand eine wahre Nation sei – eine These, die er später begründet. Auf jeden Fall sind nicht die drei französischen Stände gemeinsam eine Nation, da sie die erforderlichen Voraussetzungen dafür nicht erfüllen: sie leben nicht unter einem gemeinschaftlichen Gesetz und werden nicht durch dieselbe gesetzgebende Versammlung repräsentiert. Der Adel hat seine eigenen Repräsentanten, die ihren Auftrag nicht vom Volk haben und deren Ziel nicht darin besteht, das Gemeininteresse, sondern das Eigeninteresse zu vertreten.[7]

Der Dritte Stand jedoch hatte keine wahren Vertreter, denn Privilegierte waren seine Repräsentanten. Ohne echte Vertretung fehlten aber auch die politischen Rechte. Sieyès spricht sich dafür aus, einen Stand nicht deshalb als zur Nation gehörig zu bezeichnen, weil er adelig oder aus anderen Gründen privilegiert ist. Im Gegenteil: die Nation wird von denen gebildet, die Steuern zahlen und unter dem Gesetz leben, völlig ohne Privilegien zu besitzen.[8]Insofern als diese Bürger “allein die Treuhänder des Gemeinwillens sind”[9], bilden sie als einzige die wahre Nation.[10]

Diese Sicht war revolutionär: Bisher hatte der Adel in Frankreich immer eine besondere Stellung genossen, auch die vielen verarmten Adeligen. Laut Sieyès hat die arme Privilegiertenklasse sich im Besonderen das Spezial-Gewerbe der “Hinterlist und Bettelei”[11]angeeignet, um ihr standesgemäßes Auskommen zu sichern.

Nachdem nun die Rolle der drei Stände im öffentlichen Leben Frankreichs vor der Revolution geklärt ist, ist es für Sieyès` Verfassungsdenken unerlässlich, die Privilegien zu erörtern. Sieyès geht davon aus, dass es so etwas wie ein Urgesetz, ein loi-mère, gibt, das lautet: “tu dem anderen kein Unrecht.”[12]Mit Ausnahme der Privilegierten, denen man es gestattet, den anderen Unrecht zu tun. Durch Sonder- und Ehrenrechte wird die ganze Bürgerschaft entwürdigt, denn Einzelne bekommen die Chance, vom Gesetz ausgenommen zu werden. Auch die Möglichkeit, einem Einzelnen etwas als Sonderrecht zuzubilligen, das eigentlich allen gehört, verurteilt Sieyès in dieser Hinsicht. Er spricht sich dafür aus, dass Belohnungen an die Stelle der Privilegien treten sollten. Bisher war es in Frankreich ein Zeichen von Rang, vom Gesetz ausgenommen zu sein, obwohl das dem gemeinschaftlichen Recht widerspricht. Derartiges sollte in Zukunft durch zusätzliche Benefits geschehen. Am liebsten wäre es Sieyès, wenn diese Auszeichnung die Achtung unter den Mitbürgern wäre, da dies der einzige Lohn sei, der zu guten Taten anfeure. “Ich sehe es wohl: euch liegt weniger daran,durcheure Mitbürger ausgezeichnet zu werden [distingué par] als vielmehr daran, euchvon ihnen zu unterscheiden [distingué de].”[13]

Die Auswirkungen der Privilegien auf die Personen, die mit ihnen ausgezeichnet werden, sind einfach: sie interessieren sich nicht mehr für das Gemeininteresse und bilden statt dessen starke Einzelinteressen aus. Der Privilegierte[14]blicke in die Vergangenheit, woraus er seine Ehrentitel und Stärke bezieht. Der Bürger aber lebt in der Gegenwart und denkt an die Zukunft, die er für seine Nachkommen vorbereiten möchte. Indem eine solche Gruppe auf diese Art ausgezeichnet wird, schiebt sie sich zwischen Regierung und Bevölkerung. Es bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder wird die Gruppe an den Regierungsgeschäften beteiligt, was in Frankreich nicht der Fall ist. Wird sie nicht in die öffentliche Gewalt eingebunden, ist sie jedoch eher ein “schädlicher Fremdkörper” als Teil der Nation.[15]

[...]


[1]Sieyès 1975, S. 188.

[2]Publius Valerius Publicola war der Retter der Römischen Republik; der Name ist also eine Anspielung darauf, dass die neue Verfassung die Union “retten” sollte.

[3]Gebhardt 1968, s. 94.

[4]Schmitt/ Reichhardt 1975, S. 10.

[5]Sieyès “Was ist der Dritte Stand?” In: Sieyès 1975. S. 119.

[6]Ebd.

[7]Ebd. S. 127.

[8]Sieyès betont in diesem Aufsatz immer wieder v. a. die Wichtigkeit der Repräsentation. Er stellt Berechnungen über die Anzahl der Vertreter auf etc. Hier soll auf diesen Aspekt nicht näher eingegangen werden, da dies den Rahmen der Arbeit sicherlich überschreiten würde.

[9]Sieyès 1975. S. 185.

[10]Da der Dritte Stand laut allg. Auffassung damals keine Generalstände bilden konnte, postulierte Sieyès, dass dann eben eine Nationalversammlung gebildet werden müsse. Am 17. Juni 1789 wurde die Nationalversammlung tatsächlich einberufen. Sieyès fungierte erst als Sekretär der Nationalversammlung, war dann Mitglied des ersten Verfassungsausschusses und von 8. Bis 21. Juni 1790 der Präsident der Nationalversammlung.

[11]Sieyès “Versuch über die Privilegien” In: Sieyès 1975. S. 108.

[12]Ebd., S. 93.

[13]Ebd., S. 98.

[14]Damit meint Sieyès in diesem Fall jene, die ihre Privilegien durch Geburt erhalten haben.

[15]Ebd., S. 107.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Die Rolle der Verfassung bei Abbé de Sieyès und in den Federalist Papers
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Politikwissenschaften)
Veranstaltung
Hauptseminar: The Federalist Papers
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V17745
ISBN (eBook)
9783638222396
Dateigröße
543 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rolle, Verfassung, Abbé, Sieyès, Federalist, Papers, Hauptseminar, Federalist, Papers
Arbeit zitieren
Emily Mühlfeld (Autor:in), 2002, Die Rolle der Verfassung bei Abbé de Sieyès und in den Federalist Papers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17745

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