Karrierechancen auf dem Marktplatz der Gesundheitswirtschaft


Skript, 2011

126 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Grußwort
Dipl. Geogr. Jana Grohs M.A.
Geschäftsleitung VWA Berlin

Gesundheitssystementwicklung
Dr. Ellis Huber Vorstand Securvita

Chancen für mehr Prävention
Fr. Dr. med. Katharina Graffmann-Weschke Leitung Bereich Prävention AOK Nord-Ost

Nutzen von Technikentwicklungen
Ludwig Kunkel
TSB Innovationsagentur Berlin GmbH

Die Entwicklung von MVZ - Neue Anforderungen an Qualifikation
Dr. Bernd Köppl
Vorsitzender Bundesverband Medizinische Versorgungszentren

Aufgabe des QM in der Pflegepraxis
Gesine Dannemeier Geschäftsführerin KTQ

„Gemeinsam für eine bessere gesundheitliche und soziale Versorgung"
Gabriela Seibt Qualitätsverbund Pankow

Veranstaltungsprogramm

GRUSSWORT

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrter Herr Dr. Huber,

sehr geehrter Herr Greuél,

sehr geehrte Referentinnen und Referenten,

ich freue mich sehr, Sie als Leiterin der Verwaltungs- und Wirtschafts- Akademie auf dem heutigen Marktplatz Gesundheitswesen in unserem Studienzentrum begrüßen zu dürfen.

Das Thema unserer diesjährigen Veranstaltung lautet Karrierechancen auf dem Marktplatz der Gesundheitswirtschaft. Die Gesundheitswirtschaft ist heute die am stärksten wachsende Wirtschaftsbranche in Deutschland. Die Nachfrage innerhalb der Gesundheitswirtschaft nach einer beruflichen Qualifizierung ist hoch. Arbeitgeber sind mehr denn je aktiv gefordert, sich in den Weiterbildungsprozess ihrer Mitarbeiter einzubringen. Die VWA leistet hier seit vielen Jahren einen großen Beitrag in der beruflichen Weiterbildung von Berufstätigen u.a. mit Studienangeboten wie dem Gesundheits- und Sozialökonomen/-in.

Der heutige Marktplatz teilt sich in zwei große Blöcke. Der Vormittag ist gekennzeichnet von Fachvorträgen mit Themen wie: Chancen für mehr Prävention aus der Sicht einer Krankenkasse oder die Bedeutung von MVZ und Gesundheitszentren für die ambulante Krankenversorgung. Wir sprechen über den Nutzen von Technikentwicklungen in der Pflege, über Qualitätsmanagement und richtiges Netzwerken. Am Nachmittag werden wir gemeinsam in Workshops verschiedene gesundheitswirtschaftliche Themen diskutieren. In den Pausen haben Sie die Möglichkeit mit Kollegen aus ihrer Branche ins Gespräch zu kommen, dafür haben wir Infostände im Foyer aufgebaut. Unseren Studierenden an der VWA bietet sich die Chance, sich über Themen für Ihre Studienprojekte und Abschlussarbeiten zu informieren.

Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen unseren Kooperationspartnern für ihre Unterstützung zu danken, vor allem dem Pflegewerk Berlin und den Referentinnen und Referenten sowie Ausstellern an diesem Tage. Ich wünsche uns viele interessante Vorträge und spannende Diskussionen.

Ich freue mich sehr, dass Herr Dr. Ellis Huber heute die Zeit gefunden hat, den Eröffnungsvortrag zu halten. Herr Dr. Huber war von 1987-99 Präsident der Ärztekammer Berlin, ist heute Vorstand der Securvita Krankenkasse, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Präventologen und Vorstandsmitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, LV Berlin.

Herr Dr. Huber wird nun über Gesundheit als Wert und Wertschöpfung - Kooperation statt Versorgungssteuerung sprechen.

Dafür vorab schon einmal vielen Dank.

Dipl. Geogr. Jana Grohs M.A.

Gesundheitssystementwicklung

Integrierte Medizin und Integrierte Versorgung als neue Perspektive für das Gesundheitswesen in Deutschland.

Ellis Huber (2011)in: Zeitschrift für Sozialmanagement, Journal of Social Management, Bertuch Verlag, Weimar Die Kernfunktionen eines sozial integrierenden Gesundheitssystems In Deutschland wie in allen europäischen Gesellschaften ist die Bedeutung des Gesundheitssystems als sozialer Integrationsfaktor unbestritten. Ein soziales Gesundheitswesen pflegt das gesellschaftliche Bindegewebe und bringt die Menschen zueinander in Beziehung. Der Arzt dient „der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Bevölkerung“ (Bundesärztekammer 2010). Diese Verpflichtung ordnet der ärztlichen Profession eine integrierende Funktion zwischen allgemeinem und individuellem Wohl zu. Der ärztliche Kernauftrag gilt also einer preiswerten oder ressourcensparenden Gesundheitsversorgung für große Bevölkerungsgruppen. Diese Aufgabe derÄrzteschaftwird im gegenwärtigen Gesundheitssystem nicht hinreichend erfüllt. Die Medizin vernachlässigt unter den Zwängen der Profitziele im System ihren sozialen Auftrag. Die Gesundheit des sozialen Gewebes der Zivilgesellschaft ist zu wenig Gegenstand von medizinischer Theorie und Praxis.

Die mit dem ärztlichen Gemeinwohlauftrag korrespondierende Kernaufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beinhaltet die Kultivierung von Gemeinschaftlichkeit in großen Bevölkerungsgruppen. Es geht für die einzelne Krankenkasse um die Bildung einer solidarischen Community. Solidarität und Mitmenschlichkeit sind nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis starke Gesundheitsressourcen, die das Morbiditätsspektrum in der Bevölkerung maßgeblich prägen. „Menschen, die sich als kompetent erfahren, die soziale Resonanz finden und die bei sozialen Entscheidungen mitwirken können, sind weniger krank. Umgekehrt steigen Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit in der Bevölkerung deutlich an, wenn das gesellschaftliche Bindegewebe unter Spannung steht“ (Fischer, J.E. 2007, S. 32). DerZustand des sozialen Bindegewebes prägt die Aufgaben derVersorgung und auch die ökonomische Lage der Gesetzlichen Krankenversicherung. Die systemische Verpflichtung zur Kultivierung von Solidarität und sozialer Teilhabe unter ihren Versicherten ist vielen Kassen kaum bewusst. Der Auftrag wird nur mangelhaft erfüllt.

De facto arbeiten alle Krankenkassen unter den Rahmenbedingungen des Risikostrukturausgleichs (RSA) mit einem globalen Budget. Für die einzelnen Versicherten erhält die Krankenkasse nämlich eine definierte Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds. Diese „Kopfpauschale“ setzt sich aus einer Grundpauschale sowie alters-, geschlechts- und risikoadjustierten Zu- und Abschlägen zusammen. Basis zur Ermittlung der morbiditätsabhängigen Pauschalen ist ein Katalog mit derzeit 80 schweren und kostenintensiven Erkrankungen (Bundesversicherungsamt 2008). Die Normkosten des morbiditätsorientierten RSA entsprechen den durchschnittlichen Ausgaben aller Krankenkassen für die so bestimmten gesunden und kranken Versichertengruppen.

Die durchschnittliche Höhe derVersichertenpauschale liegt gegenwärtig bei 2.500 Euro im Jahr: für ernsthaft kranke Menschen darüber und für gesunde darunter. Die Summe der individuellen Kopfpauschalen bestimmt die finanziellen Möglichkeiten und damit auch die ökonomische Überlebensgrenze der Kasse. Sind die realen Versorgungskosten geringer als das Versichertenbudget, geht es der Kasse gut, sind sie höher, bricht das Kassenunternehmen unter steigenden Zusatzbeiträgen zusammen. Mit zwei Strategien kann das Management darauf reagieren: mit Risikoausgrenzung oder mit Solidarisierung innerhalb derVersichertengemeinde. Durch den Risikostrukturausgleich, der also Krankheiten und die Probleme von kranken Versicherten abbildet, wird eine Kultur von solidarischer Gemeinschaftlichkeit zur sinnvollen Überlebensstrategie für Kassen, die ihren sozialen Auftrag erkennen.

Heilkunst für Mensch und Gesellschaft

Gesundheit, sagt schon Thomas von Aquin, ist weniger ein Zustand und mehr eine Haltung und sie gedeiht mit der Freude am Leben. Wissenschaft und Forschung verändern heute grundlegend unserVerständnis vom Leben. Die Maschinenbilder einer technischen Medizin werden durch das Wissen um miteinander kommunizierende Lebensnetze abgelöst. Nicht Räderwerke und biochemische Automaten sondern biologische Netzwerke und soziale Wechselwirkungen bestimmen unsere Lebenskräfte.

Heilkunst für den individuellen Menschen und das soziale Gefüge muss diese Erweiterung der naturwissenschaftlichen Medizin hin zu einer umfassenden Gesundheitsförderung anerkennen und umsetzen. Die allgemeinen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit ändern sich gegenwärtig tiefgreifend (Kickbusch 2005). Integrierte Medizin und Integrierte Versorgung sind die gesundheitsdienlichen Perspektiven eines neuen Systems. Die Wissenschaft belegt, wie Geborgenheit in sozialen Netzen als Gesundheitsquelle wirkt. Wer im Kreis von Freunden, Bekannten und Gleichgesinnten angenommen und beteiligt ist, lebt gesünder und länger. Die wirksamsten Arzneimittel der Informationsgesellschaft heißen also Bildung und Gemeinschaft: Liebe stattValium (Huber 1994). Diese Quintessenz der gesundheitswissenschaftlichen Erkenntnis wird jetzt die Praxis der Heilkunst in Deutschland neu orientieren. Heilen, Pflegen und Helfen wird ganzheitlicher und gemeinschaftlicher erfolgen, unterschiedliche Professionen in Teams beschäftigen und individuelle wie soziale Probleme integriert lösen lernen. Eine solche Medizin benötigt Ärzte, Pflegewissenschaftler, Sozialarbeiter oder Pädagogen, die gleichberechtigt zusammenwirken und Bürger, die mit für gesunde Verhältnisse wie gesundes Verhalten eintreten.

Die heutigen Gesundheitsprobleme lassen sich nicht mehr mit „medizinischem Fortschritt“ oder biochemischen „Wunderwaffen“ besiegen. Depressionen und Ängste nehmen dramatisch zu. Das soziale Bindegewebe zerbricht mehr und mehr. Rückenschmerzen und chronische Gebrechen beschreiben nicht nur körperliche Probleme, sie drücken auch die Last der psychosozialen Verhältnisse aus. Die aktuelle Wirtschaftskrise beeinträchtigt die Gesundheit der Menschen. Sie ist für Angst, Verzweiflung, Unsicherheiten, andauernden Stress und alle daraus erwachsenden Folgen für das individuelle wie allgemeine Wohl ebenso Ursache wie für die Insolvenz einzelner Unternehmen. Die kulturellen und sozialökologischen Verhältnisse sind heute entscheidend, ob Menschen fett oder depressiv, süchtig oder schmerzgebeutelt sind, sich falsch ernähren oder zu wenig bewegen. Die individuelle Gesundheitskompetenz steht in Wechselwirkung mit derjeweiligen Lebenswelt.

Integrierte Versorgung führt daher die beide Kernaufgaben des sozialen Gesundheitssystems zusammen und organisiert Solidarität und Hilfe gleichzeitig, integriert also Versicherung und Versorgung als transparente und gemeinsame Aufgabe von Managementgesellschaften: Es geht um preiswerte Gesundheit und solidarisches Miteinander für große Bevölkerungsgruppen. Dies zu erreichen ist nun die Aufgabe einer beharrlichen und nachhaltigen Organisationsentwicklung nach der Krise: Gesundheitssystementwicklung kann neuen Wohlstand und sozialen Fortschritt bewirken. Das erfordert eine Revolution, die keine Gewalt braucht, nur neues Denken und gemeinsames Handeln.

Die Gesundheitsrevolution

Ich habe die anstehenden Entwicklungsprozesse in Analogie zur „Zweiten Revolution in der Autoindustrie“ (Womak et al. 1997) als Gesundheitsrevolution beschrieben (Huber & Langbein 2004). Es geht darum, die Räderwerke des heutigen Systemgefüges durch offen kommunizierende Netzwerke abzulösen und arbeitsteilig hierarchische Organisationsmuster durch sich selbst steuernde Teams zu überwinden, also auch im Gesundheitswesen eine neue Organisationskultur umzusetzen. Die Macht verlagert sich dabei aus den Zentralen in die Peripherie und die neue Organisation muss eine gemeinsame Orientierung und gegenseitiges Vertrauen aufbauen, Selbstcontrolling und offene Kommunikation sollten die Kontrollansprüche der Verwaltung und die Macht der Standesfürsten wie Kassenfunktionäre ersetzen. Immer mehr entscheiden die Krankenversicherten selbst über die Akzeptanz der Angebote, sie nutzen ihre Wahlmöglichkeiten. Die Zukunft gehört der Beziehungsmedizin und der Community­Medizin. Gentechnologie oder molekularbiologische Strategien können die Herausforderung der heutigen Krankheiten jedenfalls nicht bewältigen, auch wenn viele Nutznießer dieser Medizin solche Träume hegen.

Die Zeit ist reif, dass Integrierte Versorgungsprojekte Schritt für Schritt die Regelversorgung übernehmen. Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz sind nämlich seit dem 1.1.2004 die dafür notwendigen politischen Voraussetzungen gegeben. Der Gesetzgeber zielt mit der Integrierten Versorgung (§ 140 SGB V) auf eine umfassende Modernisierung des Systems. Projekte der Integrierten Versorgung sollen neue Organisations- und Dienstleistungskonzepte entwickeln, mit denen die bisher beklagte Zersplitterung in Sektoren und die Probleme einer Über-, Fehl- oder Unterversorgung überwunden werden. Das Gesetz ermöglicht, dass Managementgesellschaften in Analogie zu anderen Wirtschaftsbereichen als "Generalunternehmer" oder „Systemanbieter“ auftreten und im Rahmen eines Globalen Budgets die Vollversorgung definierter Bevölkerungsgruppen sicherstellen können. Von diesem Populationsmodell erwarten Fachleute einen Produktivitätssprung in der Gesundheitsversorgung und die Entwicklung von Gesundheitsunternehmen, die preiswerter und qualitativ besser als die bisherigen Strukturen die Versorgungsaufgabe bewältigen.

Die finanziellen Spielräume sind mit den Normkosten des Risikostrukturausgleichs bürgerbezogen klar definiert. Bei durchschnittlich 2500 Euro „Kopfpauschale“ pro Person aus dem Gesundheitsfond bekommt ein Dorf mit 1000 Einwohnern 2,5 Millionen Euro, eine Stadt mit 100.000 Einwohnern 250 Millionen Euro und ein Land mit 10 Millionen Einwohnern 25 Milliarden Euro bereitgestellt. Kommunale Gesundheitspolitik und regionale Versorgungsnetze können damit subsidiäre Solidarität organisieren und einen optimalen Gesundheitsnutzen für die Bürgerinnen und Bürger erreichen.

Frühlingserwachen in Deutschland

In Deutschland existieren noch vereinzelte, aber bereits erfolgreich arbeitende Projekte, die auf dem Weg zur integrierten Versorgung mit globaler Budgetsteuerung und einer Vergütung durch versichertenbezogene und morbiditätsbasierte Kopfpauschalen sind (Tiska 2005). Die Prosper-Modelle der Bundesknappschaft in Bottrop, Recklinghausen, oder im Saarland und die Gesundes Kinzigtal GmbH zeigen beispielhaft, wie dies glücken kann.

Durch die Einrichtung eigener medizinischer Netze stärkt und erneuert die Knappschaft den traditionellen Verbundgedanken: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, ein regionales System von Knappschaftsärzten, Knappschaftskrankenhäuser und Rehabilitationskliniken sowie ein eigener Sozialmedizinischer Dienst sind unter einem Dach vereint. Die Prosper Netze der Knappschaft sind um 8 bis 14 % kostengünstiger als das herkömmliche Versorgungssystem. Versicherte, die dem Integrierten Versorgungsnetz angeschlossen sind, haben dabei viele Vorteile. Sie bekommen eine hohe Qualität bei der medizinischen Betreuung. Die niedergelassenen Netzärzte und die Knappschaftskrankenhäuser arbeiten eng zusammen, ambulanter und stationärer Bereich sind miteinander verzahnt. Es gibt keine belastenden, zeitraubenden und mitunter auch risikobehafteten Doppeluntersuchungen mehr. Die stationären Aufenthalte sind kürzer, die Verweildauer im Krankenhaus sinkt. Die Praxisgebühr und die Zuzahlungen im Krankenhaus fallen weg. Vom Integrierten Versorgungsnetz der Bundesknappschaft profitieren alle Beteiligten des Verbundnetzes: die knappschaftlich Krankenversicherten, die Knappschaftsärzte, die Knappschaftskrankenhäuser und die knappschaftliche Krankenversicherung.

Die Managementgesellschaft "Gesundes Kinzigtal GmbH" wurde im September 2005 von 35 niedergelassenen Ärzten gegründet, die in dieser ländlichen Region seit 15 Jahren kooperieren. Inzwischen machen 54 Ärzte und mehrere Krankenhäuser mit. Die Gesellschafter der GmbH sind zu zwei Drittel derÄrzte-Verein "Medizinisches Qualitätsnetz - Ärzteinitiative Kinzigtal e. V." und zu einem Drittel die auf Integrierte Versorgung spezialisierte OptiMedis AG aus Hamburg. Das Serviceunternehmen soll den Ärzten den Rücken für ihren eigentlichen Job, nämlich für die Rund-um-Betreuung ihrer Patienten freihalten. Es geht den Beteiligten darum, Bürokratie abzubauen, Prozesse zu vereinfachen oder den Kontakt zwischen Ärzten und den Vertretern nicht ärztlicher Heilberufe zu verstärken. Alles in allem rechnet die AOK Baden-Württemberg mit zehn bis 20 Prozent an Einsparungen und inzwischen zeigt sich, dass diese Erwartung realistisch ist.

DerVertrag hat zunächst eine Laufzeit von neun Jahren. Er umfasst alle Sektoren der Versorgung und alle Indikationen und arbeitet mit einer virtuellen Gesamtbudgetvergütung. Das Budget entspricht den Normkosten des RSA für die Versicherten im Kinzigtal, also der realen Kaufkraft derAOK für die Versorgung in dieser Region. Diese Budgetsumme wird dann mit den realen Kosten verglichen, die für alle AOK Versicherten im Kinzigtal angefallen sind. Mehr Kosten wären ein Misserfolg des Konzeptes, geringere Kosten messen den Erfolg. Die AOK investierte zunächst 1,7 Millionen Euro in den Aufbau des Managements und in Angebote zur Qualitätssicherung. Diese Investition hat sich bereits nach kurzer Zeit gelohnt. Die erreichte Versorgungsverbesserung und die geringeren Kosten führten zur Refinanzierung des Vorschusses (Kolbeck 2009).

Die Kultureines sozial verantwortlichen Versorgungsmanagements

Die vielfältigen Prozesse der Ökonomisierung und auch der Bürokratisierung im Gesundheitssystem sind zu einer Gefahr für die Gesundheit der einzelnen Menschen und des Gemeinwesens insgesamt geworden. Eine Medizin und Pflege in sozialer Verantwortung scheitern heute gleichermaßen am Terror der Ökonomie (Forrester 1997, Forrester2001) wie am Terror der Bürokratie. In den Zeiten der Globalisierung und der Angst vieler Menschen vor sozialer Ausgrenzung und dem Verlust der Sicherheit in ihrer Gesellschaft streben die sozialen Fragen nach neuen Antworten. Die Menschen suchen Geborgenheit in sozialer Gemeinschaft (Opaschowski 2010). Das Zeitalter der rücksichtslosen Individualisten geht zu Ende (Klein 2010). Das Gesundheitssystem muss nun neu gedacht werden.

Die Sorge um eine hinreichende Gesundheit des sozialen Bindegewebes gehört zu seinem Auftrag und zu seiner Aufgabe. Die Vereinzelung der Menschen und derVerlust sozialer Bindungen müssen durch soziale Integration oder verlässliche Beziehungen überwunden werden. Die Arbeit mit Not leidenden Patienten und die Sorge für Kranke vermitteln einen besonderen Kontakt zum Kern des Menschlichen. Krankheit, Hinfälligkeit und Tod stellen die elementare Gefährdung des einzelnen Menschen dar, die im seine Bezogenheit auf die Mitmenschen sinnlich vermitteln. Daher besitzt das soziale und solidarische Gesundheitswesen in der Bevölkerung so viel Zuspruch.

Investitionen in die Gesundheit der Bürger sichern die Human-Ressourcen und stärken die inklusiven und produktiven Kräfte der modernen Gesellschaft. Individuelle und soziale Gesundheit stellen eben Werte dar, die nicht an der Börse gehandelt werden können. Gesundheit als Ziel bildet ein Bindegewebe, das die Menschen jenseits von ökonomischen und privaten Beziehungen miteinander verbindet. Ein italienischer Gemüsemarkt ist nicht nur ein Platz, wo Geld umgesetzt wird, sondern sehr viel mehr. Marktwirtschaft lässt sich auch an Werten, statt an reiner Geldvermehrung ausgerichtet denken und ein Wettbewerb um möglichst gute Ergebnisse ist nicht verboten. Markt und Wettbewerb sind als Instrumente für selbstsüchtige Ideologien ebenso nützlich wie für sozial dienliche Unternehmen. Unsere jetzigen Gesellschaften werden die Krise des Kapitalismus nur dann überwinden können, wenn sie lernen, marktwirtschaftliche und wettbewerbliche Systeme nicht geld-, sondern werteorientiert auszusteuern. Diese Non­Profit Gesundheitswirtschaft braucht eine Managementkunst, die an Hochschulen bereits entwickelt ist, gelehrt und auch gelernt werden kann.

Ein an humanistischen Werten ausgerichtetes systemisches Verständnis der Organisationen des Gesundheitswesens wird künftig zur zentralen Führungsaufgabe.

Die bestimmenden Akteure wie Krankenkassen oder die helfenden Professionen, vor allem die Ärzteschaft müssen den Wandel von dergeldgesteuerten Optimierung ihrer Partikularinteressen zu einer wertgesteuerten Optimierung der individuellen und sozialen Gesundheit schaffen. Sie können dies in einem zielgerichteten und bewussten Prozess des Change Managements erreichen und damit die heutige Verkrustung und Erstarrung des Gesundheitssystems überwinden. Zentral ist dabei die Einsicht aller Beteiligten, dass sie eben nicht Partikularinteressen vertreten, sondern eine gemeinsame Aufgabe in sozialer Verantwortung lösen müssen (Huber 2007).

Seit einigen Jahren ereignet sich in erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen ein epochaler Prozessmusterwechsel. Mit Begriffen wie "Lean Management" und "Business Reenginiering" wurde ein neues Paradigma der industriellen Produktion eingeführt, das die arbeitsteilige Hierarchie durch eine Teamkultur ersetzt, in der Individualität, Eigenständigkeit, Risikofreude und Kreativität von Menschen ins Zentrum rücken (Glasel & Lievegoed 2004). Die "Zweite Revolution in derAutoindustrie" beschreibt das veränderte Denken und Handeln am Beispiel dieser Schlüsselindustrie (Hammer & Champy 1994, Jampy 1995, Womack et al. 1997, Womack & Jones 1998). Seitdem verlaufen die globalen Entwicklungen in einem rasanten Tempo.

„Change Management“ verändert die Kultur sozialer Gemeinschaften und die Führung von Unternehmen, die sich am Markt behaupten und erfolgreich gewinnen wollen (Doppler & Lauterburg 2002). Eine neue team- und kundenorientierte Haltung soll zwar auch in öffentlichen Verwaltungen und gemeinnützigen Organisationen Einzug halten. Doch diese und vor allem die Einrichtungen des Gesundheitswesens tun sich damit schwer. Die Zweite Revolution im Gesundheitswesen steht diesen Systemen noch bevor. Alle beteiligten Akteure ahnen, dass ein grundlegender Prozessmusterwechsel ansteht und dass sich auch im Gesundheitswesen eine neue Sichtweise und Organisationskultur durchsetzen muss.

„Wie würde es funktionieren, wenn das medizinische System schlankes Denken einführen würde?“, fragen die Wissenschaftler des Massachusett Institute of Technology (MIT) (Womack &Jones 1997 S. 430ff). „Als Erstes würde der Patient in den Mittelpunkt gerückt werden, und Zeit und Bequemlichkeit wären die zentralen Leistungsmaßstäbe des Systems. (...) Als Nächstes würde das medizinische System seine Abteilungsstruktur überdenken und sein Expertenwissen auf mehrfach qualifizierte Teams übertragen. Die Idee dabei wäre sehr einfach: Wenn der Patient von einem mehrfach qualifizierten Team, das in einem gemeinsamen Raum arbeitet - oder eine „Zelle“ in der Sprache der Produktion -, in das System aufgenommen ist, wird ihm ständige Aufmerksamkeit und Behandlung gewidmet, bis das Problem gelöst ist.“ Es geht also darum, ein individuelles Versorgungsmanagement mit hoher Kreativität, Kommunikationsbereitschaft und Beziehungsfähigkeit umzusetzen und individuelle „Gesundheitsprodukte“ herzustellen.

„Schließlich müsste der Patient aktiv an dem Prozess beteiligt und aufgeklärt werden - und zum Mitglied des Teams werden -, damit viele Probleme durch Prävention gelöst odervon zu Hause aus geklärt werden, um Besuche bei dem medizinischen Team vermeiden zu können.“

Eine schlanke Verwaltung und eine offene Kommunikation im Gesundheitswesen investieren die vorhandenen Ressourcen in die primäre Wertschöpfung und sparen Overheadkosten maximal ein. Ein Hausarzt, der beispielsweise einen Hausbesuch bei einem sterbenden Patienten macht, erkennt sofort, dass die Kostenübernahme des Lohnausfalls für den pflegenden Angehörigen wesentlich preiswerter und humaner ist, als eine Überweisung ins Hospiz oder ins Krankenhaus. Als Manager des Primärprozesses entscheidet er sich daher für den Lohnersatz durch die Krankenkasse. Für diese vernünftige und ökonomisch produktive Entscheidung braucht es kein weiteres Formular und keinerlei Kontroll- und Genehmigungsbürokratie. Denn derArzt oder in komplexen und schwierigen Betreuungsfällen ein multiprofessionelles Versorgungsteam übernehmen die Verantwortung für den Einsatz der Ressourcen im Versorgungsprozess. Ein individuell gestaltete „Case-Management“ durch den Arzt oder durch andere Gesundheitsberufe als neues Struktur- und Ordnungsprinzip für ein schlankes und ökonomisch optimiertes Versorgungsmanagement kann das heutige Steuerungsdilemma überwinden.

Gesundheitsreform als Systementwicklung organisiert könnte der Gesundheitspolitik in Deutschland helfen vom Chaos der Gegenwart in eine bessere Zukunft zu blicken. Die systemische Fähigkeit mit möglichst günstigem Ressourceneinsatz größere Bevölkerungsgruppen von der Geburt bis zum Tode gesundheitlich gut zu versorgen, sozusagen einen Volkswagen der Gesundheitsversorgung zu entwickeln, ist auch ein Wirtschaftsprodukt, das überall gebraucht wird. Deutschland war mal die Apotheke der Welt. Deutschland könnte zum Gesundheitsversorger der Welt werden, wenn es die Herausforderung einer nachhaltigen Gesundheitsreform für Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit bewältigt. Es ist kein Traum, in diesem Sektor neue Arbeitsplätze und ein soziales wie wirtschaftliches Wachstum zu erreichen.

Literatur

Amelung, V., Meyer-Lutterloh, K. , Schmid, E., Seiler, R., Weatherly J. (2008): Integrierte Versorgung und Medizinische Versorgungszentren, Von der Idee zur Umsetzung, Berlin: BMC Schriftenreihe, 2. Auflage,

Amelung, V., Deimel, D., Reuter, W., van Rooij, N., Weatherly J. (2009): Managed Care in Europa, Berlin: BMC Schriftenreihe, Berbuer, E. (1990): Zwischen Ethik und Profit: Arzt und Patient als Opfer eines Systems, Königstein: Access-Verlag

Böcken, J., Butzlaff, M., Esche, A., Hrsg. (2000): Reformen im Gesundheitswesen, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung

Bundesärztekammer (2010): §1 der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer, Online Dokument. URL: http://www.bundesaerztekammer.de/30/Berufsordnung, §1, Zugriff 1.10.2010

Bundesversicherungsamt (2008): So funktioniert der neue Risikostrukturausgleich im Gesundheitsfond, Online Dokument. URL: http://www.gkv- spitzenverband.de/upload/Wie_funktioniert_Morbi_RSA_8102.pdf

Champy, J. (1995): Reengineering im Management, Frankfurt: Campus-Verlag,

Doppler, K., Lauterburg, Ch. (2002): Change Management, 10. Auflage, Frankfurt: Campus-Verlag

Fischer, J.E. (2007): Gesundheitsstrategie: Gesund in Baden-Württemberg. Wissenschaftliche Stellungnahme im Auftrag des Ministeriums fürArbeit und Soziales Baden-Württemberg. Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg.

Forrester V. (1997): DerTerror der Ökonomie, Wien: Paul Zsolnay Verlag

Forrester V. (2001): Die Diktatur des Profits, München: Hanser Verlag

Gawande, A. (2009): Annals of medicine, The cost conundrum, What a Texas town can teach us about health care. McAllen, Texas and the high cost of health care : The New Yorker, 1.6.2009

Glasel, F., Lievegoed, B. (2004): Dynamische Unternehmensentwicklung, 3. Auflage, Bern: Paul-Haupt-Verlag,

Hammer, M., Champy, J. (1994): Business-Reengineering, Frankfurt: Campus-Verlag

Hildebrandt, H., Richter-Reichhelm, M., Trojan, A., Glaeske, G., Hesselmann, H. (2009): Die Hohe Kunst derAnreize: Neue Vergütungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen und der Bedarf für Systemlösungen in: Sozialer Fortschritt, Jahrgang 58, Heft 7, S. 154ff

Huber, E. (1995): Liebe stattValium, Konzepte für eine neue Gesundheitsreform, München: Verlag Droemer Knaur

Huber, E., Langbein, K. (2004): Die Gesundheitsrevolution, Radikale Wege aus der Krise - was Patienten wissen müssen, Berlin: Aufbau-Verlag

Huber, E. (2007): Gesundheitsreform als Gesundheitssystementwicklung in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZaeFQ), Elsevier Verlag

Janus, K., Amelung, V. (2004): Integrierte Versorgungssysteme in Kalifornien, Erfolgs­und Misserfolgsfaktoren der ersten zehn Jahre und Impulse für Deutschland, in: Gesundheitswesen 20004, 66: 649-655

Kickbusch, I. (2006): Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends der Gesundheit und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft, Gamburg, Verlag für Gesundheitsförderung

Klein, St. (2010): Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag

Kolbeck, C. (2009): Integrierte Versorgung. Die zweite Generation; in: kma, Das Gesundheitswirtschaftsmagazin, Heft 162, 1209, S. 16-19; Stuttgart: Thieme Verlag

Tiska, G. (2005): Praxisnetze: Erfolgsaussichten erkennen; in: Deutsches Ärzteblatt 102, Ausgabe 10 Seite A-649 / B-545 / C-511 ; Köln: Deutscher Ärzteverlag

Walter, C., Kobylinski, A. (2010): Patient im Visier, Die neue Strategie der Pharmakonzerne, Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag

Womack, J. P., Jones, D. T., Roos, D. (1997): Die zweite Revolution in der Autoindustrie, München: Heyne-Verlag,

Womack, J. P., Jones, D. T. (1998): Auf dem Weg zum perfekten Unternehmen, München: Heyne-Verlag,

Internetadressen:

http://www.bundesknappschaft.de

http://www.gesundes-kinzigtal.de

http://www.medix-gruppenpraxis.ch

http://www.optimedis.de

http://www.prosper-netz.de

http://intermountainhealthcare.org

http://www.geisinger.org

http://www.kaiserpermanente.org

http://www.marshfieldclinic.org

http://www.mayoclinic.org

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]

Ende der Leseprobe aus 126 Seiten

Details

Titel
Karrierechancen auf dem Marktplatz der Gesundheitswirtschaft
Autor
Jahr
2011
Seiten
126
Katalognummer
V177346
ISBN (eBook)
9783640989683
ISBN (Buch)
9783640989607
Dateigröße
10806 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesundheitswesen, Reader, Berlin, Prävention, Versorgung, Telemedizin, MVZ, QM, Qualifikation
Arbeit zitieren
Dr. Georgios Giannakopoulos (Autor:in), 2011, Karrierechancen auf dem Marktplatz der Gesundheitswirtschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177346

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