Hörsinnig gut? Die Anwendung der Nachrichtenwerttheorie im privaten Regionalhörfunk. Am Beispiel des Lokalsenders Radio Neandertal.


Zwischenprüfungsarbeit, 2001

92 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Die Entwicklung der Nachrichtenwert-Theorie
1.1. Die Anfänge der Forschung in den USA
1.1.1 Erste Überlegungen zu Auswahl-Kriterien
1.1.2. Erste Überlegungen zum Rezipienten
1.2. Die europäische Forschungstradition
1.2.1. Einar Östgaard
1.2.2. Johan Galtung und Mari Holmboe R

2.„News Bias“- und „Gatekeeper“–Forschung
2.1. „News Bias“
2.1.1. Erste Forschungsansätze in den USA
2.1.2. „News-Bias“- Forschung in Deutschland
2.2. Die „Gatekeeper“ – Forschung
2.2.1. Der lokale „Gatekeeper“

3. Über das Medium
3.1. Der Sender
3.2. Die R

4. Praktische Untersuchung
4.1. Die Nachrichtenauswahl
4.2. Fazit der U

5. Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie nach 1965
5.1. Karl Eric Rosengren
5.2. Winfried Schulz
5.3. Joachim Friedrich Staab
5.4. Christiane Eilders
5.5. Die Radio-Nachrichtenselektion in journalistischen Praxisbü

6. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Weiterführende Literatur zum Thema Nachrichten im Rundfunk:

Einleitung

Nur ein Bruchteil der unzähligen Ereignisse, die täglich auf der Erde geschehen, kann von den Medien berücksichtigt werden. Aufgrund des begrenzten Platzes, der den Printmedien zur Verfügung steht, und der weit mehr eingeschränkten Sendekapazität von Rundfunk und Fernsehen, müssen die für das Publikum (Leser, Zuschauer, Hörer) interessantesten Meldungen aus einer Flut von Ereignissen ausgewählt werden. Hörfunk, Presse und Fernsehen in Deutschland werden täglich von mehreren Informationslieferanten mit Ereignissen ´versorgt`. Allein die Deutsche Presseagentur (dpa) liefert täglich zwischen 300 und 500 Meldungen an die Redaktionen. Eine weitere Agentur (Reuters) schickt täglich etwa 450 Meldungen.[0] Über vorwiegend internationale Ereignisse informiert die amerikanischen Associated Press und die Agence France Press. Zu diesen Meldungen kommen noch die Nachrichten von ddp und von kleineren Agenturen, sowie Meldungen aus den Themendiensten für Sport, Religion und Wirtschaft, und Faxe von Polizeileitstellen und Feuerwachen, die selbst über diverse Ereignisse in der Region informieren

Diese Fülle an Nachrichten, die deutsche Journalisten über Presseagenturen erreicht, ist bereits vorselektiert. Schon an dieser Stelle handelt es sich um eine Auswahl und nicht um das Abbild des Weltgeschehens. Die Redakteure bei den Tageszeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern reduzieren das Material erneut, mit dem Unterschied, dass sie den Geschmack ihrer jeweiligen Zielgruppe treffen müssen

Doch nach welchen Gesichtspunkten wählen Journalisten Nachrichten aus?

Was macht ein Ereignis für eine Masse unterschiedlicher Rezipienten so interessant, dass es auch ´berichtenswert` ist? Welche Ereignisse erwecken unsere individuellen Gefühle und Empfindungen (Trauer, Entsetzen, Angst, Hoffnung, Mitleid) und wann ist der Grad eines befriedigenden ´Informiertseins` erreicht?

Die Nachrichtenredakteure haben die Aufgabe, dies zu entscheiden. Dabei müssen sie als Journalisten objektiv aussuchen, welches Ereignis sie zu einer Nachricht machen und welches Ereignis ´irrelevanter` ist als ein anderes, unbeachtet bleibt und der breiten Masse verborgen bleibt

Friedrich Staab (siehe 5.3.), zum Beispiel, vermutete, dass Journalisten einigen Ereignissen Nachrichtenwert zuschreiben, um ihre subjektive Auswahl zu legitimieren. Inwieweit Journalisten objektiv handeln und welche subjektiven Kriterien bei der Nachrichtenselektion eine Rolle spielen, wird in der „News-Bias“-Forschung (siehe 2.1.) diskutiert

Aus der Nachrichtenwert-Forschung hat sich im Allgemeinen ergeben, dass die Selektionsentscheidung der Nachrichtenredakteure in erster Linie auf bestimmte Eigenschaften der Ereignisse basieren soll. Nur wenn ein Ereignis spezifische Qualitäten aufweisen kann, wird es zur Nachricht ´erklärt` und an die Rezipienten weitergegeben. Diese sogenannten Nachrichtenfaktoren sind Bestandteile der Nachrichtenwerttheorie, die als Konzept zur Erklärung der Nachrichtenauswahl und Nachrichtengestaltung in den Massenmedien dient

Die Nachrichtenfaktoren wurden vor allem mit Blick auf die nationale und internationale Berichterstattung in den Printmedien entwickelt. Bezogen auf den Radio-Lokaljournalismus stellten sich den Forschern also noch zusätzliche Fragen: Wie viele Ereignisse mit Nachrichtenwert hat eine Region letztlich vorzuweisen?

Wie ausgeprägt muss ein Nachrichtenwert sein, um ein lokales Ereignis interessant zu machen?

Muss eine Region ein ´Minimum` an Ereignissen bieten, damit der Lokaljournalist ein interessantes Programm gestalten kann?

Inwieweit die Nachrichtenfaktoren für eine Analyse der Hörfunk-Lokalberichterstattung überhaupt geeignet sind galt lange als umstritten

In einem ersten Schritt zur Lösung dieser Unklarheiten haben Vergleiche der Berichterstattung des Lokalhörfunks mit der Berichterstattung von örtlichen Tageszeitungen ergeben, dass im Lokalradio kein grundsätzlich anderer Typ von Journalismus bezüglich der Auswahl von Ereignissen praktiziert wird[1a]. Verschiedene Beobachtungen haben zwar zu verschiedenen Thesen geführt (dass etwa beim privaten Rundfunk eine Verschiebung der Selektionskriterien[1b] zu einer größeren Sensationsorientierung hin stattfinde), ein allgemeingültiger Nachrichtenwertkatalog, der den privaten Lokalhörfunk ausreichend mitberücksichtigt ist bisher jedoch nicht erstellt worden

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, welcher Kriterien der Nachrichtenwertforschung sich der Radio-Lokalredakteur in der Praxis bedient, um den Anspruch auf Information seiner Hörer zu erfüllen. Es stellt sich die Frage, inwiefern die bisher ausgearbeiteten Kataloge von Nachrichtenfaktoren eine sinnvolle und nützliche ´Gebrauchsanweisung` für das Aussuchen und Erstellen der Hörfunk-Lokalnachrichten darstellt

Als Neuling in der Nachrichtenredaktion des Lokalsenders Radio Neandertal mache ich die Erfahrung, dass es gar nicht so einfach ist, Ereignisse herauszusuchen, die den Hörer wirklich interessieren, oder ihn zumindest nicht abschalten lassen - nicht nur geistig, sondern auch bildlich gesprochen. Das ´Dranbleiben` des Hörers ist im Falle eines privaten Lokalsenders wohl der viel wesentlichere Faktor, da die Hörerquoten über die Sendelizenz, sprich über die Existenz des Senders entscheiden können. Wie wählt man also aus vielen „brandheissen“ Ereignissen, die im „besten“ Fall, an einem Tag geschehen die drei, höchstens fünf, interessantesten und ´meldenswertesten` Ereignisse aus ? Oder: Wie füllt man eine drei- bis fünfminütige Nachrichtensendung , wenn das interessanteste Ereignis der letzten drei Tage die Jahreshauptversammlung des ortsansässigen Kaninchenzüchtervereins ist? - was tatsächlich mal vorkommt

Der Radio-Hörer hört den Nachrichten aufmerksamer zu als dem übrigen Programm, kann aber dennoch, das haben Untersuchungen ergeben, durchschnittlich höchstens dreieinhalb bis fünf Minuten lang die Meldungen konzentriert aufnehmen. Auch würde er bei einer zu hohen Anzahl an Meldungen, die möglicherweise auch noch recht komplex sind, viel weniger Informationen behalten

Nachdem ich eine Woche, von Montag bis Freitag, die Nachrichtenauswahl Nachrichten beim Lokalsender Radio Neandertal (Sendegebiet Kreis Mettmann und Teile des Düsseldorfer Südens) verfolgt habe, möchte ich in der vorliegenden Arbeit darstellen, welche Nachrichtenfaktoren in der Berichterstattung des Regionalsenders Radio Neandertal für die Redakteure ausschlaggebend sind. Als Grundlage habe ich den Nachrichtenwertkatalog von Galtung und Ruge (Kapitel 1.2.) ausgewählt

Er bietet für mich eine Basis, die im Gegensatz zu den späteren, weiter ausgereifteren Theorien (etwa die von Winfried Schulz) noch ´unberührt` ist

Auf ihr kann man, meiner Meinung nach, am besten eigene Gedanken und Beobachtungen aufbauen, in denen sich natürlich die teilweise fundierten Erkenntnisse und die Kritiken späterer Forscher wiederfinden werden

Im ersten Kapitel dieser Arbeit werde ich zunächst die Anfänge der amerikanischen und der europäischen Entwicklung der Nachrichtenwertforschung skizzieren. Behandelt werden vor allem die Thesen von Einar Östgaard und der umfangreiche Nachrichtenwertkatalog von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge

Im zweiten Kapitel werde ich über die „News-Bias“- und die „Gatekeeper“- Forschung (siehe 2.2.) berichten, da diese Forschungsansätze mit der Nachrichtenwerttheorie verwoben sind und ihre Berücksichtigung eine sinnvolle Rezeption der Nachrichtenwerttheorie ermöglicht

Im dritten Teil möchte ich den Sender vorstellen, dessen Nachrichten ich im darauffolgenden Kapitel auf Ereigniskriterien hin untersucht habe. Das Kapitel teilt sich auf in einen informativen Abschnitt über die organisatorische Struktur und einen weiteren über die redaktionellen Strukturen

Um den Rahmen nicht zu sprengen, möchte ich mich im praktischen Teil, den das vierte Kapitel beinhaltet, auf die Woche vom 25.06. bis zum 29.06.2001 beziehen, wobei ich mich jeweils auf die zweiten Regionalnachrichten – um 7 Uhr 30 des jeweiligen Morgens konzentrieren möchte

Im fünften Kapitel möchte ich die wichtigsten Kritiker Galtungs und Ruges vorstellen, die mit eigenen Thesen die Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie nach 1965 beeinflusst haben. Darunter sind Wissenschaftler wie Karl Eric Rosengren, Winfried Schulz, Joachim Friedrich Staab sowie Christiane Eilders

Außerdem werde ich ergänzend auf aktuelle deutsche Lehrbücher für den Journalisten eingehen, die in der Praxis nützlich sein sollen. Ich möchte darlegen, inwieweit sich Nachrichtenwert–Kriterien in ihnen wiederfinden, insbesondere bezogen auf Regional-Hörfunk-Nachrichten

Ziel der Arbeit ist es, heraus zu finden, inwieweit ein allgemeingültiger Katalog von Kriterien- wie ihn eben Galtung und Ruge erarbeitet haben - sinnvoll ist, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Lokalnachrichten-Redakteur in der Auswahl seiner Themen wesentlich eingeschränkter ist, als andere Journalisten, und dennoch seine Hörer sowohl objektiv informieren sollte, als auch zur Meinungsbildung beitragen möchte

1. Die Entwicklung der Nachrichtenwert-Theorie

1.1. Die Anfänge der Forschung in den USA

1.1.1 Erste Überlegungen zu Auswahl-Kriterien

Der Amerikaner Walter Lippmann stellt 1922 in seinem Buch „Public Opinion“ die These auf, dass die Wirklichkeit wegen ihrer Komplexität weder vollständig erkannt noch dargestellt werden kann. Auch die Nachrichten in den Tageszeitungen seien nicht mit der Realität identisch

„All the reporters in the world working all the hours of the day could not witness all the happenings in the world“[2],

schreibt Lippmann. Aber selbst das, was die Reporter wahrnehmen, spiegele sich nicht komplett in den Nachrichten wieder. Vielmehr beruhten Nachrichten auf Selektion und Interpretation der Journalisten. Eine Zeitung bringe nur stereotypisierte Ausschnitte von Realität

„Without standardization, without stereotypes, without routine judgements, without a fairly ruthless disregard of subtilety, the editor would soon die of excitement.”[3]

Lippmann fragt sich, welche Kriterien Ereignisse erfüllen müssen, damit Journalisten sie aufgreifen und zu Nachrichten machen. Er verwendet für die Beantwortung seiner Frage den Begriff news value. Darunter versteht er Merkmale von Ereignissen, die ihre Wahrscheinlichkeit zur Veröffentlichung erhöhen. Anhand einzelner Beispiele nennt Lippmann einige Eigenschaften, die nach seiner Ansicht den Nachrichtenwert bestimmen. So führt er an: räumliche Nähe, Prominenz, Sensationalismus, Etablierung, Dauer, Relevanz, Schaden, Nutzen, Struktur sowie institutioneller Einfluss. Je mehr Kriterien auf ein Ereignis zutreffen und je ausgeprägter sie sind, desto größer ist nach Lippman die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Nachricht wird

Charles Merz ermittelt 1925 den ´größten gemeinsamen Nenner` von Meldungen zu zehn verschiedene Themengebieten. Auf jede der Meldungen treffen vier Kriterien zu: 1. Konflikt. 2. Personalisierung, 3. Prominenz und 4. Spannung

„The great first-page story, as it is reflected in the news of 1925, is the story of a personal fight between well identified antagonists which involves the element of suspence“[4].

Daraufhin wird die Liste der Kriterien, die auf zahlreiche untersuchte Meldungen zutreffen, auf acht Nachrichtenfaktoren oder Nachrichtenelemente (news factors) für sogenannte newsworthy (nachrichtenwerte) Ereignisse verlängert:

1.immediacy- Unmittelbarkeit eines Ereignisses; 2.proximity - räumliche Nähe;
3.prominence-Prominenz der beteiligten Personen; 4.oddity – Ungewöhnlichkeit;
5.conflict - Konflikt; 6.suspence – Spannung; 7.emotions – Emotionalisierung;
8.consequence – Konsequenzen.

Leo C.Rosten erweitert die bisherigen Hypothesen 1937 um die Ansicht, dass der Nachrichtenwert in Relation zu zwei Faktoren stehe:

Erstens zur jeweiligen Nachrichtenlage, und zweitens zur Publikationspraxis des jeweiligen Mediums

Nach Rosten bestimmen Nachrichten-Standards den Nachrichtenwert je nach Nachrichtenlage und Medium, wobei sich einige Kriterien auf Ereignisse, andere auf Nachrichten beziehen

Ereigniskriterien sind:

1. Konflikt, 2. Aggression, 3. Überraschung, 4.institutioneller Einfluss und Prominenz der Beteiligten, 6. Kurzfristigkeit.

Als Nachrichtenkriterien bezeichnet Roston:

1.Simplifikation, 2. Personalisierung und 3. Stereotypisierung.[5]

Wilbur Schramm greift 1949 eine psychologische Perspektive auf, die an Freuds Lust- und Realitätsprinzip und an lerntheoretischen Überlegungen orientiert ist. Nachrichten seien Stimuli, die Selektionsentscheidung der Rezipienten seien Responses. Diese Responses zielen darauf, die größtmögliche Belohnung für die rezipierte Nachricht zu bekommen. Er konstatiert zwei Arten von Belohnungen für die Auswahl von bestimmten Nachrichten:

unmittelbare Belohnung > emotionale Erregung, erzeugt durch Verbrechen, Unglücke oder Sportereignisse > Lustprinzip

verzögerte Belohnung > Stärkung des Realitätsbewusstseins, durch politische Nachrichten, deren Konsum dem Rezipienten eine bessere Orientierung in der Realität beschere > Realitätsprinzip

Die Selektionsentscheidungen der Rezipienten seien die Folge von bestimmten Sozialisierungsprozessen (Lern- und Konditionalisierungsprozesse)

Bestimmte Ereignisaspekte und Nachrichtenelemente werden subjektiv aus der Sicht des jeweiligen Rezipienten interpretiert. Die Bedeutung dieser Aspekte und Elemente bestimme zwar nicht den Wert einer Meldung, auf sie werde lediglich die Stärke der Belohnungen zurückgeführt. Diese Aspekte sind nach Schramm:

Nähe, Sensationalismus und Schaden wie zum Beispiel Verbrechen, Unglücke und sogenannte „Human Interest“- Ereignisse.[6]

Anju Chaudhary untersucht 1974 die interkulturelle Bedeutung von Nachrichtenfaktoren., indem er 30 amerikanische und 30 indische Journalisten befragt. Chaudhary stellt neun Faktoren auf - Unmittelbarkeit, Nähe, „Human Interest“, Bedeutung, Konflikt, Prominenz, Neuigkeit, Sensationalismus und Ungewöhnlichkeit - und weist in Experimenten nach, dass amerikanische und indische Journalisten die Publikationswürdigkeit von Nachrichten ähnlich beurteilen. Er kommt zu folgenden Schlüssen:

Die einzelnen Nachrichtenfaktoren wie Nähe, Konflikt und Ungewöhnlichkeit werden unterschiedlich eingestuft. Die Urteile der Amerikanischen Journalisten sind homogener und auch Persönlichkeitsvariablen haben keinen Einfluss auf die Selektionsentscheidungen. Die Publikationswürdigkeit der Ereignisse wird im Wesentlichen ähnlich beurteilt

Damit war die interkulturelle Bedeutung und Gültigkeit der Nachrichtenfaktoren für die Nachrichtenauswahl nachgewiesen

Pamela J. Shoemaker untersucht 1987 den Einfluss von Ungewöhnlichkeit und Abweichung von internationalen Ereignissen auf die Nachrichtenauswahl amerikanischer Medien. Die Untersuchung wird in zwei Schritten durchgeführt

Zunächst wird der Grad der Ungewöhnlichkeit anhand folgender Fragen bestimmt:

a) Wie wahrscheinlich ist ein Ereignis im statistischen Sinne?
b) Wie sehr bedroht ein Ereignis den Status quo im Ereignisland?
c) Wie stark verstößt ein Ereignis gegen amerikanische Normen?

Dann wird eine Analyse der Medienberichterstattung über die Ereignisse durchgeführt. Das Ergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Meldungen über ungewöhnliche und abweichende Ereignisse sind deutlich überrepräsentiert. Über gewöhnliche Ereignisse wird deutlich seltener berichtet. Der Nachrichtenfaktor Ungewöhnlichkeit und Abweichung besaß also einen wesentlichen Einfluss auf die Publikationswürdigkeit von Ereignissen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in amerikanischen Journalistenhandbücher sechs Nachrichtenfaktoren immer eine Rolle spielten:

1. Unmittelbarkeit, 2. Nähe, 3. Prominenz, 4. Ungewöhnlichkeit, 5. Konflikt, 6. Bedeutung.

1.1.2. Erste Überlegungen zum Rezipienten

Nachrichtenredakteure achten also auf bestimmte Aspekte und Eigenschaften eines Ereignisses, damit es als Nachricht für den Rezipienten (Leser, Hörer, Zuschauer) interessant ist. Doch empfindet auch der Rezipient die nach diesen Eigenschaften ausgesuchten Nachrichten auch wirklich als interessant? Welche Rolle spielt das Interesse und die ´Beschaffenheit` des Publikums (der anzusprechenden Zielgruppe) für den Wert einer Nachricht? Diese Fragen wurden seit den Sechziger Jahren behandelt

Eine Untersuchung verschiedener Typen von Nachrichten mit inhaltlichen, formalen und institutionellen Aspekten brachte Chilton R. Bush (sowie Wilbur Schramm) 1965 zu dem Schluss, dass der Nachrichtenwert sich aus dem Publikumsinteresse ergibt. Die Nachrichtenauswahl in einer sozialen Gruppe der Gesellschaft ist auf bestimmte Elemente dieser Nachricht zurückzuführen. Erstmals werden explizit die zwei Nachrichtenelemente Bedeutung von Prominenz und Nähe an 38 Themen wie Krieg, Steuern, Kinder oder Wetter untersucht

1.2. Die europäische Forschungstradition

Nach Walter Lippmann entwickelt sich die Nachrichtenwerttheorie unabhängig voneinander in einer amerikanischen und einer europäischen Forschungstraditionen weiter:

,, Beide Forschungstraditionen basieren auf einem Kausalmodell der Nachrichtenauswahl, in dem bestimmte Eigenschaften von Ereignissen (Nachrichtenfaktoren) als Ursache journalistischer Selektionsentscheidungen angesehen werden."[8]

Laut Lippmann ergibt sich der Nachrichtenwert aus der Kombination von verschiedenen Ereignisaspekten, „die das Interesse und die Emotionen der Rezipienten wecken sollen"[9], indem sie ihnen Identifikationsmöglichkeiten bieten

Das Grundkonzept der europäischen Nachrichtenwert-Theorie sind die von Lippmann aufgegriffenen zehn Aspekte, die den Nachrichtenwert von Ereignissen bestimmen:

1. Überraschung;
2. Sensationalismus (Ungewöhnlichkeit eines Ereignisses);
3. Bezug zu bereits angesprochenen Themen( Etablierung);
4. Zeitliche Begrenzung ( Dauer);
5. Einfachheit (Struktur); 6. Relevanz;
7. Schaden; 8. Nutzen (Konsequenzen);
9.Institutioneller Einfluss, Prominenz (Beteiligung einflussreicher oder bekannter Personen);
10. räumliche Nähe (Entfernung des Ereignisortes zum Verbreitungsgebiet des Mediums).

1.2.1. Einar Östgaard

Einar Östgaard vom Friedensforschungsinstitut Oslo gilt als Begründer der Nachrichtenwerttheorie in Europa. Östgaard integriert 1965 zum ersten Mal verschiedene Nachrichtenfaktoren in ein komplexes theoretisches Konzept.[10] Östgaard fragt sich Mitte der sechziger Jahre, warum es im internationalen Nachrichtenwesen keinen free flow of news gibt. Er hatte zahlreiche Inhaltsanalysen gesammelt und war zu der Überzeugung gelangt, dass es im weltweiten Nachrichtenfluss zu Verzerrungen kommt. Er versucht, die Ursachen für diese Verzerrungen zu systematisieren. Neben externen Faktoren wie politischer Zensur oder ökonomischen Zwängen, stellt er auch drei interne Faktoren auf

,,Als interne Nachrichtenfaktoren bezeichnet er einzelne Aspekte von Nachrichten, die diese für die Rezipienten interessant und beachtenswert machen."[11]

Im Einzelnen unterscheidet Östgaard:

1. Externe Faktoren, die den Nachrichtenfluss von außen beeinflussen, wie zum Beispiel direkte oder indirekte Einflussnahme von Regierungen oder direkte oder indirekte Einflussnahme von Nachrichtenagenturen und Eigentümern von Massenmedien (Chefredakteure, Vorstand etc.) aus politischem und ökonomischem Interesse, wie zum Beispiel: Zensurmaßnahmen (wie in Russland und bis vor kurzem in Serbien), politisch motiviertes Nachrichten-Management (Helmut Kohl unterstützte Leo Kirch bei dem Erwerb des Axel Springer Verlages, im Gegenzug kam Kohl in der Berichterstattung in Kirchs Medien fast immer recht gut weg), und ökonomische Zwänge (hohe Einschaltquoten bei privaten Sendern werden durch Sensationshascherei angestrebt, um so viele Werbekunden wie möglich anzuwerben)

2. Interne Faktoren, welche die Publikations- und Beachtungswürdigkeit von Meldungen determinieren und somit zwingend Kriterien für die Selektion und Rezeption von Nachrichten sind

Östgaard glaubte, manche Ereignisse beinhalten bestimmte Aspekte, die das Interesse eines Journalisten wecken. Diese Aspekte seien:

A – Simplifikation -- Simplifikation beschreibe die Tendenz der Nachrichtenmedien, möglichst einfache, leicht verständliche Inhalte zu vermitteln. Diese Tendenz führe dazu, dass Journalisten einfache Nachrichten komplexen Nachrichten vorziehen und dass sie dazu neigen, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen

B - Identifikation – Unter dem Aspekt Identifikation fasst Östgaard die Tendenz der Nachrichtenmedien zusammen, bevorzugt über bereits bekannte Themen oder aus einem bekannten Umfeld zu berichten, um eine Identifikation des Rezipienten mit dem Medium herzustellen. Dies schlage sich nieder in der Berichterstattung aus zeitlicher oder räumlicher Nähe oder der Berichterstattung über prominente Staaten und Personen sowie in jeder Form der Personalisierung. Diese Kriterien dienen der Tendenz der Nachrichtenmedien, die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu erlangen. Es wird über bereits bekannte Ereignisse, Sachverhalte und Themen berichtet

C - Sensationalismus – Medien würden versuchen, über dramatische und emotional erregende Sachverhalte Aufmerksamkeit zu erregen. Dies betreffe sowohl die soft news über Kuriositäten, Unglücke und Gesellschaftsklatsch, als auch die hard news über Konflikte und Krisen - z.B. über Kriminalität und Krieg - auf nationaler und internationaler Ebene. Medien würden es verstehen, die Aufmerksamkeit der Rezipienten durch dramatische und emotional erregende Ereignisse zu erlangen.[12]

Diese Faktoren beeinflussen laut Östgaard die Selektion:

,,Die Chancen einer Meldung, von den Massenmedien berichtet zu werden, sei um so größer, je einfacher die Meldung strukturiert sei, je mehr Identifikationsmöglichkeiten sie den Rezipienten biete und je sensationalistischere Momente sie enthalte."[13]

Als weitere, die Selektion beeinflussenden Faktoren nennt Östgaard Ereignisdaue r und Etablierung des Themas. Darüber hinaus geht Östgaard davon aus, dass die Medien oft nur über das Tagesgeschehen oder über Ereignisse des Vortages berichten können. Dies führe dazu, dass nur Teilereignisse aufgegriffen werden können. Deswegen hätten es kurzfristige Ereignisse leichter zur Nachricht zu werden. Andererseits habe ein langfristiges Ereignis, das einmal die ´Nachrichtenbarriere` übersprungen habe, größere Chancen erneut aufgegriffen zu werden, da das Thema dann etabliert sei

Aus seinen Überlegungen leitet Östgaard drei Hypothesen ab, die er empirisch aber nicht untersucht

1. Massenmedien würden dazu tendieren das ´Status quo` von Elite-Nationen zu verstärken, indem sie die Bedeutung individueller Handlungen von dessen politischen Führern übertreiben.
2. Die Welt würde konfliktreicher dargestellt als sie tatsächlich ist, und die Effektivität gewaltsamer Konfliktlösungen wird betont.
3. Medien würden die Teilung der Welt in Staaten mit niedrigem und hohem Status aufrechterhalten, wenn nicht sogar verstärken.[14]

Wie an allen Hypothesen wird auch an Östgaards Darstellung der Faktoren, die den Nachrichtenfluss hemmen, Kritik geübt

Für Joachim Friedrich Staab zum Beispiel ist die Darstellung Östgaards unbefriedigend:

„Zum einen bleibt das Verhältnis zwischen externen und internen Nachrichtenfaktoren ungeklärt, zum anderen gehen in die Explikation und Differenzierung der internen Nachrichtenfaktoren logisch verschiedene Dimensionen ein, die nicht voneinander abgegrenzt werden.“[15]

Wesentlich umfassender, systematischer und differenzierter sei die Theorie über die Nachrichtenfaktoren von Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge. Auch sie befassten sich mit den Nachrichten der internationalen Politik und bauten die Grundidee Östgaards zu einem umfassenden theoretischen Gebäude aus

1.2.2. Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge

Galtung und Ruge gehen wesentlich über Östgaards Ansatz hinaus. Auch sie stellen sich die Frage, nach welchen Kriterien ein Ereignis von Journalisten selektiert und zur Nachricht wird. Sie entwerfen einen Katalog von zwölf Nachrichtenfaktoren. Nach ihrer Einschätzung erregen acht wahrnehmungspsychologisch begründbare Faktoren von Nachrichten die Aufmerksamkeit von Journalisten. Diese betrachten sie als kulturunabhängig[16]:

1.Frequency (Frequenz)

Die Wahrscheinlichkeit, dass über ein Ereignis berichtet wird, hänge stark davon ab, ob die Dauer des Ereignisses mit der Erscheinungsfrequenz des Mediums korrespondiert. Kurze Ereignisse haben demnach bessere Chancen in der Tageszeitung zu stehen als langfristige, die eher für wöchentlich oder monatlich erscheinende Medien interessant sind. Ein Ereignis, das sich über einen langen Zeitraum erstreckt, werde kaum in der Tageszeitung veröffentlicht, außer es erreicht zwischendurch einen dramatischen Höhepunkt. Je größer die Übereinstimmung von Ereignis- und Erscheinungsfrequenz, desto eher wird über das Ereignis berichtet

2.Threshold (Aufmerksamkeitsschwelle)> Schwellenwert.

Jedes Ereignis müsse eine Aufmerksamkeitshürde überwinden, um zur Nachricht zu werden. Je stärker die Intensität eines Ereignisses ist, desto leichter überwinde es die Aufmerksamkeitsschwelle. „The more violent the murder the bigger the headlines it will make.“[17] Ein Thema muss sich etablieren bevor es in die Medien kommt

3.Unambiguity (Eindeutigkeit)

Die Eindeutigkeit eines Ereignisses kann das Ereignis zur Nachricht machen. Je einfacher und klarer strukturiert ein Ereignis sei, um so eher werde es veröffentlicht

4.Meaningfulness (Bedeutsamkeit)

Unterschieden werden zwei Aspekte der Bedeutsamkeit. Zum einen würden Massenmedien um so eher über ein Ereignis berichten, je relevanter es für das Leben des Rezipienten ist, unabhängig davon, wie weit entfernt das Ereignis passiert ist. Auf der anderen Seite werde ein Ereignis automatisch bedeutsam, je deutlicher die kulturelle Nähe zum Rezipienten zu erkennen ist. Der Rezipient sollte einen Bezug zu dem Geschehenden haben, z.B. wecken kulturelle Nähe oder direkte Betroffenheit sein Interesse

5.Consonance (Konsonanz)

Dem fünften Faktor liegt die Annahme zu Grunde, dass Menschen Vorstellungen davon haben, was passieren könnte oder sollte. Geschieht tatsächlich das Erwartete oder Gewünschte, würde dies die Aufnahme und Verarbeitung des Ereignisses beim Rezipienten begünstigen. Deswegen würden Medien besonders über Ereignisse berichten, die den Erwartungen und Wünschen ihrer Rezipienten entsprechen. Nachrichten haben demnach eine gewisse Bestätigungsfunktion. In diesem Zusammenhang könne man auch sagen, „ news are actually olds“.[18]

6. Unexpectedness (Überraschung)

Medien würden dazu tendieren, besonders gern über Kurioses, Unvorhersehbares oder Seltenes zu berichten. Dieser Faktor sei ein Korrektiv für die Faktoren Bedeutsamkeit und Konsonanz. Es sei nicht ausreichend, dass eine Ereignis bedeutsam und absehbar ist. Es müsse auch überraschend und kurios sein. Etwas Überraschendes aber könne nur innerhalb von bedeutsamen und für den Rezipienten erwarteten Geschehnisabläufen erkannt werden

7.Continuity (Kontinuität)

Wenn ein Ereignis es erstmals geschafft hat, Schlagzeilen zu machen, dann hat es nach Galtung und Ruge gute Chancen, erneut von Journalisten aufgegriffen zu werden. Was einst unerwartet war und deshalb zur Nachricht wurde, ist nun bekannt und deshalb eindeutig. Der Faktor Kontinuität stehe deshalb in engen Zusammenhang mit den Faktoren Überraschung und Eindeutigkeit. Hat sich das Thema einmal in den Medien etabliert, so wird auch über das Folgegeschehen berichtet

8.Composition (Variation)

Variation beschreibe die Tendenz der Medien, möglichst vielfältig zu berichten. Auch ein unbedeutendes innenpolitisches Ereignis könne veröffentlicht werden, wenn die innenpolitische Nachrichtenlage sehr dünn ist und derzeit außenpolitische Ereignisse überwiegen. Denn wenn einen Redakteur ständig außenpolitische Nachrichten erreichen, sei die Aufmerksamkeitsschwelle für unbedeutende innenpolitische Informationen wesentlich geringer. Dies bezeichnet die Tendenz der Medien, die Berichterstattung möglichst vielseitig zu gestalten. So kann z.B. ein relativ unbedeutendes innenpolitisches Thema behandelt werden, um einen Ausgleich zu den zahlreichen außenpolitischen Themen zu bilden

Nach Galtung und Ruge wirken diese acht Faktoren überall auf der Welt und deswegen auch in jedem Glied der Nachrichtenkette – vom Ereignis bis zur Schlagzeile. Ohne weitere Erläuterung gingen die Autoren davon aus, dass sie nur in der , nord-westlichen Ecke der Welt ` wirksam seien.[19] - also Faktoren, die nur im nordwestlichen Kulturkreis zum Tragen kommen

Die Wissenschaftler beschreiben die letzten vier Nachrichtenfaktoren als ,kulturanhängige Selektionsmechanismen`[20]

9. Reference to elite nations (Bezug zu Elite-Nationen)

Da die Handlungen von Eliten größere Konsequenzen haben als die Handlungen anderer, veranlasse das die Medien dazu, besonders über Elite-Staaten zu berichten. Je stärker eine Elite-Nation, d.h. ein mächtiger und einflussreicher Staat, in ein Geschehen involviert ist, desto eher wird darüber berichtet

10. Reference to elite people (Bezug zu Elite-Personen)

Die Begründung des zehnten Faktors ist im Grunde ähnlich der des Faktors neun. Die Handlungen von Elite-Personen seien folgenreicher als von Durchschnittsbürgern. Außerdem böten Elite-Personen wie Elite-Nationen die Möglichkeit zur Identifikation. Ereignisse, in denen sie vorkommen, seien daher für Medien interessant. Wenn eine politisch wichtige oder eine prominente Person am Geschehen beteiligt oder von ihm betroffen ist, wächst die Publikationswürdigkeit des Ereignisses

11. Reference to personification (Interesse an Personalisierung)

Dieser Faktor beschreibt die Tendenz der Medien, über Ereignisse zu berichten, die sich eindeutig auf das Handeln einzelner Personen zurückführen lassen. Nach Galtung und Ruge habe diese Tendenz mehrere Ursachen. So sei Personalisierung Ausdruck des kulturellen Ideals vom Menschen als dem Gestalter des eigenen Schicksals. Außerdem erleichtere sie die Identifikation der Leser. Die Handlungen einer Personen ließen sich viel leichter erklären als komplexe, strukturell bedingte Ereignisse. Personalisierung könne als Ausdruck des Faktors Frequenz gewertet werden: Eine Person könne in bestimmten Zeitabschnitten handeln, die mit dem Erscheinungsrhythmus des Mediums übereinstimmten. Sie sei oft auch Ausdruck der Konzentration auf Eliten. Zu guter Letzt korrespondiere die Personalisierung gut mit der Nachrichtenpräsentation vor allem in Zeitungen, denn „it is easier to take a photo of a person than of a structure.“[21]. Je eher ein Ereignis auf individuelles Handeln zurückgeführt werden kann, desto wahrscheinlicher wird eine Berichterstattung durch die Medien

12. Reference to something negative (Interesse an Negativismus)

Der letzte Faktor beschreibt die Tendenz der Medien, lieber über negative als positive Ereignisse zu berichten. Als Ursache nennen die Autoren die größere Übereinstimmung negativer Ereignisse mit der Erscheinungsfrequenz der Medien, da sie meist plötzlich und schnell passieren. Außerdem würden negative Ereignisse unerwarteter passieren als positive und unsere pessimistischen Erwartungshaltungen und Ängste bestätigen. Negative Ereignisse wie Katastrophen, Konflikte und Verbrechen werden in der Berichterstattung besonders hervorgehoben: „ Bad news are good news.[22]

Da diese Faktoren nicht unabhängig voneinander sind, stellen Galtung und Ruge fünf Hypothesen über ihr Zusammenwirken auf:

1. Selektionshypothese - Je mehr Faktoren auf ein Ereignis zuträfen, um so leichter werde es zur Nachricht. Die Selektion ist an der Intensität der Faktoren orientiert.
2. Verzerrungshypothese - Bei einem Ereignis, das einmal das Interesse des Journalisten geweckt hat, würden in der Berichterstattung genau die Faktoren betont, die für seine Beachtung gesorgt haben. Damit würde das eigentliche Ereignis verzerrt wiedergegeben.
3. Wiederholungshypothese - Selektion und Verzerrung würden sich auf allen Stufen der Nachrichtenkette wiederholen, so dass die Effekte verstärkt würden.
4. Additivitätshypothese - Wie vereinzelt schon dargelegt, wirken die Faktoren nicht isoliert voneinander, sondern es bestehe zwischen ihnen enge Beziehungen. Je mehr Faktoren gleichzeitig auf ein Ereignis zuträfen, um so eher werde es zur Nachricht. Allerdings seien die Faktoren untereinander komplementär.
5. Komplementaritätshypothese - Das Fehlen eines Faktors könne durch einen anderen kompensiert werden.
Galtung und Ruge versuchten in einer Inhaltsanalyse der Berichterstattung norwegischer Zeitungen über die Krisen im Kongo, in Kuba und in Zypern die Komplementarität der kulturabhängigen Faktoren zu belegen. Insgesamt vier Ergebnisse hat ihre Untersuchung hervorgebracht

1) Je größer die Entfernung der Nation war, um so deutlicher wurde das Handeln von Elite-Personen in den Vordergrund gestellt.
2) Je geringer der soziale Status der handelnden Personen war, um so negativer wurde über das Ereignis berichtet.
3) Die zunehmende kulturelle Entfernung einer Nation hatte entgegen der Annahmen der Wissenschaftler keine Auswirkung auf die Negativität der Berichterstattung.
4) Allerdings wurde mit wachsender kultureller Entfernung des Ereignis-Ortes, die Relevanz des Ereignisses für den Rezipienten betont.[23]

Nach Veröffentlichung des Aufsatzes von Galtung und Ruge haben zahlreiche Wissenschaftler versucht, die Richtigkeit der Theorie zu überprüfen

„Diese wenigen Befunde stehen in keinem rechten Verhältnis zu Umfang und Reichweite der von Galtung/Ruge entworfenen Theorie, so daß man wohl kaum davon sprechen kann, daß die Autoren ihre Hypothesen bestätigt haben.“[24],

urteilte 1976 der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz (siehe 4.2.). Dennoch sei die Theorie der bisher bedeutendste Beitrag zur Nachrichtenforschung überhaupt

Ähnlich äußert sich die Wissenschaftlerin Christiane Eilders (siehe 4.4.)

Eilders resümierte 1997 dass „[...]das Konzept der Nachrichtenauswahl nach Nachrichtenfaktoren insgesamt zweifellos als bestätigt angesehen werden kann.“[25]

Friedrich Staab (siehe 3.1.2) kritisierte vor allem, dass Galtung und Ruge nicht zwischen objektiven ereignisinhärenten Nachrichtenfaktoren und subjektiven Zuschreibungen von Nachrichtenfaktoren unterschieden haben:

„Wenn die Nachrichtenfaktoren – zumindest teilweise – Ereignissen bzw. Meldungen subjektiv zugeschrieben werden, kann man die Nachrichtenwert-Theorie nicht mehr als ein Konzept betrachten, das die Nachrichtenauswahl der Massenmedien auf der Grundlage objektiver Kriterien erklärt; die Nachrichtenfaktoren müssen in diesem Fall vielmehr als ein Bezugssystem für subjektive Selektionsentscheidungen betrachtet werden.“[26]

Zudem bleibe der Unterschied zwischen Selektions- und Additivitätshypothese unklar. Andererseits seien Additivitäts- und Komplementaritätshypothese identisch

„Beide zielen auf denselben Sachverhalt ab, nämlich darauf, dass alle Nachrichtenfaktoren, die auf ein Ereignis oder eine Meldung zutreffen, die Publikations- und Beachtungswürdigkeit dieses Ereignisses oder dieser Meldung bestimmen.“[27]

1.2.3. Øystein S

Schon kurz nach Veröffentlichung des Aufsatzes von Galtung und Ruge überprüft Øystein Sande mit einer Inhaltsanalyse die Theorie der Nachrichtenfaktoren. Er untersucht an fünfzehn Tagen im Jahr 1964 die Auslandsberichterstattung des norwegischen Rundfunks und drei norwegischer Tageszeitungen

Er konzentriert sich auf die Faktoren Elite-Nation, Elite-Person, Negativismus, Personifizierung, Kontinuität und Variation. Parallel zur Inhaltsanalyse führt Sande eine Bevölkerungsumfrage durch, um die Beziehung zwischen Berichterstattung und dem Bild des Publikums vom politischen Geschehen zu untersuchen. Die Befragten sollten antworten, was für sie am Vortag die wichtigste Auslandsnachricht gewesen sei

Die Inhaltsanalyse konnte die Selektions-Hypothese von Galtung und Ruge weitestgehend bestätigen. Ereignisse, in denen Elite-Personen oder Elite-Nationen vorkamen, die negativ oder personenzentriert waren sowie an Bekanntes anknüpften, wurden überdurchschnittlich beachtet. Am Wirkungsvollsten waren hier die Faktoren Negativismus und Kontinuität, keine Wirkung ergab sich beim Faktor Variation

Als zweites belegt Sande die Additivitätshypothese: Je mehr Faktoren auf ein Ereignis zutreffen, um so stärker wird es beachtet

Die Komplementaritätshypothese bestätigt Sande für die Faktoren Elite-Nation, Elite-Person und Negativismus. Jeder dieser Drei konnte jeden Anderen in seiner Wirksamkeit ersetzen

Die Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage zeigten, dass das Publikum solche Nachrichten aus den Zeitungen und dem Radio besonders häufig als wichtigste Nachrichten des Vortages einstufte, auf die diese Nachrichtenfaktoren zutrafen. Damit könne gesagt werden, dass die Nachrichtenfaktoren auch die Vorstellungen des Publikums vom politischen Geschehen bestimmten, resümierte Sande.[28]

2.„News Bias“- und „Gatekeeper“–Forschung

2.1. „News Bias“

Ziel der News-Bias Forschung ist die Beantwortung der Frage, welche Unausgewogenheiten, Einseitigkeiten und politische Tendenzen in der Medienberichterstattung es gibt und was ihre Ursachen sind. Um dies herauszufinden sind Analysen notwendig, die den Zusammenhang zwischen politischen Einstellungen von Journalisten und ihrer Nachrichtenauswahl beziehungsweise Berichterstattung eruieren. Bisher wurde jedoch das eigene Rollenverständnis auf die Nachrichtenauswahl der Journalisten und der Einfluss der Einstellung von Journalisten zur Funktion der Massenmedien in der Gesellschaft nicht untersucht

2.1.1. Erste Forschungsansätze in den USA

Die News-Bias Forschung unterscheidet zwei Arten von Studien

Bei experemtellen Studien wird ein Vorgang simuliert. 1959 untersuchte Roy E. Carter die subjektive Einstellung von Personen bezüglich der Nachrichtenauswahl. Dabei sollten 142 Studenten aus drei Südstaaten- und zwei Nordstaaten-Universitäten einen Artikel über Raubüberfall schreiben

Der ersten Gruppe wurde vorgegeben, der Tatverdächtige sei weiß, der anderen Gruppe wurde gesagt, er sei schwarz mit jeweils den Stereotypen „faul und ungebildet“. Südstaaten-Studenten schrieben dem Schwarzen Täter häufiger die genannten Stereotypen zu als dem Weißen, und Nordstaaten Studenten umgekehrt

Die Studie ergab, dass eine bestimmte subjektive Einstellung sehr wohl bedeutsamen Einfluss auf die Nachrichtenauswahl und Nachrichtenberichterstattung habe

Jean S. Kerrick, Thomas E. Anderson und Luita B. Swales führten 1964 drei Laborexperimente mit Journalistik-Studenten durch

Dabei sollten 32 Studenten einen Kommentar zur diplomatischen Anerkennung der Volksrepublik China schreiben. Eine Hälfte der Studenten sollte für eine ablehnende Zeitung, die andere für eine befürwortende Zeitung schreiben

In der Studie wurde erstens der sogenannte ´ Primacy- und Regency- Effekt ` kontrolliert, indem man pro und contra Argumente in unterschiedlicher Reihenfolge vorlas Die Artikel sollten unmittelbar daraufhin geschrieben werden, und eine Woche später ein weiteres Mal. Es sollte beantwortet werden, ob eher die Argumente, die man zuerst hört besser ´hängenbleiben` und den Artikel beeinflussen, oder die Argumente, die man als Zweite hört

In einer weiteren Studie wurde das sogenannte Semantische Differenzial (politische Einstellungen der Probanden vor und nach dem zweiten Erinnerungstest) gemessen. Beteiligt waren 30 Studenten, die einen Artikel für eine konservative Zeitung schreiben sollten, die Nixon unterstützt. Dabei waren 15 Studenten Nixon-Anhänger und die andere Hälfte Kennedy-Befürworter. Außerdem gab es eine Untersuchung mit 17 Studenten, die drei werthaltige Meldungen über Streiks verfassen sollten

Eine Meldung sollte sich gegen die Gewerkschaft richten, die zweite gegen die Arbeitgeber, die dritte sollte beide Seiten befürworten. Erst danach wurde die Einstellung der Studenten zu Gewerkschaften und Arbeitgebern gemessen

[...]


[0] Vgl.: Wilke, Jürgen (Hrg.): Von der Agentur zur Redaktion, Wie Nachrichten gemacht, bewertet und verwendet werden, 2000,S.11

[1a] Vgl.: Weiß, Ralph/Rudolph, Werner: Die lokale Welt im Radio. Information und Unterhaltung im Lokalradio als Beiträge zur kommunalen Kommunikation, 1993, S.73

[1b] Selektionskriterien und Nachrichtenfaktoren werden von Hans Mathias Kepplinger unterschieden. Sie verleihen den Nachrichtenfaktoren erst ihren Wert. (Vgl.: H.M. Kepplinger, 1998.: In: Holtz-Bacha, Christina (Hrg.): Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, 1998, S. 20

[2] Lippmann, Walter: Public Opinion, S. 338. Zitiert nach: Staab, Friedrich: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt, 1990/1, S.5

[3] ebenda, S. 352

[4] Merz, Charles: Zitiert nach: a.a.O.: Staab, 1990/1, S.5

[5] Vgl.: a.a.O.: Staab, 1990/1, S.5

[6] Vgl.:

[8] Lippmann, Walter: Public Opinion. Zitiert nach: Staab, Joachim Friedrich: Entwicklung der Nachrichtenwert –Theorie .In: Wilke, Jürgen (Hrg.): Fortschritte der Publizistikwissenschaft, 1993, S. 171

[9] a.a. O: Lippmann, 1925. Zitiert nach: a.a.O.: Staab, 1990/1, S.41

[10] Vgl.:Einar Östgaard, Factors Influencing the Flow of News, in: Journal of Peace Research 2 (1965), S. 39-63. In: Geißler Rolf: Die Nachrichtenwerttheorie, S.5. Online im Internet: http://www.grin.de/hausarbeiten.htm, 2000

[11] a.a.O.: Staab, 1990/1, S.56

[12] vgl.: Östgaard, Einar: Factors Influencing The Flow Of News, S.48-51. In: Geißler Rolf: Die Nachrichtenwerttheorie, S.6. Online im Internet: http://www.grin.de/hausarbeiten.htm, 2000

13 ebenda, S.57, zitiert nach: ebenda, S.6

[14] Vgl.: a.a.O.:Östgaard, S.55. In: a.a.O.: Geißler, 2000, S. 6

[15] a.a.O.: Staab, 1990/1, S. 58

[16] Vgl.: ebenda, S. 59

[17] Galtung & Ruge: The structure of foreign news, S. 263.Zitiert nach: a.a.O: Geißler 2000, S.6

[18] ebenda, S. 264, zitiert nach: ebenda, S.7

[19] Christiane Eilders, Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information, 1997, S.24

[20] Vgl.: a.a.O.: Staab, 1990/1, S. 60

[21] a.a. O.: Galtung & Ruge, S. 266-267. Zitiert nach: a.a. O.: Geißler, 2000, S.10

[22] ebenda, S.266-267, zitiert nach: ebenda, S.10

[23] Vgl.: a.a.O.: Galtung & Ruge, S. 277-285, in: a.a.O.: Geißler, 2000, S.10

[24] Schulz, Winfried: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, 1976, S. 20

[25] a.a. O.: Eilders, 1997, S. 27-28

[26] a.a. O: Staab, 1990/1, S. 64

[27]

[28] Vgl.: Sande, Øystein: The Perception of Foreign News, S. 231, in: a.a. O.: Geißler, 2000, S.12

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Hörsinnig gut? Die Anwendung der Nachrichtenwerttheorie im privaten Regionalhörfunk. Am Beispiel des Lokalsenders Radio Neandertal.
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Veranstaltung
Medientheorien
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
92
Katalognummer
V1770
ISBN (eBook)
9783638110884
Dateigröße
996 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hörsinnig, Anwendung, Nachrichtenwerttheorie, Regionalhörfunk, Beispiel, Lokalsenders, Radio, Neandertal, Medientheorien
Arbeit zitieren
M.A. Tamara Olschewski (Autor:in), 2001, Hörsinnig gut? Die Anwendung der Nachrichtenwerttheorie im privaten Regionalhörfunk. Am Beispiel des Lokalsenders Radio Neandertal., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1770

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