Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten am Beispiel des Georgien-Kriegs 2008

Vergleichende Analyse der Medienberichterstattung von Qualitäts- und Boulevardpresse in Frankreich, Deutschland und der Schweiz


Lizentiatsarbeit, 2009

120 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung: Zur Bedeutung europäischer Öffentlichkeit
1.1 Das Öffentlichkeits- und das Demokratiedefizit in der Europäischen Union
1.2 Europäische Öffentlichkeit am Beispiel des Georgien-Kriegs 2008: Krieg als Kommunikationsereignis
1.3 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit
1.4 Forschungsfragen

2. Exkurs: Strukturwandel der Öffentlichkeit
2.1 Zum Begriff der Leitmedien
3. Forschungsstand zu europäischer Öffentlichkeit
3.1 Ambivalente Befunde
3.2 Die EU und ihre politischen Institutionen
3.3 Transnationale Medien und transnationale Medienunternehmen
3.4 Europäische Öffentlichkeit am Beispiel von Kriegen
3.5 Zwischenfazit

4. Theorie
4.1 Öffentlichkeitsbegriff und Nicht-Existenz einer Theorie ‚europäischer Öffentlichkeit’
4.2 Gegenüberstellung von Jürgen Gerhards und Klaus Eder: „impossibility school“ versus „automatism school“
4.2.1 Europäische Öffentlichkeit bei Jürgen Gerhards
4.2.2 Europäische Öffentlichkeit bei Klaus Eder
4.2.3 Kritik an den Konzeptionen Gerhards’ und Eders
4.3 Zusammenführung in einem integrativen Modell bei Hartmut Wessler
4.4 Arenamodell von Öffentlichkeit

5. Darlegungen zur EU-Berichterstattung

6. Georgien-Krieg 2008: Chronologie des Krieges

7. Methode: Inhaltsanalyse
7.1 Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung
7.1.1 Definition von Auswahl- und Analyseeinheiten
7.1.2 Untersuchungszeitraum und Zeitungsartikel
7.1.3 Operationalisierung und Codebuch
7.2 Inhaltsanalyse von EU-Dokumenten

8. Befunde im synchronen Vergleich
8.1 Qualitätszeitungen
8.1.1 Medienarena NZZ
8.1.2 Medienarena FAZ
8.1.3 Medienarena Le Monde
8.2 Boulevardzeitungen
8.2.1 Medienarena Der Blick
8.2.2 Medienarena BILD-Zeitung
8.2.3 Medienarena Le Parisien

9. Quantitative Befunde und diachroner Vergleich

10. Fazit

11. Literaturverzeichnis

Anhang A: Codebuch

Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten am Beispiel des Georgien-

Kriegs 2008

Allgemeines zum Material

Codieranweisungen

Validität der Messung

Analyseeinheit

Allgemeines

Ebene Artikel

Ebene Sprecher

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Heuristic model of the synergies between citizens, news media and political actors in building a Europeanized public sphere (Quelle: Wessler et al. 2008: 190)

Abbildung 2: Geografische Lage der Konfliktparteien im Georgien-Krieg

(Quelle: FAZ 26.08.2008, Seite 1: „Russland treibt die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens voran“)

Abbildung 3: Wir-Bezüge im Georgien-Krieg 2008 (Quelle: eigene Darstellung)

Abbildung 4: Diachroner Vergleich der Wir-Bezüge in allen Arenen (Quelle: Lucht et al. 2008: 5)

Abbildung 5: Detaillierte Aufstellung der Wir-Bezüge in allen Arenen (n=264) (Quelle: eigene Darstellung)…84

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Medienagenda Internationaler Qualitätszeitungen 2008 (Quelle: fög 2008)

Tabelle 2: Dimensionen europäischer Öffentlichkeit und empirische Befunde (Quelle: Risse 2004:145

Tabelle 3 : Strukturmuster transnationaler Öffentlichkeiten (Quelle: Tobler 2006: 112)

Tabelle 4: Übersicht zur Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung (Quelle: eigene Darstellung)

Tabelle 5: Vier Dimensionen der Transnationalisierung von Öffentlichkeiten (Quelle: Wessler et al. 2008: 11)

Tabelle 6: Die drei stärksten temporalen Bezüge im Georgien-Krieg 2008 (Quelle: eigene Darstellung)

Tabelle 7: Anteil negativer Fremd-Bezüge n=38 (Quelle: eigene

Darstellung)

Tabelle 8: Zitierte Sprecher mit Herkunft in allen Arenen (Quelle: eigene Darstellung)

„Wer in europäischen Dingen nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ (W. Hallstein, 1964)

1. Einleitung: Zur Bedeutung europäischer Öffentlichkeit

1.1 Das Öffentlichkeits- und das Demokratiedefizit in der Europäischen Union

Das Jahr 2008 kann in einer pessimistischen Sichtweise als ein ‚Jahr der Krise’ für die Europäische Union bilanziert werden. Zu nennen wären das gescheiterte Referendum der Iren über die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Juni, der unerwartete Ausbruch des Georgien-Kriegs im August und die Entwicklung der globalen Finanzund Wirtschaftskrise, der die Mitgliedsstaaten zunächst mit nationalem Protektionismus begegneten. Optimistisch gewendet könnten die gleichen Ereignisse, die in die Chronik der europäischen Geschichte eingehen, auch als Herausforderungen für die Europäische Union (EU) bezeichnet werden, als fordernde Aufgaben, die auf die wachsende Bedeutung der EU hinweisen (vgl. Simon 2008).

Anfang Juni 2009 stehen in den 27 Mitgliedsstaaten die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP), das 1980 erstmals frei gewählt wurde, an. Viele EU-Bürgerinnen wissen nicht einmal, dass sie das EP überhaupt wählen können. In einer Umfrage der Europäischen Kommission vom Herbst 2007 war dies nur 48% der Befragten bekannt (vgl. European Commission 2008a: 10 zit. nach Brüggemann 2009: 1). Hieraus kann also bereits auf bestehende Schwierigkeiten in der kommunikativen Vermittlung zwischen der Ebene der EU-Institutionen und den Bürgern Europas geschlossen werden. In der Entwicklung der europäischen Integration, ausgehend von der beginnenden Formierung des wirtschaftlichen und politischen Europas, nach dem Zweiten Weltkrieg aus Friedensmotiven heraus durch die Hauptprotagonisten Frankreich und Deutschland und der primären Ausrichtung an wirtschaftlicher Effizienz und Wohlstand, kann aufgezeigt werden, dass inzwischen eine Europäisierung nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in Politik und Recht mit entsprechenden vertraglichen Absicherungen stattgefunden hat, während parallel dazu die Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit gerade nicht vollzogen wurde (vgl. Gerhards 2000). Bezüglich der europäischen Integration enthielt der EWG-Vertrag von Beginn an eine Klausel zur Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaft (vgl. Gostmann 2009: 10). Der Integrationsprozess der EU wird auch als Dynamik des ‚spill-over’ charakterisiert (vgl. ebd.: 11). Damit ist das „Überschwappen“ der Integration auf immer weitere Politikfelder gemeint. Die stetige Verlagerung nationaler Hoheitsrechte auf eine supranationale Ebene mit neuen politischen Institutionen, wie dem EP und der Kommission, und sogar einem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wurde allerdings bis heute nicht durch einen entsprechenden Einbezug der BürgerInnen der Mitgliedsstaaten, durch Legitimation der EU-Institutionen in Form von demokratischen Wahlen und politische, öffentliche Thematisierung der einflussreichen Entscheidungen und dazugehöriger Prozesse begleitet. In dieser Perspektive kann europäische Öffentlich- keit1 normativ als kommunikativer Unterbau des europäischen politischen Systems verstanden werden, zu dessen Legitimität sie beitragen soll, indem sie Grund- voraussetzungen für europäische Demokratie schafft (vgl. Meyer 2004: 141). Die Frage der transnationalen oder europäischen Öffentlichkeit ist eng verbunden mit derjenigen nach demokratischer Legitimation jenseits des Nationalstaats, der seinen konzeptionellen, ideengeschichtlichen Ursprung in Europa hat (vgl. Wessler et al. 2008:

1). Erst wenn (eine europäische) Öffentlichkeit entsteht, gibt es auch eine Grundlage für

„die Entstehung einer politischen Kultur auf der Mikroebene von Politik, das heißt die Unterstützung dieses Prozesses (des Prozesses der europäischen Integration, Anmerk. CG) durch die Bürger und deren aktive Teilhabe (Almond/Verba 1963, zit. nach Eilders/Voltmer 2003: 250).

Dies umso mehr, als eine europäische Öffentlichkeit ungleich komplexer erscheint als vergleichbare Strukturen im nationalen Kontext.

„Europa ist eine noch abstraktere politische Struktur als der Nationalstaat und bedarf deswegen umso mehr der symbolischen Vermittlung, um für den einzelnen Bürger als politische Gemeinschaft ‚vorstellbar’ zu werden (Christiansen et al. 2001, zit. nach Eilders/Voltmer 2003: 252).

Einerseits bleibt der Nationalstaat zwar zentral in Fragen der demokratischen Legitimation, er wird zusätzlich aber mehr und mehr transnational, etwa durch die EU, ergänzt (vgl. Wessler et al. 2008: 2). Nach Hartmut Wessler et al. wird demokratische Legitimation normativ durch drei Elemente bestimmt. Neben Formen politischer Partizipation der Bürger sind dies deren Urteile über die Rechtmäßigkeit des Handelns politischer Akteure und außerdem „both political participation and legitimacy judgements depend on socio-cultural conditions, an infrastructure that ensures the free exchange of opinions and claims.

This infrastructure is commonly called the public sphere […]“ (Wessler et al. 2008: 3/Hervorheb. i. O.).

Solcher Meinungsaustausch und Debatten in einer Öffentlichkeit dienen demnach der Verbindung der Bürger mit ihren politischen Vertretern und politischen Institutionen (vgl. Wessler et al. 2008: 2). Empirisch kann Legitimation als „[…] a communicative process between society and state or, to be more precise, between actors and collectives in both realms” (ebd.) verstanden werden. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass unter der Voraussetzung, dass die Öffentlichkeit das Medium der Demokratie ist, bisher „die gedruckte Presse das wichtigste Medium der Öffentlichkeit war“ (vgl. Zielcke 2009: 7).

Als weiteren Aspekt umfasst das maßgeblich in der Politikwissenschaft diskutierte Demokratiedefizit mit Bezug auf das Mehrebenensystem der EU für viele Autoren auch ein Identitätsdefizit, welches durch eine europäische Öffentlichkeit verringert werden könnte. Neben solchen Fragen wird nicht zuletzt auch über die Finalität der EU nachgedacht (vgl. Fischer 2000).

Die Kontroverse um eine europäische Öffentlichkeit in einer immer stärker integrierten Europäischen Union, eng verbunden mit einem angenommenen Demokratie-, Legitimitäts- und Identitätsdefizit, wird etwa seit dem Vertrag von Maastricht 1992 in den verschiedensten Wissenschaften (Rechts-, Sozial- und Geisteswissenschaften) diskutiert und gewinnt auch aktuell im Prozess der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon 2009 wieder an Aufmerksamkeit (vgl. Risse 2002: 15). So prüft das Deutsche Bundesverfassungsgericht in diesen Wochen den EU-Vertrag von Lissabon auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Kläger gegen den Reformvertrag werfen der Europäischen Union ein anhaltendes Demokratiedefizit vor, z. B. fehle dem Europäischen Parlament auch mit dem neuen Vertrag das Recht zur Gesetzesinitiative (vgl. Kerscher 2009: 2). Inzwischen haben 23 von 27 EU-Mitglieds- staaten den Vertrag ratifiziert2. Der Ratifizierungsprozess war fortgeführt worden, nach- dem die Iren in einem Referendum den Vertrag von Lissabon im Juni 2008 abgelehnt hatten. Zuvor war das Projekt des Europäischen Verfassungsvertrags 2005 durch den negativen Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert.

Manche Autoren, etwa Jürgen Gerhards und Hartmut Wessler, sehen das Demokratie- defizit der EU dem Öffentlichkeitsdefizit vorgelagert, andere wie Klaus Eder und Hans- Jörg Trenz analysieren die zusammenhängenden Problematiken in umgekehrter Reihen- folge und Kausalität. Ralf Dahrendorf argumentiert, die Grundkonzeption der EU sei von Beginn an nicht demokratisch angelegt worden (vgl. Dahrendorf 2002: 34). Das Demokratiedefizit hat sowohl institutionelle als auch strukturelle Ursachen. Unter erstere zählen z. B. die nach wie vor eingeschränkten Kompetenzen des Europäischen Parlaments, die Nichtgewährleistung des Gleichheitsgrundsatzes innerhalb der EU- Institutionen und die untransparenten Entscheidungsfindungsprozesse durch nicht- öffentliche Sitzungen des Ministerrats3 (vgl. Gerhards 2002: 153). Das strukturelle Demokratiedefizit kann u. a. auf das Fehlen eines europäischen Volkes mit kollektiver, europäischer Identität, auf die intermediären, politischen Vermittlungsstrukturen wie Parteien und Verbände, die nicht problemlos europäisiert werden können sowie auf das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit als Möglichkeit der Willensbildung zurückgeführt werden (vgl. Höreth 1999).

Mit dieser Lizentiatsarbeit wird ein Ansatz verfolgt, der im Gegensatz zur alltäglichen Routinekommunikation „Konflikt als Motor europäischer Öffentlichkeit“ sieht (vgl. Berkel 2006).

„Wie schon in anderen Zusammenhängen beobachtet, scheinen auch in Europa tiefgehende Konflikte die gesamte öffentliche Kommunikation wie ‚ein Magnet die Eisenspäne’ in ihren Bann zu ziehen“ (Imhof 2002: 42 zitiert nach Berkel 2006: 12/Hervorheb. i. O.).

Das Forschungsprojekt zur Europäischen Öffentlichkeit und Identität von Jens Lucht und David Tréfás am fög - Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich (vgl. Lucht et al. 2006) ist unmittelbarer Bezugspunkt dieser Lizentiatsarbeit. Im Laufe von Studium und praktischen Erfahrungen im Kontext Europas, sei es der fortlaufenden Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei, der Europawahlkampagne und der EU-Osterweiterung von 2004 oder dem Einblick in die Arbeit parlamentarischer Europaabgeordneter in Brüssel und Straßburg 2006, war die Auseinandersetzung mit europäischen Debatten für mich prägend.

Die Relevanz des Themas europäischer Öffentlichkeit macht sich in den Sozial- wissenschaften seit einigen Jahren auch durch die Förderung einer neuen Europa- Soziologie an verschiedenen Universitäten4 bemerkbar. Einige der nun vermehrt in den Fokus gerückten Begriffe dieser Europasoziologie sind europäische Gesellschaft, europäische Identität und europäische Ö ffentlichkeit. Auch die Fragen sozialer Ungleichheit, Migration und Staatlichkeit werden zunehmend auf einer europäischen Ebene diskutiert. An der Pariser Sciences Po fand z. B. im Juni 2008 eine Tagung unter dem Titel „Existe-t-il une ‚sociologie européenne’? statt (vgl. Schwarz 2008: 176).

1.2 Europäische Öffentlichkeit am Beispiel des Georgien-Kriegs 2008: Krieg als Kommunikationsereignis

Europäische Öffentlichkeit lässt sich sowohl in vergleichenden Längsschnittanalysen, als auch in spezifischen Fallstudien untersuchen. Erforscht werden dabei z. B. die Medienberichterstattung verschiedener Länder zur Europapolitik und zur europäischen Integration im Zeitverlauf (vgl. Klein et al. 2003), konkrete Anlässe wie Europäische Ratspräsidentschaften (vgl. Hahn et al. 2008), punktuelle Ereignisse in Form von Skandalen in den EU-Institutionen (vgl. Meyer 2002), Wahlkämpfe zum Europäischen Parlament und nicht zuletzt auch Kriege wie z. B. Golf-, Kosovo- und Irakkrieg (vgl. Kevin 2003, Lucht/Tréfás 2006, Wessler et al. 2008).

Der Zusammenhang von Krieg und europäischer, bzw. allgemeiner formuliert, transnationaler Öffentlichkeit wird insbesondere auch in der Kommunikations- wissenschaft thematisiert, die sich in jüngerer Zeit ‚Krieg als Medienereignis’ („media event“) oder als Kommunikationsereignis zuwendet, das ein starkes Integrations- und Transnationalisierungspotenzial hat. Freilich handelt es sich dabei sicherlich nicht um ein neues Thema, denn bereits 1995 problematisierte Jürgen Wilke die Verknüpfung, die etwa darin besteht, ‚Krieg als Medienereignis’ zu analysieren. Dabei führt er die historische Dimension des Themas aus und beschreibt ‚Konstanten und Wandel eines endlosen Themas’ (vgl. Wilke 1995: 21). In diesem Zusammenhang sei dabei u. a. „Krieg als ‚Vater’ der Presse“ zu bezeichnen (vgl. ebd. 22). Bereits der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648 werde Wilke zufolge in der aktuellen Forschung als Medienereignis bezeichnet und im Zusammenhang des Krimkriegs im 19. Jahrhundert sei auf die Bedeutung der öffentlichen Meinung hingewiesen (vgl. ebd. 32). Der Begriff Medienereignis im vorliegenden Kontext dieser Arbeit meint nun, dass der Georgien- Krieg 2008 als faktisches Ereignis einzuordnen ist, das durch die mediale Präsentation spezifisch geprägt wird (vgl. ebd. 21).

In der Einleitung zum Sonderheft „Media events, globalization and cultural change“ des „European Journal of Communication“ weisen die Autoren nun Medienereignissen die Qualität eines eigenständigen Forschungsfelds zu (vgl. Hepp/Krotz 2008: 265). Sie verweisen auf das Konzept von Medienereignissen bei Daniel Dayan und Elihu Katz (1992) und erweitern dieses im Hinblick auf die Bedeutung von Krieg als Medienereignis und eine mögliche Relevanz von Medienereignissen für eine europäische Öffentlichkeit (vgl. Hepp/Krotz 2008: 267). Ihr Vorschlag einer Definition von Medienereignissen lautet:

„[T]o understand media events as certain ‘thickened’ performances of media communication that are focused on a specific thematic core, transgressing different media products and formats and reaching a multiplicity of audiences in their diversity” (Hepp/Krotz 2008: 267).

In einem zweiten Schritt tritt die Überlegung nach einem möglichen Einfluss von Medienereignissen auf die Frage der Identitätsbildung in den Vordergrund:

„Can they [the media events, Anm. CG] develop integrative moments beyond the national sphere and be a reference point for transcultural identities, on the European level for instance, or are they a certain resource for transnational communities like political movements, youth cultures or religious movements?" (Hepp/Krotz 2008: 268/Hervorheb. CG).

Auf die Bedeutung solcher Medienereignisse, die transkulturelle Fragen von europäischer Öffentlichkeit und Identität in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und thematisch von den Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der Europäischen Union vom März 2007 bis hin zu Konflikten und Kriegen variieren können, wird noch ausführlicher eingegangen.

Ähnlich liegen einem Kommunikationsereignis einzelne Beiträge zugrunde, die in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht dasselbe thematisieren und sich auf einen bestimmten Geltungsraum beziehen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine europäische Öffentlichkeit am Beispiel von Kriegen untersucht werden kann.

„Bereits die Zeitungsgeschichte im frühen 17. Jahrhunderts beginnt mit Kriegs- kommunikationsereignissen. Es handelt sich somit um die älteste Kommunikationsereignis-Gattung des Aufmerksamkeitswettbewerbs. Seither ist Krieg die quantitativ wichtigste regelmäßige Berichterstattung in den Leitmedien geblieben (Dominikowski 2004, 59-80; Kunczik 2004, 81-98; Imhof 1995, 123-136). Das Kriegsgeschehen hat die höchste Nachrichtenwert- potenz“ (Imhof 2009: 57).

Mit Krieg als Kommunikationsereignis lassen sich vermutlich auch Bedeutungen von Identität sinnvoll analysieren (vgl. Lucht et al. 2006: 24). Diese Arbeit greift zur Untersuchung des Forschungsgegenstands auf den jüngsten Krieg im Kaukasus zurück5. Der Georgien-Krieg 2008 zwischen Georgien und Russland brach in der Nacht zum 8. August 2008, dem Tag der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking, in einem der konflikt- und kriegsträchtigsten Räume in Europa aus (vgl. Schmid 2009: 10). „Russland habe den Krieg militärisch gewonnen, Georgien den Krieg in den Medien“, war im August 2008 in der New York Times zu lesen (vgl. Levy 2008). Vielfach wurde in der öffentlichen Kommunikation im Zuge des Georgien-Kriegs mit historischen Rückgriffen das Vokabular des Kalten Krieges bemüht und eine Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA, die angeblich eine maßgebliche Rolle als Drahtzieher gespielt hätten, in den Vordergrund gerückt. Verschiedenste Medien ergriffen recht rasch einseitig zugunsten der russischen oder der georgischen Seite Partei. Opferzahlen aus dem Kriegsgebiet sorgten für Verwirrung und erfuhren im Nachhinein eine drastische Korrektur. Die georgische Version, man habe sich gegen einen russischen Angriff verteidigen müssen, stand der russischen Sicht des Kriegsausbruchs gegenüber, wonach erst nach dem Angriff Georgiens auf Südossetien Russland militärisch zum Gegenangriff übergegangen sei. Eine Untersuchungskommission im Auftrag der EU unter Leitung der Schweizer Botschafterin Heidi Tagliavini wurde Ende 2008 eingesetzt, um unter anderem dieser Frage nachzugehen (vgl. Schmid 2009: 6, 7). Obgleich der fünftägige Krieg internationale Aufmerksamkeit erhielt, kann er auch als ein genuines Kommunikationsereignis in der innereuropäischen Diskussion bezeichnet werden. Die Europäische Union, insbesondere in Gestalt einer starken französischen EU- Ratspräsidentschaft, übernahm die Aufgabe der Vermittlung zwischen den Konflikt- parteien in der militärischen Auseinandersetzung zwischen Georgien und Russland, die sich vor ihren Türen ereignete. Zunächst allerdings schien eine einheitliche, geschlossene Position der 27 EU-Mitgliedsstaaten in der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ gegenüber den beiden Konfliktparteien wie so oft erneut unwahr- scheinlich. Dieser Aspekt des erstmaligen Versuchs eines einheitlichen und geschlossenen Auftritts der EU, das Streben nach einer Führungsrolle auf der internationalen Bühne, soll hier besonders hervorgehoben werden. Wie wird die Rolle der EU während des Georgien-Kriegs 2008 in den verschiedenen Medienarenen tatsächlich dargestellt?

Das Schlüsselereignis Georgien-Krieg wird in dieser Arbeit zum Anlass genommen, den Forschungsgegenstand einer europäischen Öffentlichkeit theoretisch aus einer europasoziologischen und empirisch aus einer publizistikwissenschaftlichen Perspektive zu untersuchen. Gerade der Krieg im Kaukasus 2008 als erste militärische Auseinander- setzung im 21. Jahrhundert auf europäischem Boden und als EU-externes Ereignis, ist für die Analyse europäischer Öffentlichkeit und Identität geeignet, geht man von einer Katalysatorwirkung solcher Kommunikationsereignisse für die Verdichtung von Kommunikation und Öffentlichkeit aus. Zwar waren europäische Länder nicht am Kriegsgeschehen beteiligt, allerdings durch ihre Beziehungen zu Russland und zu Georgien, das sich in jüngster Zeit verstärkt um eine NATO- und EU- Beitrittsperspektive bemüht, als Akteure zu Handlungen für eine politische Konfliktlösung gefordert. Aus dem Georgien-Krieg resultierten zudem zumindest mittelbare Bedrohungsszenarien für einige europäische Länder. Die Erwartung von transnationalen Kommunikationsverdichtungen in Zeiten von Konflikt und Krieg, ist berechtigt, da die Akteure im Licht der öffentlichen Kommunikation zu politischen Handlungen gezwungen sind. Zusätzlich werden eine gewisse Emotionalität, Bezüge der Selbstvergewisserung und Bestätigung von Zugehörigkeit, die im Verlauf von Konflikt und Krieg auftreten, vermutet:

„Solche diskontinuierlich auftretenden Krisenphasen sind regelmäßig begleitet von konfliktreichen, aber identitätsstiftenden Auseinandersetzungenüber die politischen Entscheidungsregeln “ (Tobler 2006: 122/Hervorheb. i. O.).

Tabelle 1: Medienagenda Internationaler Qualitätszeitungen 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: fög 2008)

Die hinreichende Bedeutung des Georgien-Kriegs 2008 kann auch unter Verweis auf die Medienagenda internationaler, überregionaler Qualitätszeitungen von 2008 angenommen werden (vgl. Tab. 1). Der Kaukasus-Konflikt weist im Vergleich der Kommunikationsereignisse den fünfthöchsten Durchschnittsrang von 9.3 auf und ist deshalb auf Position 5 platziert. Die wenigen, vor dem Kaukasus-Konflikt platzierten Kommunikationsereignisse, sind die Finanzmarktkrise, die Präsidentschaftswahlen in den USA, der Nahost-Konflikt sowie die Olympischen Spiele 2008 in Peking.

1.3 Fragestellungen und Aufbau der Arbeit

Die dieser Arbeit übergeordneten Fragestellungen lauten nun: Hat der Georgien-Krieg 2008 die Europäisierung von nationalen Öffentlichkeiten gefördert? Und ferner: Lassen sich im Analysezeitraum (07. August bis 07. November 2008) in den nationalen Öffentlichkeiten Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz in Gestalt ausgewählter Zeitungen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz Merkmale einer europäischen Öffentlichkeit identifizieren? Wie bereits zuvor erwähnt: Gerade der Krieg im Kaukasus 2008 ist als erste militärische Auseinandersetzung im 21. Jahrhundert auf europäischem Boden und als EU-externes Ereignis, für die Analyse europäischer Öffentlichkeit geeignet, geht man von einer Katalysatorwirkung solcher Kommunikationsereignisse für die Verdichtung von Kommunikation und Öffentlichkeit aus.

Die untergeordnete, zweite Forschungsfrage befasst sich mit der Rolle von EU- Institutionen, insbesondere der Kommission und dem Rat, für eine europäische Öffentlichkeit. Im weiteren Vorgehen wird daher die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Union dergestalt analysiert, als dass eine Diffusion oder Absenz ihrer dominanten politischen Konzepte und Forderungen bezüglich des Georgien-Kriegs in die nationalen Medienarenen geprüft wird. Der synchrone Vergleich, der in dieser Arbeit ausgeführt wird, beinhaltet die Medienarenen Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz. Der aktuelle Forschungsstand im dritten Kapitel beabsichtigt, für einen Überblick über die umfangreiche, teilweise unübersichtliche Literatur über europäische Öffentlichkeit zu sorgen. Im vierten Kapteil wird der für die Forschungsfragen relevante theoretische Hintergrund erörtert. Er beinhaltet begriffliche Klärungen von Öffentlich- keit und verschiedene theoretische Modelle europäischer Öffentlichkeit, die ein ganzes Kontinuum sich gegenüberstehender Perspektiven abbilden. Die Lektüre des Theorieteils soll vermitteln, weshalb die ‚Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten’ zum Titel der Lizentiatsarbeit gewählt wurde und warum die Arbeit im weiteren Kontext des Strukturwandels der Öffentlichkeit zu verorten ist.

Es folgen Ausführungen zur EU-Berichterstattung in einem Zusammenspiel von Auslands-Korrespondenten, Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen, Beamten und Politikern, Nachrichtenagenturen und Redakteuren der nationalen Heimatredaktionen. Ausgegangen wird davon, dass komplexe Interaktionen dieser Beteiligten einflussreich für die europäische Öffentlichkeit sind. Daraufhin widmet sich das sechste Kapitel dem Georgien-Krieg 2008 und seiner Chronologie, die nicht zuletzt für den zeitlichen Rahmen der empirischen Untersuchung von Bedeutung ist. Daran schliesst sich die Darstellung der Ergebnisse der zweiteiligen empirischen Untersuchung sowie der diachrone Vergleich der Befunde mit dem Forschungsprojekt „Europäische Öffentlichkeit und Identität“ (vgl. Lucht et al. 2006) an.

1.4 Forschungsfragen

Aufgrund des bisherigen durchaus als ambivalent zu bezeichnenden Forschungsstands zu europäischer Öffentlichkeit wird davon ausgegangen, dass eine Europäisierung nationaler Medienarenen und Öffentlichkeiten bislang nur in geringem Maße stattfindet. Es ist zu erwarten, dass den Institutionen der Europäischen Union und ihren politischen Akteuren im Verlauf des Georgien-Kriegs 2008 in der öffentlichen Kommunikation wenig Bedeutung beigemessen wird. Diese Prognose ergibt sich aus den Ergebnissen des Forschungsstands. Jürgen Gerhards vertritt u. a. die Position, dass es europäischen Politikern an medialer Aufmerksamkeit mangelt. Stattdessen ist zu vermuten, dass nationale Politiker im Vordergrund stehen dürften. Während des Georgien-Kriegs 2008 erhielt Nicolas Sarkozy als Person relativ grosse Aufmerksamkeit in den Medien. Dabei ist die Frage von Bedeutung, ob er in den verschiedenen Medienarenen eher in der Funktion als französischer Staatspräsident medial hervorgehoben wird oder in seiner Rolle als EU-Ratspräsident im zweiten Halbjahr 2008, in der er sich im Rahmen der in seine Amtszeit fallenden Ereignisse wie dem Georgien-Krieg außerordentlich hervor- getan hat.

Die zwei Forschungsfragen dieser Arbeit können einander hierarchisch untergeordnet werden. Bei der für die vorliegende Arbeit zentralen Frage handelt es sich um folgende: Lassen sich in den nationalen Öffentlichkeiten Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz in Gestalt der führenden Leitmedien Merkmale europäischer Öffentlichkeit identifizieren?

Dabei wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf zwei Aspekte der europäischen Öffentlichkeit innerhalb der nationalen Presseberichterstattung fokussiert:

1. Zeigt sich in der Qualitäts- bzw. in der Boulevardpresse der ausgewählten Länder eine vertikale Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten im Sinne von verstärkter Aufmerksamkeit für die EU-Institutionen und ihre politischen Akteure (vgl. Brüggemann 2009: 4)?

2. Zeigt sich in der Qualitäts- bzw. in der Boulevardpresse der ausgewählten Länder eine horizontale Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten in Form von horizontalem Austausch mit europäischen Nachbarländern und womöglich einer gemeinsamen Perspektive bezüglich des Georgien-Kriegs 2008 (vgl. Brüggemann 2009: 4)?

Eine weitere in der vorliegenden Arbeit verfolgte Forschungsfrage, die den beiden ersten jedoch analytisch nachgeordnet ist, lautet:

3. Wie wirkungsvoll ist in diesem Zusammenhang die Ö ffentlichkeitsarbeit der EU und ihrer politischen Institutionen?

Diese Forschungsfrage soll die Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Kommission dergestalt analysieren, dass eine Diffusion oder Absenz ihrer zuvor kommunizierten, prägenden Konzepte bezüglich des Georgien-Kriegs 2008 in die Qualitäts- und Boulevardzeitungen der drei untersuchten Länder geprüft wird.

Unter Berücksichtigung des bisherigen Forschungsstands lassen sich zur Beantwortung der drei Forschungsfragen diese u. a. in folgende Detailfragen herunter brechen:

1. Leitmedien orientieren sich nach wie vor überwiegend national, nicht transnational oder europäisch.
2. Qualitätszeitungen weisen ein höheres Niveau an (vertikaler) Europäisierung auf als Boulevardzeitungen6.
3. Die prägenden Konzepte, die aus den Dokumenten der Öffentlichkeitsarbeit der Europäischen Kommission ermittelt werden, finden nur geringen Eingang in die nationale Medienberichterstattung zum Georgien-Krieg 2008.

2. Exkurs: Strukturwandel der Öffentlichkeit

Ein grundlegender Gesamtzusammenhang, in den die vorliegende Arbeit einzubetten ist, wird mit dem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ bezeichnet. ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ lautet der Titel der 1962 erschienenen Habilitationsschrift von Jürgen Habermas, einem der grossen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts (vgl. Joas/Knöbl 2004: 285 und 299). Seine Studie untersucht die politisch-philosophische Idee der Öffentlichkeit und ihrer Institutionen im 18. und 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern (vgl. ebd.: 299). Dabei reflektiert er die historische Entwicklung von Formen politischer Mitbestimmung:

„Eine politisch fungierende Öffentlichkeit entsteht zuerst in England mit der Wende zum 18. Jahrhundert. Kräfte, die auf die Entscheidungen der Staatsgewalt Einfluss nehmen wollen, appellieren an das räsonierende Publikum, um Forderungen vor diesem neuen Forum zu legitimieren. Im Zusammenhang mit dieser Praxis bildet sich die Ständeversammlung in ein modernes Parlament um, ein Prozess, der sich freilich über das ganze Jahrhundert hinzieht“ (Habermas (19901962 ): 122, zit. nach Joas/Knöbl 2004: 299).

Ein wesentlicher Kritikpunkt seiner Arbeit, die häufig rezipiert wurde, ist die Idealisierung der Vergangenheit im Gegensatz zur pessimistischen Sichtweise der Gegenwart bezüglich der Qualität von politischer Öffentlichkeit unter dem Einfluss kulturkritischer Strömungen (vgl. Joas/Knöbl 2004: 301). Habermas selbst relativiert seine Haltung diesbezüglich auch im Vorwort zur Neuausgabe des ‚Strukturwandels der Öffentlichkeit’, die 1990 erschien.

Mit dem ‚neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit’ wird in der Publizistikwissenschaft allgemein eine Entwicklung etwa seit den 1960er Jahren beschrieben, die sich vor allem in der Ausdifferenzierung des Mediensystems aus dem politischen System und in einer Kopplung der Medien an die Marktlogik zeigt (vgl. stellvertretend für viele andere: Imhof 2003: 403).

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit hat erhebliche Veränderungen der medialen Inhalte zur Folge:

„Dadurch unterliegt die politische Berichterstattung einer verstärkten Personalisierung, Skandalierung und Boulevardisierung“ (Imhof/Schulz 1998: 10).

Im Zuge dieses Strukturwandels kam es zur verstärkten Gründung von Boulevardmedien ab Ende der 60er Jahre.

Hinsichtlich der in dieser Arbeit analysierten Medienarenen wurden in der Forschungsrichtung, die den Vergleich von Mediensystemen zum Gegenstand hat, länderspezifische Unterschiede festgestellt. So fand der neue Strukturwandel der Öffentlichkeit in der Schweiz etwa später statt als in Deutschland, Frankreich kennt kaum Boulevardzeitungen, wie sie in den beiden anderen Ländern existieren und in Deutschland scheiterte die Einführung von Gratiszeitungen, wie sie in Frankreich und der Schweiz seit Beginn des 21. Jahrhunderts für erhebliche Verdrängungsprozesse auf dem Zeitungsmarkt sorgen, um nur einige solcher länderspezifischer Differenzen zu benennen.

2.1 Zum Begriff der Leitmedien

Im Zuge des beschriebenen Strukturwandels kam es insgesamt zu einer Ausdifferenzierung von verschiedenen Printmedientypen und zu einer zunehmend differenzierten Orientierung an verschiedensten Zielgruppen. Innerhalb von nationalen Medienarenen kann etwa zwischen der Arena der Qualitätszeitungen und der Arena der Boulevardzeitungen unterschieden werden.

Die wesentliche Orientierung im Mediensystem erfolgt nach wie vor an den Printmedien und besonders an nationalen Qualitätszeitungen, den sog. ‚Meinungs- führermedien’ (vgl. Schulz 1997: 66). Otfried Jarren und Patrick Donges sprechen in diesem Zusammenhang analog von „Medienmeinungsführern“ (vgl. Jarren/Donges 2006: 184). „Prestige- oder Elitemedien verfügen beim allgemeinen Publikum über einen hohen Imagewert bezüglich Kompetenz und Glaubwürdigkeit, was sich insbesondere in Konflikt- oder Krisenphasen zeigt, in denen diese Medien eine erhöhte Beachtung finden“ (vgl. Jarren/Donges 2006: 184). Die Elitemedien zeichnen sich meist durch eine Spezialisierung auf politische Themen aus (vgl. ebd.: 192). Zusätzlich kommt den überregionalen Qualitätsmedien besondere Bedeutung zu, da sie in ihrer Funktion als Beobachter der Gesellschaft „bestrebt sind, möglichst alle relevanten Akteure und Prozesse zu berücksichtigen“ (vgl. ebd.: 192). In der Einleitung dieser Arbeit wurde bereits allgemein darauf verwiesen, dass davon ausgegangen wird, dass die gedruckte Presse nach wie vor als wichtigstes Medium der Öffentlichkeit gilt.

Die Inhaltsanalyse in dieser Arbeit untersucht die Medienarenen Frankreichs, der Schweiz und Deutschlands anhand verschiedener relevanter Medien für die öffentliche Kommunikation. Dies sind zum einen die führenden, überregionalen Qualitätszeitungen, die als Meinungsbildner gelten können, und zum anderen die reichweitenstarken, nationalen Boulevardzeitungen. In der Literatur ist umstritten, ob sowohl Qualitäts- als auch Boulevardzeitungen zu den sogenannten Leitmedien gezählt werden können. Nach Otfried Jarren und Patrick Donges zählen vor allem „die überregionalen Qualitäts- zeitungen, Nachrichtenmagazine sowie die Nachrichtensendungen des öffentlichen Rundfunks“ zu den Leitmedien, die sie auch als Qualitäts- bzw. Elite- oder Prestigemedien bezeichnen (Jarren/Donges 2006: 180-182). Zusätzlich räumen die Autoren aber Ausnahmen von dieser Regel ein: „Für bestimmte Themen oder im Rahmen politischer Kampagnen von Akteuren können jedoch auch andere Medien, etwa Boulevardzeitungen, für eine Weile Leitmedienfunktionen ausü- ben“ (Jarren/Donges 2006: 180). Folgt man diesen Autoren, könnten u. U. auch den in der vorliegenden Inhaltsanalyse ausgewählten, reichweitenstarken Boulevardzeitungen im Rahmen des Georgien-Kriegs 2008 eine gewisse leitmediale Funktion zugesprochen werden. Günther Lengauer hingegen differenziert einerseits Medien mit höchsten Reichweiten wie die Bild-Zeitung und andererseits Leitmedien mit geringeren Reichweiten wie FAZ und SZ als publizistisch wichtigste Medien. Boulevard-Medien können seiner Ansicht zufolge keinen Leitmedien-Status erlangen (vgl. Lengauer 2007: 112).

Siegfried Weischenberg belegt mit seiner Journalismus-Forschung in der deutschen Medienarena, dass einige Qualitätszeitungen die Berichterstattung dominieren. „Einige wenige Leitmedien geben Themen und Tenor der Berichterstattung vor, der Rest zieht nach“ (Weischenberg 2006). In diesem Zusammenhang sei auch auf den Ansatz des ‚Intermedia-Agenda-Setting’ verwiesen, der gerade die wechselseitige Wahrnehmung von Medien untereinander und Einflussnahme auf ihre jeweilige Berichterstattung beschreibt (vgl. Jarren/Donges 2006: 185-193).

Gerade für die Untersuchung von Identität ist die Einbeziehung von Boulevardzeitungen in die Inhaltsanalyse sinnvoll, da die Berichterstattung stärker emotionsgeladen und gerade beim Thema Krieg deutlichere Differenzsemantiken und Bedrohungsszenarien als in den Qualitätszeitungen zu erwarten sein dürften (vgl. Lucht et al 2006: 26). Letztendlich liegen hier auch unterschiedliche Ausrichtungen auf die jeweilige Leserschaft zugrunde.

3. Forschungsstand zu europäischer Öffentlichkeit

3.1 Ambivalente Befunde

Die Befunde der empirischen Forschung zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, der europäischen Öffentlichkeit, können bislang als recht ambivalent bezeichnet werden (vgl. Franzius/Preuß 2004, Latzer/Langenbucher 2006, Wessler et al. 2008, Brügge- mann 2009). Im Vergleich zur nationalen Öffentlichkeit erweist sich die Analyse einer europäischen Öffentlichkeit als ungleich komplexer. Die Untersuchung der Formierung transnationaler Öffentlichkeit zeigt sich bislang als ein einigermaßen uneinheitliches Feld und bleibt hinter den normativen und politischen Debatten zurück (vgl. Risse 2004: 140). Friedhelm Neidhardt räumt ein, „erhebliche Widerstände zwischen den empirischen Befunden selber“ (Neidhardt 2006: 47) vorzufinden und schließlich gelangt er zu der ernüchternden Feststellung: „Wir wissen nicht hinreichend, wie viel wir wissen“ (Neidhardt 2006: 49). Zunächst zeigt der der folgende Ausgangspunkt zum Forschungsstand hinsichtlich europäischer Öffentlichkeit, dass diese auch häufig übergeordnet als Transnationalisierung bestehender nationaler Öffentlichkeiten und anhand des Modells einer Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten untersucht wird.

„It is clear from the outset, however, and this has repeatedly been pointed out in the literature, that there is no European media forum comparable to the national media forums with which we are familiar. Research has instead directed its attention to detecting trends towards Europeanization - or other forms of transnationalization - in the national media forums. Instead of a truly European public sphere (EPS), researchers have been studying the Europeanization of national public spheres (ENPS)” (Wessler et al. 2008: 8).

Die Genese dieses Konsenses sowie die Erklärung für das gewählte Vorgehen, verschiedene nationale Öffentlichkeiten durch das Prisma der massenmedialen Arenen zu beobachten, wird im Kapitel zur Theorie europäischer Öffentlichkeit dargelegt, das demjenigen zum Forschungsstand folgt.

Vor allem seit Mitte der 1990er Jahre nach der eigentlichen Gründung der Europäischen Union mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 lässt sich eine Zunahme von nationalen und internationalen Forschungsprojekten und von vielfältigen Publikationen zum Thema einer europäischen Öffentlichkeit feststellen (vgl. Berkel 2006: 12). Anlass dazu mag unter anderem die einbrechende Unterstützung des Integrationsprojektes durch die Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten der EU gewesen sein, die sich nach dem Vertrag von Maastricht in den Eurobarometer-Studien der Europäischen Kommission abzeichnete (vgl. Melich 2000: 142ff.).

„Since that date, there has been a break in the diffuse consensual positive feelings about EU membership. The downward trend which began after the debate on the Maastricht Treaty and its coincidence with a start of a European economical crisis has been increased by the quite negative opinion towards membership of the citizens of the three new Member States [Beitritt Finnlands, Schwedens und Österreich am 1. Januar 1995, Anm. CG]” (Melich 2000: 142).

Bei der Europäischen Union handelt es sich auch historisch gesehen um eine regionale Kooperation eigener Art, die eine besondere Qualität der Integration anstrebt. Der Vertrag über die Europäische Union hatte zahlreiche Zuständigkeiten zugunsten der Gemeinschaft festgelegt und die Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer Politischen Union bis 1999 angestrebt.

Im Forschungsstand zu nennen ist u. a. das Projekt „Die Transnationalisierung von Öffentlichkeit am Beispiel der EU“, das im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen und der Jacobs University Bremen in drei Phasen von 2003 bis 2014 europäische Öffentlichkeit untersucht (vgl. Brüggemann/Hepp 2008). An der Universität Wien betreibt die Arbeitsgruppe Kommunikationswissenschaftliche Europaforschung Untersuchungen zur Entwicklung europäischer Öffentlichkeit und Identität.

Wie schon angedeutet, zeichnet sich die theoretische und empirische Literatur zur europäischen Öffentlichkeit eben durch ein großes Maß an Uneinheitlichkeit aus. Ursächlich dafür sind unterschiedliche normative und empirische Ansätze, so dass Befunde zum Forschungsgegenstand nur schwierig zu vergleichen sind. Öffentlichkeits- theorien, die implizit zugrunde gelegt werden, variieren, ebenso das Verständnis von europäischer Öffentlichkeit, die Operationalisierung von relevanten Begriffen und die empirische Messung von europäischer Öffentlichkeit. Insofern resultieren die divergierenden Befunde der Empirie aus den unterschiedlichen Vorgehensweisen empirischer Untersuchungen.

Zu denjenigen Wissenschaftlern, die in ihren Studien seit Mitte der 1990er Jahre die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit bejahen, zählen u. a. Klaus Eder, Cathleen Kantner, Thomas Risse und Bernhard Peters. Auch Hartmut Wessler konstatiert mit Blick auf die europapolitische Berichterstattung in den 90ern einen zurückhaltenden Europäisierungstrend, der sich zumindest bis 2003 fortsetzt (vgl. Wessler 2006: 9). Ihnen gegenüber stehen vor allem Friedhelm Neidhardt und Jürgen Gerhards. Sie finden jeweils kaum Anhaltspunkte für die Existenz einer europäischen Öffentlichkeit (vgl. Gerhards 2000a: 58, Gerhards 2000b: 277, Gerhards 2002: 145). Die empirischen Vor- gehensweisen und Resultate Eders und Gerhards’ werden aufgrund ihrer Bedeutung für die theoretischen Befunde und Kontroversen der beiden durch die Autoren vertretenen Schulen im Kapitel zur Theorie ausführlich dargestellt. Jürgen Gerhards gelangt durch die Sekundäranalyse einer Langzeitstudie von 1951 bis 1995 in der BRD, die allerdings nicht primär den Untersuchungsgegenstand europäischer Öffentlichkeit im Fokus hatte, zum Ergebnis, dass sich zumindest in diesem Zeitraum keine Europäisierung abzeichnet (vgl. Gerhards 2000b: 299).

Ebenfalls machen Christiane Eilders und Katrin Voltmer keinen Trend einer Europäisierung in Kommentaren der deutschen Qualitätspresse aus, sondern finden vielmehr ein geteiltes Bild vor. Während die Aufmerksamkeit für europäische Themen gering sei, würde die europäische Integration generell hohe Unterstützung finden, was sowohl für konservative als auch für Kommentare und Leitartikel, die dem linken, politischen Spektrum zugeordnet werden können, gelte (vgl. Eilders/Voltmer 2003: 267). Dabei nehmen die Autorinnen u. a. an,

„dass eine Europäisierung der öffentlichen Diskussion ‚durch die nationale Brille’ eine mögliche Form ist, die Relevanz europäischer Politik in das öffentliche Bewusstsein zu bringen, da die Thematisierung Europas im nationalen Kontext dazu beiträgt, die supranationale Politik auf die unmittelbaren Lebensbedingungen der Bürger zu beziehen und es auf diese Weise greifbarer und verständlicher zu machen“ (ebd. 264).

Ihr Beitrag basiert auf einer Inhaltsanalyse von Kommentaren und Leitartikeln fünf überregionaler deutscher Qualitätszeitungen zwischen 1994 und 1998 (vgl. Eilders/Voltmer 2003: 251). Auch hier muss die Untersuchung in ihrer Aussagekraft eingeschränkt werden, da es sich ebenfalls um eine Sekundäranalyse7 handelt, der ein größeres Projekt zum politischen Diskurs in den Kommentaren der deutschen Qualitätspresse zugrunde liegt (vgl. Eilders/Voltmer 2003: 257).

3.2 Die EU und ihre politischen Institutionen

Auffinden lassen sich erstens weiterhin Studien, in denen die EU und ihre politischen Institutionen jeweils als Kommunikatoren und Akteure im Mittelpunkt stehen, z. B. in Untersuchungen der Europäischen Kommission im Hinblick auf die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit (vgl. Loitz 2001, Brüggemann 2008 und 2009). Michael Brüggemann beschäftigt sich aktuell mit der neuen Informationspolitik der EU- Kommission. In seinen Vorstellungen von (transnationaler) Öffentlichkeit bedient sich der Autor dem Arenamodell und er folgt der Perspektive einer Europäisierung nationaler Medien (vgl. Brüggemann 2009: 3, 4). Den Aspekt der Informationspolitik, auf den Brüggemanns Analysen u. a. abzielen, definiert er folgendermaßen:

„Informationspolitik bezeichnet die Gesamtheit politischer Entscheidunge n, die die Ziele, Regeln und Aktivitäten eines hoheitlichen Organs in der Kommunikation mit den Bürgern bestimmen. Ergebnis dieser Entscheidungen sind Strategien der Öffentlichkeitsarbeit und Regeln zum Zugang zu Informationen und Dokumenten (Transparenzregime)“ (Brüggemann 2009: 3/Hervorheb. i. O.).

Die Informationspolitik sieht Brüggemann zwischen den Polen Transparenz und Arkanpolitik. PR-Aktivitäten siedelt er zwischen den Extremen von Propaganda und Dialog an (vgl. ebd.: 5). Dabei stellt sich natürlich die Frage, inwiefern PR überhaupt die EU-BürgerInnen erreicht und bei diesen eine Wirkung zeigt (vgl. ebd.: 6). Die Mehrebenenanalyse bezieht sich auf eine Informationskampagne der Kommission zur EU-Erweiterung. Erhoben wurden dazu empirische Daten mittels Experteninterviews, Dokumentenanalyse und standardisierten schriftlichen Befragungen in Brüssel und bei nationalen Kommissionsvertretungen in Deutschland und Frankreich. Brüggemann gelangt zum Schluss, dass die Informationspolitik der Kommission tatsächlich am Leitbild der Transparenz orientiert sei, allerdings stellt er grobe Mängel in der Umsetzung und bei der wenig professionellen Kommunikation, etwa durch den wenig benutzerfreundlichen Webauftritt ‚EUROPA’ fest (vgl. ebd.: 12). Hinsichtlich der Erweiterungsphasen der EU im Zeitraum von 1989 bis heute konstatiert der Autor eine deutliche Asynchronität von politischen Entscheidungen und deren Kommunikation. PR diene hauptsächlich der Nachbereitung von Entscheidungen (vgl. ebd.: 15). Bei der Analyse dialogischer Kommunikation wird ersichtlich, dass vor allem Diskussionsforen der Kommission überwiegen, die jedoch quantitativ nicht die breite Bevölkerung erreichen können und oft weniger als 50 Teilnehmer verzeichnen. Zudem haben diese Diskussionsforen weder Rückbindung an, noch Relevanz für politische Entscheidungen. Kooperationen mit Medien wurden in der Kampagne der Kommission nicht zentral berücksichtigt, obwohl gerade solche Aktivitäten die nötige Aufmerksamkeit und Reichweite erzielen könnten (vgl. ebd.: 16, 17). Die Vernachlässigung der Pressearbeit per se führt Brüggemann auch auf die geringen Personalkapazitäten zurück. So legt er dar, dass der damalige Erweiterungskommissar Günter Verheugen nur einen einzigen Sprecher zur Verfügung hatte, dem wiederum gerade eine Sekretärin und eine Assistentin mit einem 50%-Arbeitspensum zur Verfügung standen (vgl. ebd.: 18).

Vor diesem Hintergrund konstatiert Brüggemann eine „Informationspolitik mit angezo- gener Handbremse“ (ebd.: 18). Als ursächlich für die Schwächen der Kommunikation der Kommission sieht er den Mangel eines politischen und rechtlichen Mandats für die Entwicklung einer europäischen Informationspolitik, die verbindlichen Verwaltungs- regeln und ihre strenge Auslegung sowie die zersplitterte Verteilung von Ressourcen innerhalb der EU-Institution. Er vermisst ausreichend ausgebildete PR-Fachleute und stellt fest, dass das Fünfjahresbudget der Generaldirektion (GD) Kommunikation gerade einmal für die Portokosten genüge, wolle sie allen EU-BürgerInnen einen Brief senden. Immerhin seien seit 2005 durch die zuständige Kommissarin für Kommunikation, Margot Wallström, verschiedene Reformen initiiert worden, allerdings bliebe die Zersplitterung der Kommunikationsabteilungen der Kommission bislang bestehen (vgl. ebd.: 19, 20). Problematisch bleibt weiterhin die fehlende demokratische Bindung zwischen den Akteuren des Initiativorgans und den EU-BürgerInnen durch Wahlen und eine wirklich professionelle Medienarbeit als „das Missing Link zwischen Informationspolitik und Öffentlichkeit“ (vgl. ebd.: 21).

In diesem Zusammenhang sei aktuell auf eine Initiative von Margot Wallström hingewiesen:

„A new website launched Tuesday (26 May) aims to get EU citizens across the 27 member states talking and reading about the same issues, something that to date has been hindered by language barriers. With €3 million of European Commission funds a year and a team of 10 journalists, www.presseurop.eu is part of the EU’s drive to create a ‚European public sphere’ (Mahony 2009: 1).

Das neue Webportal will die Schwierigkeit von Sprachdifferenzen in der EU dergestalt umgehen, dass eine Auswahl von Zeitungsartikel aus etwa 250 verschiedenen nationalen Qualitätszeitungen täglich in 10 Sprachen übersetzt wird. Im Zeitraum der nächsten fünf Jahre sollen sogar alle 23 der offiziellen EU-Sprachen angeboten werden (vgl. Mahony 2009: 1).

3.3 Transnationale Medien und transnationale Medienunternehmen

Zweitens werden transnationale Medien (nationale Medien mit transnationalem Auftrag, internationale Medien, panregionale Medien und globale Medien) und transnationale Medienunternehmen im Hinblick auf europäische Öffentlichkeit untersucht (vgl. Wessler et al. 2008, Kapitel 5 für transnationale Medien, vgl. Meier/Trappel 2006 für Unternehmen). Die Rolle europäischer Journalisten und die Entwicklung eines europäischen Journalismus werden ebenfalls analysiert (vgl. Sievert 1998, Meyer 2002, Neverla/Schoon 2008).

Die bereits erwähnten Eurobarometer-Studien der Europäischen Kommission untersuchen die Einstellungen in den Bevölkerungen der Mitgliedsländer (vgl. Melich 2000, Baisnée 2007). Das Eurobarometer wurde 1973 von Jacques-René Rabier als Instrument zur Meinungserhebung für die EU gegründet. Rabier hatte bereits den Presse- und Informationsservice der Europäischen Gemeinschaften gegründet und von 1958 bis 1970 geleitet (vgl. Baisnée 2007: 496, 497).

Thomas Risse differenziert in seiner Darstellung des empirischen Forschungsstands zu einer europäischen Öffentlichkeit zwei verschiedene Vorgehensweisen zu deren Untersuchung (vgl. Risse 2004: 140). Dies sei zunächst durch die Messung von Europaberichterstattung in den Medien im Verhältnis zu anderen Themen erfolgt, wobei verschiedene Studien im Ergebnis einer geringen Medienaufmerksamkeit für europäische Themen übereinstimmen. Allenfalls konnte eine leichte Zunahme in den 90er Jahren konstatiert werden. Eine alternative Herangehensweise liegt in der Untersuchung spezifischer europäischer Ereignisse in verschiedenen nationalen Medienarenen auf gleiche Rahmungs- und Interpretationsmuster hin vor. Die Entstehung eines europaweiten Kommunikationsraums wird z. B. in Studien zur „Haider-Debatte“ angenommen, führt Risse aus. Der Wahlsieg und Regierungseintritt Jörg Haiders und seiner Partei FPÖ bei den Nationalratswahlen 1999 in Österreich lösten in verschiedenen europäischen Ländern Debatten aus, welche im Hinblick auf europäische Öffentlichkeit analysiert wurden (vgl. Risse 2004: 141 ff.). Durch eine Frame-Analyse wurden die relevanten Rahmungsschemata bestimmt und neben der Qualitäts- und Boulevardpresse in Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich auch amerikanische Medien verglichen. Im Ergebnis konnte durch diese Untersuchung eine europäische Öffentlichkeit mit identitätsstiftenden Bezügen in Ab- grenzung zu einer westlichen Öffentlichkeit ermittelt werden:

„Europäische Zeitungen hingegen diskutierten das Thema als etwas, das »uns als Europäer« angeht und die eigene Identität als europäische betrifft. Mit anderen Worten, europäische Zeitungen - und zwar durchgängig und ohne besondere nationale Differenzen - nahmen die Binnenperspektive einer Kommunikationsgemeinschaft ein, wohingegen die US-Zeitungen diese Gemeinschaft und ihren Diskurs von außen beobachteten“ (Risse 2004: 144).

Gleichermaßen gilt dieser Befund eines europäischen Kommunikationsraums für die Diskussion über die Osterweiterung der EU, wie Van de Steeg mit einer Studie bezogen auf die Niederlande, Spanien und Deutschland, belegen kann. Hingegen dominierten nationale Interpretationsmuster in der Untersuchung deutscher und spanischer Medien bezüglich eines Korruptionsskandals in der EU (vgl. Trenz 2000 zitiert nach Risse 2004: 141).

Tabelle 2: Dimensionen europäischer Öffentlichkeit und empirische Befunde

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Risse 2004: 145)

Insgesamt deuten die empirischen Befunde der vergangenen Jahre also auf die vorsichtige und fragmentarische Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit hin. In der Untersuchung europäischer Öffentlichkeit erscheint es sinnvoll, den Fokus neben den Medien als Vermittlern von Öffentlichkeit auch auf ihre Funktion als aktive Akteure der Öffentlichkeit selbst zu richten. Barbara Pfetsch et al. kritisieren mit ihrem Ansatz die frühen Studien von Jürgen Gerhards, der u. a. die Massenmedien ursächlich als Behinderung für eine der politischen und wirtschaftlichen Integration angemessene Aufmerksamkeit für europäische Themen und Akteure in der Berichterstattung sieht (vgl. Pfetsch/Koopmans 2006: 180, 181). Auf der Datenbasis der Europub-Studie8 führten sie, mit Beschränkung auf die deutsche Medienberichterstattung, eine Analyse

auf Grundlage jeweils des politischen Teils der Zeitungsausgaben von Süddeutscher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, BILD-Zeitung und Leipziger Volkszeitung im Zeitraum 2000 bis 2002, durch. Dieser Studie, die verschiedene Politikfelder je nach nationalen und supranationalen Kompetenzen in der EU unterscheidet, liegt das Verständnis von Europäischer Öffentlichkeit

„als interaktive transnationale Kommunikationsverdichtungen, bei denen horizontale (zwischen Mitgliedsstaaten) und vertikale (zwischen Mitgliedsstaaten und der EU-Ebene) Kommunikationen sichtbar und messbar sind“ zugrunde (Pfetsch/Koopmans 2006: 183).

Anstelle der sonst in entsprechenden Studien üblichen Medieninhaltsanalyse wurde hier eine Claims-Analyse angewendet, um speziell relevante politische Äußerungen in öffentlichen Kommunikationsräumen zu erfassen (vgl. Pfetsch/Koopmans 2006: 182). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass gerade die Medien selbst - relativ gesehen - als Motoren der Europäisierung der politischen Öffentlichkeit bestimmt werden können, wohingegen politische Akteure sich weniger oft auf europäische Themen und die EU beziehen und seltener auf andere EU-Staaten Bezug nehmen, als die Medien dies eigenständig tun (vgl. Pfetsch/Koopmans 2006: 190).

„Da sie [die Regierung und die Parteien, die zivilgesellschaftlichen Akteure und Verbände, Anm. CG] ihre Unterstützung eher in der nationalen Arena von Politik suchen müssen, sind sie möglicherweise gar nicht so sehr an einer Intensivierung transnationaler Diskurse und schließlich an der Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit interessiert. Dagegen können wir für die Presse in Deutschland eine stärkere Öffnung für die europäische Perspektive konstatieren“ (Pfetsch/Koopmans 2006: 190).

Schließlich ist einzuräumen, dass diese Erkenntnisse in ihrer Aussagekraft zeitlich und räumlich beschränkt sind und eine Analyse mit anderen Ländern, z. B. Großbritannien, vom Fall der BRD abweichende Resultate erzielen könnte (vgl. Pfetsch/Koopmans 2006: 191).

Als besonders relevant für die bisherigen empirischen Forschungen zur europäischen Öffentlichkeit ist die Messung von vertikaler und horizontaler Europäisierung hervorzuheben. „Vertikale Europäisierung“ meint die vermehrte Ausrichtung der nationalen Öffentlichkeiten hin zur EU, die Beobachtung ihrer politischen Institutionen und derjenigen, die diesen Institutionen angehören. Mit „horizontaler Europäisierung“ wird die Vorstellung einer Wechselseitigkeit im Austausch zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten der EU benannt (vgl. Koopmans/Erbe 2004 zitiert nach Brüggemann 2009: 4; Wessler et al. 2008)9.

In der Forschung zu europäischer Öffentlichkeit wird darüber hinaus zwischen massenmedialer- und Elitenöffentlichkeit unterschieden (vgl. Tabelle 3). Im ersten Fall ist das Publikum unabgeschlossen und dispers, im zweiten Fall jedoch begrenzt. Bereits in Anbetracht nationaler politischer Öffentlichkeit wird davor gewarnt, einer Fiktion von Einheitlichkeit zu erliegen (vgl. Trenz 2008: 14 ff., Neidhardt 2006: 52ff.). „Warum soll angenommen werden, dass die Leser der Bild -Zeitung und die Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen gemeinsamen Raum des Öffentlichen teilen?“ (Trenz 2008: 14/Hervorheb. i. O.). Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass auch Idealvorstellungen bezüglich einer europäischen Öffentlichkeit nicht besonders weit führen. Tabelle 3 unterscheidet zusätzlich auf der Politikebene zwischen nationalen und supranationalen Politik- und Entscheidungszentren. Daraus ergeben sich vier Muster für transnationale Öffentlichkeiten. In dieser Arbeit wird dem Muster B gefolgt, das prinzipielle Offenheit und Zugänglichkeit für alle garantiert.

Tabelle 3 : Strukturmuster transnationaler Öffentlichkeiten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Tobler 2006: 112)

[...]


1 Zur Definition einer europäischen Öffentlichkeit siehe auch Kapitel Theorie, S. 36.

2 Zum Zeitpunkt der Erstellung der Arbeit war der Vertrag von Lissabon noch nicht in allen Mitgliedsstaaten der EU angenommen worden. Nach der Zustimmung der Tschechischen Republik am 11. November 2009 als letztes Land, tritt der Lissabon-Vertrag voraussichtlich zum 1. Dezember 2009 in Kraft.

3 „Seit September 2006 sind eine Reihe von Sitzungen des Rates und vor allem das Abstimmungsverhalten der Regierungsvertreter öffentlich“ (Council of the European Union 2006, zit. nach Brüggemann 2009: 9). Grundsätzlich ändert diese Ausnahme allerdings wenig am Prinzip geheimer Sitzungen.

4 In diesem Zusammenhang können z. B. die Universitäten Erfurt, Leipzig, Passau und Bamberg sowie die Universität Zürich genannt werden.

5 Ausführliche Darstellung des zeitlichen Ablaufs des Georgien-Kriegs siehe Kapitel 6, S. 55.

6 Barbara Pfetsch et al. (2004) befassen sich im Rahmen der Europub-Studie als eine der wenigen Autoren mit einem Vergleich von Qualitäts-, Boulevard- und Regionalpresse. Ihnen zufolge weisen Qualitätszeitungen im Vergleich das höchste Maß an vertikaler Europäisierung auf.

7 “Unsere Analyse basiert auf einer europa-spezifischen Teilstichprobe, die 771 der 8’946 Kommentare der Gesamtstudie umfasst” (Eilders/Voltmer 2003: 259).

8 Die Europub-Studie untersucht ‘The Transformation of Political Mobilisation and Communication in European Public Spheres’ (vgl. http://europub.wz-berlin.de).

9 Zur Operationalisierung der beiden Konstrukte vertikale und horizontale Europäisierung siehe Kapitel 7.1.3, S. 61.

Ende der Leseprobe aus 120 Seiten

Details

Titel
Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten am Beispiel des Georgien-Kriegs 2008
Untertitel
Vergleichende Analyse der Medienberichterstattung von Qualitäts- und Boulevardpresse in Frankreich, Deutschland und der Schweiz
Hochschule
Universität Zürich  (Lehrstuhl für Publizistikwissenschaft und Soziologie, fög - Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft)
Veranstaltung
Lizentiatskolloquium
Note
gut
Autor
Jahr
2009
Seiten
120
Katalognummer
V176669
ISBN (eBook)
9783640980345
ISBN (Buch)
9783640980529
Dateigröße
1141 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Europäisierung, europäische Öffentlichkeit, Georgienkrieg
Arbeit zitieren
Christina Gehres (Autor:in), 2009, Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten am Beispiel des Georgien-Kriegs 2008, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176669

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