Wahlenthaltung. Ausdruck der Krise oder der Normalisierung?


Seminararbeit, 2009

29 Seiten, Note: 1,70


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Bedeutung von Wahlen für die Demokratie

3. Eine Kategorisierung der Nichtwähler
3.1 Ungültigwähler
3.2 Technische Nichtwähler
3.3 Grundsätzliche Nichtwähler
3.4 Konjunkturelle Nichtwähler
3.5 Eine neue Nichtwähler-Kategorie?

4. Gründe für die Stimmenthaltung anhand verschiedener Ansätze zur Erklärung von Wahlverhalten
4.1 Soziologische Ansätze
4.2 Der sozialpsychologische Ansatz
4.3 Der Rational-Choice-Ansatz

5. Schlussbetrachung: Sind Nichtwähler eine Gefahr für die Demokratie?

6. Verzeichnis der verwendeten Literatur
6.1 Quellen
6.2 Darstellungen

1. Einleitung

Abraham Lincoln definierte Demokratie 1863 einprägsam als „government of the people, by the people, for the people”1 In dieser Regierungsform geht demzufolge die Herrschaft aus dem Volk hervor und wird dann durch das Volk selbst und in seinem Interesse ausgeübt. Bestätigt wird ein solches Verständnis der Demokratie im deutschen Grundgesetz. Auch dort heißt es im Artikel 20.2, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausginge.

Es scheint jedoch, als würde in Ländern, in denen die Demokratie einst groß wurde, die Herrschaft in den letzten Jahren nur noch von einem Teil des Volkes getragen, denn Fakt ist, dass in fast allen westlichen Demokratien die Wahlbeteiligung sinkt. Seit der Jahrtausendwende beteiligten sich in Frankreich nur noch durchschnittlich 62,43% der berechtigten Bürgerinnen und Bürger an den Wahlen. In Großbritannien sind es nur noch 60,37%. In den USA lag die Wahlbeteiligung 1996 gar auf einem historischen Tiefstand von 49%.

Auch in der vergleichsweise jungen Demokratie Deutschlands blieben in den letzten Jahren immer mehr Wahlberechtigte zuhause. Wenngleich die durchschnittliche Wahlbeteiligung in Deutschland von 1949 bis 2005 bei 84,6% (Siehe Anhang Abb. 1) und somit rund 4% höher als der Durchschnitt bei sämtlichen nationalen Parlamentswahlen in allen anderen westlichen Demokratien in diesen Jahren liegt (Siehe Anhang Abb. 2 und 3), die Zeiten von Nichtwähleranteilen unter 10% scheinen auch hier vorbei zu sein. 2005 begaben sich nur noch rund 77,5% der deutschen Wahlberechtigten an die Urne. Auf anderen Wahlebenen ist die Anzahl der Nichtwählerinnen und Nichtwähler2 sogar noch drastisch höher. Bei der letzten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt beispielsweise enthielten sich 55,6% der Wahlberechtigten ihrer Stimme. Eine Partei der Nichtwähler hätte somit eine absolute Mehrheit erzielt (Siehe Anhang Abb. 4).3

Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen, wecken die Wahlenthaltungen auch in Deutschland zunehmend das Interesse von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern. Das Resultat dieser Beschäftigung ist ein Diskurs, der nach wie vor ungelöst scheint.

Die Frage ist: Wie lässt sich die sinkende Wahlbeteiligung deuten? Können die hohen Grundsätze der Volkssouveränität mit diesem Trend in Einklang gebracht werden? Sind die Nichtwähler gar Ausdruck einer wachsenden Entfremdung von Bürgern und der Politik? Oder handelt es sich einfach um eine allmähliche Angleichung der deutschen Wahlbeteiligung an die Zahlen anderer westlicher Länder?

Mit anderen Worten: Befindet sich die Demokratie in der Krise oder sind Wahlbeteiligungen auf diesem Niveau schlicht ein Zeichen von Normalität?

Zur Untersuchung dieser Fragestellung soll in der vorliegenden Hausarbeit der Wahlakt in seiner Bedeutung für die Demokratie kurz näher erläutert werden. Es folgt eine genauere Betrachtung der Gruppe der Nichtwähler und insbesondere der Gründe, die nach bisherigen empirischen Untersuchungen zur Wahlenthaltung führen können. Auf diese Art und Weise kann dann zum Ende der Arbeit ein Antwortversuch gegeben werden, inwiefern die wachsende Gruppe der Nichtwählenden die Legitimität westlicher Demokratien untergräbt, beziehungsweise nur eine Normalisierung oder gar einfach eine andere Form der Wahlentscheidung darstellt.

Durch den begrenzten Umfang der Arbeit ist nur ein grober Einblick in aktuelle politikwissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Thema möglich. Als grundlegende Texte über die Nichtwähler dienten die Monographien von Michael Eilfort4, Thomas Kleinheinz5 sowie der Aufsatz von Claudio Caballero6.

2. Die Bedeutung von Wahlen für die Demokratie

In der Entwicklung des Verfassungsstaates kristallisierten sich seit dem 17. Jahrhundert stufenweise die drei Kernelemente moderner Demokratien heraus: Schutz, Partizipation und Inklusion. Es gilt das Prinzip der Volkssouveränität. Das bedeutet in der Konsequenz, dass alle Bürger vor dem Rechtsstaat gleich sind, die gleichen bürgerlichen Grundrechte besitzen und die gleichen Chancen und Rechte auf Partizipation in diesem Staat erhalten.7

Die Stimmabgabe bei Wahlen ist grundlegendste Form der Partizipation und für die Mehrheit der Bürger auch die einzige Teilnahme am politischen Prozess. Durch Wahlen werden die politischen Machthaber rekrutiert, die schon allein durch ihr Interesse an einer Wiederwahl, an den Willen des Volkes gebunden werden. In einer funktionierenden Demokratie werden politische Meinungen somit aggregiert und mögliche Konflikte kanalisiert. Durch die breite Legitimationsbasis, die solche Regierungen auf diese Art und Weise im Volk erhalten, verfügen demokratische Systeme im Gegensatz zu nicht-demokratischen über größere Stabilität und Reponsivität.8

Zwischen Wahlen und Demokratien besteht demzufolge ein enger Zusammenhang. Man könnte die Wahlen gar als die Essenz westlicher Demokratien bezeichnen.

In dieser Sichtweise wird das politische System von der Input-Seite aus betrachtet. Je mehr Interessen in den politischen Prozess eingehen können, desto höher ist die Funktionalität der Regierung. Das Ziel einer sogenannten Input-orientierten Demokratietheorie ist also eine möglichst hohe Wahlbeteiligung. Die wachsenden Wahlenthaltungen bedeuten einen Legitimationsverlust für die Regierenden und werden als Hinweise auf eine Krise der Demokratie betrachtet.9

Rein technisch ist es gleichsam möglich die Wahl auf „ein Mittel zur Bildung von Körperschaften oder zur Bereitstellung einer Person in ein Amt“10 zu reduzieren. In der eher Output-orientierten Demokratietheorie ist es somit zweitrangig, wie viele Menschen sich an diesem Vorgang beteiligen. Wahlenthaltung kann sogar positiv sein, wenn ebenjene sich nicht zur Urne gehen, die ohnehin nicht dem „Ideal des aufgeklärten, mündigen Bürgers entsprechen.“11 Die breite Akzeptanz der Wahlnorm habe nach Ansicht dieser Theoretiker in der Vergangenheit zu höheren Wahlbeteiligungen geführt. Die aktuelle Tendenz zur Nichtwahl sei nur ein Ausdruck der Normalisierung und Angleichung an ältere Demokratien, in denen dieser Prozess schon länger zu beobachten ist.12

Bei der Behandlung des Themas der Wahlenthaltung sei allerding auch die rein ontologische Bedeutung der Wahl herausgestellt. So lässt sich aus dem reinen Begriff ableiten, dass dieses Wort sowohl die Möglichkeit einer Auswahl, als auch die Freiheit zur Wahl überhaupt impliziert. Demzufolge ist sind also mindestens zwei Angebote für eine solche Entscheidung erforderlich und auch die Option einer Entscheidung zur Nichtwahl ist a priori gegeben.

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass sich bereits bei der Betrachtung der Bedeutung der Wahlen für die Demokratie, die Gemüter scheiden. Je nach Ansatz erscheinen Wahlenthaltungen in einem anderen Licht.

3. Eine Kategorisierung der Nichtwähler

Laut Artikel 38.2 GG ist jeder wahlberechtigt, der „das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat“. Im genauen Wortsinn müssten also alle Minderjährigen Deutschen als Nichtwähler gelten. In der demokratischen Praxis enthalten sich aber, wie bereits gezeigt, auch zahlreiche volljährige Bürger der Bundesrepublik Deutschlands ihres grundgesetzlich verankerten Rechtes wählen zu gehen. Diese sind es, die der Begriff der Nichtwähler bezeichnet.13

Je nach Forschungsschwerpunkt und empirischer Untersuchung wurden in den letzten Jahren verschiedene Versuche unternommen, diese Gruppe der Nichtwähler näher zu kategorisieren. Im Folgenden wird vor allem die Einteilung von Michael Eilfort als Orientierung dienen.14

3.1 Ungültigwähler

Diese Bürger verweigern zwar nicht den Urnengang, jedoch führt ihrer Stimmabgabe in der Konsequenz zum selben Ergebnis wie die anderer Nichtwähler.

Ungültige Wahlzettel kommen zustande, wenn diese nicht vollständig ausgefüllt, durchgestrichen oder gar beschriftet werden. Teilweise entstehen solche Fehler in Deutschland wohl immer wieder durch Verständnisprobleme der Bürger mit dem Zwei- Stimmen-System, aber auch als bewusstes Zeichen politischen Protests.

Bei der letzten Bundestagswahl 2005 lag der Anteil ungültiger Stimmen bei 1,6%.15 Diese Zahlen werden in den Statistiken separat neben den abgegebenen Stimmen und Wahlenthaltungen aufgeführt.

3.2 Technische Nichtwähler

Diejenigen, denen die Stimmabgabe aus technischen Gründen verwehrt bleibt, werden von Michael Eilfort auch als „unechte Nichtwähler“ bezeichnet.16

Immerhin geschätzte 3,5% aller Wahlenthaltungen gehen auf fehlerhafte Wählerverzeichnisse, aber auch zu spät oder unvollständig eingetroffene Briefwahlunterlagen zurück. Außerdem wird angenommen, dass regelmäßig ungefähr 2 bis 3% der Nichtwähler durch kurzfristige Erkrankungen o.ä. zum Wahltermin verhindert sind.

Daher ist auch in Ländern mit einer Wahlpflicht selten eine Beteiligung von über 95% zu verzeichnen.17

3.3 Grundsätzliche Nichtwähler

Zu dieser Gruppe der Nichtwähler, gehören all jene, „die immer oder bei drei und mehr aufeinanderfolgenden Wahlgängen auf einer Systemebene der Urne fernbleiben.“18 Grundsätzliche Wahlenthaltung ist vor allem durch die besondere Weltanschauung, generelle Systemgegnerschaft, aber auch allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber Politik bedingt. Zu den Dauer-Nichtwählern gehören z.B. die Zeugen Jehovas, denen das aktive und passive Wahlrecht untersagt ist.

Allerdings gilt das Interesse der Wahlforschung nicht im Besonderen den Menschen dieser Kategorie. Einerseits können sie die Zunahme des Nichtwähleranteils innerhalb relativ kurzer Zeit nicht erklären. Andererseits haben sie durch ihre grundsätzliche Enthaltung auch keinen Einfluss auf Wahlergebnisse.19

3.4 Konjunkturelle Nichtwähler

Hierbei handelt es sich um die wohl wichtigste und auch größte der Nichtwählergruppen. Diese Bürger differenzieren u.a. nach der von ihnen wahrgenommenen Wichtigkeit einer Wahl. Das heißt dass sie eher zur Bundestags- als zur Europawahl gehen und den Urnengang von der erwarteten Knappheit des Wahlergebnisses abhängig machen.

Der Anteil der konjunkturellen Nichtwähler ist den aktuellen empirischen Erkenntnissen zufolge maßgeblich verantwortlich für schwankende Wahlbeteiligungen. In der folgenden Untersuchung soll vor allem diese Kategorie der Wahlenthaltung näher betrachtet werden.20

3.5 Eine neue Nichtwähler-Kategorie?

Mit der sinkenden Wahlbeteiligung entdeckten die Wissenschaftler die Ausbreitung einer neuen Gruppe von bekennenden Nichtwählern, die von den anderen Kategorien noch einmal abgegrenzt zu betrachten sind. Zu ihnen gehören jene, die einer sonst präferierten Partei ihre Stimme aus Protest entziehen, um z.B. vergangene Politik abzustrafen.

Im Gegensatz zum klassischen Nichtwähler amerikanischer Studien der 40er und 50er Jahre besitzen sie eine klare Parteiidentifikation und politisches Interesse.

Wissenschaftliche Meinungen zur Einschätzung dieses neuen Nichtwählertypus gehen noch auseinander. Bei einer Untersuchung während der Bundestagswahlen von 1994 bis 2002 konnte der Trend einer ansteigenden Anzahl kritischer Wahlenthalter jedoch nicht bestätigt werden. Zwar existiere dieser Typ, doch die Mehrheit der Nichtwähler zeige sich nach wie vor relativ konstant politisch desinteressiert.21

Es ist also keineswegs möglich von einer einheitlichen „Partei der Nichtwähler“ zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine äußerst heterogene Gruppe, deren Gründe für die Wahlenthaltung vielschichtig und differenziert zu sehen sind.

[...]


1 LINCOLN, Abraham: The Gettysburg Address.

2 Im Folgenden wird zugunsten einer besseren Lesbarkeit auf eine separate Nennung der Nichtwählerinnen, sowie auf das Binnen-I verzichtet. Es sei jedoch herausgestellt, dass der Begriff der „Nichtwähler“ explizit als Bezeichnung von männlichen, als auch weiblichen Personen, die sich der Wahl enthalten, verstanden wird. Dies gilt ebenso für die Verwendung anderer Paarformen.

3 vgl. SCHMIDT: Das politische System Deutschlands, S.56-63.

4 EILFORT: Die Nichtwähler.

5 KLEINHENZ: Die Nichtwähler.

6 CABALLERO: Nichtwahl.

7 vgl. SCHULTZE: Demokratie, S. 129.

8 vgl. NOHLEN: Wahlen / Wahlfunktionen, S. 748-752.

9 vgl. BÜRKLIN; KLEIN: Wahlen und Wählerverhalten, S. 160.

10 NOHLEN: Wahlen / Wahlfunktionen, S. 748.

11 BÜRKLIN; KLEIN: Wahlen und Wählerverhalten, S. 160.

12 vgl. EBENDA, S. 160 f.

13 vgl. ZINTERER: Nichtwähler, S. 616.

14 EILFORT: Die Nichtwähler, S. 53-62.

15 FRITZ: Wer sind die Nichtwähler und was bewirken sie? S. 333.

16 EILFORT: Die Nichtwähler, S. 54.

17 vgl. EBENDA, S. 54 ff.

18 EBENDA, S. 57.

19 vgl. EBENDA, S. 57 ff.

20 Vgl. EBENDA, S. 59 f.

21 vgl. GABRIEL; VÖLKL: Auf der Suche nach dem Nichtwähler neuen Typs, S. 221-248.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Wahlenthaltung. Ausdruck der Krise oder der Normalisierung?
Hochschule
Universität Rostock  (Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften)
Veranstaltung
Einführung in die Empirische Wahlforschung
Note
1,70
Autor
Jahr
2009
Seiten
29
Katalognummer
V176406
ISBN (eBook)
9783640976157
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nichtwähler, Wahlenthaltung, wahlforschung, wahlverhalten, Rational Choice
Arbeit zitieren
Elisabeth Woldt (Autor:in), 2009, Wahlenthaltung. Ausdruck der Krise oder der Normalisierung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176406

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