Das Moustérien - Die große Zeit der Neanderthaler


Fachbuch, 2011

86 Seiten


Leseprobe


Das Moustérien

Als bedeutendste und fundreichste Kulturstufe der Neanderthaler in der mittleren Altsteinzeit gilt das Moustérien vor etwa 125.000 bis 40.000 Jahren, das in Europa, im Mittelmeergebiet und in Mittelasien sehr verbreitet war. Der Begriff Moustérien wurde 1869 von dem französischen Prähistoriker Gabriel de Mortillet (1821–1898) aus Saint-Germain bei Paris nach den Funden aus der Höhle von Le Moustier bei Les Eyzies-de-Tayac im Departement Dordogne geprägt. Auch in Deutschland hat man zahlreiche Hinterlassenschaften aus dem Moustérien entdeckt.

Die ersten 10.000 Jahre des Moustérien entsprachen der Eem-Warmzeit vor etwa 125.000 bis 115.000 Jahren. Während dieser Zeit herrschte in ganz Deutschland zumeist ein sehr mildes Klima. Daher konnten sich viele klimatisch anspruchsvolle Pflanzen und Tiere behaupten. Der ins Eem fallende Teil des Moustérien wird als warmes »Moustérien« bezeichnet.

Die restliche Zeit des Moustérien fiel in die Abkühlungsphase der frühen norddeutschen Weichsel-Eiszeit bzw. der süddeutschen Würm-Eiszeit. Auch in dieser Eiszeit gab es wiederholt einen Wechsel von Kalt- und Warmphasen, die jeweils die Zusammensetzung der Pflanzen- und Tierwelt beeinflussten. So lebten in den Kaltphasen vor allem Mammute, Fellnashörner, Rentiere und Moschusochsen. In den Warmphasen traten Höhlenlöwen, Höhlenhyänen, Höhlenbären, Wildpferde und Hirsche auf. Der in die Weichsel- bzw. in die Würm-Eiszeit reichende Abschnitt des Moustérien wird als »kaltes Moustérien« bezeichnet.

Die Menschen aus dem Moustérien gelten als »späte Neanderthaler« oder »klassische Neanderthaler«. Der weltweit berühmteste Fund dieses Typs wurde im August 1856 beim Abbruch der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal bei Düsseldorf-Mettmann von zwei italienischen Steinbrucharbeitern entdeckt. Beim Ausräumen von Höhlenlehm stießen sie auf 16 Knochenfragmente, warfen diese aber zunächst achtlos weg, weil sie den wissenschaftlichen Wert des Fundes nicht ahnten. Erst als die Arbeiter ein Schädeldach bargen, informierten sie die Eigentümer des Steinbruchs, Friedrich Wilhelm Pieper und Wilhelm Beckershoff. Die Steinbruchbesitzer vermuteten, die Skelettreste seien Knochen eines Höhlenbären, wie sie häufig in Höhlen zu finden sind. Dass es sich hierbei um sehr seltene Überreste eines urzeitlichen Menschen handelte, erkannte als erster der herbeigerufene Realschullehrer Johann Carl Fuhlrott (1803–1877) aus Wuppertal-Elberfeld, der im Bergischen Land einen guten Ruf als Forscher und Sammler genoss. Auch der von Fuhlrott hinzugezogene Bonner Anthropologe Hermann Schaaffhausen (1816–1893) ging von einem Urmenschen aus, stimmte aber anfangs Fuhlrotts These von einem eiszeitlichen Geschöpf nicht zu.

Die Steinbruchbesitzer überließen Fuhlrott den Fund, zu dem das Schädeldach, der rechte und der linke Oberarm, fünf Rippenfragmente, die linke Beckenhälfte und beide Oberschenkel gehören, die von einem mindestens 40-jährigen Mann stammen. Ursprünglich hatte das Skelett vermutlich in Längsrichtung der Kleinen Feldhofer Grotte horizontal ausgestreckt gelegen. Der Schädel war zur Mündung der Grotte gewandt. Wegen der sie umgebenden Lehmhülle wurde das Skelett nicht als solches erkannt und könnte sogar komplett vorhanden gewesen sein.

Anfang Juni 1857 trug Fuhlrott bei der Generalversammlung des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westphalens in Bonn seine Auffassung vor, der Fund aus dem Neandertal gehöre der »vorhistorischen« Zeit an – vermutlich dem Diluvium (also dem Eiszeitalter). Dabei widersprach man ihm so heftig, dass er zunächst darauf verzichtete, seine Erkenntnisse zu publizieren. Fuhlrotts erster Aufsatz über die Skelettreste aus dem Neandertal erschien erst 1859. Auch dieser fand kaum Zustimmung in der Fachwelt. Auf Einladung von Fuhlrott besuchte 1860 der britische Forscher und Geologe Charles Lyell (1797–1875), der von den damals bahnbrechenden Theorien seines Freundes und Kollegen Charles Darwin (1809–1882) stark beeinflusst war, das Neandertal. Lyell bezog den Neanderthaler mit in seine Arbeit ein und bestätigte Fuhlrott letztendlich.

Auch der irische Geologe William King (1809–1866) betrachtete die Knochenfunde aus dem Neandertal als Überreste eines vorzeitlichen Menschen. Er verlieh ihnen 1864 zur Erinnerung an den Fundort den wissenschaftlichen Artnamen Homo neanderthalensis. Die Schreibweise » neanderthalensis r« beruht darauf, dass das Neandertal bis zur Rechtschreibreform von 1901 noch mit „h“ geschrieben wurde. Im Laufe der Zeit bürgerte sich der Begriff Neanderthaler ein, der – genau genommen gemäß wissenschaftlichen Regeln – auch heute noch mit „h“ geschrieben werden müsste, woran sich aber nicht mehr viele Gelehrte und Laien halten.

Bereits 1858 bemerkte der Bonner Anatom Hermann Schaaffhausen auf dem Schädeldach des Neanderthalers aus dem Neandertal eine auffällige Verletzung. Sie dürfte durch Gewaltanwendung entstanden und noch zu Lebzeiten verheilt sein. Der renommierte Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902), der sich 1872 die Skelettreste aus dem Neandertal in Fuhlrotts Anwesenheit zeigen ließ, beschrieb im selben Jahr unter anderem eine systematische Abflachung und Vertiefung an den beiden Schädelbeinhöckern (Malum senile), die nur bei alten Leuten auftritt. Am linken Oberarm stellte er eine krankhafte Veränderung infolge einer Verletzung fest, durch die der Arm verkürzt wurde. Die stark gekrümmten Oberschenkelknochen betrachtete er als ein Indiz dafür, dass dieser Mensch in der Kindheit an Rachitis gelitten habe. Tatsächlich ist dies aber ein Merkmal, das alle Neanderthaler haben, wie sich später zeigte. Der Tübinger Anthropologe Alfred Czarnetzki identifizierte 1980 die von Virchow erwähnte krankhafte Veränderung am linken Ellenbogengelenk des Neanderthalers als einen verheilten Unterarmbruch. Demnach dürfte dieser Mensch ein »Frühinvalide« gewesen sein, dessen Arm unnatürlich zum Körper gewinkelt war. Man hatte ihm vielleicht bei einem Kampf oder Überfall die Elle gebrochen.

Deutsche Experten taten sich in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts dadurch hervor, dass sie den Fund aus dem Neandertal fehldeuteten. So ordnete man diese Skelettreste einem alten Holländer von der Insel Marken zu, aber auch einem mongolischen Kosaken, der sich 1814 aus dem Armeekorps des russischen Generals Tschernitschew entfernt habe, oder einem rachitischen Idioten. Entscheidenden Anteil daran, dass der Neanderthaler lange Zeit nicht als fossiler Mensch anerkannt wurde, hatte in Deutschland vor allem der bereits erwähnte Berliner Pathologe Rudolf Virchow. Ihm wird heute noch fälschlicherweise angekreidet, er habe den Neanderthaler-Fund als Fall eines rachitischen Idioten abgewertet. Tatsächlich hatte er gar nicht prononciert die Altertümlichkeit des Neanderthalers angezweifelt, sondern lediglich davor gewarnt, das Schädeldach aus dem Neandertal als hinreichendes Zeugnis einer Rasse anzusehen.

Fuhlrott hat die weltweite wissenschaftliche Anerkennung des Neanderthalers in der Fachwelt nicht mehr erlebt. Nach seinem Tod 1877 verkauften seine Erben auf Vermittlung von Schaaffhausen die Originalfunde des Neanderthalers aus der Kleinen Feldhofer Grotte an das Rheinische Landesmuseum in Bonn, wo sie heute noch aufbewahrt werden.

1890 hat man die letzte große Höhle im Neandertal gesprengt. Dabei handelte es sich um die Neanderhöhle, die man nie ernsthaft wissenschaftlich untersucht hatte. 1895 entdeckte der Düsseldorfer Archäologe Oscar Rautert in einer bereits zerstörten Höhle am nördlichen Ufer der Düssel vermutlich Reste eines weiteren Neanderthalers. Auch an dieser Fundstelle erfolgte keine eingehende wissenschaftliche Untersuchung. Jener Fund gilt seit dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) als verschollen.

Erst 1901 konnte der Straßburger Anatom Gustav Schwalbe (1844–1916) die Anerkennung des hohen geologischen Alters des Neanderthalers aus der Kleinen Feldhofer Grotte in der Fachwelt durchsetzen. Die wissenschaftliche Bezeichnung Homo neanderthalensis blieb bis 1931 erhalten. In jenem Jahr fügte der Wittenberger Ornithologe und Theologe Otto Kleinschmidt (1870–1954) das Adjektiv »sapiens« hinzu, also nicht erst 1964 der englische Paläoanthropologe Bernard Campbell, wie manchmal in der Literatur nachzulesen ist. Der Name der Unterart Homo sapiens neanderthalensis besagt, dass der Neanderthaler nicht nur der Gattung Homo, sondern – wie der moderne Mensch – auch der Art Homo sapiens angehört.

Unzutreffend ist auch die häufig in populärwissenschaftlichen Beiträgen vertretene Ansicht, der Fund aus dem Neandertal sei der am frühesten in Europa entdeckte Neanderthaler. Der Arzt und Naturforscher Philippe-Charles Schmerling (1791–1836) aus Lüttich entdeckte schon 1829/1830 bei Ausgrabungen in den Höhlen von Engis bei Lüttich Neanderthaler-Skelettreste, die jedoch erst 1936 durch den Anthropologen Charles Fraipont (1883–1946) aus Lüttich als solche akzeptiert wurden. Insgesamt sind in Engis 1829/1830 und 1876 Skelettreste von vier Menschen geborgen worden. Auf Gibraltar wurde 1848 unter nicht genau bekannten Umständen in einem Steinbruch ein weiblicher Neanderthaler geborgen. Der Fundort lag südöstlich der Artilleriestellung Forbes Barrier (nicht Forbes Quarry, wie immer wieder in der Fachliteratur zu lesen ist). Diesen Fund meldete im März 1848 der englische Leutnant und Sekretär der Gibraltar Scientific Society, Edmund Henry René Flint, der 1857 auf Mauritius starb. Der englische Geologe George Busk (1807–1886) legte 1864 den Fund auf einem Kongress der Britischen Gesellschaft vor. Der italienische Anthropologe Raffaele Battiglia (1906–1958) aus Padua gab dem Schädel aus Gibraltar 1924 den Namen Homo gibraltarensis. Viele andere Neanderthaler wurden erst nach der Entdeckung des Fundes aus dem Neandertal geborgen:

1866 La Naulette (Belgien), Skelettreste einer Frau

1880 Sipka-Höhle (Tschechien), Unterkieferbruchstücke eines Kindes

1886 Spy (Belgien), Skelettreste von drei Menschen, Homo spyensis genannt

1887 Banolas bei Gerona (Spanien), weiblicher Unterkiefer

1888 Malarnaud (Frankreich), Unterkiefer

1889–1905 Krapina (Kroatien): Skelettreste von min-destens 24 Neanderthalern, darunter fünf bis sechs Kinder

1905 Ochoz, Höhle Schwedentischgrotte ( Tschechien), Unterkieferbruchstück

1907/1908 Petit-Puymoyen (Frankreich), Oberkiefer, Unterkiefer, Zähne

1908 La Chapelle-aux-Saints (Frankreich), Homo chapellensis genannt

1908 Le Moustier (Frankreich), männliches Skelett

1908–1965 La Quina (Frankreich), Schädelknochen und Skelettreste von insgesamt 20 Neanderthalern

1909 Pech de l’Aze (Frankreich), Kinderschädel

1909–1921 La Ferrassie (Frankreich), 1909 ein Mann, 1910 eine Frau, 1912 zwei drei- bis fünfjährige Kinder, 1920 ein Kund oder ein Fötus, 1921 ein Kind

1910/1911 La Cotte des Saint-Brelade auf der Insel Jersey im Ärmelkanal (England), Zähne, ein kindliches Hinterhauptsbein, Homo breladensis genannt

1914 Le Moustier (Frankreich), Skelettreste eines Kindes

1921 Broken Hill (Sambia), Homo rhodesiensis genannt

1924 bis 1926 Kiik Koba auf der Halbinsel Krim (Ukraine), ein Zahn und Skelettreste (Kiik Koba 1), Skelettreste eines Kindes (Kiik Koba 2)

1926 Gánovce (Slowakei), Schädelausguss mit Knochenresten

1926 Devil’s Tower (Gibraltar), Schädelbruchstücke und Zähne eines Kindes (Gibraltar 2)

1928 La Cave (Frankreich), Zähne

1928 Malarnaud-Las Maretas (Frankreich), Backenzähne

1929–1934 Mugharet et-Tabun (Israel), Skelettreste von schätzungsweise 15 Menschen

1929 und 1935 Saccopastore (Italien), Schädel einer Frau (Saccopastore 1), Schädelbruchstücke eines Mannes (Saccopastore 2)

Mugharet es-Skhul (Israel), Palaeoanthropus palestinus genannt

1931–1933 Ngangdong (Java), Schädelbruchstücke, zwei Schienbeine

1932 Subalyuk (Ungarn), Skelettreste einer Frau und eines Kindes

Cóva Negra (Spanien), rechtes Schienbein eines Mannes

1933–1935 Qafzeh (Israel), Schädelbruchstücke und Reste von übrigen Skelett (Qafzeh 1–7), 1965–1969 weitere Schädelbruchstücke und Reste vom übrigen Skelett (Qafzeh 8–11)

1935–1938 Eyasi (Tansania), Schädelbruchstücke,

Zähne, Palaeoanthropus njarensis genannt

1938 Tesik Tas (Usbekistan), Bestattung eines Neanderthaler-Jungen

1939 Grotta Guattari im Monte Circeo (Italien), Schädel ohne Unterkiefer (Circeo I), Kinnlade von einem anderen Individuum (Circeo II)

1947 Cave of Hearths bei Makapansgat (Südafrika), Skelettreste eines Kindes

1947 La Verrière (Frankreich), Skelettreste und ein Backenzahn

1947 Arcy-sur-Cure (Frankreich), Grotte du Loup: Ba-ckenzahn, Skelettreste, 1949 und 1951 Grotte de l’Hy-

ène: Oberkiefer, Unterkiefer, Zähne

1949–1953 La Chaise, Grotte Suard (Frankreich), 1949 Schädeldach, Backenzahn, 1950 Unterkiefer, 1951–1953 Unterkiefer, Zähne

1949 Pech de l’Azé (Frankreich), Unterkiefer, Zähne

1951 Monsempron (Frankreich), Schädeldach, Oberkiefer, Unterkiefer

1953 Hopefield, Saldanha (Südafrika), Homo saldensis genannt

1953, 1957–1960 Shanidar (Irak), Skelettreste von sieben Menschen

1953/1954 Starosel’e (Ukraine), Skelettreste von zwei Menschen

1954 Grotta del Fosselone im Monte Circeo (Italien)

1955 Gánovce (Slowakei), Abdrücke von Langknochen

1955 Genay (Frankreich), Zähne

1955 Carigüela (Spanien), Skelettreste von drei Menschen

1955 Saint Brais II, Kanton Jura (Schweiz), Schneidezahn

1955 Sidi Abderrahman (Marokko), Mann von Casablanca

1957/1958 Regourdou (Frankreich), Skelettreste eines Erwachsenen

1960–1964 Hortus (Südfrankreich), Reste von 20 bis 36 Neanderthalern

1961 Sala (Slowakei), Stirnbein, Baggerfund aus dem Flussbett der Waag

1961–1964 Amud (Israel), vorwiegend Schädelbruchstücke von fünf Menschen

1964 Ochoz (Tschechien), ein Zahn, ein Schläfenbein, ein Stirnbein (Ochoz 2)

1964 Cotencher, Kanton Neuenburg (Schweiz), Oberkieferstück mit Zähnen

1965 Kulna-Höhle bei Brünn (Tschechien), Oberkieferbruchstück und Zähne, 1966 und 1969 drei Kinderzähne, 1970 Schädelreste

Diese Auswahl von Neanderthaler-Funden basiert weitgehend auf: Leon Pales: Les Néandertaliens en France. Aus: Hundert Jahre Neandertaler 1856–1956, Beihefte der Bonner Jahrbücher, S. 32–37, Köln 1958; Johann Szilvássy: Anthropologie, Entwicklung des Menschen, Rassen des Menschen, Wien 1978; Ernst Probst: Deutschland in der Steinzeit, München 1991

Die Knochenreste aus der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal sind nach neuen Datierungen etwa 42.000 Jahre alt und gehören zu den jüngsten Neanderthaler-Funden in Mitteleuropa. Früher hat man die Funde aus der Kleinen Feldhofer Grotte auf etwa 70.000 Jahre geschätzt. Für ähnlich alt hielt man Skelettreste von Neanderthalern aus der Wildscheuerhöhle bei Steeden an der Lahn (Kreis Limburg-Weilburg) in Hessen und vielleicht aus der Klausennische bei Essing (Kreis Kelheim) im Altmühltal in Bayern.

Auf dem Vorplatz der Wildscheuerhöhle im Lahntal wurden 1953 bei Ausgrabungen des Wiesbadener Prähistorikers Heinz Eberhard Mandera (1922–1995) kurz vor der Zerstörung durch einen Steinbruchbetrieb drei Schädelfragmente von Neanderthalern entdeckt. Zwei davon stammen von einem Erwachsenen, eines vor einem Kind. Unter dem Felsvorsprung der Klau-sennische kam 1913 bei Ausgrabungen des damals in Paris tätigen deutschen Prähistorikers Hugo Obermaier (1877–1946) ein rechter oberer Milchschneidezahn zum Vorschein. Er wurde 1936 von dem Berliner Anthropologen und nationalsozialistischen Rassentheoretiker Wolfgang Abel (1905–1997) untersucht und beschrieben. Abel wies auf eine große Übereinstimmung zwischen dem Milchschneidezahn aus der Klausennische und entsprechenden Zähnen der Neanderthaler vom kroatischen Fundort Krapina hin. Daher nahm er an, dass dieser Zahn von einem Neanderthaler-Kind oder dem Kind einer neanderthaler-ähnlichen Form stamme. Bedauerlicherweise ist dieser Fund in der Anthropologischen Staatssammlung in München nicht mehr vorhanden, er soll in der Nachkriegszeit verlorengegangen sein.

Schätzungsweise 50.000 Jahre alt dürfte das rechte Oberschenkelfragment eines Neanderthalers sein, das in der Höhle Hohlenstein-Stadel bei Asselfingen (Alb-Donau-Kreis) im Lonetal in Baden-Württemberg ans Tageslicht kam. Dieses Fossil wurde 1937 bei Ausgrabungen des Tübinger Geologen und Prähistorikers Otto Völzing (1910–2001) und des Tübinger Anatomen Robert Wetzel (1898–1962) geborgen.

Von einem Neanderthaler soll auch ein Oberschenkelknochen stammen, der bei Baggerarbeiten in einer Kiesgrube von Altrip (Kreis Ludwigshafen) in Rheinland-Pfalz zusammen mit eiszeitlichen Tierresten gefunden wurde. Die Kiesgrubenbesitzer schenkten diesen Fund im Mai 1914 dem Historischen Museum der Pfalz in Speyer. Der Prähistoriker Friedrich Sprater (1884–1952) aus Speyer sandte den Oberschenkelknochen an das Anthropologische Institut der Universität Breslau. Dessen Vorstand, der Anatom und Anthropologe Hermann Klaatsch (1863–1916), identifizierte den Fund als einen Neanderthaler-Knochen.

Vielleicht handelt es sich auch bei den Schädelresten eines Menschen aus Salzgitter-Lebenstedt in Niedersachsen um Reste eines Neanderthalers aus dem Moustérien. Sie wurden 1952 bei den Ausgrabungen des Braunschweiger Prähistorikers Alfred Tode geborgen, jedoch erst im Juni 1956 unter den Tierknochen als menschliche Überreste erkannt. Der Braunschweiger Paläontologe Adolf Kleinschmidt identifizierte diese Funde als Hinterhauptsbein und fragmentarisches rechtes Scheitelbein. Nach Ansicht des Hamburger Anthropologen Rainer Knußmann bestehen Ähnlichkeiten mit den so genannten Neanderthalern aus Ehringsdorf und Taubach in Thüringen sowie den »klassischen Neanderthalern«, zu denen der Fund aus dem Neandertal gehört. Die in Salzgitter-Lebenstedt entdeckten Feuersteingeräte lassen sich nur teilweise dem Moustérien zuordnen.

Von den erwähnten Neanderthaler-Skelettresten aus Deutschland sind die aus dem Neandertal am aus-sagekräftigsten. Sie stammen von einem Mann, der nicht viel mehr als 1,60 Meter groß war. Er litt unter verschiedenen Krankheiten und Verletzungen. Daraus lässt sich ableiten, dass dieser Mensch durch den Schutz und die Fürsorge einer Gemeinschaft ein für damalige Verhältnisse so hohes Alter von mindestens 40 Jahren erreichen konnte.

Die »klassischen Neandertaler« wurden bis zu etwa 1,60 Meter groß und hatten eine untersetzte Statur. Ihr Gehirnschädel war langgestreckt, relativ flach und besaß Brotlaibform. Ihre Hirnkapazität betrug 1.350 bis 1.750 Kubikzentimeter – im Durchschnitt also 1.500 Kubikzentimeter – und lag damit im Variationsbereich der Jetztmenschen. Die Stirn war flach, über den Augen befanden sich kräftige Knochenwülste. Das Mittelgesicht trat stark hervor, die Augen- und Nasenöffnungen waren auffallend groß, die Nase wirkte plump und breit. Der mächtige Unterkiefer trug ein so weit nach vorn gerücktes Gebiss, dass zwischen dem letzten Backenzahn oder Weisheitszahn und dem aufsteigenden Ast des Unterkieferknochens eine Lücke entstand. Die Vorderzähne waren massiv und hochkronig und dienten vielleicht auch zum Festhalten von Gegenständen. Das Kinn hatte fliehende Form.

Im Gegensatz zu den heutigen Menschen (Homo sapiens sapiens) hatten die »klassischen Neanderthaler« einen robusteren Körperbau mit sehr massiven Extremitätenknochen, die im Unterarm und Oberschenkel oft stärker als bei uns gebogen waren. Nach den Muskelmarken zu schließen, handelte es sich um sehr kräftige Menschen.

Hinweise für die Anwesenheit von Neanderthalern aus dem Moustérien liegen vor allem aus Höhlen in Süddeutschland vor. In Baden-Württemberg suchten sie beispielsweise die Große Grotte bei Blaubeuren, die Höhle Hohlenstein-Stadel, Sirgensteinhöhle bei Weiler (alle drei im Alb-Donau-Kreis) und die Vogelherdhöhle bei Stetten (Kreis Heidenheim) auf. Manche dieser Höhlen sind auch von Jägern und Sammlern des Micoquien begangen und kurzfristig bewohnt worden.

Das Micoquien ist eine Kulturstufe der Altsteinzeit, die vor etwa 125.000 bis 40.000 Jahren in West-, Mittel- und im westlichen Osteuropa anzutreffen war. Den Namen Micoquien hat 1916 der damals in Basel lebende Archäologe und Antiquitätenhändler Otto Hauser (1874–1952) eingeführt, als er seine Funde aus der eingestürzten Halbhöhle von La Micoque bei Les Eyzies-de-Tayac im Departement Dordogne beschrieb. Die Steinwerkzeuge des Micoquien wurden in einer charakteristischen Bearbeitungstechnik hergestellt, durch die sie sich von denen älterer oder jüngerer Technokomplexe unterscheiden. Die Steinschläger haben die Kanten ihrer Werkzeuge wechselseitig in der gleichen Richtung zurechtgehauen.

In Bayern konzentrieren sich Höhlen mit Moustérien-Funden vor allem im Altmühltal. Dazu gehören unter anderem die Obernederhöhle, das Schulerloch und die Fischleitenhöhle bei Mühlbach (alle drei im Kreis Kelheim) und die Breitenfurter Höhle (Kreis Eichstätt). Weitere Höhlen mit Moustérien-Inventar sind die Höhle am Buchherg bei Münster (Kreis Straubing-Bogen), das Große Hasenloch bei Pottenstein (Kreis Bayreuth) und die Petershöhle bei Velden im Viehberg (Kreis Nürnberger Land).

In Nordrhein-Westfalen haben sich Moustérien-Leute zeitweise in der Balver Höhle (Märkischer Kreis) und in der größeren der beiden Kartsteinhöhlen bei Eiserfey, der Großen Kirche (Kreis Euskirchen), aufgehalten.

In Thüringen bewohnten Moustérien-Leute vorüber-gehend die Höhle Wüste Scheuer bei Döbritz und die Ilsenhöhle bei Ranis (beide im Kreis Pößneck) sowie die Baumannshöhle bei Rübeland im Harz (Kreis Wernigerode). In Sachsen gilt die Bienerthöhle bei Dresden-Plauen als Moustérien-Station.

Die Moustérien-Leute haben sich – wie Angehörige aus anderen Kulturstufen der Altsteinzeit – mit Vor-liebe im noch vom Tageslicht erhellten Eingangsbereich der Höhlen aufgehalten. Dort konnte man in Schlechtwetterzeiten verschiedene Arbeiten verrichten. Vor dem Höhleneingang legte man gelegentlich Feuerstellen an, um Fleisch zu braten oder um sich bei großer Kälte zu wärmen. Größere Feuer im Inneren der Höhlen waren auf Dauer nicht ratsam, weil der Rauch schlecht abzog und die Gefahr von Rauchvergiftungen bestand.

Die Moustérien-Jäger errichteten bei ihren Streifzügen auch Behausungen im Freiland. Dies geschah vermutlich häufiger, als es die wenigen im offenen Gelände entdeckten Fundstätten anzeigen. Denn im Freiland sind die vor etlichen Jahrzehntausenden hinterlassenen Siedlungsspuren meist nur durch Zufall zu entdecken, wenn bei Bauarbeiten über Siedlungsresten abgelagerte Schichten entfernt werden oder bei Abbau von Sand, Kies und Vulkangestein.

Zu den deutlichsten Nachweisen von Behausungen im Freiland aus dem Moustérien zählen Siedlungsspuren im Netzetal bei Edertal-Buhlen im Kreis Waldeck-Frankenberg (Nordhessen). Bei Edertal-Buhlen stieß man auf eine von größeren Steinen umstellte Fläche mit einem Durchmesser von vier Metern. In deren Innern gab es mehrere Brandstellen. Der Eingang der Behausung war zum nahen Fluss orientiert. Die Konzentration von Werkzeugabfällen im Eingangsbereich spricht für Arbeiten im helleren Teil einer überdachten Behausung, die für vier bis sechs Personen Platz bot. Die am Rand gesetzten größeren Steine gaben der Anlage festen Halt. Zur Konstruktion gehörte vermutlich ein Mittelpfosten, an den man schräg gestellte Stangen lehnen konnte. Als Dach dienten wohl Tierfelle.

Die Untersuchungen am Fundplatz Edertal-Buhlen begannen 1966, als nach Hinweisen verschiedener Heimatforscher die Wiesbadener Geologen Jens Kulick und Manfred Horn erste Schürfungen vornahmen. Dabei kamen Reste eiszeitlicher Tiere und Steinwerkzeuge zum Vorschein. Darauf führten der Kölner Prähistoriker Gerhard Bosinski, der Geologe Jens Kulick und der Mainzer Paläontologiestudent Franz Malec von 1966 bis 1969 Ausgrabungen durch. 1980 wurden die Untersuchungen durch den Marburger Prähistoriker Lutz Fiedler fortgesetzt. Ihm und dem Studenten Klaus Hilbert glückte der Nachweis von Behausungen.

Dem Moustérien wird auch eine der Siedlungsstellen am ehemaligen Ascherslebener See beim Dorf Königsaue in Sachsen-Anhalt zugerechnet, das dem Braunkohletagebau weichen musste. Die Einstufung der Funde ist durch typische Steinwerkzeuge dieser Kulturstufe gesichert. Holzkohlenreste belegen die Nutzung des Feuers.

Wie die Menschen des Micoquien erlegten die Jäger des Moustérien verschiedene Tierarten. Als einzige Waffe standen ihnen dafür Holzlanzen bzw. -speere zur Verfügung, mit denen sie aus geringer Entfernung auf die in die Enge getriebenen Wildtiere einstachen oder warfen. Bei solchen Jagdunternehmungen bestand die Gefahr, dass gelegentlich Jäger durch Großtiere verletzt wurden, die nur verwundet waren. Aus diesem Grund hat man gefährliche Tiere in natürliche oder künstliche Fallen getrieben, wo sie mehr oder minder wehrlos waren.

Die Vielfalt der von Moustérien-Jägern erlegten Tierarten spiegelt sich eindrucksvoll in den Jagdbeuteresten von Königsaue wider. Dort wurden vor mehr als 50.000 Jahren Mammute, Fellnashörner, Wisente, Wildpferde, Wildesel, Rentiere und Hirsche gejagt. Nach dem Abkauungsgrad konnte man die Zähne junger Rentiere auf ein Alter von 12 bis 15 Monaten schätzen. Die in Königsaue lagernden Jäger machten ihre Beute offensichtlich im Frühling und/oder Sommer. Dazu kam jeweils eine 20 bis 30 Mitglieder umfassende Gruppe von Männern. Frauen und Kindern an das Ufer des ehemaligen Ascherslebener Sees. Vor dem Winter sind diese Menschen dann in klimatisch günstigere Gegenden abgewandert.

Am Fundort Edertal-Buhlen ist bei den Mammutresten das zahlenmäßige Übergewicht von Jungtieren auffällig. Vielleicht hatten die sich dort aufhaltenden Jäger wohlüberlegt statt älterer erfahrener Mammute vor allem Jungtiere von der Herde abgedrängt und getötet. Eine solche Praxis versprach leichteren Jagderfolg und war auch weniger riskant.

Die Moustérien-Leute haben zumindest in den Kaltphasen der Weichsel-Würm-Eiszeit aus Tierfellen oder -häuten wärmende Kleidungsstücke angefertigt und getragen. Sie musste so beschaffen sein, dass sie auch in frostigen Phasen die Beweglichkeit der Jäger nicht allzusehr einschränkten. Archäologisch ist diese Kleidung bisher zwar nicht nachgewiesen, aber man kann sie der niedrigen Temperaturen wegen voraussetzen.

Einige Entdeckungen beweisen, dass manche Neanderthaler bereits Anhänger als Schmuck getragen haben. Zu den sehr seltenen Funden dieser Art gehören ein Fuchszahn mit angefangener Durchbohrung von La Quina in der Charente (Frankreich) sowie ein durchbohrter Schwanzwirbel vom Wolf und ein anderes durchbohrtes Knochenstück vom Wolf aus der Bocksteinschmiede im Lonetal in Baden-Württemberg. Vielleicht gab es darüber hinaus damals auch Schmuckstücke aus Holz, Federn, Leder oder Geflecht, die sich nicht erhalten haben.

Die Steinwerkzeuge des Moustérien sind überwiegend einflächig bearbeitet worden. Die Faustkeile wurden von so genannten Handspitzen verdrängt. So bezeichnet man flache, meist längliche, dreieckige Werkzeuge mit spitzem Ende, die man aus großen Abschlägen formte. Als Rohmaterial dienten unter anderem Feuerstein, Kieselschiefer, Hornstein. Quarz und Quarzit.

[...]

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Das Moustérien - Die große Zeit der Neanderthaler
Autor
Jahr
2011
Seiten
86
Katalognummer
V176403
ISBN (eBook)
9783640977109
ISBN (Buch)
9783640976942
Dateigröße
10178 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
moustérien, zeit, neanderthaler
Arbeit zitieren
Ernst Probst (Autor:in), 2011, Das Moustérien - Die große Zeit der Neanderthaler, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176403

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