Der Mensch – „der gepriesene Halbgott“ (S.198): Bedeutung und Funktion des Gottesbezugs in Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werther“


Hausarbeit, 2011

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Werthers Beziehung zu Christus
2.1 Werthers Identifikation mit Jesus als moralischen Lehrer
2.2 Werthers Identifikation mit der Passion Christi

3 Werthers Beziehung zu Gott
3.1 Werther sieht in Gott den Schöpfer und Bewahrer der Welt
3.2 Werthers Vaterbezug zu Gott

4 Werthers Beziehung zu Lotte
4.1 Lotte als seine Heilige
4.2 Ewiger Bund im Jenseits

5 Ergebnis und Ausblick

6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1 Einleitung

Mit seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ wurde Johann Wolfgang Goethe 1774 in ganz Europa bekannt. Das Werk wurde vielzählig gelesen und das nicht zuletzt, weil es die „Funktion von Andachts- und Erbauungsbüchern erfüllte“1. Diese genügten nicht mehr den Bedingungen des aufgeklärten Bürgertums.2 Goethe nimmt in seinem Roman immer wieder Bezug auf die christliche Religion. Das liegt zum einen daran, dass sich seine eigene Gottesidee entwickelte und zum anderen an den Umbrüchen in der Gesellschaft. Die Literatur etablierte sich und das Bürgertum begann andere Werke, als nur die Bibel zu lesen. Generell entwickelten sich neue Vorstellungen über die Religion. So entstanden zum Beispiel der Pietismus und der Pantheismus. Goethe versuchte auch sein Glaubensbild neu zu definieren. Dieses ist jedoch nicht mit dem Glaubensbild Werthers gleichzusetzen.

Es gab aber nicht nur positive Reaktionen. Vor allem der Theologe Pastor Goeze verurteilte den Roman als ketzerisches Werk. Diese unterschiedlichen Reaktionen heben die Bedeutsamkeit meines Themas hervor. Die zentrale Fragestellung dieser Arbeit wird also sein: Welcher Gottesbezug wird in „Die Leiden des jungen Werthers“ vermittelt und wie ist seine Bedeutung und Funktion?

Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zuerst den Bezug zu Jesus Christus, als den Sohn Gottes näher erläutern. Werther identifiziert sich zwar mit der Ethik des Evangeliums, kann aber den Christusglauben nicht mit sich vereinbaren. Er imitiert die Passion Christi, um seinen Schmerz auszudrücken und vermenschlicht sie damit.

Als nächstes werde ich auf die Beziehung von Werther zu Gott eingehen. Werther erkennt einen Schöpfergott an, sieht ihn in seinen verzweifelten Stunden als Vater an und sucht bei ihm Trost. Ebenfalls glaubt er, dass er Gott im Jenseits begegnen wird. Dennoch ist dieser nicht das Zentrum seines Glaubens.

Aus diesen Thesen resultiert, dass dieses Zentrum letztlich Lotte ausfüllt. Werther glaubt, dass er die Ewigkeit mit ihr verbringen wird und durch den Kuss glaubt er, sei diese ewige Verbindung besiegelt. Die Liebe zu ihr ist der „absolute Wert“3.

Die zentrale These, welche sich daraus ergibt, ist, dass Werther an die Geschlechterliebe als Religion glaubt. Die Liebe zwischen Mann und Frau ist für ihn die wichtigste Instanz. Lotte wird als Gottheit dargestellt und auch die Ewigkeit ist durch die Gemeinschaft mit ihr definiert. Der Mensch ist also das Subjekt des Glaubens.

2 Werthers Beziehung zu Christus

2.1 Werthers Identifikation mit Jesus als moralischen Lehrer

Im gesamten Werk wird immer wieder auf Jesus Christus hingewiesen. Entweder werden Analogien zur Bibel verwendet oder es wird direkt auf Jesus Christus angespielt.

Werther verehrt Christus als moralischen Lehrer („...des Lehrers der Menschen“ S.60). Er vertritt dessen ethische Werte aber genau dann, wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen will und legt sie in seinem Religionsverständnis aus. Das Menschliche der Evangelien steht im Vordergrund. Nur die für ihn relevanten Jesusworte werden zum Gegenstand seiner Betrachtung.

Wie Jesus hat Werther ein sehr positives Bild von Kindern. Dies wird im Werk immer wieder deutlich. Er schreibt dazu: „…und lieben mich, besonders die Kinder“ (S.16). Damit steht er im klaren Kontrast zur Gesellschaft. Desweiteren schreibt Werther über die Kinder: „wenn ihr nicht werdet wie eins von diesen!“ (S.58/60). Damit wird auf die Bibelstelle aus Matthäus 18,3 angespielt. Dort sagt Jesus zu seinen Jüngern, dass sie umkehren und wie die Kinder werden sollen.4 Werther greift dieses Zitat auf und macht es seiner Auffassung zu Eigen. Er sieht Kinder als „unverdorben“ (S.58) und rein an.

Dies stellt einen Gegensatz zur Bibel und zu den Worten Jesu dar, da die Kinder im christlichen Verständnis trotzdem Sünder sind.5 Das kindliche Urvertrauen ist bei Jesus das Entscheidende und Erstrebenswerte. Werther legt diese Bibelstelle aber dahingehend aus, dass er die Kinder sehr hoch schätzt und sie um ihrer Leichtigkeit willen beneidet. Wie Jesus, der in Matthäus 19, 13-156 die Kinder segnet, hat auch Werther eine ganz besondere Nähe zu ihnen.7 Dies wird vor allem anhand seines Umgangs mit Lottes Geschwistern sichtbar. „[N]ein! rufte das Kind mit dem süßten Ausdrukke: nein, Lottgen, du sollst zuerst trinken! Ich ward über die Wahrheit, die Güte so entzükt, dass ich meine Empfindung mit nichts ausdrukken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft“(S.70) und „Die Kleinen ließen ihn nicht in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihn hinauf, erzählten ihm“ (S.232).

Werther bezeichnet die Worte Jesu aus Matthäus 18,3 als „goldene Worte“. Dies hebt die Wichtigkeit der Worte für Werther noch einmal besonders hervor. Desweiteren wird Jesus als der „Lehrer der Menschen“(S.60) bezeichnet. Das zeigt, wie hoch Werther diesen schätzt und das er dessen Lehre und Moral sehr hoch achtet. Er sieht in Jesus ein Vorbild, mit dem er sich identifiziert. Die Worte weisen ebenfalls auf die Menschlichkeit Jesu hin. Einerseits wird damit auf seine Humanität und andererseits auf die Vermenschlichung Jesu Bezug genommen. Damit wird ausgedrückt, dass Werther in Jesus mehr den Menschen sieht, als den göttlichen Sohn. Obwohl er später auf die anthropologische Frage, was der Mensch sei, mit „der gepriesene Halbgott“ (S.198) antwortet. Dadurch charakterisiert er die gesamte Menschheit als etwas Halbgöttliches und setzt Jesus somit als Gott herab. Im Briefverlauf bezeichnet er ihn zwar als „Sohn“ (S.60) Gottes, aber er wird nur als Bote oder Verkündiger dargestellt, der verkündigt „an welchen [Kindern] du [Gott] mehr Freude hast“ (S60). Werther will, dass die Kinder im Sinne des Evangeliums geschätzt werden. Da das Verständnis vom Kind sich aber noch nicht gewandelt hat, entrüstet ihn das umso mehr. Er verachtet Glauben ohne Werke. Werther hebt sich in seinen Empfindungen von der Masse ab, denn er handelt auch danach, woran er glaubt. Er handelt nach seinem Gewissen.

Die Identifikation mit der Ethik der Evangelien kann man auch bei der Beschreibung des Selbstmordgesprächs mit Albert sehen. Werther verweist dort ebenfalls auf die Bibel und redet mit Worten Jesu Christi: „Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann“ (S.94). Bei diesem Disput mit Albert entrüstet er sich über die Vorurteile der Menschen. Er möchte niemanden verurteilen. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, modifiziert er die Worte Jesu aus dem Johannesevangelium 8,7: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.“8 Ebenso wie Jesus trifft er keine Urteile über Menschen und will sich nicht über sie erhöhen. Er vertritt die selbstlose Auffassung Jesu an dieser Stelle. Keiner ist gerecht. Mit der Bibel zu argumentieren, gibt seinen Worten Wichtigkeit. Er legt die Worte der Bibel nur für sich an dieser Stelle aus. In der Situation mit der Tischgesellschaft urteilt er dagegen sehr stark über die Feudalgesellschaft und hält sich selbst für etwas Besseres („Gänslein Tochter“ und „garstige[s] Gewäsche“ S.144). Auch die moralische Verwerflichkeit des Selbstmordes ist im christlichen Verständnis nicht tragbar. Es ist zwar folgerichtig im christlichen Sinne den Menschen nicht zu verurteilen, der eine solche Tat begeht. Dennoch wird aber die Tat, sein von Gott geschenktes Leben zu verwerfen, verurteilt. Desweiteren spricht er im Verlauf des Gesprächs das Gleichnis des Barmherzigen Samariters aus Lukas 10,31 an9 („…geht vorbey wie der Priester“ S.96). Im Sinne von Jesus verabscheut Werther Pharisäertum und Priestertum und hält Albert vor, ein solcher Pedant zu sein, der sich über andere erhebt („kaltblütige[] Pedanten“, „Ach ihr vernünftigen Leute“ S.96). Im Gleichnis geht es darum, dass nicht der Tiefgläubige dem Notleidenden hilft, sondern der Heide.10 Jesus verwarf den Glauben der Pharisäer und wendete sich dem einfachen Volk zu. Das ist auch der Tenor des vorangegangen Gleichnisses mit der Ehebrecherin. Ebenfalls ist es auch eine Anspielung auf Lukas 18,11.11 Werther identifiziert sich nicht mit den sittlichen Menschen, wie Albert einer ist. Er weiß über seine Laster Bescheid (z.B. „Trunkenheit“ S.96). Er befürwortet es, dass Jesus sich mit fehlerhaften Menschen umgibt und keinen bevorteilt. Dies kommt auch in einer anderen Szene zum Ausdruck, in der Werther am 15. Mai beschreibt, wie er einer Magd am Brunnen hilft (S.16). Dies stellt einen Vergleich zum johanneischen Christus dar. Dort hilft Jesus in Johannes 4 einer Samaritanerin am Brunnen und verkündigt ihr die Heilsbotschaft.12 Im Sinne des Evangeliums darf der Mensch schwach sein und Werther deutet dies dahingehend, dass der Mensch in seiner Schwäche Selbstmord begehen kann. Albert ermahnt ihn hierzu: „daß du den Selbstmord, […]mit großen Handlungen vergleichst, da man es doch für nichts anders als eine Schwäche halten kann“ (S.96). Im Christentum soll der Mensch aber in seiner Schwäche zu Gott kommen und das Leben ertragen.

Werther stellt mit seiner Hermeneutik der Bibel den Menschen als Subjekt dar und legt sein Hauptaugenmerk auf die menschlichen Leidenschaften. Bei seiner moralischen Betrachtung legt er vor allem Wert auf die Menschlichkeit in der Bibel, ja sogar auf die menschlichen Eigenschaften von Jesus selbst. Dass er mit Jesus als Sohn Gottes nichts anfangen kann, kommt in seinem Brief vom 15. November zum Ausdruck (S.184). Um Christus, als Sohn Gottes, werden die sein, die der Vater ihm gibt (Joh. 17,24).13 Werther schreibt dazu: „Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn mich nun der Vater für sich behalten will, wie mir mein Herz sagt“ (S.194). Tief in seinem Inneren stellt Werther fest, dass er nicht an Jesus als Gottheit glaubt, sondern nur seine moralischen Werte vertritt. Er hat kein religiöses Abhängigkeitsgefühl zu ihm. Damit steht er im klaren Gegensatz zum Neuen Testament, welches betont, dass Jesus der einzige Weg zum Vater sei (Joh.14, 6).14

[...]


1 Zabel, Hermann: Goethes Werther - eine weltliche Passionsgeschichte? Anmerkungen zur Interpretation literarischer Kunstwerke in ihrem Verhältnis zur biblisch- christlichen Tradition. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXIV (1972). S.63.

2 Vgl. Ebd. S.66.

3 Zabel, Hermann: Goethes Werther - eine weltliche Passionsgeschichte? Anmerkungen zur Interpretation literarischer Kunstwerke in ihrem Verhältnis zur biblisch- christlichen Tradition. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXIV (1972).S.60.

4 Vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers 1984. Hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. S.25.

5 Vgl. Erasmus- Fakultäten, theologische. Erbauungsliteratur. Hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin: Walter de Gruyter 1982 (= Theologische Realenzyklopädie). S.66.

6 Vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers 1984. Hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. S.26.

7 Vgl. Erbauungsliteratur. In: Erasmus- Fakultäten, theologische. Hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin: Walter de Gruyter 1982 (= Theologische Realenzyklopädie). S.66.

8 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers 1984. Hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. S.117.

9 Vgl. Zabel, Hermann: Goethes Werther - eine weltliche Passionsgeschichte? Anmerkungen zur Interpretation literarischer Kunstwerke in ihrem Verhältnis zur biblisch- christlichen Tradition. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXIV (1972). S.64.

10 Vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers 1984. Hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. S. 84.

11 Vgl. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers 1984. Hrsg. von Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 1999. S.95. „Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher, oder wie auch dieser Zöllner.“

12 Vgl. Ebd. S.110-111.

13 Vgl. Ebd. S.130.

14 Vgl. Ebd. S.126.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Mensch – „der gepriesene Halbgott“ (S.198): Bedeutung und Funktion des Gottesbezugs in Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werther“
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
19
Katalognummer
V176251
ISBN (eBook)
9783640973767
Dateigröße
847 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mensch, halbgott“, bedeutung, funktion, gottesbezugs, johann, wolfgang, goethes, leiden, werther“
Arbeit zitieren
Sabrina Freitag (Autor:in), 2011, Der Mensch – „der gepriesene Halbgott“ (S.198): Bedeutung und Funktion des Gottesbezugs in Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176251

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Mensch – „der gepriesene Halbgott“ (S.198): Bedeutung und Funktion des Gottesbezugs in Johann Wolfgang Goethes „Die Leiden des jungen Werther“



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden