Xavier de Maistre - Voyage autour de ma chambre


Seminararbeit, 2001

14 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. de Maistre innerhalb der Tradition des exzentrischen Schreibens

3. Exzentrische Elemente

4. Das Gegenmodell de Maistres zur traditionellen Reiseliteratur

5. Schlussbemerkung

6. Bibliographie

1. Einleitung

Reisen – die Versetzung des Körpers aus dem heimlichen Raum des Ich in den unheimlichen Raum des Anderen – wird buchstäblich bildend, wenn die Reise auf eigenem Territorium stattfindet, wenn das fremde Land im eigenen Ich liegt.[1]

Anhand seiner Erzählung Voyage autour de ma chambre, die der Gattung der Reiseliteratur angehört, stellt Xavier de Maistre ein Gegenmodell zum traditionellen «récit de voyage» auf: Während eines 42-tägigen Arrests in seinem Zimmer in Turin, zu dem er wegen Teilnehme an einem Duell verurteilt wurde, bereist der Erzähler dieses und lässt währenddessen seiner Phantasie freien Lauf. Mit dieser Reise in sein Inneres, die aus psychologischer Sicht einer Introspektion[2] entspricht, verfolgt er das Ziel sein eigenes Ich besser kennenzulernen.

Im Folgenden möchte ich – nach einer kurzen Biographie des Autors – im zweiten Punkt zunächst auf die Tradition des exzentrischen Schreibens[3] eingehen, in die sich de Maistre eingliedert, um danach anhand einiger Elemente zu belegen, dass es sich bei dem vorliegenden Werk tatsächlich um eine Parodie[4] der Gattung der Reiseliteratur handelt. Im Anschluss daran, werde ich de Maistres Gegenmodell, das er mithilfe dieser subversieven Gattungsmerkmale konstruiert, unter inhaltlichen und formalen Aspekten beleuchten und es den Charakteristika traditioneller Reiseliteratur gegenüberstellen. Abschließend möchte ich die Frage diskutieren, inwieweit der vorliegende parodierte «récit de voyage» Parallelen zum Romantypus des Bildungsromans aufweist.

Xavier de Maistre (1763-1852), Offizier einer Garnison aus Piemont, steht 1787 aus den gleichen Gründen wie der Erzähler seines Werks unter Arrest und schreibt währenddessen die Eindrücke dieser Gefangenschaft auf[5]. Im Jahre 1795 veröffentlicht er in Lausanne seine Erzählung Voyage autour de ma chambre, gibt allerdings selbst vor, dies bereits anonym ein Jahr zuvor in Turin getan zu haben[6]. Durch diese Behauptung lockt er den Leser auf eine falsche Fährte. Vier Jahre nach der Publikation wandert er – unzufrieden mit der politischen Situation in seiner Heimat – aus, zunächst nach Deutschland und später nach Russland. Trotz seines großen Erfolges mit diesem Werk, auf dessen Gründe und Konsequenzen ich im folgenden Punkt noch näher eingehen werde, ist er heute beinahe in Vergessenheit geraten, da seine Texte nur sehr schwer zugänglich sind.

2. de Maistre innerhalb der Tradition des exzentrischen Schreibens

Als Begründer der Tradition des exzentrischen Schreibens gilt Laurence Sterne (1713-1768), der durch die Veröffentlichung seiner beiden Romane Tristram Shandy (1759-67) und Sentimental Journey (1768) in ganz Europa bis zum Ende des

19. Jahrhunderts großen Ruhm erlangt. Besonders viel Anklang finden seine Werke in Frankreich – allein hier erscheinen zwischen 1769 und 1911 25 verschiedene Auflagen von Tristram Shandy und 70 der Voyage sentimental[7] . Letztere verändert die zeitgenössische «sensibilité» des ratio-betonten 18. Jahrhunderts grundlegend: Sterne misst den Emotionen und Gedanken des Reisenden mehr Bedeutung bei als der Reise selbst und zieht somit das Subjekt dem Objekt vor[8]. Für ihn sind nur die Elemente der bereisten Welt relevant, die Empfindungen auslösen. Er ist es auch, dem die französische Sprache den Ausdruck «sentimental» verdankt. Auffallend ist in formaler Hinsicht „seine eigenwillige literarische Technik – das nicht kontinuierliche Erzählen, die zahlreichen Abschweifungen, das kunstvolle Verzögern des Erzählflusses, die bewusste Ironisierung des Lesers – [die] diese Empfindungen zugleich auch ironisiert, freilich ohne sie dabei zu entwerten.“[9] Diese neue Form des Schreibens und der Reiseliteratur prägt die gesamte Literatur der Epoche und es entstehen unzählige Imitationen der Sentimental Journey.

Als „deutscher Sterne“ wird Jean Paul (1763-1825) bezeichnet, dessen Vorwort seines ersten Romans Die unsichtbare Loge (1793) beinahe eine Kopie dessen Sternes zu sein scheint.

Xavier de Maistres (1763-1852; «le Sterne français») Werk Voyage autour de ma chambre, dessen Vorwort stark dem Jean Pauls ähnelt, weist v.a. in formaler Hinsicht Ähnlichkeiten mit Sternes Sentimental Journey auf. Besonders auffallend sind hierbei die charakteristischen Abschweifungen, die den Erzählfluss unterbrechen und den Leser verwirren. Unter inhaltlicher Betrachtung sind die Emotionen des Reisenden – wie das Mitleid, das de Maistres Erzähler u.a. für die Armen Turins empfindet – hervorzuheben, da beide Autoren ihnen große Aufmerksamkeit widmen. Auffallende Ähnlichkeiten weist auch der Beginn der beiden Romane auf: beide Autoren halten zunächst eine Lobrede auf die Einzigartigkeit ihrer neuen Form zu reisen.[10] Allerdings richtet sich bei Sterne die Reise nach außen, während es sich bei de Maistre um eine Interiorisierung handelt, d.h. alles spielt sich innerhalb seines Gefängnisses – seines Zimmers – ab und

orientiert sich nach Innen; der Bezug zur Außenwelt entsteht erst wieder zu Ende der Erzählung. Auf diese Weise schafft er den literarischen Typus des „Gedankenspaziergangs“ oder der «flânerie».[11]

Vissière begründen den großen Erfolg, den de Maistre mit Voyage autour de ma chambre hat, mit der Übersättigung des Bedürfnisses der Gesellschaft nach Reiseberichten in exotische Länder: «l’exotisme s’était banalisé.» Nach einer Vielzahl von Berichten über Weltumrundungen und fantastischer «récits de voyage», wie Voltaires Micromégas, interessiere den Leser nun die Erforschung bisher noch unbekannter Gebiete, wie die der einfachen alltäglichen Realität.[12] Eine andere Erklärung ist unter geschichtlichen Aspekten denkbar: im Rahmen der Gegenkolonialisierung besinnt sich das Individuum wieder mehr auf das Eigene und zieht sich zurück.

Aufgrund des großen Erfolges verfasst de Maistre zwischen 1800 und 1823 L’expédition nocturne autour de ma chambre.

Diese neue Form der Reiseliteratur, deren Ziel die Subversion der Gattung mithilfe des exzentrischen Schreibens ist, wird noch so oft imitiert, dass Vissière sie als eigenes «micro-genre littéraire» bezeichnen. In direkter Anlehnung an Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre werden in den folgenden Jahren mehrere Werke – meist anonym – veröffentlicht, z.B. Nouveau voyage autour de ma chambre und Voyage dans mes poches.[13]

Einer der Autoren, der sich von de Maistre und somit auch indirekt von Laurence Sterne inspirieren lässt, ist Rodolphe Toepffer (1799-1846). In seinen Nouvelles genevoises (1841), einer Sammlung von Erzählungen, die auch Les voyages en zigzags und La bibliothèque de mon oncle enthält, führt er den literarischen Typus des „Gedankenspaziergangs“ weiter.[14]

Der Vollständigkeit wegen seien an dieser Stelle auch Théophile Gautier (1811-1872; Caprices et Zigzags) und Gérard de Nerval (1808-1855; Voyage en Orient) genannt, die sich besonders durch ihre außergewöhnlichen Titel der Tradition zuordnen lassen.[15]

3. Exzentrische Elemente

Um den Leser zu verwirren und das Genre der Reiseliteratur zu subversieren, parodiert de Maistre grundlegende narrative Strukturen, die eigentlich die Funktion haben, den Roman abzusichern. Aufgrund der kulturellen Prägung des Lesers hat dieser bestimmte Erwartungen an einen Roman, die der exzentrische Autor systematisch untergräbt und seine Umkehrung als selbstverständlich erachtet.

Besonders „trügerisch“ ist die Anzahl der Kapitel, die der der Tage, die der Erzähler in Gefangenschaft verbringt, entspricht. Betrachtet man nämlich die Merkmale der traditionellen Reiseliteratur, erscheint dies nicht verwunderlich, da es für einen «récit de voyage» charakteristisch ist, dass er in Form eines Tage- oder Logbuches geschrieben ist und somit über in der Regel jeden Tag der Reise Notizen enthält. Typisch ist auch der Bericht in Briefform, der an den Leser adressiert ist. Nach formaler Untersuchung des Textes lässt sich also feststellen, dass – abgesehen von der Anzahl der Kapitel – auch die häufige direkte Ansprache des Lesers[16], die eigentlich von der Aufklärung verdrängt wurde, und die Tatsache, dass der Bericht in der ersten Person geschrieben ist, den Merkmalen der traditionellen Reiseliteratur entspricht. Nach einer Analyse des Inhalts stellt man allerdings eindeutig fest, dass es sich hierbei um eine Parodie handeln muss: abgesehen davon, dass das letzte Kapitel auch dem Tag der Befreiung entspricht, ist deren Anordnung willkürlich. Die ersten drei stellen sogar eine Einleitung oder ein Vorwort dar und enthalten noch gar keine Handlung, die Erzählung wird durch Digressionen unterbrochen und der Erzähler stellt es dem Leser sogar frei, Kapitel, die ihm nicht gefallen, herauszureißen: «[...] j’espère que le lecteur sensible me pardonnera de lui avoir demandé quelques larmes; et si quelqu’un trouve qu’à la vérité j’aurais pu retrancher ce triste chapitre, il peut le déchirer dans son exemplaire, ou même jeter le livre au feu.».[17]

Ein weiteres grundlegendes Merkmal des traditionellen «récit de voyage» ist die authentische Beschreibung des Fremden, die – weil sie zur Information und Bildung dient – objektiv sein muss. Da der Erzähler de Maistres nicht durch die Fremde, sondern nur durch sein eigenes Zimmer bzw. sein Inneres reist, ist sein Bericht sehr subjektiv. Mithilfe von Details gibt er vor, eine Objektivierung erreichen zu wollen, aber die mit extremer Präzision darstellten Gegenstände sind inhaltlich nicht sehr bedeutsam[18], so dass diese Maßnahme nicht seiner wahren Intention entsprechen kann: sein Ziel ist es vielmehr, dem Leser durch die Subjektivität seines Schreibens die Identifikation zu verweigern, damit dieser einen neutralen Blick auf das Berichtete bewahrt. Hierbei geht es de Maistre weniger um den Inhalt, als um die materielle Dimension des Textes, d.h. um sein Schreiben, über das ein objektives Urteil gefällt werden soll.[19] Diese ungewöhnliche Botschaft lässt sich mit der zunehmenden Expansion des Buchs, bedingt durch die beginnende Industrialisierung, den Fortschritt im Bereich des Buchdruckes und die dadurch wachsende Konkurrenz erklären. De Maistres Ziel ist es deshalb, den Leser über die „Qualität“ des Schreibens, also die materielle Seite eines Textes, zu informieren.

[...]


[1] Leahy 1995: 100

[2] Definition Introspektion: die bewusst auf seelische Vorgänge und Zustände gerichtete
Aufmerksamkeit, um die verschiedenen Phasen des Ablaufs persönlicher Vorgänge und die
Mannigfaltigkeit der Inhalte festzustellen und zu beschreiben. (Dorsch 1998: Selbstbeobachtung)

[3] Definition exzentrisches Schreiben: bestimmte Form des Schreibens; ständig Autoreflexion des Schreibens, der exzentrische Autor untergräbt den Erwartungshorizont des Lesers und schreibt über Themen, die „außerhalb des Mittelpunkts liegen“ (Klappenbach/ Steinitz 1967: exzentrisch)

[4] Definition Parodie: verspottende, verzerrende oder übertreibende Nachahmung eines schon vorhandenen ernstgemeinten Werkes oder einzelner Teile daraus unter Beibehaltung der äußeren Form, doch mit anderem, nicht dazu passenden Inhalt (Wilpert 1969: Parodie)

[5] Vgl. Abraham/Desné 1976: 183ff

[6] Vgl. Jens 1990: Xavier de Maistre

[7] Vgl. Sangsue 1987: 163

[8] Vgl. Vissière 1988: 419

[9] Jens 1991: Laurence Sterne

[10] Vgl. Sangsue 1987: 172

[11] Vgl. Sangsue 1987: 164ff.

[12] Vissière 1988: 419

[13] Vgl. Vissière 1988: 420

[14] Vgl. Jens 1990: Xavier de Maistre

[15] Vgl. Sangsue 1987: 167

[16] Vgl. de Maistre (1825): 187, Kap.XXXIX: «Bon lecteur, déjeune avec moi. »

[17] de Maistre (1825): 91f., Kap. XXII

[18] Vgl. de Maistre (1825): 14, Kap. IV: «Ma chambre est situées sous le quarante-cinquième degré de latitude, selon les mesures du père Beccaria; sa direction est du levant au couchant; elle forme un carré long qui a trente-six pas de tour, en rasant la muraille de bien près.»

[19] Ebenso wie der Erzähler sein menschliches Ich in zwei Ebenen unterteilt, nimmt de Maistre diese Unterteilung im Hinblick auf den Text vor: die âme des Körpers entspricht dem Inhalt des Textes, die bête hingegen, die ihm selbst fremd ist, wie dem Leser seine Art zu Schreiben, entspricht der materiellen Seite des Textes (Vgl. Erzähler bezeichnet in Kap. VI [de Maistre (1825): 23ff.] auch die bête als la matière und damit nach Platon als l’autre).

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Xavier de Maistre - Voyage autour de ma chambre
Hochschule
Universität Mannheim  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
PS: Das Fremde, der Fremde, die Fremde
Note
1,7
Autor
Jahr
2001
Seiten
14
Katalognummer
V17558
ISBN (eBook)
9783638221061
Dateigröße
459 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Xavier, Maistre, Voyage, Fremde
Arbeit zitieren
Christina Stojek (Autor:in), 2001, Xavier de Maistre - Voyage autour de ma chambre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17558

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