Musik und Religion. Konkretionen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung


Masterarbeit, 2011

82 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Religion
II.1. Was ist Religion? - Versuch einer Begriffsdefinition
II.1.1. Substanzialistische Bestimmung
II.1.2. Funktionalistische Bestimmung
II.1.3. Das Ritual im Zentrum religiöser Praxis
II.2. Funktion der Religion für die Gesellschaft und das Individuum
II.3. Wandel der Religion - Verschwinden oder Wiederkehr?
II.3.1. Die Säkularisierungsthese
II.3.2. Die unsichtbare Religion
II.3.3. Neue Formen von Religiosität
II.3.3.1. New Age und Esoterik
II.3.3.2. Religiöse Züge säkularer Phänomene
II.4. Die ästhetische Dimension der Religion und die Ästhetisierung des Lebens
II.4.1. Zum Begriff der Ästhetik
II.4.2. Wahrnehmung und Erfahrung als Voraussetzungen moderner Religiosität
Exkurs: Gefühl

III. Musik
III.1. Was ist Musik? - Versuch einer Begriffsdefinition
Exkurs: Hören
III.2. Musik als Gegenstand ästhetischer Betrachtung
III.3. Funktion und Wirkung von Musik
III.3.1. Arten der durch Musik ausgelösten Wirkungen
III.3.2. Einflussnehmende Faktoren
III.3.3. Gesang

IV. Zur Verbindung von Musik und Religion
IV.1. Die Ursprünge der Musik - Ritual und Schöpfungsmythen
IV.2. Religiöse Musik
IV.3. Das Konzert als Ritual
IV.4. Zum Verhältnis musikalischer und religiöser Erfahrung
IV.5. Musik und Transzendenz
IV.5.1. Die magisch-ekstatische Dimension der Musik
IV.5.2. Transzendente Erfahrungen im Musikerleben
IV.6. Die heilend-seelsorgerische Funktion der Musik
IV.6.1. Die besondere Bedeutung des (Chor-)Singens

V. Filmanalyse „Wie im Himmel“
Exkurs: Medienreligion und Sinnsuche im Medium „Film“
V.1. Begründung der Wahl des Films, Methode und Ziel der Untersuchung
V.2. Handlung des Films
V.3. Analyse
V.3.1. Christlich-religiöse Symbolik und der Blick auf die tradierte Religion
V.3.2. Die Wirkung der Musik auf die Protagonisten im Film
V.3.3. Fazit

VI. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Andrea del Castegno: „Das letzte Abendmahl“, 1447

I. Einleitung

Musik und Religion sind bereits seit Urzeiten Bestandteile menschlicher Kulturen. Sie stehen in vielerlei Beziehungen zueinander, die weit über das Orgelspiel und den Gemeindegesang in der Kirche hinausgehen. In der durchästhetisierten (post-)modernen Welt hat die Musik als ein Teilgebiet ästhetischer Wirklichkeitsgestaltung eine gesellschaftliche Leitfunktion inne, während die tradierte Religion offenkundig an Bedeutung verliert. In den vergangenen Jahren begann sich vorrangig die theologische Forschung dem Verhältnis von Religion und Musik zuzuwenden, dabei meist mit dem Blick auf die praktische Funktion der (Pop-)Musik für Religionspädagogik und Liturgie.1 In den Religionswissenschaften hingegen blieb die Komplexität des Themas bis auf wenige Publikationen weitgehend unbeachtet. Zwar gibt es zahlreiche Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Religion und Musik in modernen Gesellschaften, diese gehen in der Regel jedoch kaum über das Phänomen der Rock- und Popmusik mit ihrem Starkult hinaus.2 Hauptsächlich die Psychologie und die Neurowissenschaft sind es, die die Auswirkungen der Musik auf den Menschen umfassend erforschen und ihren Blick dabei auch auf die musikalische als eine außergewöhnliche, transzendente oder gar religiöse Art der Erfahrung richten.3 Dieser Mangel an religionswissenschaftlichen Studien legt es nahe, die komplexen Verhältnisse der beiden Phänomene Musik und Religion unter Einbeziehung der Forschungsergebnisse anderer Disziplinen zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, diese Beziehungen systematisch darzustellen, dabei kann es jedoch nicht ihr Anspruch sein, diese Verhältnisse in ihrer Gesamtheit zu analysieren, da dies den Rahmen übersteigen würde. Auf eine ausführliche Darstellung religiöser Themen und Gehalte in der Musikgeschichte wird somit verzichtet. Die Arbeit beleuchtet vielmehr die Funktion der Musik in den unterschiedlichen Religionen aus historischer Perspektive und erörtert, wie musikalische Klänge es vermögen, intensive Erfahrungen in den Menschen auszulösen, die sich bis ins Transzendente steigern können. Dies bedarf im Vorfeld einer Klärung der Frage, was sich heutzutage unter dem Begriff „Religion“ verstehen lässt und welche Funktionen der Religion in der modernen Gesellschaft zukommen. Die Unterteilung in funktionale und substanziale Religionsdefinitionen bildet dabei den Ausgangspunkt für die Darstellung von Thomas Luckmanns Idee der „Unsichtbaren Religion“, welche der Säkularisierungstheorie gegenübersteht und als grundlegend für das moderne Religionsverständnis gelten soll, an dem sich diese Arbeit orientiert. Sie geht zudem davon aus, dass moderne Religiosität nicht ohne individuelle religiöse und somit ästhetische Erfahrungen existieren kann. In diesem Kontext ist auch zu fragen, ob der postmoderne Mensch überhaupt noch der Präsenz religiöser Autorität bedarf, oder ob die der Religion inhärenten Funktionen - die Beantwortung von Sinnfragen, die Einbindung in eine Gemeinschaft und die Regression aus dem Alltag durch Bereitstellung besonderer sinnlicher Erlebnisse - nicht längst von anderen Systemen übernommen wurden. Dass ästhetische Erfahrungen heutzutage hautsächlich an säkularen Orten - sprich in Ausstellungsräumen, Konzerthallen, Kinosälen oder auch im Theater - gemacht werden, ist unübersehbar. Doch worin unterscheiden sie sich von religiösen Erfahrungen? Lassen sich beide Formen überhaupt scharf voneinander abgrenzen, oder ist es nicht vielmehr so, dass sie sich ähneln und sogar ineinander übergehen können? Im Anschluss an die Diskussion dieser Fragestellungen wird untersucht, welche Rolle der Musik als einem Auslöser ästhetischer und religiöser Erfahrung zukommt. All dies zielt auf eine Überprüfung der Hauptthese dieser Arbeit: Musik selbst kann, bezieht man ihre Aufführungskontexte mit ein, religiöse Züge an- und sogar die Funktion der Religion übernehmen.

Auch die Massenmedien thematisieren diese Zusammenhänge ästhetischer und religiöser Erfahrungsformen. Spielfilme als Träger moderner Mythen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Sinn- und Meinungsbildung der Bevölkerung. Filmhelden können als Vorbilder im Alltag fungieren, ein Kinobesuch vermag es, den Zuschauer ein Stück weit zu verändern.4 Der rege Zulauf, den der Chorfilm „Wie im Himmel“ nicht nur im Produktionsland Schweden verzeichnete, verdeutlicht das Interesse der Menschen am Singen und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Dieser Spielfilm als eine Art Metakunst veranschaulicht die im Hauptteil dargestellten Wirkungen der Musik in komprimierter und idealisierter Weise. Zum Abschluss soll daher die Analyse von „Wie im Himmel“ beispielhaft demonstrieren, wie Musik die Gemüter bewegt, wie sie zur Leitfigur einer Gemeinschaft werden kann und wie es ihr sogar gelingt, die tradierte Religion zu beeinflussen und die Menschen letztlich zu erlösen.

II. Religion

II.1. Was ist Religion? - Versuch einer Begriffsdefinition

Das Phänomen „Religion“ begegnet uns tagtäglich. Kirchen und zunehmend auch Moscheen sind selbstverständlicher Teil des Stadtbildes, christliche Feiertage wie Weihnachten und Ostern durchziehen den Jahreslauf und auch die Medien beschäftigen sich verstärkt mit religiösen Thematiken. In Zeiten von Kopftuchverbot und Kirchenskandalen rückt die Religion mehr und mehr ins Zentrum öffentlichen Interesses. Unser alltäglicher, selbstverständlicher Umgang mit dem Terminus „Religion“ erweckt den Anschein, es gäbe eine klare, eindeutige und universell gültige Definition. Allgemeine Lexika bezeichnen Religion beispielsweise als „das von der Wirklichkeit des Heiligen ausgehende Ergriffensein, das überwiegend in Glaubensgemeinschaften, den geschichtlichen Religionen, seine Ausdrucksform findet“ und sich in „Gebet und in der Verehrung, die als Hingabe, Selbstentäußerung und im Kult möglich ist“5, äußert. Dass solche scheinbar eindeutigen und prägnanten Begriffsbestimmungen jedoch zu kurz greifen, wird daran ersichtlich, dass sich Religionswissenschaftler, Theologen und Soziologen seit Jahren um brauchbare Definitionen bemühen, bis heute jedoch nicht zu einer einhelligen Lösung gekommen sind. Das Ergebnis zeigt sich in einer Vielzahl unterschiedlichster Auslegungen. „Die Diskussion um den Religionsbegriff hat ihrerseits zu einer mittlerweile kaum noch überschaubaren Menge von Veröffentlichungen geführt, die Religion je nachdem kulturwissenschaftlich als Zeichensystem, als Form kollektiver Erinnerung oder auch als nichtreduzible Form von Erfahrung interpretieren“.6

Bemerkenswert ist auch, dass der Begriff der Religion in vielen Kulturen gar nicht existiert oder aber, dass die von außen als Religion interpretierten Phänomene untereinander kaum vergleichbar sind. Die im europäischen Raum getätigten Versuche, Religion zu definieren, gehen bereits bis in die Antike zurück und sind häufig nur auf eine eurozentrische Vorstellung von religiösen Phänomenen anwendbar. Der Ursprung unseres Religionsbegriffs findet sich im lateinischen Wort religio, welchem in der Regel zwei Bedeutungen zugeschrieben werden: Cicero vermutete die Herkunft aus dem Verb religere (sorgsam betrachten, wieder [auf]lesen / aufsammeln / aufwickeln) und sah in der Religion „die sorgfältige Beachtung alles dessen, was zum Kult der Götter gehört“.7 Im frühen 4. Jahrhundert n. Chr. leitete der christliche Schriftsteller Lactantius Religion von religare (binden, wieder verbinden) ab, was später auch von Augustinus übernommen wurde und die Rückbindung der Gläubigen an Gott meint.8 Im Mittelalter bezeichnete religio „eine bestimmte Gott geweihte Lebensform, nämlich die klösterliche. Ordensmann und Ordensfrau wurden religiosus, resp. religiosa, genannt und wurden so dem weltlichen Menschen, sei er nun Kleriker oder Laie, gegenübergestellt“.9 Die Begriffe fides (Glaube), lex (Gesetz), pietas (Frömmigkeit) und secta (Richtung und Partei) beschrieben die Gesamtheit des (christlich) Religiösen und bestimmten das gesamte Leben des Menschen und seiner Umwelt. Der abstrakte Terminus „Religion“ selbst wurde erst mit der Reformation und der Aufklärung gebräuchlich. Von nun an wurde Religion zunehmend getrennt von anderen Lebensbereichen betrachtet, was mit einem Schwinden ihrer Macht einherging.10 Ab dem 18. Jahrhundert bezeichnete Religion „das fromme Grundgefühl jener Menschen, die sich einer bestimmten religiösen Tradition zugehörig wussten, also als Christen, Juden, Muslime und so weiter in Gemeinden organisiert waren, in denen sie unter Anleitung von Spezialisten Gottesdienst feierten und dem religiösen Erleben und Erfahren Namen gaben“.11 Friedrich Schleiermacher sah das Wesen der Religion im „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“12 von Gott. Für dieses subjektive Gefühl des Einzelnen bürgerten sich später die Begriffe „Religiosität“ und ab der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch „Spiritualität“ ein. Doch nicht nur der historische Bedeutungswandel des Religionsbegriffes, auch die Bedeutung „der Religion“ an sich für Individuum und Gesellschaft sowie der alltagssprachliche Gebrauch des Terminus machen eine eindeutige Definition nahezu unmöglich. So ist es „in der modernen Kultur zunehmend schwieriger zu sagen, was Religion ist, weshalb sie zum menschlichen Leben gehört, in welchen besonderen kulturellen Phänomen man ihr begegnet, worin ihre allgemeine Kulturbedeutung besteht und welcher Wissenschaft die Deutungshoheit über ihre kulturellen Bestände zukommt“.13 Für den wissenschaftlichen Umgang mit religiösen Phänomenen haben sich hingegen zwei Hauptrichtungen herausgebildet, denen sich ein Großteil religionswissenschaftlicher, soziologischer und theologischer Begriffsbestimmungen zuordnen lassen.

II.1.1. Substanzialistische Bestimmung

Der substanzialistische oder auch essentialistische Religionsbegriff bestimmt Religion nach ihrem Wesen und ihren inhaltlichen Merkmalen. Er geht davon aus, dass sich das Religiöse anhand besonderer Erfahrungen zeigt, die sich klar von Alltagserfahrungen unterscheiden.14 Inhalte dieser Erfahrungen können als „das Heilige“ beschrieben werden, welches schon für Rudolf Otto im Zentrum religiöser Phänomene stand.15 Dieses „Heilige“ ist auch als „das Transzendente“, „das Absolute“, „das Numinose“, „das Allumfassende“ oder als „Gott“ bekannt.

William P. Alston nennt 9 Merkmale, die eine Religion ausmachen, jedoch nicht zwingend alle gemeinsam zutreffen müssen. Zentral ist dabei die angenommene Existenz göttlicher Wesen16:

1. Der Glaube an übernatürliche Wesen (Götter),
2. die Unterscheidung zwischen heiligen und profanen Handlungen und Gegenständen,
3. rituelle Handlungen, in deren Zentrum sakrale Objekte stehen,
4. ein von Göttern sanktionierter Moralkodex,
5. charakteristisch religiöse Gefühle (ehrfürchtige Scheu, Empfindung eines Mysteriums, Schuldgefühl, Anbetung etc.), die in der Regel angesichts sakraler Objekte und bei der Praktizierung von Riten erweckt und mit den Göttern und Verbindung gebracht werden,
6. Gebete und andere Wege, mit Göttern in Verbindung zu treten,
7. eine Weltanschauung,
8. eine mehr oder weniger umfassende Organisation des eigenen Lebens auf Grundlage dieser Weltanschauung,
9. eine soziale Gruppe, die durch die ersten acht Faktoren zusammengehalten wird.

Definitionen dieser Art mögen auf zahlreiche Religionsgemeinschaften zutreffen, übersehen jedoch, dass es beispielsweise auch Religionen gibt, in denen kein Gott vorkommt.17 Somit bietet die substanzialistische Religionsdefinition in zweierlei Hinsicht Anlass zur Kritik: Zum einen finden sich hier die Inhalte des zu Definierenden in der Begriffsbestimmung selbst. Weiterhin manifestiert sich „das Heilige“ in den verschiedenen Kulturen und Religionen auf so unterschiedliche Art, dass die Einordnung und Bestimmung „fremder“ Phänomene aus westlich-christlicher Perspektive problematisch sein kann, da unsere Begriffe und Vorstellungen hier oftmals nicht greifen. Häufig zeigt sich dort auch, „dass Religion vielfach gar nicht als eigene Weltanschauung ausgegliedert ist, so dass auch nicht geklärt ist, woran man denn die Bestimmung der Religion festmachen soll“.18

II.1.2. Funktionalistische Bestimmung

Die funktionalistische Bestimmung sieht das Charakteristische einer Religion in ihrer sozialen Funktion für das Individuum und die Gesellschaft. Unter Bezugnahme auf diese zweite Definition lassen sich auch soziale Erscheinungen, die gemeinhin nicht als religiös gelten, auf eine eventuelle Zuordnung zum Religionsbegriff untersuchen. Für Clifford Geertz ist Religion

„(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“.19

Der Soziologe Franz Xaver Kaufmann legt der Bestimmung eines Ideenkomplexes als Religion sechs funktionale Kategorien zugrunde, von denen mehrere erfüllt sein müssen20:

1. Identitätsstiftung
2. Handlungsorientierung
3. Kontingenzbewältigung
4. Sozialintegration
5. Kosmisierung (Begründung der Sinnhaftigkeit der Welt)
6. Weltdistanzierung (Schaffung einer Distanz zu gegebenen Macht- und Sozialverhältnissen)

Häufig treten auch Mischformen beider Richtungen auf, wie unter anderem bei Émile Durkheim, dessen Theorie zwar im Allgemeinen der funktionalistischen Begriffsbestimmung zugeschrieben wird, jedoch ebenso Elemente der substanzialistischen enthält:

„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören. Das zweite Element, das in unserer Religion auftaucht, ist nicht weniger wichtig als das erste; denn wenn man zeigt, dass die Idee der Religion von der Idee der Kirche nicht zu trennen ist, dann kann man ahnen, dass die Religion eine im Wesentlichen kollektive Angelegenheit ist“.21

Auch für Thomas Luckmann, der als wichtiger Vertreter der funktionalistischen Religionsdefinition gilt, sind die Inhalte von zentraler Bedeutung: So sieht er neben den funktionalen Komponenten im Vorhandensein großer Transzendenzen ein Hauptmerkmal des Religiösen.22

Doch unabhängig davon, welcher Richtung man sich anschließen mag: Ein zentraler Bestandteil jeder Religion findet sich im Ritual.

II.1.3. Das Ritual im Zentrum religiöser Praxis

Ähnlich wie der Religionsterminus, ist auch der Begriff des Rituals nicht eindeutig klar und allgemeingültig umrissen. Ursprünglich bezeichnet das Ritual eine bestimmte religiöse Handlung, die den Ritus, eine „religiös oder abergläubisch begründete bis ins Detail geregelte Handlung, in denen Menschen die Naturkräfte bzw. überirdische Kräfte günstig stimmen wollen“23, betrifft. Das Ritual dient zum einen dazu, innerhalb einer Gesellschaft das gemeinsame Weltwissen zu kommunizieren: „Im Mythos und mit dem Ritual schaffen sich die Menschen eine Symbolwelt, die ein Repertoire an Zeichen enthält, die auf diese Sinndeutungen verweisen, die sinnhaft repräsentieren und in ihrer Bedeutung zu tradieren erlauben“.24 Weiterhin sind Rituale „spezifische gemeinschaftliche Handlungen, welche die Kraft haben, eine Gruppenkohäsion zu erzeugen und aufrechtzuerhalten“, denn im Ritus „feiert das Individuum nicht Gott, sondern feiert die Gemeinschaft sich selbst“.25

Die Hauptfunktion des Rituals besteht somit in der Schaffung und Stärkung der sozialen Gruppe: „[R]eligious belief and ritual, by making the critical acts and the social contracts of human life public, traditionally standardized, and subject to supernatural sanctions strengthen the bonds of human cohesion“.26

Dabei entstehen kollektive Emotionen aus individuellen Gefühlen, die wiederum das Individuum an die Gemeinschaft binden:

„Jedes Individuum trägt Gefühle in sich, die es mit anderen Individuen teilt. Wenn nun viele Individuen zusammenkommen, werden diese gemeinsamen Gefühle konzentriert und dadurch in eine spezifisch kollektive Empfindung verwandelt, die unabhängig von den privaten Gefühlen jedes Individuums und seiner Teilnahme an der Gruppe besteht. Der Kern des rituellen Prozesses besteht darin, die individuellen Teilgefühle zu sammeln und daraus ein kollektives Gefühl zu machen, denn nur im gesammelten und konzentrierten Zustand kann sich die spezifisch kollektive Natur dieser Gefühle manifestieren. Der Prozess des rituellen Sammelns ist ein Prozess symbolischer Reproduktion, bei dem die emergente Wirklichkeit, die aus der Sammlung und der Konzentration individueller Empfindungen entsteht, auf jedes Individuum zurückwirkt. Die Teilnahme der Individuen an der kollektiven Wirklichkeit wird dadurch verstärkt und bestätigt“.27

Auch Durkheim bezieht sich in seiner Bestimmung des Rituals auf diese Funktion. Für ihn besteht der Zweck des Rituals darin, „‚die Kontinuität kollektiven Bewusstseins zu sichern’, ‚sich selbst und anderen zu versichern, dass man zur selben Gruppe gehört’, von Zeit zu Zeit vom Vorrang der Gruppe über das Individuum Kenntnis zu nehmen und dies in Erinnerung zu rufen. Durch diese ‚gemeinsamen Taten’ gewinnt die Gruppe Selbstbewusstsein und nimmt einen gemeinsamen Standpunkt ein“.28

Der gemeinschaftsstärkende und identitätsstiftende Nutzen des Rituals findet sich jedoch nicht nur in explizit religiösen Kontexten. Legt man den heute vorherrschenden, erweiterten Ritualbegriff zugrunde, welcher sich auf symbolische Handlungen im Allgemeinen bezieht, lassen sich Rituale in sämtlichen Bereichen der menschlichen Kultur entdecken.29 Ob das gemeinsame Sonntagsfrühstück innerhalb der Familie oder die „Zugabe“-Rufe am Ende eines Konzertes - unser Alltag ist in großen Teilen ritualisiert. Gern wird auch das Fernsehen als rituelles Zentrum moderner Gesellschaften angesehen, „in dem die religiöse Funktion eines gemeinschaftsstiftenden Rituals übernommen und erfüllt wird“.30 Auch dies ist ein Grund dafür, dass Vertreter funktionalistischer Religionsdefinitionen religiöse Elemente in ursprünglich als nicht religiös gedeuteten Bereichen entdecken.

Für alle Rituale gilt dabei: Sie können nur wirken, wenn sie regelmäßig wiederholt werden. So bewahren sie ihre Fähigkeit, den Zusammenhalt der Gemeinschaft stetig zu erneuern. Demnach lassen sich Rituale als „demonstrative Wiederholungs-Handlungen“ definieren, „die durch einen Prozeß [sic!] der emotionalen Vertiefung des Erlebens eine Veränderung im Funktionsmodus der beteiligten Personen bewirken, welche das Ziel verfolgt, Gemeinschaften zu konstituieren und zu erneuern“.31

Christian Bromberger legt sechs strukturelle Merkmale zugrunde, deren Vorhandensein eine Handlung als rituell und somit vom alltäglichen Verhalten unterscheidbar erscheinen lässt:

1. Ein Bruch mit der alltäglichen Routine;
2. ein spezieller raum-zeitlicher Bezugsrahmen;
3. ein sorgfältig programmierter Ablaufplan der Zeremonien, die zyklisch wiederkehren und aus Worten, Gesten und Gegenständen bestehen, um gewissen transzendente Ziele zu erreichen, die nicht im Sinne praktischer Effizienz oder als eine mechanische Sequenz von Ursache und Wirkung erklärbar sind;
4. eine symbolische Konfiguration, die die Basis für die rituelle Praxis bereitet und zugleich ihre Einhaltung sichert;
5. die Einrichtung einer [...] „Anti-Struktur“, die frei ist von gewöhnlichen Hierarchien, die das soziale Leben regeln und die, in diesem Moment außerhalb der Zeit, jeder Person einen unterschiedlichen Rang in Entsprechung zu ihrer relativen Nähe zum Objekt des Ritus und den Amtsträgern, die damit betraut sind, zuordnet;
6. […] die moralische Verpflichtung, teilzunehmen, da das Beiwohnen eines Rituals eine Frage der Verpflichtung und nicht nur eine Angelegenheit der freien Wahl ist.32

Es ist dabei fraglich, ob eine Handlung alle Funktionen gleichermaßen erfüllen muss, um als Ritual gelten zu können. Gerade die sogenannten „Alltagsrituale“ würden dieser Bestimmung nach nicht als „echte“ Rituale anerkannt werden.

II.2. Funktion der Religion für die Gesellschaft und das Individuum

Während in vielen Ländern die tradierte Religion auch heute noch explizit zur Legitimierung des kulturellen Systems dient, trifft dies auf große Teile der modernen westlichen Welt nicht mehr zu, wenn auch Normen und Werte durchaus religiöse Wurzeln besitzen. Trotzdem verschwindet die Religion nicht aus unserer Gesellschaft, so dass zu fragen ist, welche spezifischen Funktionen Religion erfüllt und ob diese nicht auch von anderen Systemen übernommen werden können.

Elementare Sinnfragen stellen sich den meisten Menschen im Laufe ihres Lebens, der Umgang mit ihnen ist jedoch sehr unterschiedlich. Religionen als Sinnsysteme bieten Antworten auf Grundfragen des menschlichen Daseins und Orientierung:

„Die Religion hat es zu tun mit den Fragen nach der Stellung des Menschen in der Natur und damit nach dem Sinn, dem Grund und dem Zweck unseres endlichen, kontingenten Daseins, mit der Frage nach dem Sinn meines individuellen Lebens, in einem physikalisch, biologisch und historisch letztlich unergründlichen Universum. Die Religion interessiert sich nicht für das, was der Fall war, ist und sein wird. Sie arbeitet an der Deutung des Sinns unseres kontingenten, individuellen menschlichen Lebens“.33

Für Luhmann liegt die Funktion der Religion in der „Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität“.34 Sie „garantiert die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare“35 und dient somit vorrangig der Kontingenzbewältigung in einer von Komplexität und zunehmender Unvorhersehbarkeit gekennzeichneten Welt.

Auch die wachsende Individualisierung als ein Merkmal der Moderne trägt zu dieser Unvorhersehbarkeit bei. „Das Individuum kann nicht länger durch die feste Zugehörigkeit zu einem bestimmten gesellschaftlichen Teilsystem sozial verortet werden […]. Die moderne Gesellschaft macht es erforderlich, in jedem Teilsystem verschiedene Rollen wahrzunehmen und auszubilden“.36 Die schier unendliche Menge an Möglichkeiten der Lebensführung und die Notwendigkeit der Anpassung an unterschiedliche Rollenerwartungen in den einzelnen Lebensbereichen können zu Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust und einem Gefühl der Einsamkeit führen:

„Identitätsbildungsprozesse [sind] in der Spätmoderne bedeutend weniger sozialstrukturell gestützt […].‚Identität’ muß sich in unterschiedlichen Rollen ausdifferenzieren, was die Frage der subjektiven Kohärenz aufwirft“.37 Hier greift die identitätsbildende und sozial integrative Funktion der Religion: In Gemeinschaften mit geteiltem Symbol- und Wertesystem kann sich der Mensch eine Identität als Mitglied dieser Gruppe aufbauen, die durch gemeinsam ausgeübte Rituale stetig erneuert und gefestigt wird. Allerdings können „infolge der Individualisierung […] religiöse Wirklichkeitsdeutungen zusehends weniger auf traditionelle Überlieferungen, kirchliche Organisation und Autorität des Subjekts bezogen werden, da dies der allgemeinen Tendenz zur Zentralisierung des Subjekts zuwiderläuft“.38 War demnach früher die Kirche der zentrale soziale Bezugspunkt vieler Menschen, gibt es heute zahlreiche andere Gruppen, in denen sich das Individuum in seiner Suche nach Gemeinschaft und Sinnerfüllung aufgehoben fühlen kann. Dies können alternative Religionsgemeinschaften sein, ebenso wie Fußballvereine, Fanclubs oder Gruppierungen unterschiedlicher Jugendkulturen, denn den Individuen steht es „frei, sich für die Arbeit an ihren Sinnfragen auch jenseits explizit religiöser Sinnangebote, auf dem weiten Feld der ästhetischen Kultur und in den verschiedenen Formen von Unterhaltung zu bedienen“.39

Trotzdem ist nach Ansicht Luhmanns die Religion in ihrer Funktion für die Gesellschaft durch kein anderes System ersetzbar, wenn auch der einzelne Mensch religionsfrei leben kann, denn die Gesellschaft benötige den Rekurs auf ein Ganzes.

„Als Kern- und Grundfunktion der Religion und damit als die Funktion der Religion, durch welche ihre Nichtsubstituierbarkeit durch andere soziale Funktionssysteme gewährleistet ist, gilt stets die Transformierung unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität. […] Das macht sie sozial unverzichtbar und zu einer, wie es heißt, selbstsubstitutiven Ordnung, [die nicht, B.S.] durch eine andere [Ordnung, B.S.] funktionsäquivalent ersetzt werden kann. […] Ihre Funktion im funktional ausdifferenzierten System moderner Gesellschaften ist unersetzbar bzw. nur durch Religion zu ersetzen. Denn jede Veränderung der Religion […] ist nach Luhmann entweder selbst direkt religiös oder erzeugt Surrogate der Religion, deren religiöser Charakter zumindest indirekt erkennbar ist“.40

Somit würden Phänomene, die nicht auf den ersten Blick als Religion wahrnehmbar seien, aber deren Funktion in der Umwandlung des Unbestimmbaren ins Bestimmbare und somit in der Kontingenzbewältigung liege, schließlich selbst zu Religion oder einem Religionsäquivalent. Eindeutig ist, dass sich die Rolle und einige Funktionen der Religion - und damit auch die Möglichkeiten ihrer Definition - mit dem Aufkommen der Moderne geändert haben.

„Aufgrund der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft wird zwar die Religion nicht mehr direkt und nicht mehr so öffentlich für Letztbegründungsnotwendigkeiten in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie der Politik, dem Recht, der Moral gebraucht. Sie hat insofern auch nicht mehr an deren Disziplinierungskräften teil. Sie ist vielmehr auf ihre spezifische gesellschaftliche Funktion, die Chiffrierung von Kontingenz und die Symbolisierung von Transzendenz zurückgenommen“.41

Das sich auf ursprünglich religiöse Inhalte gründende kollektive Symbol- und Wertesystem und gemeinsam ausgeübte, teils explizit religiöse Rituale können auch in säkularen Gesellschaften durchaus zu deren Stabilisierung und zur Bewältigung von Krisenzeiten beitragen, wie sich anhand der vielen gut besuchten Gottesdienste nach Amokläufen oder Naturkatastrophen immer wieder zeigt.

Hubert Knoblauch, ein Schüler Luckmanns, führte zahlreiche Gedanken seines Lehrers weiter und gibt in seiner Einführung in die Religionssoziologie einen differenzierten Überblick über die Funktionen der Religion, indem er sie zusammenfasst und in psychologische, soziologische und anthropologische Funktionen unterteilt.42 Zu ersteren zählt er

1. die kognitiven Funktionen (Unbekanntes begreifbar machen und geistig bewältigen),
2. die affektiven Funktionen (Umgang und Bewältigung besonderer emotionaler Zustände) und
3. die pragmatischen Funktionen (Bewältigung besonderer Krisensituationen, Bereitstellung von Mitteln und Wegen ihrer Behandlung).

Die soziologischen Funktionen wiederum untergliedert Knoblauch in

1. die Fundierungsfunktion (Begründung ultimativer Werte für Individuen, Gruppen und Gesellschaften),

2. die Integrationsfunktion (Bereitstellung gemeinsamer Werte, die die Kultur zusammenhalten),

3. die Legitimationsfunktion (Rechtfertigung der Herrschaft religiöser Experten oder anderer Gruppen) und

4. die Kompensationsfunktion (Ausgleich für Leiden, Mangel, fehlendes Prestige etc. mittels Vorstellung einer anderen Welt).

Die Idee der anthropologischen Funktion besagt, dass Religion ein Hauptmerkmal menschlicher Existenz sei.

Diese Arbeit wird sich in erster Linie an den Kategorien Kaufmanns und Knoblauchs orientieren, jedoch auch wesentliche Elemente phänomenologischer Bestimmungen einbeziehen.

II.3. Wandel der Religion - Verschwinden oder Wiederkehr?

Institutionalisierte Religion und dogmatische Glaubensvorstellungen haben Großteile ihres Einflusses auf die Gesellschaft eingebüßt. Bis vor einigen Jahren war man in weiten Teilen der Religionsforschung davon überzeugt, Religion würde komplett aus der Lebenswelt der Menschen verschwinden. In der Moderne als „Epoche der Verabschiedung aller kulturellen Bestände, die sich auf metaphysische Illusionen gründen“43 sah man lange keinen Platz mehr für religiöse Lebensformen. Von den Medien totgesagt, galt Religion somit viele Jahre als aussterbende Art. Als jedoch um die Jahrtausendwende ein weltweiter Aufschwung religiöser Bewegungen nicht mehr zu übersehen war - am 11. September 2001 leider in seiner fatalsten Form - mussten nicht nur Journalisten, sondern auch Soziologen und Religionswissenschaftler die Plausibilität der Säkularisierungsthese neu überdenken.44 Jürgen Habermas führte dazu in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 2001 den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ ein. Dieser besagt, „dass sich die Religion in einer zunehmend säkularen Umgebung behauptet und dass die Gesellschaft bis auf weiteres mit dem Fortbestehen der Religionsgemeinschaft rechnet“.45 Gründe dafür lassen sich in der Enttäuschung über die nicht erfüllten Erwartungen an die Moderne sehen:

„Ihre Leitidee hat sich verbraucht, wonach eine ständig weiter ausgreifende Naturbeherrschung, eine permanente Erweiterung des Wohlstands durch ökonomisches Wachstum sowie eine selbstbestimmte Identität des Subjekts durch die Emanzipation von überkommenden Traditionen je für sich und gemeinsam auf einem ungehemmten Geradeausweg zu realisieren sind“.46

Im Folgenden soll zum einen die Säkularisierungstheorie und zum anderen exemplarisch die Gegenposition Thomas Luckmanns, wie er sie in seinem Werk „Die Unsichtbare Religion“ entwickelte, dargestellt werden. Dabei wird sich zeigen, dass man weder von einem Verschwinden der Religion noch von einer starken Wiederkehr der tradierten religiösen Formen sprechen kann, sondern dass sich das Phänomen der Religion in einem stetigen Wandlungsprozess befindet, da es sich an die Bedürfnisse der Menschen anpasst und somit in seinen Funktionen für die Gesellschaft neu verortet werden muss.

II.3.1. Die Säkularisierungsthese

Der Ursprung der Säkularisierung findet sich in der Säkularisation, in deren Verlauf kirchlicher Besitz durch den Staat beschlagnahmt wurde. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Beschluss zur Enteignung der Kirchengüter durch den Reichsdeputationsausschuss im Jahr 1803. Dieser umstrittene Prozess machte die Säkularisierung in der Folge „zu einem ideenpolitischen Kampfbegriff“ der Liberalen und später der Kommunisten und Sozialisten, „um den Einfluss der katholischen Kirche auf den Feldern von Schule, Bildung und Wissenschaft zurückzudrängen. Als Gegenreaktion setzte die katholische Seite die Säkularisierungsbestrebungen mit einem großen, schon mit der Reformation beginnenden Abfall von Gott gleich“.47 Die wissenschaftliche Theorie der Säkularisierung lässt sich hingegen auf Max Weber und Émile Durkheim zurückführen. Ersterer sieht die Ursachen des Kapitalismus und des bürokratischen Staates in der Entzauberung der Welt. Diese sei durch „das jüdische und christliche Erbe von Prophetie und Heilsreligion […] im westlichen Christentum“48, sprich durch die Erfolgsgeschichte des Monotheismus, ausgelöst worden und habe dem Kapitalismus und auch der Wissenschaft zur Macht verholfen, die nun auf die Religion verzichten könnten: „Die Religion überlebt in der modernen, rationalen Welt bestenfalls im […] hinterweltlichen Reich mystischen Lebens oder in der Brüderlichkeit unmittelbarerer Beziehungen der einzelnen zueinander‘“.49 Bei Durkheim dagegen sind die Individualisierung und die damit verbundene rückläufige Bedeutung der Gemeinschaft als Charakteristika der Moderne verantwortlich für das Schwinden der Religion, da er Religion als Funktion der Gesellschaft versteht.50 In der Folge wurde es in der Soziologie Usus, ein Aussterben der Religion in modernen Gesellschaften als gegebene Tatsache anzusehen. Lange Zeit schien sich diese Prophezeiung zu erfüllen, da gesellschaftliche Prozesse und Einrichtungen, die früher dem starken Einfluss der (christlichen) Religion unterlagen, zunehmend von dieser getrennt wurden und auch heute noch werden. So bezeichnet der Begriff der Säkularisierung einerseits „den empirisch beobachtbaren Prozess eines Relevanz- und Funktionsverlustes religiöser Weltbilder und Wertmuster für die individuelle Lebensführung“ und

„benennt [...] die sozio-kulturelle Marginalisierung organisierter Religion, deren öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung schwindet. Zum anderen offeriert er einen Ausblick auf den Zielpunkt von jenen ‚Modernisierungen‘, die sich als Emanzipation von religiösen Weltbildannahmen und Handlungsprämissen sowie als Umstellung auf nicht-religiöse Deutungsmuster beschreiben lassen“.51

Nach Hans-Joachim Höhn verliert die tradierte Religion demnach an Bedeutung als Autorität im Bereich politischer Entscheidungen, als Sinnlieferant für die Orientierung des Individuums in der Welt und als Medium sozialer Integration. Zudem bringe die Säkularisierung „die Entdeckung und Wahrung der Autonomie des ‚Profanen‘ gegenüber dem Religiösen sowie die ‚Konvertierung‘ ursprünglich religiöser Sinngehalte in Elemente profanen Denkens“52 mit sich. Weiterhin finde explizit religiöse Kommunikation gegenwärtig nur noch in Bereichen expliziter Religion statt,

„nachdem im Zuge der funktionalen Differenzierung moderne Gesellschaften ihre Aufgaben und Zuständigkeiten in verschiedene Teilsysteme ausgegliedert haben. […] Der Zusammenhalt einer Gesellschaft mit verteilten Zuständigkeiten wird allein gewährleistet durch eine Rahmenordnung. Diese beschränkt sich auf die formale Regelung des störungsfreien Zusammenspiels der einzelnen, autonomen Teilsysteme. Religion wird hierbei als Regelgröße nicht mehr benötigt“.53

Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die These lediglich auf die Situation in Westeuropa anwendbar ist. In den meisten anderen Teilen der Welt - auch in hochmodernen, „westlichen“ Gesellschaften wie den USA - hat die institutionalisierte Religion nach wie vor einen starken Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse, wenn sie auch teilweise explizit vom politischen System getrennt ist und der jeweilige Staat somit offiziell als säkular bezeichnet wird. José Casanova kritisierte schon Mitte der 1990er Jahre die Gleichsetzung von gesellschaftlicher Modernisierung - und damit funktionaler Differenzierung - mit dem Schwinden des individuellen Glaubens und der Privatisierung der Religion: „Offenkundig sei, dass mit Prozessen der Modernisierung nicht notwendig der Rückgang individuellen Glaubens verbunden sein müsse. Außer für den Westen Europas treffe dies empirisch einfach nicht zu“.54 In Westeuropa verzeichnen „die institutionellen Ausprägungen religiöser Weltdeutungen“ allerdings starke „Funktions- und Bedeutungsverluste auf gesamtgesellschaftlicher Ebene“ und „Tendenzen einer Entkirchlichung des Christentums und einer Entchristlichung des Religiösen“.55 Hier nimmt die Bedeutung organisierter Religion als Medium sozialer Koordination und Integration tatsächlich ab:

„Religion hat in Theorie und Praxis aufgehört zu existieren als gesellschaftliche Primärinstanz sozialer Identitätsbildung und als kulturelles Lebenssinndepot, als Legitimationsbüro sozialer Ordnung, als Lieferant von Erklärungen zu Herkunft und Zustand der Welt“.56

Funktionen dieser Art könnten heutzutage von anderen Systemen und Phänomenen übernommen werden (vgl. dazu die sechs funktionalen Kategorien nach Kaufmann, Kapitel II.1.2.). So sei es unstrittig, „dass für nahezu alle Funktionen, für die in vormodernen Gesellschaften eine religiöse Zuständigkeit bestand, im Zuge der Säkularisierung funktionale Äquivalente etabliert wurden“.57 58

Doch selbst hinsichtlich der Situation innerhalb Westeuropas wird die Gültigkeit des Säkularisierungsparadigmas immer wieder in Frage gestellt, so bei Peter Berger: „A shift in the institutional location of religion, then, rather than secularization would be a more accurate description of the European situation“.59

Eben diese „Verschiebung“ des Religiösen aus seiner tradierten, institutionalisierten Form heraus, ist heute ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der Religionssoziologie.

Hans Gerald Hödl beschreibt drei Entwicklungstendenzen der Religion in modernen Gesellschaften60:

1. Es entstehen „Formen religiöser Praxis außerhalb institutionalisierter Religionen“ (Alternative Spiritualität, kultisches Milieu).
2. Religiöse Themen werden „sowohl in Medien oder Kontexten als auch von Autoren behandelt […], die sich außerhalb des Bereiches traditionell organisierter Religionen befinden.“
3. „(Teilbereiche von) Segmente(n) der (Alltags-)Kultur und der Zivilisation, wie Film, Sport, Fernsehen, Kunst und Politik, [werden] mit Bedeutungen versehen und mit Sinn gefüllt […], die Analogien zu religiösen Sinnangeboten nahe legen oder aber mitunter Funktionen erfüllen, die ansonsten dem religiösen Bereich zugeschrieben werden.“

Diese Phänomene seien weitläufig als „säkularisierte Religion“, „implizite Religion“ oder auch „unsichtbare Religion“ bekannt. Die Säkularisierung einer Gesellschaft führt demnach nicht zwangsläufig zum Aussterben der Religion, sondern zu ihrem Wandel: Die traditionellen Formen verlieren an Bedeutung, während Religiosität in neuer Gestalt jenseits ihrer institutionellen Ausformung auftritt.61 Charakteristisch dafür ist die Privatisierung des Religiösen, „da unter den Bedingungen säkularer Gesellschaften die Kirchen nicht mehr die gesamtgesellschaftliche Integration leisten“.62

II.3.2. Die unsichtbare Religion

Thomas Luckmann beschäftigte sich bereits Mitte der 1960er Jahre mit den Wandlungsprozessen moderner Religiosität und formulierte in seinem Werk „Die Unsichtbare Religion“ seine Grundthese, die bis heute nicht an Bedeutung eingebüßt hat, aber dennoch stark umstritten ist. Luckmann legt dabei seinen Fokus auf die individuellen Komponenten von Religiosität. Er definiert Religion klar anhand ihrer Funktion und zählt somit zu den Hauptvertretern der funktionalistischen Religionsbestimmung. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das vielfach konstatierte Verschwinden der Religion in den modernen Gesellschaften. Luckmann kritisierte schon damals die Gleichsetzung von Religion und Kirche, durch die allein die Säkularisierungsthese erst plausibel werde. Auch er übersieht nicht den Bedeutungsverlust der Kirche, prognostiziert jedoch einen Wandel der Religion anstelle ihres Aussterbens. Einen wichtigen Grund dafür sieht er in der zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Institutionen. Im westlichen Europa wird Religion seit einigen Jahrhunderten von einer hochgradig spezialisierten Institution - der Kirche - getragen, „deren Vertreter ein Expertenwissen über den Heiligen Kosmos besitzen, das den Nicht-Experten nur noch in Ausschnitten und popularisierten Versionen zugänglich ist“.63 Trotzdem legitimierte Religion die gesamte Sozialordnung. Im Laufe der Zeit wurden einzelne gesellschaftliche institutionelle Bereiche immer autonomer und spezialisierter. Dies ist „der Ausgangspunkt für Luckmanns Konzept der Unsichtbaren Religion: Nicht nur ist das Wissen der religiösen Experten den Laien kaum mehr zugänglich; die Sozialstruktur (d.h. die Institution und der Komplex sozialer Schichtung) selbst wird säkularisiert“.64 Somit meint Säkularisierung nicht das Verschwinden, sondern die Verlagerung der Religion. Die Kirche wird in der Folge zu einer Institution unter vielen: „Weltliche Sinndeutungssysteme politischer, ökonomischer oder auch ‚wissenschaftlicher‘ Provenienz treten mehr und mehr an ihre Stelle“.65 Zudem rückt die Religion verstärkt in den Bereich des Privaten, befasst sich vorrangig mit sozialen Beziehungen und wird in ihrer Orientierung immer diesseitiger. Gleichzeitig mit ihrer Privatisierung erfolgt eine Pluralisierung der Religion. Die Konsequenzen beider Phänomene sind eine Ausdifferenzierung des religiösen Angebots und die zunehmende Konsumorientierung des Subjekts: „Das individuelle Verhalten in der Privatsphäre wird mehr und mehr von subjektiven Präferenzen bestimmt, die aus dem Angebot das ‚Passende‘ auswählen. […] Religion wird in der Form und in dem Maße in Anspruch genommen, wie sie den Anforderungen der individuellen Forderungen nachkommt“.66 Dies zeigt sich nicht selten in synkretistischen Tendenzen. Knoblauch fasst treffend zusammen:

„Die Unsichtbare Religion ist der Titel für neue Sozialformen der Religion in einem ausgezeichneten Sinne. Religiöse Funktionen werden zunehmend von nicht-religiösen Strukturen getragen. […] Nicht nur politische Einstellungen und Protesthandlungen können religiöse Funktionen annehmen, […] auch neue Gemeinschaftsformen und Therapien stellen […] solche religiösen Möglichkeiten. […] Diese neuen Sozialformen der Religion zeichnen sich vor allen Dingen durch einen Verlust der Sichtbarkeit auf verschiedenen Ebenen aus“.67

[...]


1 Vgl. dazu u.a. Bubmann 2009, Everding 2000, und Teml 1997.

2 Vgl. dazu u.a. Koenot 1997, Schwarze 1997 und Möller 2005.

3 Vgl. dazu die Studien von Goldstein 1980, Sloboda 1991 und Gabrielsson 2001. 3

4 Zum Zwecke besserer Lesbarkeit verzichtet die Arbeit weitgehend auf doppelte feminine und maskuline Bezeichnungen. Ist nur die maskuline Form angeführt, ist selbstverständlich die feminine Entsprechung mitgemeint.

5 Der Neue Brockhaus 1985, Bd. 4, S. 392.

6 Zachhuber 2007, S. 19.

7 Cicero De nat. deor. II, 28, 72.

8 Vgl. Meyers Großes Universallexikon 1984, Bd. 11, S. 536.

9 Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe 2005, Bd. 4, S. 26.

10 Vgl. http://renaissancen.unibas.ch/cms/front_content.php?idcat=122

11 Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe 2005, Bd. 4, S. 26.

12 Schleiermacher 2003, S. 36.

13 Gräb 2006, S. 24.

14 Vgl. Knoblauch 199, S. 114.

15 Vgl. Otto 1991.

16 Vgl. Alston 1964, S. 5.

17 Diese finden wir beispielsweise im „reinen“, also nicht vom Geisterglauben durchsetzten Buddhismus, aber auch in religiösen Sondergemeinschaften wie der Scientology.

18 Knoblauch 2009, S. 62.

19 Geertz 1983, S. 48.

20 Vgl. Kaufmann 1989, S. 83 ff.

21 Durkheim 1994, S. 75.

22 Vgl. Luckmann 1991, S. 166 ff.

23 http://perso.uni-lueneburg.de/index.php?id=158

24 Höhn 2007, S. 113.

25 Leikert 2010, S. 44 f.

26 Malinowski 1972, S. 72.

27 Bergesen 2006, S. 49.

28 Zit. nach Bromberger 2006, S. 293.

29 Vgl. Belliger 2006, S. 7.

30 Hödl 2003, S. 509 f.

31 Leikert 2010, S. 45.

32 Bromberger 2006, S. 293.

33 Gräb, 2006, S. 37.

34 Luhmann 1990, S. 20.

35 Luhmann 2000, S. 127.

36 Oertel 2004, S. 42.

37 Ebd., S. 43.

38 Ebd., S.48.

39 Gräb 2006, S. 38.

40 Wenz 2005, S. 71.

41 Gräb 2006, S. 25.

42 Vgl. Knoblauch 1999, S.115 f.

43 Höhn 2007, S. 17.

44 Vgl. Knoblauch 2009, S. 15.

45 Habermas 2005, S. 116.

46 Höhn 2007, S. 17.

47 http://www.bpb.de/publikationen/CRVCSE,1,0,Jenseits_von_S%E4kularisierung_und_Wiederkehr_der _G%F6tter.html#art1

48 Ebd.

49 Ebd.

50 Vgl. Zachhuber 2007, S. 15.

51 Höhn 2007, S. 9.

52 Ebd., S. 16.

53 Ebd., S. 28.

54 http://www.bpb.de/publikationen/CRVCSE,1,0,Jenseits_von_S%E4kularisierung_und_Wiederkehr_der _ G%F6tter.html#art1

55 Höhn 2007, S. 26.

56 Ebd., S. 30.

57 Ebd., S. 27.

58 Als Beispiel sei hier die Jugendweihe zu nennen, die in der Weimarer Republik und später vor allem in der DDR Übergangsriten wie Konfirmation oder Firmung ersetzte und auch heute noch praktiziert wird.

59 Berger 1999, S. 10.

60 Hödl 2003, S. 506 f.

61 Vgl. ebd., S. 508.

62 Ebd., S. 509.

63 Knoblauch 1991, S. 18.

64 Ebd.

65 Ebd., S.19.

66 Ebd., S. 21.

67 Ebd., S. 28 f.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Musik und Religion. Konkretionen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
82
Katalognummer
V173610
ISBN (eBook)
9783640942909
ISBN (Buch)
9783640942886
Dateigröße
797 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musik, Religion, Erfahrung
Arbeit zitieren
Berit Stehr (Autor:in), 2011, Musik und Religion. Konkretionen zum Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/173610

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