Rassentheorien deutscher Anthropologen vor und während des 1. Weltkriegs


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

44 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Etablierung des modernen Rassismus
2.1 Die Grundlagen im 18. Jahrhundert
2.2 Anthropologie und Sprachwissenschaft
2.3 Gobineau und aufkommendes Nationalbewusstsein
2.4 Rassismus im imperialistischen Zeitalter

3. Entwicklung der Anthropologie in Deutschland
3.1 Die Väter der neuen Wissenschaft
3.2 Deutsche Anthropologie, Kolonialpolitik und Militarismus

4. Deutsche Anthropologen im Kaiserreich
4.1 Johannes Ranke (1836-1916)
4.1.1 „Der Mensch“ als Hauptwerk
4.1.2 Ästhetik und die Beurteilung aussereuropäischer Rassen und Völker
4.1.3 Die Urgeschichte Europas und die Populärwissenschaft
4.1.4 Rankes Rassenanthropologie
4.2 Emil Schmidt (1837-1906)
4.2.1 Der Schädelsammler
4.2.2 Kraniologie und südasiatische Reisen
4.2.3 Kampf den Dilettanten
4.2.4 Eigentümlich jüdische Rassenmerkmale
4.3 Felix von Luschan (1854-1924)
4.3.1 Physischer Ethnograph
4.3.2 Kolonialpolitik und Rassenanthropologie
4.3.3 Sorgen um Deutschland
4.3.4 Der „bürgerliche Militarist“

5. Moderate Rassentheorien in der „alten Schule“

6. Bibliografie
6.1 Quellen
6.2 Literatur

7. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Der Weg zur Auseinandersetzung mit der Geschichte ist oft ein mühsamer und beschwerlicher. Doch nicht nur Politik und Gesellschaft tun sich mitunter mit dem Versuch der historischen Aufarbeitung schwer, auch Wissenschaften neigen zur Verdrängung dunkler Kapitel in ihrer Historie. Fast vierzig Jahre hat es zum Beispiel gedauert, bis die Rolle der Medizin und Biologie während des Dritten Reiches intensiv untersucht worden ist. Benoît Massin stellt darüber hinaus fest, dass Vergleichbares zur Geschichte der Rassenanthropologie oder der Humangenetik noch fehlt. Insbesondere greift Massin die (eigene) Historiographie der deutschen Anthropologie an. Anhand dreier Beispiele zeigt er, wie Anthropologen der Nachkriegszeit jegliche Verantwortung für die Greuel im Nationalsozialismus ablehnen. Der jüngste Versuch dieser „apologetischen Geschichtsschreibung“, wie es Massin nennt, stammt aus dem Jahr 1990 vom Humangenetiker Peter Emil Becker.[1] Nach seinem Fazit dürfte die Rassenkunde nicht zur Rechenschaft für Rassismus und Rassenpolitik des Dritten Reiches gezogen werden. Entscheidende Figuren wie die Anthropologen Otto Reche oder Eugen Fischer fehlen aber in seiner Darstellung ebenso wie der Hinweis, dass Becker selber während der Nazizeit in Deutschland geforscht hat und Mitglied der NSDAP war.[2]

Nicht viel besser steht es um die historische Bewertung der deutschen Anthropologie vor dem Ersten Weltkrieg. Es besteht generell die Tendenz, Rassenideologien auf am Rande stehende politische Extremisten oder „Pseudo-Wissenschaftler“ zurückzuführen.[3] Dies gilt auch für die Jahre des Deutschen Kaiserreichs. Während das Werk einiger populärwissenschaftlicher Autoren bekannt ist, sind die Rassenlehren der Universitätsprofessoren eher spärlich beleuchtet. Das Ziel dieser Arbeit soll es sein, ein wenig mehr Licht ins Dunkel der anthropologischen Forschung in Deutschland vor und während des 1. Weltkriegs zu bringen. In diesem Zusammenhang soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die wissenschaftlichen Schriften von damaligen Anthropologen mit rassistischen Aussagen durchsetzt waren und ob die von einigen Populärwissenschaftlern verbreiteten Thesen einer Überlegenheit der „arischen“ oder „germanischen Rasse“ in ihren wissenschaftlichen Schriften Eingang gefunden haben oder kritisiert worden sind.

Im Rahmen einer Seminararbeit ist allerdings eine umfassende Analyse nicht möglich. Als Problem erweist sich bereits die Unterscheidung von gelernten Anthropologen und Laien, die sich als solche ausgaben. Daher beschränkt sich diese Arbeit auf drei Leute, die während dieser Zeit einen Lehrstuhl an deutschen Universitäten inne hatten. Neben Adolf Bastian und Rudolf Virchow waren Johannes Ranke, Emil Schmidt und Felix von Luschan die drei wichtigsten deutschen Dozenten der Anthropologie im ausgehenden 19. respektive beginnenden 20. Jahrhundert. Ranke und Schmidt leiteten anthropologische Institute in München und Leipzig, von Luschan war durch seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität und sein Engagement am dortigen völkerkundlichen Museum renommiert. An anderen Universitäten fanden sich zu dieser Zeit keine gleichwertigen Institute. Anthropologische Vorlesungen und Übungen wurden dort eher nebenbei von Dozenten innerhalb anderer naturwissenschaftlicher Fächer gehalten.

Für ein repräsentatives Bild der damaligen anthropologischen Lehre reicht diese Auswahl allerdings nicht aus. Sie ist willkürlich und lässt auch bewusst einige „Grössen“ weg, da ihre Lebensläufe von Historikern in jüngster Zeit dokumentiert wurden.[4] Ebenso können nicht alle wissenschaftlichen Darstellungen der drei untersuchten Anthropologen berücksichtigt werden. Die Quellensuche war ebenfalls selektiv und auf die entsprechende Fragestellung ausgerichtet. Gleichwohl sollte es gelingen, die Standpunkte der ausgewählten Vertreter zur Rassenfrage aus den wenigen untersuchten Abhandlungen zu skizzieren.

Während im zu untersuchenden Zeitabschnitt von den Akteuren generell eine Selbstüberschätzung der europäischen Leistungen und Kultur erwartet wird, grenzt sich der Rassismus durch weitere wesentliche Punkte vom europäischen Ethnozentrismus ab: Rassismus ist eine mit wissenschaftlichen Argumenten unterbaute Ideologie und postuliert die Privilegierung der überlegenen Eigengruppe. Ausserdem definiert der Rassismus die Unterscheidung der Eigen- wie Fremdgruppe als „natürlich“, als ein nicht änderbar angesehenes Kriterium (z.B. durch Herkunft oder Blut).[5] Dieser Definition folgt auch die hier vorliegende Arbeit.

Die beiden nächsten Kapitel 2 und 3 befassen sich mit der historischen Darstellung des Aufkommens des Rassismus und der Entstehung der wissenschaftlichen Anthropologie, speziell in Deutschland. Im anschliessenden Hauptteil in Kapitel 4 werden Leben, Werk und

Rassenlehren der drei ausgewählten anthropologischen Wissenschaftler kurz und knapp analysiert. Schliesslich wird in Kapitel 5 versucht, die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammenzufassen und die Geschichte und Entwicklung der deutschen Anthropologie vor und nach dem 1. Weltkrieg zu deuten.

2. Die Etablierung des modernen Rassismus

2.1 Die Grundlagen im 18. Jahrhundert

Der moderne Rassismus wurzelt in den intellektuellen Strömungen des 18. Jahrhunderts. Sowohl die Aufklärung als auch der Pietismus als religiöse Wiedererweckungsbewegung lieferten die Grundlagen für den Rassismus. Beim Versuch, den Standort des Menschen in der Natur zu definieren, verbanden sich Naturbeobachtungen von Anfang an mit den moralischen und ästhetischen Idealen der griechischen und römischen Antike. Die Verbindung von Wissenschaft und Ästhetik stellt eine der Haupteigenschaften des Rassismus dar.[6] Carl von Linné, dessen 1735 veröffentlichte Klassifikation der Menschen und Tiere auf die folgenden Jahrzehnte massgeblichen Einfluss ausübte, charakterisierte als Beispiel die körperlichen Eigenschaften des „homo europaeus“ wie folgt: „von weisser, rosiger Hautfarbe, muskulös, mit dichten blonden Haaren, blauen Augen“.[7] Diese ästhetischen Merkmale haben bis ins 20. Jahrhundert zur Beschreibung der sogenannten „nordischen Rasse“ gedient.

Ein knappes halbes Jahrhundert nach Linné gliederte Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), der als Begründer der modernen physischen Anthropologie gilt, die Menschheit in fünf Rassen. Er behauptete, die Schönheit des Gesichts werde durch das Klima geprägt – je gemässigter das Klima, desto schöner das Gesicht. Die Propagierung dieses Ideals der Mässigung erwies sich als folgenschwer.[8] Neben dem ästhetischen Vorbild umfasste der Idealtypus fortan auch bestimmte Verhaltensweisen, die auf Mässigung abzielten. Dieses Interesse an Moralfragen korrespondierte mit den damaligen pietistischen Bewegungen und führte schliesslich zu einem dem Rassismus anhaftenden Stereotyp.

Christian Meiner (1747-1810) unterschied in seinem einflussreichen Buch „Grundriss der Geschichte der Menschheit“ aus dem Jahre 1785 zwischen der „mongolischen Rasse“, die unter anderem gefrässig, schamlos, reizbar und egoistisch sei und den mutigen, freiheitsliebenden, mitleidigen und gemässigten „Kaukasiern“.[9]

2.2 Anthropologie und Sprachwissenschaft

Der zunehmende Kontakt mit fremden Ländern, deren Bevölkerung und die daraus entstandenen Eindrücke steigerten das Interesse, mehr über den Ursprung des Menschen und die Anfänge menschlicher Kultur, Sprache und Religion zu erfahren. Aus diesem Wunsch heraus entstand im 18. Jahrhundert die Anthropologie, die sich ausschliesslich mit der menschlichen Physis beschäftigen wollte und später die Ethnologie. Letztere gedachte die geistige und kulturelle Seite des Menschen ins Zentrum zu rücken. Ruth Römer konstatiert, bis heute sei keine Trennung der beiden Seiten des Menschen gelungen und sie sei wohl auch nicht erstrebenswert. Die Rassenideologien des 19. Jahrhunderts hätten jedenfalls Körper und Geist stets als Einheit angesehen, „nur dass sie auf der geistigen Seite keine Forschung trieb und reine Phantasie und Wunschvorstellungen dafür ausgab.“[10]

Mit der Übernahme des vom Anatomen Peter Camper eingeführten Gesichtswinkels[11] hatte die Anthropologie schon früh eine Schönheitsnorm als Klassifikationsmerkmal übernommen, an der sich bereits Blumenbach orientiert hatte.[12] Dessen klassische Anthropologie machte aber unter dem Einfluss der romantischen Naturphilosophie einer noch stärker wertenden Platz, die mitunter den Boden monogenistischer Erklärungen verliess und verschiedene Ursprünge der Menschenrassen annahm. Der Naturforscher Heinrich Steffens veröffentlichte 1822 eine zweibändige „Anthropologie“, in der er Rassen als von Anfang an körperlich und geistig verschieden betrachtete.[13]

Carl Gustav Carus (1789-1869), ein Mediziner aus Dresden, unterschied im Jahre 1849 zwischen „Tag-, Nacht- und Dämmerungsvölker“. Die kaukasisch-europäischen Völker stellte er auf der Tagseite der Menschheit dar, auf der Nachtseite die Schwarzen, dazwischen die „mongolische“ und „amerikanische Rasse“. Die symbolische Zuordnung impliziert bereits seine Urteile über die geistigen Befähigungen der verschiedenen Menschenarten. Beeinflusst von der neuesten Sprachforschung stellte Carus die Völker der Indogermanen an die Spitze der führenden Entwicklung. Alle Vorzüge der Tagvölker gäben ihnen „das Recht, sich als eigentliche Blüte der Menschheit zu betrachten“.[14]

Im Zuge der Romantik und deren Begeisterung für den Orient hatten sich europäische Sprachwissenschaftler vermehrt dem Persisch und Sanskrit gewidmet. Schon vor dem 19. Jahrhundert waren Ähnlichkeiten zwischen vorderasiatischen und europäischen Sprachen aufgefallen. Schliesslich war es Franz Bopp (1791-1867), der im Alter von 25 Jahren die Verwandtschaft der Sanskritsprache mit den griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprachen nachwies.[15] Diese neu entdeckte Sprachfamilie wurde u.a. „indogermanisch“, „indoeuropäisch“ oder auch „arisch“ genannt. Der Orientalist Friedrich Schlegel hatte dieser vermuteten Sprachverwandtschaft schon vorher (1808) einen anthropologischen Anstrich verliehen, indem er auf eine Rassenverwandtschaft schloss. Mit seiner Vermutung, dass sich im Norden Indiens durch Vermischung ein neues Herrenvolk gebildet hätte, dass dieses Volk „nach Westen ausgeschwärmt“ wäre und die grössten Nationen von diesem Stamm ausgingen, hatte er den Grundstein für den Mythos einer arischen Rasse gelegt.[16]

Schon früh beeinflussten sich die Anthropologie und Sprachwissenschaft gegenseitig. Während die einen hofften, ihre Schlüsse liessen sich mit linguistischen Argumenten stützen, liess sich die Sprachforschung dazu verleiten, Geschichte und Abstammung von Völkern und Rassen aus dem Zusammenhang der Sprachen zu erschliessen. Die Sprache bekam schliesslich einen Charakter eines physischen Merkmals und zuletzt den eines Rassenmerkmals.[17] Verhängnisvoll sollte sich die linguistische Annahme erweisen, dass „Arier“ und Semiten nicht der gleichen Sprachfamilie entspringen. Die Trennung der „Kaukasier“ in zwei Sprachfamilien und somit zwei Stammes- und Völkerverbände wurde von den Forschern als Dogma akzeptiert. Gleichzeitig tendierten viele Wissenschaftler dazu, die Arier für wertvoller zu erachten als die Semiten.[18]

2.3 Gobineau und aufkommendes Nationalbewusstsein

Arthur Comte de Gobineau (1816-1882) verwertete die Literatur der anthropologischen, linguistischen und historischen Forschung seiner Zeit für sein Werk „Essai sur l’inégalité des races humaines“ aus den Jahren 1853-1855. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde der „Essai“ rezipiert und besonders weitreichend war sein Einfluss auf den deutschen Sprachraum. Ludwig Schemann, ein Mitglied des Bayreuther Kreises um Richard Wagner und der Gründer der sog. Gobineau-Gesellschaft, widmete dessen Schriften sein Leben und verbreitete sie in Deutschland, allerdings in verfälschter und entstellter Form.[19]

Gobineau klassifizierte die Menschheit in drei Rassen, nämlich weiss, gelb und schwarz. Zu deren Beschreibung bediente er sich gängiger Stereotype. Innerhalb der überlegenen weissen Rasse stünden die Arier an der Spitze. Seine Schlussfolgerungen mündeten in tiefen Pessimismus. In den Menschen europäischer Abstammung erkannte er bereits keine reinen Rassen mehr, sie hätten das arische Blut durch Mischung herabgemindert und langfristig sei der Niedergang das sichere Schicksal der weissen Rasse.[20] Den unverdienten Ruf eines Antisemits erwarb er sich durch falsch wiedergegebene Zitate der Verbreiter seiner Werke. Die Juden rechnete er zur weissen Rasse, die mit den Ariern das Los des Niedergangs teilten.[21]

Gobineaus Thesen fielen in eine Zeit, wo die Nachwirkungen der 1848er-Revolutionen noch im Gange waren. In vielen Teilen Europas vereinnahmte das erwachende Nationalbewusstsein zusehends die Wissenschaften, was auch ein engeres Zusammengehen von Nationalismus und Rassismus zur Folge hatte. Die Grundlagen dafür waren schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet worden. Die Geschichtsschreibung hatte die geistige Verwandtschaft der durch eine gemeinsame Sprache verbundenen Völker schon um 1800 hervorgehoben. Die wiederentdeckte Beschreibung der germanischen Stämme von Tacitus aus dem Jahr 98 v. Chr., worin dieser gewisse Qualitäten der Lebensweise der Germanen lobte, wurde die Quelle der deutschen Geschichte.[22]

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vermischten sich schliesslich die Begriffe Rasse, Volk und Nation zu einem heillosen Durcheinander. Um 1860 erhielt die Anthropologie den Status einer autonomen Wissenschaft, liess sich aber noch immer Methoden und Begriffe von der Linguistik aufzwingen. Als sie begann, Sprachen und Rassen so zu behandeln, als würden sie sich decken, lieferte dies die Basis für nationale Rassen- bzw. Arierkonzepte.[23]

Nach dem preussisch-französischen Krieg versuchte der Anthropologe Armand de Quatrefages zu beweisen, dass die Preussen keine Arier oder Germanen, sondern Slawo-Finnen seien, eine Art „vorgeschichtliche Menschen“ mit einem Hang zur List und Gewalttätigkeit. In Deutschland rief diese These grosse Empörung hervor. Der deutsche Anthropologe Rudolf Virchow entkräftete schliesslich 1885 die „französische Theorie“ mit der Begründung, ausführliche Untersuchungen hätten zutage gebracht, dass die Bevölkerung in Norddeutschland überwiegend blond und blauäugig sei, was die germanische Abstammung beweise.[24]

Die Wissenschaft der Schädelforschung und die Untersuchung weiterer physischer Merkmale wurde immer intensiver betrieben. Die Einführung von Schädelindizes und eine beginnende Einteilung zwischen Lang- und Kurzschädeln hatte die Idee bestärkt, die Menschenrassen anhand von Schädeln besser definieren zu können als mit Hilfe der Sprachen.[25]

2.4 Rassismus im imperialistischen Zeitalter

Die ersten rassentheoretischen Beiträge zur Verherrlichung des Imperialismus stammen nicht zufällig aus England, also jener Weltmacht, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts über einen grossen Kolonialbesitz und einer führenden Stellung auf dem Weltmarkt verfügte.[26] Den grössten Einfluss hatte zweifellos der Darwinismus, der Englands wichtigster und weitreichendster Beitrag zur Rassentheorie darstellt.[27]

Charles Darwins (1809-1882) Epoche machendes Werk „On the origin of species by means of natural selection“ aus dem Jahr 1859 bedeutete eine Wende in der Biologie. Der Siegeslauf der physischen Anthropologie beruhte zu einem grossen Teil auf der 1871 über die Abstammungslehre erschienenen Schrift „The descent of man and selection in relation to sex“.[28] Zur Popularisierung seiner Lehre trugen viele Autoren bei. Sie übertrugen teilweise die Prinzipien der Theorie Darwins auf gesellschaftliche Vorgänge und vermengten sie mit politischen Überzeugungen. Die Schlagworte „surviving of the fittest“ und „natural selection“ wurden oft biologistisch aufgefasst und der Kolonialismus und die Ausbeutung dadurch zu rechtfertigen versucht.[29]

Die grossen wissenschaftlichen Entdeckungen – bspw. auch Mendels Vererbungsgesetze – wurden im Denken der Zeitgenossen zunehmend als „Sieg der Wissenschaft über die Naturkräfte“ und als Ausdruck des „Fortschritts der Menschheit zu Wohlstand und Glück“ interpretiert.[30] Dieses optimistische Denken wich zuweilen der Sorge vor der Degeneration. In England hatte Francis Galton (1822-1911) argumentiert, dass die Zivilisation die natürliche Auslese weitgehend ausschalte und damit eine „negative Auslese“ begünstige. Faule und Dumme sowie Kriminelle und Kranke pflanzten sich stärker fort, als die Tüchtigen und Gesunden. Dem müsse man mit geeigneten Massnahmen entgegensteuern. Mit seinen Vorschlägen zur Sterilisation, erbbiologischen Ehezeugnissen oder neomalthusianischen Massnahmen gilt Galton als Begründer der Eugenik und Rassenhygiene.[31] Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden in ganz Europa rassenhygienische Gesellschaften. In Deutschland gründete im Jahre 1905 Alfred Plötz zusammen mit dem Soziologen Richard Thurnwald, der 1919 in Ethnologie habilitierte und auch während dem Nationalsozialismus Volkskunde betrieb, die Gesellschaft für Rassenhygiene.[32]

In Teilen des gebildeten deutschen Bürgertums setzte um die Jahrhundertwende mit Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ ein regelrechter Kult ein, der „quasi-religiöse Züge annahm“.[33] Sein Postulat der künftigen Herrschaft des „Übermenschen“ über die „Vielzuvielen“ wurde oft im politischen Sinn missverstanden und ging fliessend mit dem mystisch übersteigerten Nationalismus weiter Teile der protestantischen Bildungsschichten zusammen. In „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ (erschienen 1899) vereinte Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) sozialdarwinistische Ideologien mit schwärmerischem Nationalismus zu einer völkischen Ideologie, in der er an eine besondere Sendung der deutschen Nation glaubte und daran, dass die germanische Rasse zur Führung der Welt bestimmt sei.[34]

Der aus England stammende Publizist – er bezeichnete sich selber als „Geschichtsphilosoph“ – heiratete die Tochter Richard Wagners und blieb bis zu seinem Tod im Wagner-Kreis Bayreuths. Chamberlain war einer der ersten Verfechter der seelischen Verschiedenheit der Völker. Da wohl nicht alle Deutschen wie Arier aussahen, berief er sich auf eine durch das Blut bestimmte, gemeinsame „arische Rassenseele“, die Ursprung der Ehrlichkeit, Treue und des Fleisses jedes Deutschen sei. Im raschen Ausbreiten des Pangermanismus erkannte er Anzeichen einer beginnenden Entfaltung der nordischen oder arischen Rasse. Mit der Behauptung, Jesus sei kein Jude, sondern der uneheliche Sohn eines germanischen Kriegers – also ein Arier [!] – gewesen, versuchte er seine Theorie mit seinem christlichen Glauben in Einklang zu bringen.[35] Seiner Meinung nach waren die Juden der Kern alles Schlechten. Eine historische Schlacht zwischen Ariern und Juden habe in der Zukunft darüber zu entscheiden, ob der niedere jüdische Geist über die arische Seele siegen und die Welt mit sich herabziehen werde.[36]

[...]


[1] Benoît Massin, Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte?, in: Heidrun Kaupen-Haas / Christian Saller (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a.M. 1999, S. 12-64, hier S. 12f.

[2] Ebd., S. 42f.

[3] Ebd., S. 12.

[4] Zu erwähnen sind u.a. die ausführliche Darstellung über Eugen Fischer: Niels C. Lösch, Rasse als Konstrukt: Leben und Werk Eugen Fischers, Frankfurt a.M. 1997 sowie jene über den Schweizer Anthropologen Otto Schlaginhaufen: Christoph Keller, Der Schädelvermesser. Otto Schlaginhaufen – Anthropologe und Rassenhygieniker, Zürich 1995.

[5] Gerhard Hauck, Vom „faulen Neger“ zum „Egoismus der Gene“ – Über Kontinuität und Wandel rassistischer Denkfiguren in der Ethnologie, in: Peripherie, Nr. 61,1996, S. 88-103, hier S. 88.

[6] Georg L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a.M. 31994, S. 29.

[7] Übersetzt von Ruth Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland, München 21989, S. 18.

[8] Mosse, Geschichte des Rassismus, S. 37.

[9] Ebd.

[10] Römer, Sprachwissenschaft, S. 14.

[11] Der Winkel, den eine gedachte Linie zwischen Lippe und Stirn zu einer gedachten Horizontalen quer über den Kopf bildet. Ein Winkel von 80 Grad wurde als ideal angesehen, weniger als 70 Grad schrieb man Negern, Affen und weiter absteigenden „primitiven“ Lebewesen zu. Siehe: Römer, Sprachwissenschaft, S. 19.

[12] Mosse, Rassismus, S. 47.

[13] Römer, Sprachwissenschaft, S. 21.

[14] Zitiert nach Werner Conze, Rasse, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135-178, hier S. 154, dort nach Carl Gustav Carus, Denkschrift zum 100jährigen Geburtsfeste Goethes. Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige Entwicklung, Leipzig 1849, S. 121.

[15] Römer, Sprachwissenschaft, S. 51.

[16] Léon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien 1977, S. 214-216.

[17] Römer, Sprachwissenschaft, S. 40f.

[18] Conze, Rasse, S. 160.

[19] Mosse, Rassismus, S. 80f.

[20] Römer, Sprachwissenschaft, S. 30.

[21] Mosse, Rassismus, S. 79.

[22] Ebd., S. 72.

[23] Poliakov, Der arische Mythos, S. 295f.

[24] Ebd., S. 308.

[25] Ebd., S. 306.

[26] Lilli Segal, Die Hohenpriester der Vernichtung. Anthropologen, Mediziner und Psychiater als Wegbereiter von Selektion und Mord im Dritten Reich, Berlin 1991, S. 23.

[27] Mosse, Rassismus, S. 95.

[28] Römer, Sprachwissenschaft, S. 16.

[29] Ebd.

[30] Wolfgang J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat 1850 bis 1890, in: Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 7 Erster Teil, Frankfurt a.M. 1993, S. 778.

[31] Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 628.

[32] Peter Weingart / Jürgen Kroll / Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 201.

[33] Mommsen, Ringen um nationalen Staat, Bd. 7 Erster Teil, S. 787.

[34] Ebd., S. 790f.

[35] Segal, Hohenpriester der Vernichtung, S. 32f.

[36] Mosse, Rassismus, S. 128f.

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Rassentheorien deutscher Anthropologen vor und während des 1. Weltkriegs
Hochschule
Universität Bern  (Historisches Institut)
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
44
Katalognummer
V17299
ISBN (eBook)
9783638219037
ISBN (Buch)
9783640857753
Dateigröße
689 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit untersucht drei führende Universitätsprofessoren der deutschen Anthropologe (heutige Ethnologie) auf Rassismus, Antisemitismus und völkisches Gedankengut. Darin eingebettet ist die Geschichte des modernen Rassismus und die Entwicklung der deutschen anthropologischen Wissenschaft.
Schlagworte
Rassentheorien, Anthropologen
Arbeit zitieren
Michael Vetsch (Autor:in), 2001, Rassentheorien deutscher Anthropologen vor und während des 1. Weltkriegs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17299

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