Discrimination in the Name of Neutrality? Zum staatlichen Umgang mit der Religionsfreiheit

Deutschland, Frankreich und die Schweiz im Vergleich


Magisterarbeit, 2010

132 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Thematische Einführung
1.2 Exposee der Fragestellung
1.3 Forschungsstand
1.4 Relevanz des Themas
1.5 Theoretischer Kontext
1.6 Methodik
1.7 Begriffe und Definitionen
1.8 Aufbau

2. Discrimination in the Name ofNeutrality - Der Bericht von Human Rights Watch

3. Europäische bzw. internationale Ausgangslage

4. Deutschland
4.1 Einleitung
4.1.1 Das deutsche Kooperationsmodell
4.1.2 Hintergründe zum Islam in Deutschland
4.2 Staatlicher Umgang mit dem Kopftuch
4.2.1 Gesetzeslage
4.2.2 Rechtsprechung
4.2.3 Politisch-öffentliche Debatte
4.3 Staatlicher Umgang mit dem Minarett
4.3.1 Gesetzeslage
4.3.2 Rechtsprechung
4.3.3 Verwaltungspraxis
4.3.4 Politisch-öffentliche Debatte
4.4 Zwischenfazit

5. Frankreich
5.1 Einleitung
5.1.1 Der französische Laizismus
5.1.2 Hintergründe zum Islam in Frankreich
5.2 Staatlicher Umgang mit dem Kopftuch
5.2.1 Gesetzeslage . 5.2.2 Rechtsprechung
5.2.3 Politisch-öffentliche Debatte
5.3 Staatlicher Umgang mit dem Minarett 5.3.1 Gesetzeslage
5.3.2 Rechtsprechung
5.3.3 Verwaltungspraxis
5.3.4 Politisch-öffentliche Debatte
5.4 Zwischenfazit

6. Schweiz
6.1 Einleitung
6.1.1 Das schweizerische Verhältnis von Staat und Religion
6.1.2 Hintergründe zum Islam in der Schweiz
6.2 Staatlicher Umgang mit dem Kopftuch
6.2.1 Gesetzeslage
6.2.2 Rechtsprechung
6.2.3 Politisch-öffentliche Debatte
6.3 Staatlicher Umgang mit dem Minarett
6.3.1 Gesetzeslage
6.3.2 Rechtsprechung
6.3.3 Verwaltungspraxis
6.3.4 Politisch-öffentliche Debatte
6.4 Zwischenfazit

7. Vergleichende Analyse
7.1 Vergleich der nationalen Rahmenbedingungen
7.2 Vergleich des staatlichen Umgangs mit dem Kopftuch
7.3 Vergleich des staatlichen Umgangs mit dem Minarett
7.4 Analytische Gesamtbetrachtung

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

10. Anmerkung des Autors

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb.l : Übersicht der Operationalisierung

Abb.2: Klassifikation staatlichen Umgangs mit Kopftuch und 65 Minarett in Deutschland

Abb.3: Klassifikation staatlichen Umgangs mit Kopftuch und 81 Minarett in Frankreich

Abb.4: Klassifikation staatlichen Umgangs mit Kopftuch und 98 Minarett in der Schweiz

Abb.5: Das allgemeine Verhältnis der drei Länder zu den Religionen

Abb.6: Statistische Daten über Muslime im Überblick

Abb.7: Überblick über die Geltungsbereiche der Verbotsgesetze

Abb.8: Klassifikation der Konsequenz und der Dynamik des 106 staatlichen Handelns

Abb.9: Klassifikation des staatlichen Handelns

„Zwei Reisende auf einer Landstrasse - der eine unterwegs Richtung Osten, der andere gen Westen - können leicht aneinander vorbei, wenn die Strasse nur breit genug ist. Zwei Männer, die über gegensätzliche religiöse Prinzipien streiten, können einanderjedoch nicht so leicht ohne Erschütterungen passieren, obwohl man davon ausgehen kann, dass der Weg auch in diesem Fall breit genug wäre undjeder ohne Unterbrechung auf seinem eigenen Kurs fortfahren könnte. Doch die Natur des menschlichen Geistes ist so beschaffen, dass er sichjedes herannahenden Geistes bemächtigt und durch eine Übereinstimmung der Meinungen wundersam bestärkt, durch jeden Widerspruch aber ebenso erschüttert und verstört wird.

Daher rührt der Eifer, den die meisten Menschen in einer Auseinandersetzung entwickeln, und daher auch ihre Ungeduld mit Widerspruch sogar bei überaus spekulativen und gleichgültigen Meinungen.“

-David Hume(1711-1776)-

1. Einleitung

1.1 Thematische Einführung

Im Februar 2009 veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) einen Bericht über Deutschland und dessen Umgang mit Religionsfreiheit. Der Bericht mit dem Titel Discrimination in the Name of Neutrality. Headscarf Bans for Teachers and Civil Servants in Germany1 (HRW 2009a) erörtert die kurz nach der Jahrtausendwende erlassenen Gesetze einiger Bundesländer 2 zum Verbot des Tragens religiöser Symbole durch Lehrkräfte und deren Auswirkungen. Der Titel beschreibt hierbei treffend, wenn auch bereits wertend, die Gratwanderung politischen Handelns im Umgang mit Religionsfreiheit, nämlich einerseits staatliche Neutralität zu wahren ohne andererseits die Religionsfreiheit einzuschränken.

Ohne den Schlussfolgerungen von HRW folgen zu müssen, kann festgestellt werden, dass auch andere westeuropäische Staaten neben Deutschland im Umgang mit der Religionsfreiheit vor Herausforderungen standen oder noch stehen. Das ist unter anderem bei den derzeitig in Europa weit verbreiteten Integrationsdebatten (Süddeutsche.de 2010) zu beobachten. Andererseits wird dies erkennbar in den Gesetzesvorhaben der letzten Jahre. So hat Frankreich in 2004 das Tragen von religiösen Symbolen und Kleidung für Schüler verboten, welche eine Religionszugehörigkeit sichtbar erkennen lassen (Ganz 2009: 90). Und gerade im September 2010 hat der französische Senat einem Burka-Verbot in der Öffentlichkeit zugestimmt (tagesschau.de 2010).3 Während die Schweiz zwar kein flächendeckendes Verbot von religiösen Symbolen in Schulen erlassen hat, wurdejedoch Ende November 2009 der Bau von Minaretten verboten (HRW 2009b, Amnesty International (AI) 2009). Diese Debatten um den Islam in Europa, um Religionsfreiheit und Integration, vor allem aber auch deren politische Verarbeitung, sind im vergangenen Jahrzehnt auch in die politikwissenschaftliche Diskussion eingezogen. In der Zeitschrift für Politikwissenschaft schreibt Religions- und Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener (2005: 1181) beispielsweise, vor dem Hintergrund der deutschen Kopftuchdebatte, von einem „Testfall für eine neue Religionspolitik“. Die eben genannten Beispiele, zusammen mit denen aus Deutschland, die der HRW-Bericht darstellt4 sowie deren mediales Echo (Bundeszentrale für politische Bildung 2005)5 werfen in der Tat auch viele politikwissenschaftliche Fragen auf, von denen einige hier untersucht werden sollen.

Obwohl Frankreich, Deutschland und die Schweiz allesamt Vertragspartner (Europarat 2010) der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sind und ein vergleichbares Niveau an Grundrechten garantieren, unterscheidet sich der Umgang mit der Religionsfreiheit in den einzelnen Ländern, zumindest wenn man die Gesetzesgegenstände betrachtet. Nach einer ersten Annäherung an das Thema stellt sich nun die Frage, weshalb ein Staat beispielsweise ein Kopftuchverbot für notwendig erachtet und ein anderer Staat ein Minarettverbot. Dies wäre insbesondere im Rahmen einer policy-Analyse von Interesse. Hierfür bedarf es jedoch zunächst eine empirisch-explorative Untersuchung der Details, wie sich die Staaten tatsächlich verhalten haben. Einen besonders gewinnbringenden Beitrag scheint dabei die vergleichende Politikwissenschaft leisten zu können, da es um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Bezug auf den staatlichen Umgang mit der Religionsfreiheit geht. Bezüglich der genaueren Gegenstände des staatlichen Umgangs mit der Religionsfreiheit lassen die oben genannten Beispiele auch schon eine Feststellung zu: der Großteil dieses staatlichen Handelns betrifft die Religionsfreiheit der Muslime. Und noch genauer: Die kürzlichen Gesetzesänderungen betreffen vor allem das muslimische Kopftuch und das Minarett.6 In dieser Arbeit wird daher ein Vergleich von Deutschland, Frankreich und der Schweiz angestrebt, der den staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit in Hinblick auf die religiösen Symbole Kopftuch und Minarett untersucht. Es sollen vor allem die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Umgang mit diesen zwei Symbolen herausgearbeitet werden.

Dafür wird die Fragestellung vor dem Hintergrund der hier ausgeführten thematischen Einführung im anschließenden Kapitel präzisiert. Darauf folgend wird, weiterhin zum besseren Verständnis der Fragestellung und des Themas dieser Arbeit, ein Blick auf den derzeitigen Forschungsstand bzw. dessen kurze Entwicklungsgeschichte geworfen. Daran anschließend wird dann die politikwissenschaftliche und allgemeine Relevanz dieser Arbeit diskutiert.

In der Vorbereitung der Umsetzung der Arbeit ist es weiterhin notwendig den theoretischen Kontext näher zu erläutern und die für die Fragestellung und diesen Kontext angemessene Methodik darzustellen. Daraufhin bedarf es noch begrifflicher Klärungen und eine Erläuterung der hier verwendeten Definitionen, um Missverständnissen vorzubeugen. Das diese Einleitung abschließende Kapitel zum Aufbau der Arbeit legt den Verlauf der einzelnen Untersuchungsschritte offen und begründet, insofern notwendig, die dazu getroffenen Entscheidungen.

1.2 Exposee der Fragestellung

Die zentrale Fragestellung dieser Untersuchung lautet:

Wie gehen Deutschland, Frankreich und die Schweiz aus Sicht der vergleichenden Politikwissenschaft mit Religionsfreiheit im Hinblick auf die religiösen Symbole muslimisches Kopftuch und Minarett um?

Für die nähere Erläuterung der Fragestellung ist es sinnvoll, deren einzelne Bestandteile entlang des Titels dieser Arbeit zu diskutieren. Der englische Teil des Titels, Discrimination in the Name of Neutrality, bildet dafür den Ausgangspunkt. Die These von HRW, dass im staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit im Namen der Neutralität diskriminiert werde, soll hier allerdings nicht auf ihre Plausibilität geprüft werden. Vielmehr bildet diese These den Rahmen für die vorliegende empirische Untersuchung der Sachlage, welche dann als wissenschaftliche Voraussetzung einer angemessenen Analyse der These im Anschluss an diese Arbeit gelten kann.7

Des Weiteren ist auch dem Titelbestandteil Zum Beachtung zu schenken, denn es handelt sich hier um einen Beitrag zu diesem Themenfeld und nicht etwa um eine umfassende Analyse an sich. Dies ist umso wichtiger zu beachten, als dass weder die drei im Fokus stehenden Länder noch die Auswahl der religiösen Symbole im Rahmen einer theoretisch fundierten Fallauswahl gewählt wurden und somit auch keinen Anspruch einer repräsentativen Analyse des staatlichen Umgangs mit der Religionsfreiheit erheben können und wollen.8

Unter der Begrifflichkeit des staatlichen Umgangs soll in dieser Arbeit verstanden werden, welche relevanten Gesetze erlassen, wie diese Gesetzeslage von den Gerichten interpretiert und wie sie von der Verwaltung umgesetzt wurden. Letzteres wird nur dann Teil der Analyse werden, wenn sich relevante Besonderheiten auffinden. Somit werden die drei staatlichen Gewalten Legislative, Judikative und Exekutive in die Analyse einfließen. Im Sinne der Systemanalyse (Patzelt 52003 : 214f.) soll auch der öffentlichen Debatte in ihrer Funktion als Input und als Feedback für das politische System ein Teil des Vergleichs gewidmet werden.

Unter dem Begriff der Religionsfreiheit werden im Kontext dieser Arbeit das muslimische Kopftuch und das Minarett untersucht, weil sie faktisch die größte politische Resonanz in den drei Staaten erzielten. „Zudem ging es in allen [deutschen] Gerichtsverfahren, die bislang im Zusammenhang mit den Gesetzen eingeleitet wurden, um Frauen mit Kopftuch“, beschreibt HRW (2009a: 2) die tatsächliche Wirkung der Gesetze. In der Schweiz bedarf es keiner solchen Schlussfolgerung, da die Volksinitiative unter dem Namen Gegen den Bau von Minaretten lief (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement 2010) und somit selbsterklärend ist. Dass sich mit der Religionsfreiheit selbst auch im Hinblick auf den Islam noch weitere interessante Themen untersuchen ließen, steht hierbei außer Frage. Die Juristin Barbara Gartner tut dies neben dem Kopftuch zum Beispiel auch für den Schwimmunterricht, das Schächten, den Religionsunterricht und das muslimische Bestattungswesen (Gartner 2006). Darüber hinaus könnte beispielsweise auch eine Untersuchung der Zeugen Jehovas oder Scientology Aufschlüsse über den staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit ermöglichen.9

Die Auswahl der Länder Deutschland, Frankreich und Schweiz erfolgte, wie aus der thematischen Einführung abzuleiten ist, nicht nach theoriegeleiteten Auswahlprinzipien, sondern aus wissenschaftlicher Neugier an den jüngsten staatlichen Aktivitäten zum Kopftuch und zu Minaretten in diesen Ländern. In welcher Form dadurch das Forschungsdesign dieser Arbeit beeinflusst wurde, wird sich im weiteren Verlauf der Einleitung zeigen.

Schließlich schickt der Titel voraus, dass es sich um einen Vergleich handelt. Auf die Wahl der Methodik bzw. deren theoretischer Kontext wird in Kapitel 1.5 und auf deren Ausgestaltung in Kapitel 1.6 eingegangen. Das Ziel des Vergleichs liegt darin, Unterschiede und Gemeinsamkeiten im staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit herauszuarbeiten. In allen drei Ländern sollen dazu die staatlichen Umgangsformen mit beiden Symbolen, dem Kopftuch und dem Minarett, verglichen werden, um schließlich eine Klassifizierung staatlichen Handelns vornehmen zu können.

Die Frage, wie Deutschland, Frankreich und die Schweiz mit Religionsfreiheit im Hinblick auf die beiden oben genannten Symbole umgehen, soll dabei auf empirisch­analytische Weise betrachtet werden; es handelt sich nicht um eine normativ­ontologische Erörterung der Frage, was das richtige staatliche Handeln sein könnte oder wie dieses zu beurteilen wäre.

Der Beobachtungszeitraum liegt dabei auf den letzten zehn Jahren, also den Geschehnissen seit der Jahrtausendwende. In einigen begründeten Fällen ist es notwendig, den Beobachtungszeitraum auf die letzten zwanzig Jahre auszuweiten. Dies mag einerseits notwendig sein, wenn die Anfänge der Auseinandersetzungen in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts liegen und andererseits, wenn beispielsweise im Bereich der Rechtsprechung vergangene Urteile Gültigkeit für die heutige Zeit besitzen.

1.3 Forschungsstand

Den Ausgangspunkt islambezogener Forschung im Verhältnis von Religion und Politik bildet oftmals das Werk des Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington The clash of civilizations (1997). Huntington beschreibt darin die viel diskutierte und zitierte These, dass die zukünftigen internationalen Konflikte zwischen den Kulturen stattfinden würden. Insbesondere sieht Huntington die Gefahr eines Konflikts zwischen den westlichen und den muslimischen Kulturkreisen. Seine Thesen können als Hinweis auf die Herausforderungen für den staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit gesehen werden. Im Jahr 2002 hatte der Professor für internationale Beziehungen an der Frankfurter Universität Harald Müller (2002: 573f.) dann gezeigt, dass sich die These vom Kampf der Kulturen als nicht geeignet erwies. Huntington hatte, laut Müller, die Kultur als zu statisch und dominant missverstanden, die Komplexität innerhalb einer Kultur verfehlt und auch die verbindenden Elemente zwischen den Kulturen unterschätzt. Müller relativiert somit die Aussage Huntingtons, hinterlässt aber ein äußert komplexes Forschungsgebiet um Politik, Religion und Kultur.

Wie genau sich die Staaten nun mit diesem komplexen Feld auseinandersetzen, war schon relativ10 häufig Thema neuerer politikwissenschaftlicher Forschung. Der Kopftuchstreit in den Jahren 2004 und 2005 hat besonders in Frankreich und Deutschland eine Vielzahl von Forschungsunternehmungen hervorgebracht (Berghahn/ Rostock/ Nöhring 2009; Blumenthal 2009; Delmas 2006; Ganz 2009; Haug/ Reimer 2005; Schencker 2007). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kopftuchstreit in der Schweiz war hingegen weniger umfangreich (Kley 2010; Bauer 2007; Hangartner 2005), aufgrund der sprachlichen Gemeinsamkeiten mit Deutschland können aber auch gemeinsame Forschungsleistungen festgehalten werden (Wyttenbach 2009). Für den Umgang mit dem Minarett hingegen gilt es zu beachten, dass die Schweizer Volksinitiative erst Ende 2009 stattgefunden hat, somit die Zahl der wissenschaftlichen Abhandlungen insgesamt etwas geringer ausfällt (Kley 2010). In Frankreich hat das Minarett im fachlichen Diskurs schlicht kaum Einzug erhalten und in Deutschland existieren auch nur recht wenige Untersuchungen (Oebbecke 2006; Schmitt 2003). Größeren Output generierte das Thema aber bei den Menschenrechtsorganisationen (AI 2009, 2010; HRW 2009b, e) und in den Medien. In besonderer Weise von Belang sind auch die vielen juristischen Analysen zum Thema Religionsfreiheit, sowie zu den erlassenen Gesetzen und gesprochenen Gerichtsurteilen (EuGRZ 2003; Kinzinger-Büchel 2009; Nay 2005; Sicko 2008).

Wollte man, auch wenn diese Arbeit nicht das Ergebnis einer Suche nach Forschungsdesideraten ist und selbst auch keine Forschungsleistung an sich erbringen soll, ein Forschungsdesiderat ausfindig machen, so könnte dies unter anderen eine bereits genannte bivariate oder gar multivariate Untersuchung sein, die der Komplexität11 der politisch und religiös-kulturellen Realität Rechnung trägt. In einem empirisch explorativen Sinne wird dies mit der Untersuchung von Kopftuch und Minarett getan.

1.4 Relevanz des Themas

Die Relevanz des Themas ergibt sich einerseits aus der Wichtigkeit für die Politikwissenschaft und andererseits für die Öffentlichkeit. Für ersteres bedarf es umfangreicherer Erläuterungen als für letzteres, da, wie bereits oben erkennbar, die öffentliche Debatte noch immer im Gang ist.

Für die Betrachtung der politikwissenschaftlichen Relevanz gilt es zu beachten, dass diese Arbeit keine Forschungsleistung im engeren Sinne erbringt, sondern als eine Sekundäranalyse angelegt ist. Die Relevanz kann sich daher nicht an der Forschungsleistung bemessen. Dennoch können durch eine Sekundäranalyse Erkenntnisse über das Wie im Umgang mit Religionsfreiheit erarbeitet werden. Insbesondere der Vergleich bietet Einblick in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede und kann somit der Identifikation von Wirkungszusammenhängen dienen. Zu den bereits vorhanden Untersuchungen auf diesem Themengebiet, so zeigt der Forschungsstand, erbringt die Ermittlung der empirischen Situation zweier Gegenstände zusätzlichen wissenschaftlichen Nutzen. Aber auch jenseits der Frage, welche Forschungsdesiderate in dieser Arbeit bedient werden könnten,12 fugt sie sich in den hermeneutischen Zirkel der politikwissenschaftlichen Debatte ein. Die hier erarbeiteten empirischen Erkenntnisse bieten Anknüpfungspunkte fur weitere Untersuchungen und zur Theoriebildung.

Die Relevanz für die Öffentlichkeit betreffend könnte die Existenz einer öffentlichen Debatte als notwendiges Kriterium für den Beweis der Wichtigkeit aufgefasst werden.13 Sodann wären folgende Argumente als hinreichend zu betrachten: Im Jahr 2006 hatte die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (2006: 29) die Zahl der Muslime in der EU auf 13 Mio. geschätzt.14 In der EU haben Frankreich (5 Mio.) und Deutschland (4 Mio.) die in absoluten Zahlen größten muslimischen Gemeinden. Und auch wenn beispielsweise die Zahl der Lehramtsbewerberinnen mit Kopftuch oder Pläne von Moscheen mit Minaretten zahlenmäßig vergleichsweise gering sind, so finden sich diese Fälle oftmals im Zentrum der politischen Prozesse,15 was den staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit anbelangt. Darüber hinaus zeigt die Art der öffentlichen Debatte, dass eine empirische Analyse, die zur Entemotionalisierung beitragen kann, nutzbringend sein kann.

1.5 Theoretischer Kontext

Dieser Arbeit liegt kein theoretischer Hintergrund per se zugrunde. Im Rahmen des Exposees der Fragestellung wurde bereits angedeutet, dass die Auswahl der Länder und der untersuchten Gegenstände ohne theoretischen Bezug erfolgt ist. Es scheint zunächst ungewöhnlich, doch der eigentliche Kontext dieser Arbeit ergibt sich schlicht aus der wissenschaftlichen Neugier. In einem explorativen Sinne sollen genau diese Länder und auch nur diese Gegenstände vergleichend untersucht werden. Dass hierin dennoch ein gleichwertiges wissenschaftliches Vorgehen begründet liegt, unterstützt beispielsweise der amerikanische Politikwissenschaftler B. Guy Peters (1998: 57):

“It may be that the purpose of the research is not so much to find the cause of a particular phenomenon, but rather is more exploratory, looking at an interesting phenomenon and attempting to understand better something of its nature. [...] We tend to focus attention on the uses of comparative research for theory testing and falsification, and often forget that there are more exploratory uses that are equally valid.”

Vielmehr bildet daher die Methode des Vergleichs selbst den theoretischen Kontext.

Deshalb soll an dieser Stelle das Ziel des Vergleichs und dessen generelle Konzeption als Kontext vorgestellt werden.

Dieses Ziel liegt in der Beschreibung und Systematisierung von Beobachtungen und somit der Erstellung von Klassifikationen (Lauth/ Winkler 22006 : 38). Dabei steht das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie von Zusammenhängen im Vordergrund. Verglichen wird im Rahmen einer Sekundäranalyse der staatliche Umgang mit Religionsfreiheit, wie Deutschland, Frankreich und die Schweiz ihn bezogen auf das muslimische Kopftuch und Minarett gestalten. Für die im methodischen Aufbau der Arbeit zu beschreibenden Details bedeutet dies, dass der Vergleich dieser drei Länder prinzipiell parallel einmal für das Kopftuch und einmal für das Minarett durchgeführt werden wird, um erst im Anschluss die jeweiligen Erkenntnisse vergleichend gegenüberzustellen.

Im Kapitel 1.3 wurde bereits erwähnt, dass die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung als Basis für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen, insbesondere mit der Frage, warum die Staaten unterschiedliche Umgangsweisen mit Religionsfreiheit praktizieren, der weiteren Theoriebildung dienlich sein können. So gesehen ist ein Teil des Kontextes dieser Untersuchung die wissenschaftliche Debatte, für welche hier ein empirischer Beitrag geleistet werden soll.

Bevor nun die Details der hier zugrunde gelegten Methodik erläutert werden, sind noch die Konsequenzen dieses besonderen theoretischen Kontextes zu klären: die Ergebnisse können nicht repräsentativ als der staatliche Umgang mit Religionsfreiheit eingeordnet werden, da nicht nur das Fehlen eines theoretischen Kontextes dies unmöglich macht, sondern auch eine adäquate und somit aussagekräftige Fallauswahl unter diesen Umständen nicht gegeben ist. Es kann daher auch keine Falsifizierung bisher ergangener wissenschaftlicher Untersuchungen stattfinden und auch keine Bildung neuer Hypothesen/Theorien. Es geht nur um die Exploration von Fakten und Wirkungszusammenhängen innerhalb eines Politikbereichs.

1.6 Methodik

Aus dem im vorausgegangenen Kapitel dargelegten Kontext ergeben sich einige Besonderheiten für die hier zu diskutierende Methodik. Bereits die klassische Vorgehensweise bei einer vergleichenden Analyse (Lauth/ Winkler 22006 : 43) bedarf einiger Anpassungen: das Forschungsdesign als solches geht nicht aus einem theoretischen Kontext hervor, sondern aus der wissenschaftlichen Neugier und den Erfordernissen eines Vergleichs. In diesem Sinne werden auch die abhängige und die unabhängigen Variablen nicht aus Hypothesen oder Theorien abgeleitet, sondern sind als wissenschaftstechnische Begrifflichkeiten zu verstehen.

Zum Vergleich steht also der staatliche Umgang mit Religionsfreiheit in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Dies ist das zu erklärende Phänomen und somit technisch gesehen die abhängige Variable. Die dieses Phänomen erklärenden Variablen, also die unabhängigen Variablen, sind der staatliche Umgang mit dem muslimischen Kopftuch und der staatliche Umgang mit dem Minarett. Die Indikatoren für diese zwei unabhängigen Variablen sollenjeweils die Gesetzeslage, die geltende Rechtsprechung16 und die politisch-öffentlichen Debatten sein. Bezüglich des Minaretts wird außerdem die Verwaltungspraxis untersucht, weil in der Anwendung des Bau- und Raumplanungsrechts beispielsweise die deutschen und die französischen Kommunen über die Baugenehmigung von Minaretten entscheiden Die beiden unabhängigen Variablen werden zunächst einzeln und parallel untersucht. Erst im Anschluss werden die Länder dann miteinander verglichen um Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen. Hierbei wird es zusätzlich möglich sein, im Kontext der verwendeten Methodik nicht beachtete Variablen oder Indikatoren zu identifizieren.17 Dies verdeutlicht ebenfalls den explorativen Charakter des Forschungsdesigns.

Daraus ergibt sich die folgende tabellarische Übersicht über die Operationalisierung der Fragestellung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Übersicht der Operationalisierung

Der Vergleich erfolgt durch eine Sekundäranalyse der Daten über die einzelnen Indikatoren, also beispielsweise der Gesetzestexte über das Tragen von Kopftüchern und deren Rezeption in politikwissenschaftlicher, aber auch juristischer Fachliteratur. Gleiches gilt in ähnlicher Weise für die Rechtsprechung, sowie für das Minarett18 und auch für die politisch-öffentlichen Debatten. Für letzteres werden neben der Fachliteratur auch Stellungnahmen und Berichte von relevanten Akteuren wie Parlamentsausschüssen, Kommissionen und Ministerien, teilweise auch die Plenardebatten selbst und des Weiteren Zeitungsartikel untersucht.19

Weiterhin ergeben sich aus der spezifischen Fragestellung und dem besonderen theoretischen Rahmen bereits methodische Fakten, die sich sonst erst aus der Operationalisierung ergeben hätten. Dies trifft zum Beispiel auf die Wahl der Länder zu, die somit eine methodische Fallauswahl obsolet machen. Und auch die Wahl der religiösen Symbole, die durch neuerliche Gesetze auf sich aufmerksam gemacht haben, ist bereits getroffen. Selbst die Indikatoren waren schon, wenn auch wohl intuitiv operationalisiert, vor dem Entwurf des Forschungsdesigns Teil des Forschungsinteresses. Gleichwohl hält diese methodische Konstruktion, wie die Ausführungen von Peters gezeigt haben, einer Plausibilitätsprüfung stand. Denn im Rahmen einer explorativen Untersuchung ist es sogar als Notwendigkeit zu betrachten, sich der Ausgangspunkte der Untersuchung im Voraus bewusst zu werden.

Im Detail finden sich dennoch Fragen, die auch im Kontext der Operationalisierung diskutiert werden müssen. Zuerst wird im Falle Deutschlands gezeigt werden können, dass der staatliche Umgang mit Religionsfreiheit großenteils auf der Ebene der Bundesländer geschieht. Letztlich würde dies rein theoretisch bedeuten, pro Symbol 16 verschiedene Umgangsformen zu untersuchen. Daher soll an dieser Stelle eine entsprechende Auswahl getroffen und begründet werden. Bezüglich des Kopftuchs unterscheidet HRW in seinem Bericht drei Kategorien von Bundesländern: 1. Bundesländer, die das Kopftuch verbieten, aber Ausnahmen für christliche Symbole vorsehen; 2. Bundesländer, die das Kopftuch verbieten, aber ohne ausdrückliche Ausnahmen für christliche Symbole und 3. die, die keine Verbote vorgenommen haben. Aus der ersten Kategorie wird Baden-Württemberg (BW) ausgewählt, weil dort das erste Verbotsgesetz Deutschlands erlassen wurde und sich somit im Bereich der politisch-öffentlichen Debatte auch ein Blick auf die Entstehung der Diskussion in Deutschland ermöglicht. In der zweiten Kategorie soll Berlin untersucht werden, da dies laut HRW nicht nur auf Ausnahmen verzichtet, sondern diese auch praktiziert.20 Als Beispiel für die Bundesländer ohne Verbot soll Schleswig-Holstein untersucht werden, weil es zwar ein Verbotsgesetz eingeleitet hat, sich letztlich aber dagegen entschieden hatte. Dies erlaubt einen Seitenblick auf die Hintergründe der Entscheidungen, auch wenn die empirische Umgangsform im Fokus bleibt.

Für das Minarett wird sich zeigen, dass eine solche Unterscheidung nach Bundesländern wenig sinnvoll wäre, da die Entscheidungen über Bauprojekte auf Städte- und Gemeindeebene getroffen werden. Für die Auswahl der Beispiele finden sich dennoch, aus rein logischer Sicht, ähnliche Kriterien wie für das Kopftuch: 1. Fälle, in denen der Bau eines Minaretts erlaubt wurde, 2. Fälle, in denen der Bau mit Auflagen verbunden wurde und 3. Fälle, in denen der Bau untersagt wurde. Für die Untersuchung zum Minarett gilt es die unterschiedliche Perspektive zu beachten. Während im Fall des Kopftuchs der Staat über den Umgang mit Staatsbediensteten entscheiden musste, also welche Rolle er selbst einnehmen möchte, bedeutet staatliches Handeln bezüglich des Minaretts vor allem Wahrung des Allgemeinwohls, Streitschlichtung und Minderheitenschutz.

In der Schweiz findet sich insofern eine zu Deutschland ähnliche Situation, als dass der staatliche Umgang mit Religion hauptsächlich auf der Ebene der Kantone stattfindet. Bezüglich des Kopftuchs sind zwar keine unterschiedlichen Gesetze von den Kantonen erlassen worden, aber per Gericht oder Verwaltungspraxis unterschiedliche Umgangsformen entstanden. Daher wird Genf untersucht, weil hier gerichtlich ein faktisches Kopftuchverbot festgestellt worden ist. Die restlichen 25 Kantone werden bezüglich des Kopftuchs nicht betrachtet, da sich deren Umgang mit dem Kopftuch aus den nationalen Gesetzen ergibt. Auch das Minarett betreffend, da dies per Volksentscheid in der Bundesverfassung verboten wurde, ist lediglich eine gesamtstaatliche Betrachtung notwendig.

Im Falle des zentralstaatlichen Frankreichs ist eine methodische Auseinandersetzung mit der spezifischen Fallauswahl nicht notwendig, da sämtliche Gesetze, Gerichtsurteile und Debatten auf das ganze Land bezogen sind, sowohl was das Kopftuch betrifft als auch das Minarett. Lediglich im Umgang mit dem Minarett wird zusätzlich die Verwaltungspraxis untersucht, da die Entscheidung über die Ausgestaltung eines Bauvorhabens auf regionaler Ebene geschieht. Die Auswahl von beispielhaften Fällen folgt der selben Logik, wie sie oben bereits beschrieben worden ist.

Schließlich ist es notwendig, sich über die Art der Ergebnisse bewusst zu werden. Im Anschluss an die empirischen Untersuchungen sollen die Verhaltensweisen der jeweiligen Länder schließlich klassifiziert werden. Die hier verwendeten Begriffe orientieren sich an Begriffen, die vor allem in der juristischen Forschung verwendet werden: offen neutral, strikt neutral oder diskriminierend. Diese Begriffe entsprechen einer empirischen Logik und bedürfen daher keiner theoretischen Fundierung, wohl aber der begrifflichen Erläuterung. Offene Neutralität ist “[...] als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen” (Wiese 2008: 148). “Seine Neutralität wahre der Staat durch eine gleichmäßige Berücksichtigung aller Religionen und Weltanschauungen” (ebd.: 149).

Staatlicher Umgang nach dem strikten Neutralitätsgebot bedeutet hingegen, mit den Worten von der Rechtswissenschaftlerin Kirsten Wiese (2008: 146), dass “[...] jede Form des Zusammenwirkens zwischen Staat und Religion verboten [ist].” Neutralität steht damit für eine strikte Trennung von Staat und Religion. Wenn Staaten der Religion gegenüber weder offen noch strikt neutral sind, dann, so die begriffliche Logik, könnten sie sich nur noch diskriminierend verhalten. Aufgrund des hohen Menschenrechtsstandards in den drei zu untersuchenden Ländern müsste ein diskriminierendes Verhalten eigentlich verwundern, andererseits wurde genau dies von HRW attestiert. Hinter Diskriminierung steht offenkundig eine Missachtung der Religionsfreiheit bzw. die Diskriminierung auf Grundlage der Religion.

In der politikwissenschaftlichen Forschung sind neben den verschiedenen Begriffen der Neutralität auch andere Möglichkeiten der Klassifikation verwendet worden. Rechts­und Politikwissenschaftlerin Sabine Berghahn und Politikwissenschaftlerin Petra Rostock (2009: 12f.) verwendeten beispielsweise Begriffe wie restriktiv bzw. nicht­restriktiv, selektiv und auch prohibitiv. Eine relativ geringe Trennschärfe dieser Begriffe gegenüber den weitestgehend eindeutigen juristischen Begriffen ließ die Wahl auf letztere fallen. In einem anderen Zusammenhang soll den politikwissenschaftlichen Begriffen jedoch Geltung zukommen: Da jedes Gesetz und auch jedes Gerichtsurteil einen Zustand davor und einen danach beschreibt, ist es relativ leicht, zu der eigentlichen empirischen Frage, wie es ist, noch zusätzlich die Dynamik des staatlichen Handelns abzubilden. Dieser Untersuchung soll jedoch nur ein ergänzender Charakter zugeschrieben werden. Staatliches Verhalten aus der Vorher-Nachher-Betrachtung könnte dann mit folgenden Attributen beschrieben werden: liberalisierend, restringierend und kontinuierlich. Ersteres würde vorliegen, wenn aufgrund des staatlichen Handelns der Religionsfreiheit mehr Raum oder Bedeutung beigemessen würde. Restringierend wäre staatliches Handeln dann, wenn diese Freiheit eingeschränkt oder nachrangiger behandelt werden würde. Die Bedeutung von kontinuierlich ist in diesem Zusammenhang selbsterklärend. Stellte man sich die Klassifikation nach obigen Muster auf einem horizontalen Strahl vor, so würden diese Attribute die Bewegung auf dem Strahl darstellen.21

Da in dieser Arbeit zwei verschiedene Symbole untersucht werden, besteht die Möglichkeit, dass ein Staat bezüglich des Kopftuchs strikt neutral ist, bezüglich des Minaretts aber offen neutral. Für diesen Fall müssten die oben genannten Klassifikationen um den Begriff der Konsequenz bzw. Inkonsequenz erweitert werden.22 Auch dies ist eine ergänzende Betrachtung zu der eigentlichen Analyse. Bezugnehmend auf Lieghegeners Begriff der neuen Religionspolitik ist diese Betrachtung in sofern interessant, als dass sie einen Einblick gewährt, ob die Religionspolitik in einem Land auf einander abgestimmt ist oder nicht.

1.7 Begriffe und Definitionen

Die Erläuterung der Begriffe und Definitionen erfolgt entlang des Titels sowie den daraus folgenden Bestandteilen der Fragestellung.

Diskriminierung und Neutralität

Die Verwendung bzw. die Bedeutung dieser Begriffe im Kontext dieser Arbeit ist empirischer bzw. methodischer Art, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat. Die Begriffe dienen der Klassifikation staatlicher Umgangsformen. Während Neutralität bereits hinreichend präzisiert worden ist, muss dies für Diskriminierung noch getan werden. Diskriminierung kann sowohl vorliegen, wenn ein Staat eine Religion ungleich behandelt, aber auch, wenn ein Staat den Wesensgehalt der Religionsfreiheit verletzt.23

Es sei an dieser Stelle auch noch eine politisch interessante Bedeutung von Diskriminierung aus der Soziologie zu erwähnen: „Als bewusst vorgenommene und rational kontrollierte ist die D. [Diskriminierung] ein Mittel im Kampf um Erringung und Konsolidierung von Herrschaftspositionen bzw. Ausschließung anderer von sozialen Chancen und Einflussmöglichkeiten“ (Hillmann 41994: 155f.). Im Fazit mag es interessant sein zu schauen, insofern empirisch festgestellt, ob sich Indizien haben finden lassen, die eine machtpolitische Motivation hinter der Diskriminierung auf Grundlage der Religion plausibel machen.

Staatsbegriff

Um den staatlichen Umgang untersuchen zu können, bedarf es einiger Klärungen des hier verwendeten Staatsbegriffs, insbesondere da die Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist, welches über nationale Grenzen hinweg geschützt ist. Bereits deutlich wurde, welche innerstaatlichen Komponenten in dieser Untersuchung berücksichtigt werden sollen. Darüber hinaus sind aber aufgrund der Einbettung Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz in die internationale Gemeinschaft, insbesondere den Schutz der Menschenrechte betreffend, die nationalen Grenzen aufgeweicht. Für die ersten beiden Länder gilt dies besonders mit Blick auf die Europäische Union. Aber auch der Europarat und dessen Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), bei der auch die Schweiz Vertragspartner ist, machen einen europäischen Blick erforderlich. Letztlich ist es sogar aufgrund von internationalen Verpflichtungen im Rahmen der Vereinten Nationen notwendig, auch diese in die Betrachtung mit einfließen zulassen. Dies wird den nationalen Untersuchungen in einem eigenen Kapitel vorangestellt.

Religionsfreiheit

So dann ist auch die Definition der Religionsfreiheit nach der EMRK plausibel, weil es gewissermaßen den grundrechtlichen Mindeststandard garantiert, unter den keines der drei Länder absinken darf. Der hier relevante Artikel 9 der EMRK mit dem Titel Gedanken-, Gewissens- undReligionsfreiheit lautet (dejure.org GmbH 2010):

„(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

Die EMRK und auch deren Hüter, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), werden in die nationale, vor allem aber in die vergleichende Perspektive einfließen. Islam (nach Heine 1994: 130-136) Des Weiteren ist es erforderlich, da zwei muslimische Symbole untersucht werden, einen kurzen Überblick über den Islam zu geben. Der Islam ist eine über 1400 Jahre alte monotheistische Offenbarungsreligion, die weltweit ca. 1 Milliarde Anhänger hat. Zwar bildet der Koran zusammen mit der Hadith, den Traditionssammlungen des Propheten Muhammad, einen relativ einheitlichen Kanon an Glaubensinhalten, doch gibt es keine verbindliche Instanz der Interpretation, weshalb auch kein eindeutiger hierarchischer Aufbau vorhanden ist (außer bei der Glaubensrichtung der Schiiten, die ca. 6% der Muslime ausmachen). Diese fehlende Hierarchie und damit auch fehlende Ansprechpartner haben beispielsweise die Anerkennung des Islams als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland bisher verhindert. Des Weiteren hat die vielseitige Auslegung der muslimischen Lehren zur Folge, dass auch innerhalb des Islams die Meinungen über das Kopftuch und auch das Minarett auseinander gehen. Heine vertritt die These, dass oftmals die vorislamischen Kulturen derjeweilig muslimisch geprägten Länder die Unterschiede in Bedeutung und Art der religiösen Symbole erklären können.

Kopftuch

Das Kopftuch lässt sich nicht eindeutig aus dem Koran begründen. Dessen Befürworter berufen sich auf die Suren 24 und 33. Die Hadith empfiehlt es (Bauer 2007: 3). Aus juristischer Sicht bestätigt jedoch Kirsten Wiese (2008: 73): „Eine Muslimin kann plausibel darlegen, dass für sie das Kopftuchtragen religiös motiviert ist, denn es liegt innerhalb des zulässigen Interpretationsspektrums, aus dem Koran eine Kopftuchpflicht zu lesen.“ Das Kopftuch wird aber nicht nur als religiöses, sondern auch als geschlechtsspezifisches und politisches Symbol betrachtet, worin die öffentliche Diskussion teilweise begründet liegt.24

Minarett

Das Minarett ist ein dem christlichen Kirchturm ähnliches Gebäudeteil einer Moschee. Es diente seit dem 7. Jahrhundert dem Muezzin (Gebetsausrufer), den Aufruf zum gemeinsamen Gebet über die Dächer an die Glaubensgemeinschaft zu tragen. Heutzutage ist die Funktion mancherorts dekorativ, weil der Gebetsruf per Lautsprecher erfolgt (Bauer 2007: 5). Das Gebet (arabisch: salat) ist eines der fünf Säulen des Islam und fünf Pflichtgebete strukturieren den Tag eines gläubigen Muslimen, die er aber auch privat ausüben kann. Mindestens aber zum Freitagsgebet ist eine Zusammenkunft der Gläubigen üblich (Schmitt 2003: 38, 41). Unbeachtet dieser Details ist der Symbolwert des Minaretts mit dem des Kirchturms gleichzusetzen (ebd.: 38). Neben der optischen Symbolik verbinden sich in der Diskussion um das Minarett auch Fragen zur Schallemission durch den Gebetsruf (vgl. Allievi 2003: 23) sowie eventuelle Störungen durch den um eine neue Moschee zu erwartenden Verkehr (Oebbecke 2006: 4). Es wird deshalb im Kontext dieser Arbeit als Symbol für die Öffentlichkeit und sichtbare Präsenz der Muslime verstanden, in Abgrenzung zu den vielen Hinterhofmoscheen, um die sich keine Konflikte entzündet haben.25

1.8 Aufbau

Im Anschluss an den hier zu erläuternden Aufbau der Arbeit bzw. deren Argumentationsstruktur folgt eine nähere Betrachtung des HRW-Berichts gewissermaßen als Überleitung zum Hauptteil. Der Bericht soll kurz in der Diskussion verortet und dessen Kernthesen dargestellt werden. Der Ausgangspunkt dieser Arbeit erfährt dadurch auch in angemessener Weise eine Würdigung.

Der erste wirkliche Schritt in den Hauptteil ist das darauf folgende Kapitel zur europäischen bzw. internationalen Ausgangslage. Die oben ausgeführte Verwendung des Staatsbegriffs hat gezeigt, dass im Rahmen internationaler Menschenrechts­abkommen eine solche Perspektive notwendig ist. Die Darstellung der Ausgangslage orientiert sich dabei an der später folgenden Struktur der Länderbetrachtungen: Es werden zunächst die internationalen Verpflichtungen dargestellt bzw. das, was später Gesetzeslage genannt werden wird. Dann wird die europäische Rechtsprechung v.a. zum Kopftuch zusammengetragen, denn für das Minarett gibt es derzeit noch keine internationale Rechtsprechung. Daraufhin wird die politisch-öffentliche Debatte, wie sie in Europa geführt wird, präsentiert. Deren Darstellung wird zwar für die Klassifikation staatlichen Handelns in der Einzeluntersuchung, verglichen mit dem Nutzen der zwei vorangegangenen Aspekte, kaum eine Rolle spielen. Die europäische Debatte wird aber umso bedeutsamer für die vergleichende Analyse gegen Ende der Arbeit sein. Denn mittels des darzustellenden diskutierten Handlungsbedarfs, der diskutierten Handlungsoptionen und deren jeweilige Begründung bzw. Kritik kann ein Überblick über die alle drei Länder gleichsam betreffenden Einflüsse gewonnen werden.

Es folgen daraufhin die Ausführungen zum deutschen Umgang mit dem Kopftuch und dem Minarett. Die hier ausgewählte Struktur wird prinzipiell auch für die Untersuchung über Frankreich und die Schweiz gelten. Daher wird hier nun die allgemeine Struktur dargestellt und im Anschluss noch, insofern notwendig, landesspezifische Änderungen dargelegt. Zu Beginn einer jeden Länderbetrachtung steht eine kurze Einleitung in relevante statistische Daten und die grundsätzliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion. Dieser Schritt ist notwendig, um grundsätzliche Aussagen über den staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit treffen zu können. Es wäre ansonsten nicht zu erkennen, ob es sich beim Umgang mit dem Kopftuch und dem Minarett eventuell um Ausnahmen oder für das Land atypische Umgangsformen handelt. Außerdem wird im zweiten Teil einer jeden Ländereinführung eine kurze statistische und evtl. auch historische Einordnung derjeweiligen Kopftuch- bzw. Minarettdebatte vorgenommen.

Daran anschließend folgen jeweils die Ausführungen zum Kopftuch. Das erste Unterkapitel wird sich dann mit der Gesetzeslage befassen. Dieses Kapitel bildet sozusagen den Kern der Betrachtung staatlichen Handelns. Hierfür werden einerseits allgemeine, die Religionsfreiheit betreffende Gesetze und deren Bedeutung für das jeweilige Symbol dargestellt und andererseits die für dieses Symbol spezifischen Gesetze.

In der anschließenden Untersuchung der Rechtslage geht es darum herauszuarbeiten, inwieweit die Gericht ihre Gestaltungsmöglichkeiten in der Umsetzung und Anwendung der Gesetze benutzen und welchen Einfluss das auf den staatlichen Umgang hat.

Sodann wird auf die politisch-öffentliche Debatte eingegangen. Die jeweils verfolgte Struktur der Debatte sieht folgendermaßen aus: Es wird zunächst dargelegt, welcher Handlungsbedarf diskutiert wird. Daraufhin folgt die Präsentation der im Rahmen der Debatte genannten Handlungsoptionen. Im Hinblick auf die in den vorangegangenen Kapiteln genannten, von den Staaten getroffenen Entscheidungen werden dann deren Gründe bzw. in der Debatte ergangene Kritik dargestellt. Schließlich rundet ein Blick auf das mediale Echo und die Meinung der Bevölkerung, insofern Meinungsumfragen vorhanden, die politisch-öffentliche Debatte ab. Im Kontext einer so präsentierten Debatte ergeben sich folgende Möglichkeiten für die Klassifikation staatlichen Handelns: Es lässt sich verorten, welche der möglichen Optionen der Staat gewählt hat und somit eine Aussage treffen, ob ein offen bzw. strikt neutralerer oder gar diskriminierenderer Umgang politisch möglich bzw. nötig gewesen wäre. Im Übrigen muss die Debatte selbst noch in dieser Arbeit verortet werden, da die Einleitung gezeigt hat, dass die Debatte sowohl als Input als auch als Feedback für das staatliche Handeln dient. Nur weil die Debatte hier im Anschluss an die Gesetzeslage und die Rechtsprechung präsentiert wird, heißt das nicht, dass nur die Funktion als Feedback wahrgenommen wird. Es wird auch die Inputfunktion bedacht. Es ist eine schlicht technische Entscheidung, ob die Debatte vor den anderen Bereichen oder danach dargestellt wird, denn mit der jeweils analog umgekehrten Begründung könnte eine der beiden Funktionen als fehl platziert gelten. Von einer Aufteilung in zwei Kapitel zu je einer Funktion der Debatte wurde deshalb verzichtet, weil aufgrund der zeitlichen Dynamik von Gesetzesentwürfen über Gesetze bis zur gerichtlichen Auseinandersetzung mit diesen zu viel Austausch mit der politisch-öffentlichen Debatte geschieht, als dass Input und Feedback hier trennscharf von einander abzugrenzen wären. Letztlich ist das Feedback für eine staatliche Handlung sogar gleichzeitig Input für eine nächste.

Für die Untersuchung des Umgangs mit dem Minarett wird analog dieselbe Reihenfolge, erst die Gesetzeslage, dann die Rechtsprechung und zum Schluss die politisch-öffentliche Debatte, gewählt. Jedoch wird zwischen dem letzten und dem vorletzten Bereich noch die Verwaltungspraxis diskutiert, da sich gezeigt hat, dass der kommunale Handlungsspielraum bezüglich der Gestaltung eines Bauvorhabens ausreichend groß ist, um mittels der Art der Umsetzung der Gesetzeslage eine weitere Aussage für die Klassifikation treffen zu können. Für diese dann regionalen Fälle werden der in der Methodik genannten Logik folgend Beispiele dargestellt, die eine Aussage bezüglich der anvisierten Klassifikation ermöglichen.

In einem Zwischenfazit soll die Klassifikation staatlichen Handelns dann pro Land vorgenommen werden. Darin einbezogen werden zunächst die in der jeweiligen Einleitung dargestellte grundsätzliche Lage und deren Auswirkung auf die beiden Symbole. Daraufhin erfolgt die Klassifikation bezüglich der im einzelnen untersuchten Bereiche des Kopftuchs und erst im Anschluss ein Fazit für das Kopftuch insgesamt. Ähnlich verhält es sich für das Minarett, für welches das Zwischenfazit anschließend gezogen werden soll. Abschließend werden die Umgangsweisen, das Kopftuch und das Minarett betreffend, gegenübergestellt.

Die Tatsache, dass die Darstellung der empirischen Daten bezüglich Deutschland umfangreicher und detaillierter als die der anderen beiden Länder ist, ist einerseits strukturell zu begründen, weil beispielsweise die Betrachtung der unterschiedlichen Bundesländer, aber auch eine große Zahl vorhandener fachlicher Beiträge zusätzlichen Raum in Anspruch nehmen. Andererseits ist diese Tatsache teilweise auch inhaltlich zu begründen, weil diese Arbeit, aus der Sicht der deutschen Politikwissenschaft verfasst, der Darstellung des eigenen politischen Systems einen zusätzlichen Wert beimisst.

Im Anschluss an diejeweilige Länderbetrachtung folgt die vergleichende Analyse. Hier werden zunächst die Ausgangslagen miteinander verglichen, um erkennen zu können, ob sich schon an dieser Stelle Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten für den darauf folgend zu vergleichenden Umgang mit den zwei Symbolen feststellen lassen. Dann wird das staatliche Handeln bezüglich des Kopftuchs verglichen und zwar strukturiert nach den drei dargestellten Teilbereichen staatlichen Handelns. Ebenso erfolgt dann der Vergleich hinsichtlich des Minaretts, bezugnehmend auf die vier untersuchten Teilbereiche. Die darauf folgende analytische Gesamtbetrachtung der beiden religiösen Symbole dient, wie in der Methodik angedeutet, der Feststellung von Einflüssen externer Faktoren auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand. Im abschließenden Fazit wird sodann die eingangs gestellte Fragestellung beantwortet.

2. Discrimination in the Name of Neutrality - Der Bericht von Human Rights Watch

HRW recherchierte und veröffentlichte diesen Bericht zu einer Zeit, da die deutschen Bundesländer sich bereits für oder gegen Gesetze bezüglich des Kopftuchs entschieden hatten und diese auch teilweise durch gerichtliche Rechtsprechung interpretiert wurden. Es ist also ein Rückblick auf den Höhepunkt der Kopftuchdiskussion, die bis heute andauert. Laut HRW ist der Kopftuchstreit nur eines der bekanntesten Themen einer europaweiten Diskussion über den Umgang mit der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt (2009a: 1). Dies wird dahingehend bestätigt, als dass auch die Gesetzesänderungen das Kopftuch nicht explizit erwähnen, sondern abstrakt gefasst sind und dadurch versuchen, eine Neuregelung für vielerlei Aspekte im staatlichen Umgang mit Religionsfreiheit zu schaffen.26 Andererseits stellt HRW fest, dass dennoch die betroffenen Personen sowie auch die Kläger gegen die Gesetze allesamt kopftuchtragende Frauen sind. HRW kommt zu dem Schluss, dass hier im Namen der Neutralität, die von staatlicher Seite durch die neuen Gesetze gewahrt werden soll, eigentlich diskriminiert wurde.27

Für die Begründung dieser These werden zunächst Deutschlands Verpflichtungen für die Menschenrechte auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene dargestellt (HRW 2009a: 15-27), die Gesetze der einzelnen Bundesländer analysiert (HRW 2009a: 28-44) sowie die Folgen der Verbote (HRW 2009a: 45-55) herausgearbeitet. Es folgt darauf eine Aufzählung von Menschenrechtsverletzungen, die laut HRW (2009a: 56-66) begangen wurden. Außerdem greift HRW die Hintergründe der Gesetze auf, setzt sich mit den Argumenten für die Verbote auseinander und stellt Alternativen vor, die laut HRW sogar effektiver wären.28 Eines der Hauptargumente und auch Verfahrensweisen zum, nach HRW, rechtmäßigen Umgang mit Religionsfreiheit ist die Einzelfallprüfung. Mit der Einzelfallprüfung blieben die Schulen grundsätzlich für alle Religionen gleichermaßen geöffnet und verschließen sich nur bei Missbrauchsverhalten. Ein Referent der schleswig-holsteinischen CDU-Fraktion sagte gegenüber HRW, dass wenn es in konkreten Fällen Probleme mit Missionierung geben sollte, man das geltende Beamtenrecht anwenden werde, dafür aber das Verhalten beurteile und nicht die Kleidung. In Hamburg sei in ähnlicher Weise 1999 eine kopftuchtragende Lehrerin nach einer Einzelfallprüfung eingestellt worden (HRW 2009a: 43). HRW sieht die Gesetze mit insbesondere diesen Fakten als rechtswidrig belegt.

Ohne eine Bewertung, sei sie politikwissenschaftlich oder juristisch, vorzunehmen, sollen in dieser Arbeit die empirischen Tatsachen dargestellt werden, die bezüglich des Kopftuchs in Deutschland, aber auch für das Minarett undjeweils für beide Symbole in Frankreich und in der Schweiz vorherrschen.

3. Europäische bzw. internationale Ausgangstage

Zunächst soll das betrachtet werden, was auf europäischer bzw. internationaler Ebene im weitesten Sinne als Gesetzeslage bezeichnet werden könnte. Es wurde bereits dargelegt, dass Deutschland, Frankreich und die Schweiz Vertragspartner der EMRK sind und dass diese im Art. 9 die Religionsfreiheit schützt. Die EMRK ist aber nicht nur deshalb von grundlegender Bedeutung für den europäischen Menschenrechtsschutz, weil sie Bindungswirkung entfaltet, sondern auch weil über die Einhaltung der EMRK von einem unabhängigen Gericht in Straßburg entschieden wird: dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Durch die Urteilssprüche des EGMR wird gleichsam die Geltung der Bindungswirkung der EMRK erhöht, weil das Gericht die Möglichkeit hat, bei Verstoß gegen die EMRK ein Bußgeld zu verhängen. Auch der politische Schaden in der internationalen Gemeinschaft durch ein negatives Urteil des EGMR sind mit in diese Rechnung einzubeziehen.

Neben den Verpflichtungen gegenüber der EMRK sind die drei Länder allesamt Vertragspartner29 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), dessen Art. 18 ebenfalls die Religionsfreiheit schützt. Außerdem gilt seit kurzem eine weitere menschenrechtliche Verpflichtung für Deutschland und Frankreich: seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ist die EU Grundrechte­Charta verbindlicher Teil des EU-Rechts (Deutscher Bundestag-Wissenschaftliche Dienste 2008: 1). Darüber hinaus wird die EU der EMRK beitreten, um Verwirrungen zwischen dem EGMR als Organ des Europarats und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Organ der EU zu vermeiden (ebd.). Der EuGH hat bisher auf Grundlage der Grundrechte-Charta aber noch kein Urteil gefällt. All diese Verpflichtungen beziehen sich offensichtlich nicht direkt auf das Kopftuch oder das Minarett. Jedoch stellen sie sicher, dass im Allgemeinen die Religionsfreiheit gewahrt wird. Absatz 2 des weiter oben zitierten Art. 9 EMRK macht deutlich, dass sie Einschränkung der Religionsfreiheit möglich ist, sie allerdings einer gesetzlichen Grundlage bedarf. Siehe dazu im folgenden die Ausführungen zur europäischen30 Rechtsprechung.

1993 urteilte der EGMR erstmals über ein islamisches Kopftuch im Zusammenhang mit Passbildern.31 Für das hier bearbeitete Thema relevanter ist jedoch die Entscheidung vom 15.02.2001 in der Sache Dahlab gegen Schweiz.32 In diesem, im entsprechenden Kapitel über die Schweiz noch näher zu erläuternden Fall, entschied das Gericht, die Beschwerde der Klägerin nicht anzunehmen, weil die Schweiz rechtmäßig einer Lehrerin das Tragen eines Kopftuchs untersagt und dabei nicht gegen Art. 9 EMRK verstoßen habe. Das nächste relevante Urteil wurde sogar als das Kopftuchurteil bekannt und erging im Fall Çahin gegen Türkei.33 Der EGMR erkannte auch in diesem Fall keine Verletzung von Art. 9 EMRK, als der Studentin Çahin der Zugang zur Universität aufgrund ihres Kopftuchs untersagt wurde. Weil das Urteil aber die regionalen Eigenheiten der Türkei stark in das Urteil einbezog, gibt es Zweifel an der Aussagekraft des Urteils für andere europäische Staaten.34 In den Fällen Kervanci bzw. Dogru gegen Frankreich35 bestätigte das Gericht jeweils die grundsätzliche Haltung, dass eine Einschränkung von Art. 9 EMRK per Gesetz rechtens ist, so dass auch hier die Klagen gegen das Kopftuchverbot erfolglos blieben. Grundsätzlich kann das Tragen eines Kopftuchs aber unter das Recht, religiöse Bräuche auszuüben, subsumiert werden und ist daher schützenswert. Die Gründe, weshalb dieses Recht eingeschränkt werden kann, regelt Art. 9 II EMRK und nennt in diesem Zusammenhang u.A. den Schutz der öffentlichen Ordnung oder der Rechte und Freiheiten anderer (Meyer-Ladewig 2003: 155-159). Über das Minarett hatte der EGMR bisher nicht zu urteilen (Universität Trier 2010b). Es lässt sich an dieser Stelle zusammenfassen, dass erstens der EGMR definitiv Diskriminierung sanktionieren würde, aber zweitens bezüglich der im folgenden zu36 untersuchenden Möglichkeiten der Neutralität, offen oder strikt, nicht in die nationalen Gestaltungsspielräume eingreift.

Abschließend soll noch die europäische Debatte dargestellt werden. Der Islam bzw. auch der Islamismus steht seit einigen Jahren immer wieder im Fokus der Debatte. Seit den Anschlägen des 11. Septembers in New York fällt immer wieder auch der Begriff Islamophobie (Europarat 2010a). Diese setzt sich zusammen aus dem islamistischen Terrorismus, welcher den religiösen Bezug zwar nur zur Tarnung missbraucht, aber dennoch auch auf die Perzeption des Islams in der Bevölkerung durchschlägt. Weiterhin stehen Begriffe wie Zwangsheirat und Ehrenmord, aber auch die Unterdrückung der Frau immer wieder in der Diskussion. Es sind neben einfachen Fragen der Integration, beispielsweise Ausbildung der notwendigen sprachlichen Fähigkeiten und oftmals auch sozialen Fragen, weil die muslimischen Immigranten überdurchschnittlich in sozialen und wirtschaftlichen Randbereichen leben, auch jene Probleme, die offensichtliche Straftatbestände erfüllen, die die europäischen Staaten zum Handeln aufrufen.

Die Handlungsoptionen können entlang den hier verwendeten Begriffen zur Klassifikation dargestellt werden. Es gibt einerseits die Möglichkeit mittels eines offenen, unterstützenden Umgangs, wie es nachfolgend vom Europarat (2010a) formuliert wird, den zu integrierenden Menschen entgegenzukommen:

„Islamism cannot be combated by banning symbols of extremism and gender inequality. Interreligious education should be supported by member states. Institutions of higher education and research in Europe should provide Islamic studies. Contacts between Muslim and non-Muslim Europeans and Muslims in North Africa, the Middle East and Asia should be facilitated, in particular among young people, students and teachers.“

Zum anderen gibt es die Möglichkeit, die fremden Verhaltensweisen durch einen strikt neutralen Umgang in den privaten Bereich zurückzudrängen. Dies wird von laizistischen Staaten wie Frankreich oder die Türkei, wie sich später zeigen wird, als Grundprinzip gegenüberjedweder Religion praktiziert.

[...]


1 Mittlerweile ist dieser Titel auch in deutscher Übersetzung vorhanden, welche fortan für Zitate und Quellenangaben genutzt wird (HRW 2009a: Diskriminierung im Namen der Neutralität. Kopftuchverbote für Lehrkräfte und Beamte in Deutschland).

2 Insgesamt acht Bundesländer: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland (HRW 2009a: 1).

3 Vor der Sommerpause erreichte das Gesetz bereits in der Nationalversammlung die erforderliche Mehrheit.

4 Siehe neben HRW 2009a auch HRW 2009c und 2009d

5 Exemplarisch auch für andere Bereiche der Religionsfreiheit präsentiert die Bundeszentrale für politische Bildung (Bpb) die Vielseitigkeit der Diskussion um das Kopftuch. Bpb nennt eine juristische, politische, feministische, religiöse und europäische Debatte mit den jeweils gegensätzlichen Standpunkten.

6 Die Verbotsgesetze in Frankreich und Deutschland sind religionsneutral formuliert, ihr Wirkungsbereich und auch die entsprechenden Gerichtsverfahren zeigen jedoch deutlich, dass es sich um das Kopftuch handelt. Dass das Minarett im Fokus schweizerischen Handelns stand, wurde bereits gezeigt.

7 Im Titel dieser Arbeit ist diese These demnach nicht mit einem Fragezeichen versehen, weil sie hier beantwortet werden soll, sondern weil diese These auch die Frage aufwirft, die hier empirisch untersucht werden soll.

8 Zur theoretischen Fundierung siehe Kapitel 1.5 und zum methodischen Vorgehen Kapitel 1.6.

9 Eine Untersuchung der Religionsfreiheit ist sicherlich anhand von Minderheitsreligionen sinnvoller, weil hier das gesellschaftliche Konfliktpotential am größten ist. Die zwei genannten Religionen stehen dabei immer wieder im Fokus der öffentlichen Debatte aufgrund ihrer diskussionswürdigen Glaubensinhalte (siehe dazu auch die einschlägigen Gerichtsverfahren bei dejure.org GmbH 2010b), bilden aber wohl nur den Anfang einer umfangreichen Liste von möglichen Untersuchungsfeldern.

10 Bezogen auf die erst einige Jahre existierende Debatte.

11 So wie sie von Harald Müller hier in dieser Arbeit beschrieben wird

12 siehe Forschungsstand

13 Es sei denn, die wissenschaftliche Arbeit wäre der Erschließung neuer Themenfelder oder dem Aufzeigen der Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte gewidmet.

14 Die Zahlen können nicht als valide gelten, da oftmals die Religionszugehörigkeit nur nach Herkunftsland geschätzt wird. Shortnews.de (2005) berichtet von 53 Mio. Muslimen in Europa (inklusive Russland und Türkei). Siehe für Frankreich Französische Botschaft in Deutschland 2010 und für Deutschland Auswärtiges Amt 2010

15 Gesetze, Gerichtsurteile, öffentliche Debatte

16 Auch als Interpretation und Weiterentwicklung der Gesetze

17 Im Rahmen einer nicht theoriegeleiteten, explorativen Methodik könnte hier von externen Variablen bzw. Indikatoren gesprochen werden.

18 Beachtet werden müssen hierbei die nationalen Eigenheiten. Zum Beispiel machen in Deutschland und der Schweiz die föderalen Strukturen eine Differenzierung zwischen den Bundesländern bzw. den Kantonen erforderlich. Siehe dafür die Ausführungen auf der folgenden Seite.

19 Der Begriff politisch-öffentliche Debatte ist abgegrenzt von möglichen juristischen und/oder feministischen Debatten zu verstehen. Im folgenden wird politisch-öffentliche Debatte oftmals nur Debatte genannt.

20 Bremen und Niedersachsen attestiert HRW, dass es die Ausnahmen für christliche Symbole zwar rechtlich nicht vorsieht, faktisch aber zulässt (2009a: 39f.).

21 Da offene Neutralität Religion auch in hoheitlichen Räumen zulässt, genießt die Religion hier mehr Freiheiten als bei strikter Neutralität. Der Strahl würde demnach von links nach rechts in seinen Zugeständnissen für die Religionsfreiheit abnehmen: offen neutral - strikt neutral - diskriminierend.

22 Beispiel: Frankreich ist konsequent strikt neutral. Deutschland ist inkonsequent neutral.

23 Dies ist eigentlich ein juristisches Problem, soll hier aber so gut es geht erklärt und in der folgenden Untersuchung dann beachtet werden. Bsp.: Es kann durchaus gesetzlich legal sein, das Tragen des Kopftuchs zu verbieten, wenn der Staatjedoch gleichwertige Symbole anderer Religionen nicht verbietet, würde trotz der eigentlichen Rechtmäßigkeit eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots vorliegen und somit Diskriminierung. Würde der Wesensgehalt der Religionsfreiheit verletzt, beispielsweise das Tragen einen Kopftuchs in Privaträumen, dann wäre dieses Gesetz diskriminierend, unbeachtet dessen, ob es andere religiöse Symbole gleichermaßen verbietet.

24 Siehe die entsprechenden Kapitel zum Kopftuch, aber auch die europäische Debatte.

25 Der Begriff Minarett kann im Kontext dieser Arbeit als nahezu Synonym für Moschee und auch Gebetsruf betrachtet werden. An Stellen der notwendigen Differenzierung wird dies deutlich gemacht.

26 HRW bezieht sich auf ein eigens geführtes Interview mit Vertretern des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport, in dem der Anwendungsbereich des Gesetzes auch auf die Kleidung der Taliban, der indischen Bhagwan-Bewegung oder T-Shirts mit Slogans wie Ausländer raus geltend gemacht wurde (HRW 2009a: 33).

27 HRW möchte sich dabei so verstanden wissen, dass sie einerseits zwar die Staaten kritisieren, die das Tragen von Kopftüchern verbieten, andererseits aber in selben Maße auch die Länder rügen, die zum Tragen von Kopftüchern zwingen (Bsp. Iran) (HRW 2009a: 63).

28 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung im deutschen Recht erfolgt in vier Schritten; der Prüfung auf Legitimität, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines Gesetzes. Die Erforderlichkeit prüft, ob es nicht ein ebenso zweckmäßiges, aber milderes Mittel gibt (mild hier: geringerer Eingriff in Rechte). Hätte HRW Recht, müssten die Gesetze als unverhältnismäßig gelten.

29Siehe für den Status der Ratifikation Unites Nations Treaty Collection (UNTC) 2010 und für den Text des IPbpR Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (OHCHR) 2010.

30 Diesbezüglich gibt es keine hier näher beachtenswerten rechtsprechende Instanzen auf internationaler Ebene. Die Vereinten Nationen, insbesondere der Menschenrechtsrat, sprechen zwar Empfehlungen oder Einschätzungen aus, jedoch können sie von ihrer Bindungswirkung her nicht unter Rechtsprechung subsumiert werden. Wenn überhaupt, könnten sie zur politisch-öffentlichen Debatte gezählt werden, werden im Kontext dieser Arbeit aber nicht weiter beachtet.

31 Damals noch Europäische Kommission für Menschenrechte; Karaduman vs. Türkei 16278/90 und Bulutvs. Türkei 18783/91jeweils am 03.05.1993

32 EGMR 15.02.2001

33 EGMR 10.11.2005

34 So sogar Françoise Tulkens. Die Richterin des EGMR gab eine abweichende Meinung zum Mehrheits­Urteil zu Protokoll (Bülow 2008: 93-96).

35 EGMR 04.12.2008

36 Auch hier ist eine internationale, also über die europäischen Grenzen greifende Betrachtung nicht sinnvoll, da dies für die Untersuchung Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz schlicht nicht von Bedeutung ist.

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
Discrimination in the Name of Neutrality? Zum staatlichen Umgang mit der Religionsfreiheit
Untertitel
Deutschland, Frankreich und die Schweiz im Vergleich
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Institut für Politikwissenschaft und Sozialforschung)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
132
Katalognummer
V172802
ISBN (eBook)
9783640928378
ISBN (Buch)
9783640928057
Dateigröße
929 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Integration, Kopftuch, Minarett, Deutschland, Frankreich, Schweiz, Religionsfreiheit
Arbeit zitieren
Arne Träger (Autor:in), 2010, Discrimination in the Name of Neutrality? Zum staatlichen Umgang mit der Religionsfreiheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/172802

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