Musikalische Erwachsenenbildung: Erlernen eines Instruments im Erwachsenenalter


Bachelorarbeit, 2011

65 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung
1.1 Begriffsklärungen
1.1.1 Der Erwachsene
1.1.2 Begriffseinordnung: Musikalische Erwachsenenbildung
1.2 Brisanz der Musikalischen Erwachsenenbildung

2 Musikalische Entwicklung nichtprofessioneller Musiker im Erwachsenenalter
2.1 Forschungssituation
2.2 Entwicklungsunterschiede musikalischer Lebensläufe
2.3 Leitsätze musikalischer Entwicklung der Lebensspanne
2.4 Lernfähigkeiten von Erwachsenen
2.5 Psychologische und (neuro-)physiologische Veränderungen
2.6 Physiologische bzw. motorische Schwierigkeiten

3 Instrumentalunterricht mit Erwachsenen
3.1 Kompetenzen des Instrumentallehrers
3.1.1 Fachliche Kompetenz
3.1.2 Pädagogische und psychologische Kompetenz
3.1.3 Wissen um die besonderen Merkmale und Erfahrungen Erwachsener
3.2 Aspekte und Inhalte eines erwachsenengerechten Unterrichts
3.2.1 Bestand didaktischer Überlegungen
3.2.2 Unterscheidung von Neu- und Wiedereinsteigern
3.2.3 Individualität
3.2.4 Schüler als Partner ?
3.2.5 Inhaltliche und methodische Vielseitigkeit
3.2.5.1 Unterrichtsmaterial
3.2.5.2 Bezug zur intellektuellen Ebene des Schülers
3.2.5.3 Improvisation und freies Spiel
3.2.5.4 Kompensationsstrategien - Umgang mit altersbedingten Leistungseinschränkungen
3.2.5.5 Entspannung
3.3 Möglicher Ablauf einer „erwachsenengerechten“ Unterrichtsstunde

4 Die instrumentalpädagogische Ausbildung – Bedarf und Realität

5 Fazit

6 Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Inwieweit ist das Erlernen eines Instruments noch möglich? Welche Unterschiede ergeben sich im Vergleich zu Kindern?

Ist man sich beispielsweise (neuro-)physiologischer Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen bewusst, wird der Bedarf einer differenzierenden Didaktik und Methodik im Unterricht deutlich. Doch was unterscheidet den Erwachsenen noch von Kindern, wenn es um Instrumentalunterricht geht und was für Konsequenzen ergeben sich daraus für die Unterrichtsgestaltung? Was macht überhaupt eine „erfolgreiche“ musikalische Erwachsenenbildung aus?

Die Beantwortung dieser Fragen steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Dazu werden vorerst in Kapitel 1 die Begriffe des Erwachsenen und der Musikalischen Erwachsenenbildung geklärt und näher beleuchtet, bevor die Brisanz des Themas verdeutlicht wird.

Kapitel 2 beinhaltet einen Überblick über aktuelle musikpsychologische Erkenntnisse bezüglich musikalischer Lernfähigkeiten im Erwachsenenalter. Abgesehen davon sollen psychologische und physiologische Veränderungen und damit verbundene Schwierigkeiten, die das Erlernen eines Instruments beeinflussen können, aufgezeigt werden.

Danach widmet sich Kapitel 3, welches den Schwerpunkt dieser Arbeit darstellt, unter Berücksichtigung der Ergebnisse des zweiten Kapitels dem Instrumentalunterricht mit Erwachsenen. Hier sollen zunächst Kompetenzen des Instrumentallehrers zusammengestellt werden, die im Unterricht mit Erwachsenen entscheidend sind. Es folgt eine Vorstellung und Begründung wichtigster Inhalte und Aspekte eines erwachsenengerechten Instrumentalunterrichts, die durch kritischen Vergleich von Theorien, Aussagen und Ergebnissen verschiedener Autoren hergeleitet werden.

Im Anschluss werden diese Aspekte in einen Entwurf einer Unterrichtsstunde integriert, bevor schließlich ein Blick auf die aktuelle Situation erwachsenenspezifischer Inhalte in instrumentalpädagogischen Studiengängen geworfen wird.

Angesichts der spärlichen Ergebnisse bzw. Materialien, die sich nur auf ein Instrument beziehen, schien es nicht sinnvoll, den Schwerpunkt dieser Arbeit auf ein Instrument zu beschränken. Deshalb soll es hier generell um Instrumentalunterricht gehen, wobei das Klavier an einigen Stellen als Beispiel dient, um spezielle Inhalte besser zu verdeutlichen. Es werden nur Quellen verwendet, die sich entweder auf alle Instrumente beziehen oder sich ohne weiteres auch auf andere übertragen lassen.

Ist die Rede von Schülern, wird von Laienmusikern ausgegangen, die Einzelunterricht an einer Musikschule bzw. im privaten Rahmen erhalten.

Wichtig in diesem Thema ist die Vermeidung jeglicher Generalisierungen. Um aber überhaupt Richtlinien formulieren zu können, lässt es sich dennoch an manchen Stellen nicht vermeiden, allgemeine Formulierungen zu verwenden.

1.1 Begriffsklärungen

1.1.1 Der Erwachsene

Unklar ist bis heute, „welche Kriterien ‚den Erwachsenen‘ [Hervorhebung im Original] vorrangig charakterisieren sollen“ (Stroß 2004, S. 411). Dieses Zitat stammt zwar ursprünglich aus der Entwicklungspsychologie, doch es beschreibt generell die Schwierigkeit, „den Erwachsenen“ in ein Schema einzuordnen bzw. normativ vorzugehen und ihm bestimmte Eigenschaften aufzuerlegen.

Annette M. Stroß schlägt eine Definition Erwachsener vor, die als adäquat für die Verwendung in dieser Arbeit bezeichnet werden kann, da die besondere Individualität Erwachsener in ihr zum Ausdruck kommt. Demnach sind Erwachsene Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, „die durch eine je individuelle Lebensgeschichte gekennzeichnet sind und als Träger verschiedener Rollen unterschiedliche Funktionen erfüllen“ (ebd.).

Auch auf die Frage, wann genau das Erwachsenenalter beginnt, gibt es keine eindeutige Antwort. Daneben ergibt sich die Schwierigkeit einer Definition aus historischen und soziokulturellen Gründen. So ist Beginn und Dauer des Erwachsenenalters in der Vergangenheit bis heute einem gelegentlichen Wandel unterworfen. Zuweilen kommt es bemerkenswerterweise auf den Kontext (Beispiel: in der Rechtswissenschaft) oder auch auf persönliche Meinungen an, ob nun von einem Erwachsenen gesprochen wird oder nicht. Die Grenzen zwischen Jugend und Alter können daher als fließend bezeichnet werden.

Fest steht allerdings, dass das Erwachsenalter im Regelfall einen viel größeren Zeitraum als Kindheit und Jugend umfasst. Um zumindest eine grobe Orientierung zu haben, ist es sinnvoll, den Begriff des Erwachsenenalters in der westlichen Gesellschaft als Grundlage dieser Arbeit zu präzisieren. Zwar existiert eine Vielzahl verschiedener Phaseneinteilungen diverser Autoren, hier soll aber von der Einteilung Lindenbergers (2002, S. 350 zitiert nach Gembris 2008b, S. 164) ausgegangen werden. Er nimmt folgende Einteilung vor:

- Frühes Erwachsenenalter (ca. 20 bis 35 Jahre)
- Mittleres Erwachsenenalter (ca. 35 bis 65 Jahre)
- Höheres Erwachsenenalter (ca. 65 bis 80 Jahre)
- Hohes Alter (80 Jahre und älter)

Leider wird eine solche Einteilung bzw. eine generelle Unterteilung des Erwachsenenalters generell, kaum in der für diese Arbeit relevanten Literatur vorgenommen. Dabei wäre es aufgrund des großen Altersspielraums und den damit verbundenen Unterschieden im Laufe des Erwachsenenalters durchaus angebracht, weitere Unterteilungen zu machen.

In dieser Arbeit soll es um gesundheitlich nicht im besonderen Maße beeinträchtigte Menschen bzw. gesunde „Alte“ gehen, da ein Einbezug kranker oder behinderter Erwachsener schlichtweg zu umfangreich für diese Arbeit wäre. Wichtig und deshalb hier anzumerken ist es aber, sich der zunehmenden Anzahl dementer oder anderweitig erkrankter älteren Menschen und dem damit verbundenen Forschungs-, aber auch Angebotsbedarf bewusst zu sein.

1.1.2 Begriffseinordnung: Musikalische Erwachsenenbildung

Während es seit jeher Aufgabe der Musikpädagogik (griech. pais = Kind und agein = führen, leiten) ist, Kindern und Jugendlichen „die Welt der Musik zu erschließen und sie zum lebenslangen Musizieren und Musikhören anzuleiten“, schließt der noch junge Begriff der Musikgeragogik auch ältere Menschen als Zielgruppe mit ein (Hartogh 2008, S. 154 ff.). Dabei ist die Musikgeragogik nach Theo Hartogh zwar eine musikpädagogische Disziplin, die aber trotzdem als eigenständig bezeichnet werden kann (vgl. ebd.).

Die Musikalische Erwachsenenbildung nun, kann als ein Teilgebiet der Musikgeragogik verstanden werden, da Musikgeragogik nicht nur auf Bildungsangebote, sondern auch der „Geselligkeit, der Unterhaltung (…) bzw. der kulturellen Bedürfnisse alter Menschen“ dient (ebd., S. 159). Denkt man jedoch an junge Erwachsene, ist in der Praxis nicht immer klar zwischen Musikpädagogik und -geragogik zu differenzieren. Eine genaue Altersgrenze existiert diesbezüglich nicht.

Laut M. Eibach ist die musikalische Erwachsenenbildung an sich noch einmal abzugrenzen. Während nicht institutionalisierte Formen (z. B. privater Instrumentalunterricht, instrumentales und vokales Laienmusikwesen etc.) unter dem Oberbegriff „musikalisches Lernen im Erwachsenenalter“ zusammengefasst werden, ist der Begriff der musikalischen Erwachsenenbildung den institutionalisierten Formen wie Volkshochschulen, Musikschulen etc. vorbehalten.

Vier besondere Merkmale des musikalischen Lernens im Erwachsenenalter innerhalb allgemeiner Bildungsangebote an Musikschulen oder im privaten Instrumentalunterricht sind nach Eibach kennzeichnend und finden sich auch in dieser Arbeit wieder:

- „hohes Maß an Selbststeuerung und Eigenverantwortung des Lernenden“
- „Orientierung an den subjektiven Bedürfnissen“
- „Berücksichtigung der individuellen musikalisch-biografischen Situation“
- „subjektive Bedeutsamkeit des Lernprozesses im Hinblick auf Sinnfindung und Identitätsbildung“ (Eibach 2005, S. 60 f.).

1.2 Brisanz der Musikalischen Erwachsenenbildung

Angesichts des demografischen Wandels in Europa wird es in naher Zukunft zwangsläufig zur Umstrukturierung vieler Lebensbereiche kommen. Bekannt ist, dass die Anzahl älterer Menschen u. a. aufgrund höherer Lebenserwartung (Abb. 1) immer weiter ansteigt, während die Geburtenrate und damit die Anzahl junger Menschen zurückgeht.

Wie man aus der Grafik über den aktuellen Altersaufbau der deutschen Bevölkerung entnehmen kann, ist der Überschuss an den über 40-jährigen gegenüber den Jüngeren schon jetzt deutlich sichtbar (Abb. 2):

Abb. 1: Durchschnittliche und fernere

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Altersaufbau der Bevölkerung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Lebenserwartung nach ausgewählten Altersstufen (Quelle: Statistisches Jahrbuch 2010)

(Quelle: Statistisches Bundesamt online)

Die steigende Anzahl der Senioren, deren zunehmend besserer Gesundheitszustand und die dadurch steigende Agilität, verbunden mit einer tendenziellen Veränderung des Lebensstils der heutigen Gesellschaft, verlangen ein erhöhtes und zugleich differenzierteres Angebot im Freizeit- und Bildungsbereich.

Nach Dietmar Köster werden die Senioren kommender Generationen aufgrund ihres höheren Bildungsabschlusses eine größere Lernbereitschaft, aber auch einen höheren Qualitätsanspruch an Angeboten der Weiterbildung haben (vgl. Köster 2008, S. 44). Nachdem mittlerweile die Möglichkeit lebenslangen Lernens wissenschaftlich belegt ist und immer mehr verbreitet wird, fordert er eine Neudefinition des Alters, „zu der die Potenziale des Alters und die Partizipation älterer Menschen zählen“ (ebd., S. 31).

Aus dem Alterssurvey (BMFSFJ 2005) geht hervor, dass das Lernen im Alter die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit, aber auch das Wohlbefinden im Alter steigert. Betrachtet man die Schülerzahlen und Altersverteilung an Musikschulen im VdM (Abb. 3), so scheint insbesondere das Musizieren eine immer beliebtere Freizeitbeschäftigung besonders unter Senioren, aber auch für Personen des frühen und mittleren Erwachsenenalters zu sein. Bei den Schülerzahlen der bis 5-jährigen ist dagegen bereits eine rückläufige Tendenz zu erkennen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Schülerzahlen und Altersverteilung an Musikschulen im VdM (Quelle: MIZ)

Lag der Fokus deutscher Musikschulen bisher auf der musikalischen Ausbildung im Kindes- und Jugendalter, so muss spätestens jetzt ein Wandel erfolgen und ein Ausbau bzw. eine Umstrukturierung der Angebote in die Wege geleitet werden.

Neben der demografischen Entwicklung wird auch die zunehmende Verbreitung und Anerkennung aktueller Forschungsergebnisse bezüglich der Möglichkeit des Erlernens eines Instruments im Erwachsenenalter für eine steigende Nachfrage an Instrumentalunterricht (aber auch Elementarer Musikerziehung bzw. Musizieren in Ensembles) sorgen.

Der sich ergebende Bedarf an solchen Angeboten spiegelt sich außerdem in der relativ aktuellen Wiesbadener Erklärung des Deutschen Musikrats, die zwölf Forderungen bezüglich der Musikalischen Erwachsenenbildung an Politik und Gesellschaft stellt, wieder. Dort heißt es unter Punkt fünf: „Die Musikvereinigungen des Laienmusizierens im weltlichen wie kirchlichen Bereich sollten verstärkt Angebote für alle Altersgruppen – Generationen übergreifend – bereitstellen, die finanziell gefördert werden müssen“ bzw. unter Punkt sechs „Die Musikschulen müssen strukturell und finanziell in die Lage versetzt werden, Angebote für ältere Menschen bedarfsgerecht bereitstellen zu können. Dazu gehört eine Erweiterung des Angebotes, um auch bei denen die Motivation zum Musizieren zu wecken, denen bisher musikalische Erfahrungen vorenthalten wurden“ (Deutscher Musikrat 2007, S. 2).

2 Musikalische Entwicklung nichtprofessioneller Musiker im Erwachsenenalter

In diesem Kapitel sollen zunächst verschiedene Aspekte musikalischer Entwicklung beleuchtet werden, um auf dieser Grundlage in Kapitel 3 methodische Überlegungen für einen Instrumentalunterricht mit Erwachsenen anstellen zu können.

2.1 Forschungssituation

Nach wie vor kann man die Entwicklungsforschung in der Psychologie, bei der die gesamte Lebensspanne untersucht wird, als ein junges Forschungsgebiet bezeichnen.

Heiner Gembris stellt fest, dass es bezüglich der Entwicklung im Erwachsenenalter zwar eine Vielzahl an Forschungsarbeiten und Theorien gibt – auf die aufgrund ihrer Fülle an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann – diese aber recht problematisch sind, da sie u.a. Entwicklungsverläufe oder Phasen stark verallgemeinern. Dadurch wird der immer noch bestehende Forschungsbedarf bezüglich einer Konzeption des Erwachsenenalters deutlich (vgl. Gembris 2009, S. 365). Wie Martin Gellrich schreibt, ist „trotz der erheblichen Fortschritte, die sich auf dem Gebiet multivariater Forschungsmethoden in den letzten Jahren ergeben haben, das Problem noch nicht gelöst, wie die vielfältigen Faktoren, die die psychische Entwicklung im Erwachsenenalter bestimmen (…), untersuchungstechnisch voneinander getrennt und ihr relativer Einfluss bestimmt werden können“ (Gellrich 1989, S. 91). Dringend erforderlich sind außerdem Erkenntnisse über musikbezogene Entwicklungsprozesse, über das musikalische Lernen und Lernfähigkeiten bei Laien bzw. Amateurmusikern im Erwachsenenalter (vgl. Gembris 2009, S. 53). Dabei bedarf es insbesondere valider Ergebnisse zur musikalischen Entwicklung Erwachsener, welche bis jetzt aufgrund fehlender Verlaufs- und Längsschnittuntersuchungen, nicht vorhanden sind (vgl. Hartogh 2005, S. 61 f.).

Was dagegen vorliegt, sind etliche qualitative (biografische) Forschungsprojekte, oft in Form von Interviews oder Fragebögen, auf die in Kapitel 3 gesondert eingegangen wird. Eine weitere erwähnenswerte Methode zur Untersuchung musikalischer Fähigkeiten und musikalischen Lernens sind Musikalitätstest, bei denen es sich allerdings lediglich um ein nicht standardisiertes Konstrukt handelt und die außerdem ursprünglich nur für Kinder und Jugendliche konzipiert wurden. Sie sind demnach eher kritisch zu bewerten, da musikalische Fähigkeiten und musikalisches Lernen bei Erwachsenen nicht zwangsläufig dasselbe beinhalten, was zu einem „sehr begrenzten Aussagewert“ dieser Tests führt (Gembris 2009, S. 406). Abgesehen davon sollten musikalisches Lernen und musikalische Leistungen durch Entwicklungsziele oder -aufgaben definiert werden, über die bei Erwachsenen aber keine klaren allgemeinen Vorstellungen existieren, da sie nur individuell oder gruppenspezifisch formuliert werden können (vgl. ebd.).

Im Folgenden stütze ich mich, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf die Darstellung Heiner Gembris‘ der musikalischen Entwicklung im Erwachsenenalter (vgl. Gembris 2009). Dabei sollen nachstehende Ausführungen keineswegs verallgemeinert werden, sondern lediglich eine Tendenz erkennen lassen. So betont Gembris: „Musikalische Entwicklung und ihre Bedingungen lassen sich (…) für das Erwachsenenalter kaum allgemeingültig beschreiben, sondern sie bedürfen in hohem Maße der differentiellen Betrachtung“ (Gembris 2009, S. 367).

2.2 Entwicklungsunterschiede musikalischer Lebensläufe

Bereits die Entwicklungsunterschiede musikalischer Lebensläufe im Kindes- und Jugendalter schaffen verschiedene Entwicklungsvoraussetzungen und -bedingungen für die zukünftige musikalische Entwicklung im Erwachsenenalter. Faktoren, die zu diesen Entwicklungsunterschieden führen, bestehen zu unterschiedlichen Anteilen aus Motivation und Begabung, quantitativ und qualitativ differenzierenden Erfahrungen, insbesondere Lernerfahrungen, und musikalischen Aktivitäten, aber auch aus verschiedenen Umweltbedingungen und musikalischen Interessen.

Entwickeln sich in den ersten zehn Lebensjahren die musikalischen Fähigkeiten noch größtenteils in der gleichen Reihenfolge, wenn auch nicht mit den gleichen Resultaten, so kommt es schon in der Schulzeit durch Wahlmöglichkeiten bezüglich der Schulfächer, außerschulischen Möglichkeiten und sozialer Gruppenzugehörigkeit zu ausgeprägten Differenzierungs- und Spezialisierungsprozessen in der musikalischen Entwicklung, die sich dann mit dem Wegfall allgemeiner institutionalisierter Rahmenbedingungen des musikalischen Lernens mit Beginn des Erwachsenenalters bzw. mit Beginn der Berufsausbildung oder des Studiums noch verstärken.

Selbst wenn musikalische Interessen und Motivationen vorhanden sind, be- und verhindern häufig Zeitmangel, berufliche und später familiäre Verpflichtungen und Engagements, aber auch fehlende musikalische Herausforderungen, musikalische Aktivitäten und stehen somit einer musikalischen Weiterentwicklung im Weg.

Bei den Personen, die trotz all dieser äußeren Umstände frühere musikalische Aktivitäten fortsetzen, spielen vor allem die eigene Motivation und die Verfügbarkeit von Freizeit eine große Rolle. Eine ausgeglichene berufliche und familiäre Belastung, aber auch die Unterstützung durch Partner und Freunde, sowie die sonstige soziale und kulturelle Umgebung sind ebenso zu berücksichtigen. Dabei wählen diese Personen oft ein musikalisch orientiertes Umfeld aus, was wiederum zu neuen Impulsen bezüglich der Weiterbildung musikalischer Interessen führen kann.

Ansonsten ist nicht selten zu beobachten, dass Personen das aktive Musizieren, welches sie einst aus beruflichen oder familiären Gründen aufgaben, wieder aufnehmen, wenn ihre Kinder ausziehen oder die berufliche Anforderungen zur Routine geworden sind.

Aufgrund großer Unterschiede in den Lebensläufen und somit bezüglich der Verläufe musikalischer Entwicklung von Laien ist der psychologische Aspekt der musikalischen Entwicklung im Erwachsenenalter der differentiellen Entwicklungspsychologie zuzuordnen. Musikalische Entwicklungsprozesse und ihre Determinanten müssen deshalb hinsichtlich einzelner Personengruppen untersucht und beschrieben werden, wobei man außerdem zwischen dem präferierten Musikgenre und der Art der musikalischen Betätigung (im Ensemble, alleine, mit oder ohne Unterricht) unterscheiden sollte (vgl. Gembris 2009).

2.3 Leitsätze musikalischer Entwicklung der Lebensspanne

Gembris (2008a) überträgt einige theoretische Leitsätze aus der Entwicklungspsychologie bezüglich der Lebensspanne auf die musikalische Entwicklung (vgl. Baltes 1990, S. 4). Er sieht sie als Ansatzpunkte zur weiteren Erforschung musikalischer Entwicklung, die im Folgenden näher erläutert werden sollen:

Lebenslange Entwicklung

Mittlerweile herrscht in der musikalischen Entwicklungspsychologie Konsens darüber, dass „musikalische Entwicklung ein lebenslanger Prozess ist und musikalisches Lernen potenziell zu jedem Zeitpunkt im Leben stattfinden kann“ (Gembris 2008a, S. 13). Faktisch können musikalische Lernprozesse beispielsweise das Kennenlernen neuer Musikstücke, Musikstile und -genres, aber auch die Veränderung des Musikgeschmacks beinhalten (vgl. ebd.). Hinzuzufügen ist dem Kennenlernen, also Hören und evtl. Verstehen neuer Musikstücke etc., die Aneignung neuen Materials. Hierzu zählen die Fähigkeit der Reproduktion, der Improvisation, aber auch der Komposition.

Weiter betont Gembris, dass auch der Nicht-Gebrauch dieser Fähigkeiten zu den Entwicklungsprozessen gehört. Je nach Alter, Gesundheitszustand oder auch finanziellem Verhältnis, geht es bei der Frage nach dem musikalischen Lerninhalt eher um das Erleben von Musik, der Bedeutung für jeden Einzelnen oder um performative Fähigkeiten (vgl. ebd.).

Wechselspiel von Stabilität, Gewinnen und Verlusten

Die Psychologie der Lebenszeitperspektive formuliert einen Entwicklungsbegriff, „der Entwicklung als ein Wechselspiel von Stabilität, Gewinnen und Verlusten betrachtet“ (Gembris 2008a, S. 13). Dabei überwiegen in jungen Jahren generell die Entwicklungsgewinne (im Sinne von Verbesserungen, Steigerungen) gegenüber den Verlusten (Einbußen, Beschränkungen oder auch Reduktionen). Im Alter dagegen überwiegt meist der Verlust von Fähigkeiten und Kapazitäten (vgl. ebd.). Ein Beispiel hierfür wäre Arthritis beim Geiger.

Multidirektionalität

Multidirektionalität in Bezug auf musikalische Entwicklung bedeutet, dass Entwicklungsprozesse gleichzeitig „in verschiedenen musikalischen Bereichen und auf unterschiedlichen Ebenen“ stattfinden können (Gembris 2008a, S.13). Gembris schließt hier sowohl Aspekte wie emotionales Erleben, kognitive Verarbeitung und instrumentale bzw. vokale Fähigkeiten, als auch musikalische Urteile und Präferenzen, musikbezogene Erfahrungen und Motivationen mit ein (vgl. Gembris 2009). Diese könnten noch um musikalische Hörfähigkeiten ergänzt werden.

Durch Übung oder Spezialisierung können Entwicklungssteigerungen in einem Bereich mit Verlusten in einem anderen Bereich korrelieren. Dies kann beispielsweise durch Vernachlässigung oder Nichtgebrauch bestimmter Fähigkeiten geschehen. Dabei müssen gleichzeitig stattfindende Entwicklungsprozesse nicht nur aus Gewinnen oder Verlusten bestehen, sondern können durchaus in unterschiedlichen Richtungen verlaufen (vgl. Gembris 2008a, S.13).

Plastizität und Kapazitätsreserve

Nach Baltes ist die psychologische Entwicklung „durch eine hohe intraindividuelle Plastizität (Veränderbarkeit innerhalb einer Person) gekennzeichnet“ (Baltes 1990, S. 4). So schließt Gembris, dass auch im musikalischen Bereich Potenzial in Form von nicht genutzten Kapazitäten und latenten Kompetenzen vorhanden ist, das durch musikalisches Lernen und gezieltes Training aktiviert werden kann. Er geht also davon aus, dass die kognitive Voraussetzung vorhanden ist. Daraus lässt sich schließen, dass auch Erwachsene dazu fähig sind, neue musikalische Fertigkeiten zu erwerben bzw. bereits vorhandene zu erweitern (vgl. Gembris 2008a, S.13 f.). Wie noch deutlich werden wird, spielt dabei die Motivation der Erwachsenen eine herausragende Rolle.

Kulturelle Einbettung und generationsspezifische Prägungen

Den bereits erläuterten Aspekten musikalischer Entwicklung ist der Aspekt der Prägung musikalischer Entwicklung des Individuums bzw. der Generationen durch gegenwärtige Musikkultur und deren historischen Kontext hinzuzufügen. Dieser führt infolgedessen zu einer kulturgeschichtlichen Dimension der musikalischen Entwicklungspsychologie und befindet sich verständlicherweise in ständigem Wandel. Aber auch jede Person selbst kann durch seine musikalischen Fähigkeiten (z. B. als Musiker, Komponist, usw.) seinen Teil zur Veränderung der Musikkultur beisteuern (vgl. Gembris 2008a, S. 14).

2.4 Lernfähigkeiten von Erwachsenen

Ausgehend von den eben benannten, größtenteils theoretisch übertragenen Leitsätzen musikalischer Entwicklung, soll hier die musikalische Lernfähigkeit am Beispiel einiger Studien beschrieben werden. Dabei geht es konkret um Lernfähigkeiten in Bezug auf das Erlernen eines Instruments. Leider sind speziell zu diesem Bereich erst sehr wenige Untersuchungen vorhanden, lässt man zunächst Untersuchungen und Beobachtungen außen vor, die sich mit der Didaktik und Methodik im Instrumentalunterricht mit Erwachsenen beschäftigen und welche daher eine musikalische Lernfähigkeit voraussetzen.

Im Folgenden werden zwei für diese Arbeit relevante Studien zur musikalischen Lernfähigkeit im Erwachsenenalter hinsichtlich des Erlernens eines Instruments vorgestellt. J. W. Eberly untersuchte schon 1954 bei älteren Erwachsenen die Fähigkeit, ein Instrument zu erlernen. Dabei erhielten 26 Personen im Alter von 60-84 Jahren 15 Wochen lang Klavierunterricht. In diesem Zeitraum wurde der Seashore-Test (ein von Carl Emil Seashore entwickelter Musikbegabungstest) und audiometrische Tests durchgeführt, Lehrerberichte über das Lernverhalten der erwachsenen Lernenden angefertigt, Reaktionsweisen sowie Interessen der Probanden ermittelt und Interviews geführt. Zwar gaben sechs Probanden während der Versuchsdurchführung auf, die übrigen Zwanzig waren jedoch sehr zufrieden und hatten große Freude an den Klavierstunden. Bei den ältesten Personen machten sich zwar physische Einschränkungen und eine langsamere Reaktionen beim Klavierspielen bemerkbar, dennoch wurden größere Lernfortschritte gemessen, als im Vorfeld erwartet wurde. Im Unterricht präferierten die Probanden ihnen bekannte Lieder, insbesondere Volkslieder. Interessanterweise waren diese sich über ihre Fehler und Erfolge überaus im Klaren und verhielten sich sehr fortschrittsorientiert, was sich beispielsweise in der Forderung nach Feedback von Seiten des Lehrers äußerte. Die Möglichkeit einer musikalischen Lernfähigkeit von Erwachsenen konnte hiermit also nachgewiesen werden (vgl. Gembris 2009).

Ein Problem sieht Gembris allerdings im recht hohen Prozentsatz an „unvollständigen oder fehlerhaften Daten“ (sog. Dropouts), welcher wohl auch bei Eberly zwischen 20 und über 30 Prozent ausmacht. So ist es möglich, dass aufgrund vorzeitiger Ausscheidung bestimmter Versuchsteilnehmer, besonders schlechte Leistungen nicht in die Datenanalyse eingehen und somit zu verfälschten Ergebnissen führen (vgl. Gembris 2008b, S. 180).

Das Ziel einer etwas aktuelleren und größer angelegten Studie – dem vom VdM durchgeführten Projekt „Musikalische Erwachsenenbildung an Musikschulen“, das von 1990 bis 1992 durchgeführt wurde – bestand in der Konzeption und Erprobung didaktischer Empfehlungen (Handreichungen) für den musikalischen Unterricht mit Erwachsenen. Dabei sollte gleichzeitig die musikalische Lernfähigkeit von Erwachsenen untersucht werden. Die Teilnehmer erhielten entweder elementaren Musikunterricht, Instrumental-Einzelunterricht (Klavier, Blockflöte, Gitarre, Gesang, Querflöte, Violine) oder musizierten im Ensemble. Es waren 954 Erwachsene und 660 Lehrer an 52 Musikschulen darunter 1 Volkshochschule aus 12 Bundesländern beteiligt. Mittels überwiegend standardisierter Fragebögen wurden die Teilnehmer und Lehrer halbjährlich zu ihren Erwartungen, Motivationen, musikalischen Lernfähigkeiten, Lernproblemen und ihrer Lernzufriedenheit befragt.

Zur Auswertung wurden die Probanden in vier Altersklassen eingeteilt: 25-39 Jahre, 40-49 Jahre, 50-59 Jahre, 60 Jahre und älter. Mit 76% sind die beiden unteren Altersklassen besonders stark vertreten. Unter allen Teilnehmern herrschte ein relativ ausgeglichenes Bildungsniveau (die Hälfte der Teilnehmer hatte mindestens Abitur). Im Bereich des Instrumentalunterrichts, dessen Ergebnisse hier von Relevanz sind, handelt es sich bei den Teilnehmern „fast ausschließlich“ um Neuanfänger (Klüppelholz 1999, S. 147 f.). „Die Bewältigung der spezifischen Anforderungen (wurde) sowohl von den Teilnehmern als auch von den Lehrern als gut bis befriedigend bezeichnet“, gleiches wurde auch über die Fortschrittszufriedenheit gesagt (Klüppelholz, S. 148). Die Instrumentallehrer waren sich jedoch einig, dass die musikalische Lernfähigkeit Erwachsener als sehr individuell einzustufen ist. Bezüglich einzelner Ebenen wurde die Lernfähigkeit gegenüber Kindern folgendermaßen beurteilt: im kognitiven Bereich als „sehr gut bis gut“, auf der musikalischen Ebene als „noch gut“, „auf der Ebene der instrumental-technischen Anforderungen hingegen als „befriedigend bis ausreichend“ (ebd.).

Dies verdeutlicht dennoch, dass eine Reduktion einer musikalischen Leistungsfähigkeit mit Zunahme des Alters nicht vorhanden ist. „Die Klasse der 50-jährigen schnitt lediglich bei wenigen Teilqualifikationen schlechter ab, während in einer Reihe von Fächern die Klasse der 40-jährigen durchweg bessere Werte erhielt als die der 30-jährigen“ (ebd.). Letztgenanntes Ergebnis könnte sich auf die Tatsache der sehr unterschiedlichen Lernfähigkeit einzelner Erwachsenen zurückführen lassen.

Aufgrund der hohen Teilnehmerzufriedenheit und natürlich des Nachweises musikalischer Lernfähigkeit bei Erwachsenen war dieses Ergebnis 1993 hinsichtlich zukünftiger Forschung in hohem Maße relevant. Dennoch sind die Ergebnisse insbesondere aus Lehrer-Fragebögen nicht leichtfertig zu übernehmen, da sich vermutlich kein Lehrer ohne Weiteres wenige oder keine Fortschritte seiner Schüler eingesteht. Hier wären zukünftig Unterrichtsbeobachtungen und Bewertungen von außenstehenden Experten zu empfehlen.

2.5 Psychologische und (neuro-)physiologische Veränderungen

Nachdem in Kapitel 2.4 gezeigt werden konnte, dass das Erlernen eines Instruments im fortgeschrittenen Alter prinzipiell möglich ist, sollen an dieser Stelle einige psychologischen und (neuro-)physiologischen Veränderungen aufgegriffen werden, welche im Erwachsenenalter auftreten und die musikalische Entwicklung beeinflussen können. Solche Veränderungen dürfen allerdings „aufgrund der immer wieder bestätigten erheblichen interindividuellen Unterschiede“ nicht verallgemeinert werden (Gembris 2009, S. 418). Gembris geht außerdem davon aus, dass erst bei Überschreitung bestimmter „kritischer Grenzwerte“ von einer Problematik bezüglich der Veränderungen physiologischer und psychologischer Prozesse gesprochen werden kann (ebd.).

Das Zusammentragen vollständiger aktueller psychologischer und (neuro-)physiologischer Ergebnisse der Altersforschung wäre aufgrund der etwaigen Übertragung auf die musikalische Entwicklung zwar interessant, würde an dieser Stelle aber zu weit führen. Hier soll deshalb verstärkt einen Blick auf Ergebnisse geworfen werden, die im musikalischen Bereich gewonnen wurden. Oft beobachtete Altersveränderungen machen sich zum einen auf der kognitiven, zum anderen auf der motorischen Ebene bemerkbar. Diese altersspezifischen Veränderungen lassen sich größtenteils auf neurophysiologische Aktivitäten zurückführen, deren Erforschung momentan hochaktuell ist.

Aus bisherigen Erhebungen geht hervor, dass es durch die Abnahme der Ausschüttung wichtiger Neuro-Hormone wie Glückshormone (Endorphine), Dopamin (Motivationshormon), Serotonin und Noradrenalin (stimmungsregulierende Hormone) zu einer zunehmenden Verkümmerung von Neuronen (Nervenzellen) und neuronalen Verbindungen kommt, welche zu einer nachlassenden Wahrnehmungsgenauigkeit, einer verlangsamten Reaktionsgeschwindigkeit und einer geringeren motorischen Geschicklichkeit führen kann. Beginnen Erwachsene nun mit dem Erlernen eines Instruments, so kommt es, wie bei Kindern und Jugendlichen auch, zwar grundsätzlich zur Neuroplastizität (vgl. Altenmüller 2008, S. 36 ff). Darunter versteht Eckhart Altenmüller (Neurologe und Musiker) die „funktionelle und strukturelle Anpassung des Nervensystems an Spezialanforderungen wie sie das Musizieren mit sich bringt“ (ebd.). Diese sind allerdings – wie sich aus oben genannten Gründen verstehen lässt – in der Intensität abgeschwächt und langsamer.

Solche Überlegungen sind bis jetzt allerdings nur theoretisch auf die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten bezogen worden. So zieht Altenmüller eine Parallele zwischen der „angereicherten Umgebung“ in einer Untersuchung durch Godde et al. (2002) in Form einer Behausung mit vielen Klettermöglichkeiten für ältere Versuchstiere (Ratten), die diesen zuvor noch nicht zur Verfügung standen, und dem Musizieren für ältere Menschen. Bei den Versuchstieren konnte eine Zunahme der Synapsendichte und Nervenzellfortsätzen sowie von Gehirngewicht und Nervenwachstumsfaktoren nachgewiesen werden (vgl. Altenmüller 2008, S. 38). Das Musizieren, so Altenmüller, „ist für den älteren Menschen eine vergleichbare Situation einer angereicherten Umgebung“, da es dazu beitragen kann, „Wahrnehmung, Denken und motorische Fertigkeiten zu üben und positive Emotionen zu erzeugen“, was die Verlangsamung neuronaler Abbauvorgänge begünstigen und diese sogar rückgängig machen kann (ebd.).

Eine verlangsamte Reaktionsgeschwindigkeit ergibt sich aus der Verlangsamung der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit bei der Informationsaufnahme und der Reizdiskriminierung in höherem Alter, also ca. zwischen 65-80 Jahren, welche sich auch auf die Verarbeitung musikalischer Reize auswirkt. Dies wurde in neurophysiologischen Experimenten nachgewiesen, in denen die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit von Sinustönen, Klangfarben, Rhythmen, Intervallen und Akkordfortschreitungen erfasst wurde. Man fand desweiteren heraus, dass Sinustöne und Klangfarben einfacher neuronal zu verarbeiten sind als Rhythmen, Intervalle und Akkordfolgen. Erwachsene, die sich im höheren Erwachsenenalter befinden (Durchschnittsalter: 73 Jahre), benötigten für diese musikalischen Aufgaben im Schnitt 50 bis 100 Millisekunden länger als Erwachsene des frühen Erwachsenenalters (Durchschnittsalter: 22 Jahre) (vgl. Swartz, Walton, Hantz 1994). Dies ist zwar ein messbarer Wert, doch keiner, der das Erlernen eines Instruments bzw. das Musizieren bedenklich beeinträchtigen würde, bzw. nicht mit Hilfe verschiedener Strategien kompensiert (siehe 3.2.5.4) werden könnte.

Gravierender ist „die mit dem Alter kontinuierlich zunehmende Verschiebung der Hörschwelle und damit einhergehende Hörverluste“, welche verstärkt die hohen Frequenzbereiche betreffen (Gembris 2009, S. 369). In welchem Maße Hörverluste musikalisch relevant sind bzw. sich negativ auf das Spielen eines Instruments auswirken, kann jedoch nur individuell beantwortet werden. Abhilfe kann gegebenenfalls durch Hörgeräte geschaffen werden.

Ein weiterer psychologischer Aspekt, der oft mit dem Alter verbunden wird, ist das Nachlassen der Gedächtnisfähigkeit. Ob, inwieweit und welches Gedächtnissystem davon betroffen ist, wurde meines Wissens bis heute noch nicht im Zusammenhang mit instrumentalem Musizieren untersucht. Herbert Bruhn & Felix Schröter (2008, S. 193) stellten zwar fest, dass „Amateure mit dem Alter weniger Stücke auswendig spielen“. Dies begründen sie jedoch damit, dass die untersuchten Amateure wohl jener Personengruppe angehören, die in der Vergangenheit auch meist vom Blatt gespielt haben und daher an dieses optische Hilfsmittel gewöhnt sind. Das würde aber bedeuten, dass der Aspekt der Übung hier eine große, wenn nicht die alles entscheidende Rolle spielt.

Dass das Kurzzeitgedächtnis (heute: Arbeitsgedächtnis) alter Menschen auch „in Zusammenhang mit musikbezogenen Aufgaben abnimmt, wobei allerdings eklatante interindividuelle Unterschiede bestehen“ (Gembris 2009. S. 410), wurde dennoch in einer Studie von David S. Smith deutlich. Bewohnern eines Altersheims (Durchschnittsalter: 79,1 Jahre) und einer Altentagesstätte (Durchschnittsalter: 67,6 Jahre) wurden dreimal hintereinander Ausschnitte aus Evergreens der 40-er bzw. 50-er Jahre vorgespielt. Ihre Aufgabe bestand darin, den Text der Lieder direkt nach dem dritten Hören wiederzugeben. Bei der Auswertung wurde die Vertrautheit oder Nichtvertrautheit der Lieder mitberücksichtigt (vgl. ebd.). Für eine angebrachte methodische Vorgehensweise im Unterricht empfiehlt es sich also, auch aufgrund der schon erwähnten nachlassenden Wahrnehmungsgenauigkeit von Informationen, älteren Menschen neue Aufgaben etc. tendenziell kurz und prägnant zu präsentieren und Wiederholungen einzuplanen.

Erwähnte Gedächtniskapazität, Verarbeitungsgeschwindigkeit und das Lösen neuer und komplexer Probleme gehören zur so genannten fluiden Intelligenz (Abb. 4), die ihren Höhepunkt im frühen Erwachsenenalter hat und ab dem mittleren Erwachsenenalter kontinuierlich abnimmt. Nun besteht Intelligenz aber noch aus einer weiteren Komponente, der so genannten kristallinen Intelligenz, die im Gegensatz zur fluiden Intelligenz „weitgehend konstant“ bleibt bzw. je nach Erweiterung gesammelter Erfahrungen auch noch ansteigen kann. Da zur kristallinen Intelligenz das Wissen und die durch Erfahrung gewonnenen Verhaltensstrategien, „die man im Laufe der Zeit erwirbt“ (ebd.) gehören, ist sie auch für die musikalische Entwicklung und damit für das Erlernen eines Musikinstruments von Nutzen (vgl. Gembris 2009, S. 373).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Idealisierte Lebensverlaufskurven verschiedener Formen der Intelligenz (Baltes 1990)

Instrumentalpädagogen beobachten, dass Erwachsene im Allgemeinen schneller bestimmte Sachverhalte begreifen (vgl. McVeigh 2006. S. 21). Dieser Umstand könnte sich auf besagte kristalline Intelligenz zurückführen lassen, welche die kognitiven Fähigkeiten beeinflusst und bei Erwachsenen gewöhnlich zu jedem Zeitpunkt ausgeprägter ist als bei Kindern und Jugendlichen. So kann die Existenz der kristallinen Intelligenz eventuell sogar als Kompensationsmöglichkeit der fluiden Intelligenz angesehen werden.

Festzuhalten bleibt, dass es zwar im Erwachsenenalter zu einigen psychologischen und (neuro-)physiologischen Veränderungen kommt, die in einer erwachsenengerechten Didaktik und Methodik ihre Berücksichtigung finden sollten, aber in der Regel (hier wird von gesunden Menschen mit „normalen Alterserscheinungen“ ausgegangen) nicht derart schwerwiegend sind, dass sie das Erlernen eines Instruments negativ beeinflussen.

2.6 Physiologische bzw. motorische Schwierigkeiten

Zwar ist Andreas Niessen der Meinung, dass Lernprobleme meist nicht nur eine Ursache haben, sondern „in Abhängigkeit von der mu­sikalischen Vorbildung der Lernenden, den allgemeinen physiologischen Vor­aussetzungen, den Anspruchsniveaus des Lehrers wie des Schülers, der Menge der zur Verfügung stehenden Zeit etc.“ auftreten und deshalb auch nicht davon ausgegangen werden darf, dass „einzel­ne Ursachen von Lernproblemen im Instrumentalunterricht singulär zu er­mitteln und die Schwierigkeiten somit problemlos zu beseitigen“ wären (Niessen 1993, S. 114). Um trotzdem einige Anhaltspunkte zu haben, auf deren Basis weitere Lösungsoptionen erarbeitet werden können, soll hier eine Sammlung verbreiteter Schwierigkeiten dargestellt werden.

Auswirkungen beschriebener psychologischer und (neuro-)physiologischer Veränderungen, die mit zunehmendem Alter verstärkt auftreten können, äußern sich in der Spielpraxis vor allem in einer Reihe motorischer Schwierigkeiten. In einer Befragung von 15 erwachsenen Schülerinnen an fünf Musikschulen im Rheinland, durchgeführt von Andreas Niessen, ging hervor, dass die physiologische Lernschwierigkeiten der meisten Probandinnen als „unvermeidbare Begleiterscheinungen des Alters thematisiert und akzeptiert“ werden (ebd.).

Gembris (2008d) befragte Mitglieder eines Seniorenorchesters nach ihren persönlichen Problemen beim Musizieren und möglichen Kompensationsstrategien. Folgende Probleme wurden genannt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Motorische und physiologische Probleme

In Tabelle 1 wird deutlich, dass sich motorische Probleme vor allem in einer Verlangsamung von Bewegungsausführungen äußern. Physiologische Probleme können größtenteils auf „normale“ Alterserscheinungen zurückgeführt werden (bspw. Einschränkungen beim Hören und Sehen, reduzierte Kraft, Bewegungseinschränkungen etc.), Verspannungen dagegen können vielfältige Ursachen haben, die im weiteren Verlauf der Arbeit erläutert werden.

Man muss sich im Klaren sein, dass (psycho-)motorische und physiologische Schwierigkeiten individuell sehr unterschiedlich auftreten oder auch ganz ausbleiben können und zudem je nach Instrument stark variieren. Auch die Rolle der Übung darf hier nicht vernachlässigt werden.

Kompensationsstrategien, die zur Lösung dargestellter Probleme beitragen können, stellen einen methodischen Aspekt im Unterricht mit Erwachsenen dar und werden daher in 3.2.5.4 vorgestellt.

3 Instrumentalunterricht mit Erwachsenen

Im vergangenen Kapitel wurde geklärt, dass musikalische Lernfähigkeit Erwachsener hinsichtlich des Erlernens eines Instruments prinzipiell vorhanden ist. Doch wie kann bzw. sollte entsprechender Instrumentalunterricht nun aussehen? Ausgehend von Kapitel 2, in dem die Unterschiede und besonderen Schwierigkeiten musikalischer Entwicklung bei Erwachsenen im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ermittelt wurden, werden in diesem Kapitel die besonderen Bedürfnisse und Merkmale Erwachsener mit einbezogen, um so Faktoren eines erwachsenengerechten Unterrichts zu bestimmen.

Zwar ist dieses Kapitel zweigeteilt in Kompetenzen des Instrumentallehrers (3.1) und in Aspekte und Inhalte eines erwachsenengerechten Unterrichts (3.2), Überschneidungen in diesen beiden Unterkapiteln sind jedoch nicht auszuschließen. Im Gegenteil: Aufgrund der offensichtlichen Korrelation eben genannter Themenbereiche, welche sich wechselseitig beeinflussen (Bsp.: Ein individueller Instrumentalunterricht ist ohne einen Lehrer, der die einzelnen Schwierigkeiten seiner Schüler zu erkennen vermag, nicht möglich), sollen diese vielmehr als sich ergänzend verstanden werden.

3.1 Kompetenzen des Instrumentallehrers

Aufgrund eines fehlenden offiziellen bzw. detaillierten und aktuellen Anforderungsprofils für Instrumentallehrer, die Erwachsene unterrichten, werden an dieser Stelle bereits bestehende Überlegungen und Folgerungen gesammelt und ergänzt. Es ergeben sich drei Kompetenzbereiche, die nachfolgend dargestellt werden.

3.1.1 Fachliche Kompetenz

Auf der Hand liegt zunächst die instrumentbezogene fachliche Kompetenz, die jeder Instrumentallehrer, ganz gleich ob er nur Kinder und Jugendliche und auch/oder Erwachsene unterrichtet, in der Regel durch ein Hochschulstudium erwirbt bzw. vertieft. Nach Reinhild Spiekermann zeichnet sich diese Sachkompetenz zunächst durch das Beherrschen des Hauptinstruments auf hohem Niveau aus, wozu sowohl gestalterische und interpretatorische als auch technische Fertigkeiten gehören. Außerdem sollten ein umfangreiches, theoretisch-analytisches Wissen und Kenntnisse über wesentliche Bereiche des auf sein Instrument bezogenen Repertoires und entsprechende historische Hintergründe vorausgesetzt werden können. Dazu zählen auch instrumentaldidaktische Kenntnisse bezüglich des systematischen Aufbaus der Vermittlung und die Kenntnis einschlägiger Unterrichtsliteratur (vgl. Spiekermann 2009a, S. 100).

3.1.2 Pädagogische und psychologische Kompetenz

Ein großer Konsens herrscht im Allgemeinen über die hohe Priorität pädagogischer und psychologischer Fähigkeiten neben den oben erwähnten fachlichen Fertigkeiten. So schließt Sabine Miermeister (1991, S. 116) aus ihren bisherigen Ausführungen (sie untersuchte die Bildungsvoraussetzungen und -bedürfnisse erwachsener Gesangsschüler in nicht-berufsbezogener Ausbildung an der Volkshochschule und im privaten Bereich durch qualitative Interviews), „dass Musiklehrer, die Erwachsene unterrichten wollen, nicht nur fachlich kompetent sein müssen, sondern gleichermaßen persönliche, pädagogisch-psychologische Qualitäten besitzen sollten“.

Auch Thorsten Pabst befragte vier erwachsene Klavierschüler im Alter von 33-66 Jahren zu den Qualitäten eines „guten“ Instrumentalpädagogen. Aus diesen qualitativen Interviews, deren Fragen überwiegend offen waren, geht hervor, dass die Gewichtung zwischen instrumentalen und pädagogischen Fähigkeiten zu Gunsten der Letzteren ausfällt (vgl. Pabst 2002, S. 97). Pabst fasst zusammen: „Pianistisches Können stellt zwar eine notwendige Bedingung für den Klavierunterricht dar, aber keinesfalls eine hinreichende“ (ebd. 2002, S. 97). Im Folgenden sollen jene pädagogischen und psychologischen Fähigkeiten konkretisiert werden.

Nach Gembris (2009, S. 22) ist es besonders wichtig, das Selbstvertrauen des Schülers in die eigene musikalische Lernfähigkeit zu stärken, da „die Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter zurückhaltender wird“. So setzen Erwachsene aufgrund von perfekten Schallplattenaufnahmen [Anm. d. Verf.: heute CD-Aufnahmen] professioneller Musiker ihre Erwartungen und Ansprüche an sich bzw. ihr Musizieren aufgrund ihrer generell ausgereifteren Fähigkeit Musik wahrzunehmen, im Gegensatz zu der des aktiven Musizierens, oft zu hoch an (vgl. Gellrich 1989, S. 101). Nach Ted Pawloff und Christian Fürst hilft hier „das gemeinsame Musizieren mit dem Lehrer, um Freude am Spiel und Erfolgserlebnisse zu vermitteln, Leistungsdruck und Ängste zu mindern“ (Pawloff/Fürst 2007, S. 19).

Eine weitere Ursache für etwaiges mangelndes Selbstbewusstsein in die eigene musikalische Leistungsfähigkeit ist die bei den meisten Erwachsenen vorhandene entwicklungsbedingte (verglichen mit Kinder und Jugendlichen) größere Diskrepanz zwischen ihrer intellektueller und physiologischer Leistungsfähigkeit (vgl. Kaluza et al., 1993, S. 5). Auch hier sollte der Lehrer dem Schüler dabei helfen, einen realistischen Eindruck über sein individuelles Leistungsvermögen zu gewinnen. So können Freude und Spaß am Musizieren unabhängig von hohen Leistungen und großem Talent, sondern durch subjektbezogene, persönliche Ziele vermittelt werden (vgl. Gembris 2009, S. 22 f.).

Daher ist, besonders in der Anfangsphase der (Wieder-)Aufnahme des Instrumentalunterrichts, die Fähigkeit, sich in die Situation des erwachsenen Anfängers bzw. Wiedereinsteigers hineinversetzen zu können und Verständnis für die damit verbundenen Schwierigkeiten zu haben, von großer Bedeutung. Wie Zimmerschied in einem Interview mit einem Spätstarter auf der Geige erfuhr, ist es hierbei wichtig, das richtige Maß und eine angemessene Art an Unterstützung und Hilfestellung zu finden, da eine spezielle Rücksichtnahme meist nicht erwünscht ist (vgl. Zimmerschied 2007, S. 6). Stattdessen sollte der Lehrer vielmehr unterschwellig auf dessen Bedürfnisse eingehen.

Spiekermann erschlossen sich, ebenfalls durch Interviews mit erwachsenen Schülern, aber auch Lehrern (welche auf Video aufgezeichnet wurden), weitere wichtige Fähigkeiten. So sollte der Instrumentallehrer unbedingt mit der Diskrepanz zwischen eigenem künstlerischen Anspruch und dem der erwachsenen Laien umgehen können (vgl. Spiekermann 2009a, S. 102) und nicht etwa seine eigenen Ziele oder Vorstellungen von Erfolg auf seine Schüler übertragen, was im Übrigen ebenfalls für den Unterricht mit Kindern gilt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Musikalische Erwachsenenbildung: Erlernen eines Instruments im Erwachsenenalter
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Musikinstitut)
Veranstaltung
Musikwissenschaft, Musikpädagogik
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
65
Katalognummer
V171466
ISBN (eBook)
9783640910755
ISBN (Buch)
9783640908820
Dateigröße
1323 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erwachsene, Erwachsenenbildung, Geragogik, Musikausbildung, Musikpädagogik, Instrumentalpädagogik, Instrumentaldidaktik
Arbeit zitieren
Sandra Wackenhut (Autor:in), 2011, Musikalische Erwachsenenbildung: Erlernen eines Instruments im Erwachsenenalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171466

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