Trauma und Sprache in Primo Levis Se questo è un uomo


Hausarbeit, 2010

32 Seiten


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1. Sprachverlust und Trauma
1.1 Annullierung des Menschen
1.2 Entleerung der Wörter
1.3 Schweigende Leerstellen
1.4 Trauma als sprachloser Schrecken

2. Sprachfindung und Trauma
2.1 Die Form
2.2 Das Kollektiv - Distanzierung und Trauma
2.3 Traumatische Zeitgefüge
a) Gegenwärtigkeit
b) Chronologie
2.4 Intertextualität
2.4.1 Babylonische Sprachverwirrung
2.4.2 Danteske Hölle
a) In der Tiefe
b) Il Canto di Ulisse

3. Der Drang zu erzählen

4. Abschließende Betrachtungen

Literaturverzeichnis

Einleitung

Da ist keine Sprache, da sind keine Worte, mit deren Hilfe Du das Unsagbare sagen, das Unbegreifliche erklären könntest. Kein Sprachgewand, das über das Skelett Deiner Erfahrungen geworfen werden könnte. Keine Buchstaben für den Schrei. […] und solltest du auch mit Engels- und Teufelszungen reden, es würde kaum nützen, […] die Menschen wollen nicht hören.[1]

Im Februar 1944 wird Primo Levi nach Auschwitz deportiert. Erst im Herbst 1945, nach dem die Überlebenden des bereits zerbombten Lagers von den Russen befreit werden, kann er die Heimkehr nach Italien antreten. Sein Drang das Erlebte aufzuschreiben und zu bezeugen, ist so stark, dass er sogar auf den Rückseiten von Zugtickets oder Papierschnipseln Erinnerungsblitze notiert.[2] Innerhalb von zehn Monaten verleiht Primo Levi dem Schrecken seiner KZ-Erfahrungen Ausdruck in Se questo è un uomo.[3] Dass die Erstausgabe nach langem Hin und Her den Titel Shemà, was dem Hebräischen für Ascolta! entspricht und Teil des hebräischen Glaubensbekenntnis ist[4], erhalten hat[5], symbolisiert bereits den Kernpunkt der hier zu besprechenden Thematik, denn dieser Titel zeigt, ebenso wie der bereits erwähnte Drang zu schreiben, einen wichtigen Aspekt der KZ-Erfahrung auf: Traumatische Erfahrungen drängen darauf, erzählt zu werden, denn nur im Akt der narrativen Wiedergabe, die ihrerseits einen Zuhörer bzw. einen Leser voraussetzt, kann das Erlebte in die narrative Erinnerungsstruktur integriert werden und damit auch gleichzeitig eine Erinnerungskultur begründen. Dies wiederum stellt die Grundvoraussetzung dar, die es benötigt, um traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Es ist also die Selbstheilungsfähigkeit des Organismus, welcher den Erzähldrang begründet.

Es ist jedoch nicht nur der Drang zu erzählen, der im Folgenden eine Rolle spielen soll, sondern insbesondere die Frage nach der Sprachfindung selbst, denn Trauma definiert sich unter anderem[6] durch die Sprachlosigkeit des Erlebens: Das traumatische Ereignis entwickelt sich an jedweder Kommunizierbarkeit vorbei: Es ist sprachlich nicht mehr fassbar[7], was gleichsam Ursache wie Folge des Erlebens verkörpert, denn gerade das Unfassbare ist es, das die Grenzen des individuellen Integrationsvermögens zu sprengen vermag und zu Trauma bedingter Dissoziation führt, die ihrerseits die narrative Verarbeitung des Geschehens blockiert.

Den Holocaust nicht als Trauma zu bezeichnen, ginge an der psychotraumatologischen Definition desselben ebenso vorbei wie an der historischen Wahrheit des Holocaust selbst. Primo Levis` Erfahrungen in Buna können also ein traumatisches Ausmaß zugeschrieben werden, und er selbst weist bspw. im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe des Hanser Verlags auf die Tendenz traumatischer Erfahrungen hin, Erinnerungen zu beeinflussen.[8] Die mit Das Erinnern der Wunde überschriebene Einleitung[9] deutet dabei bereits im Titel die etymologische Verwandtschaft zum Trauma selbst an, das ursprünglich aus dem Griechischen stammt und sich mit `Wunde´ übersetzen lässt, und auch im Text selbst wird das Trauma sozusagen beim Namen genannt.[10]

Insbesondere drei Merkmale lassen sich in Levis Se questo è un uomo jedoch beobachten, die eine Möglichkeit darzustellen scheinen, jene Sprachblockade zu umgehen:

1. Levi schreibt beinahe ausschließlich im Kollektiv.
2. Intertextualität nimmt metonymischen Charakter an.
3. Bis auf das erste und letzte Kapitel gebraucht der Autor das Präsens.

Die ersten beiden Punkte ließen sich als literarische Verfahren definieren, während letzterer einer Poetik der Dissoziation zugesprochen und damit als symptomatisch verstanden werden kann.

Entlang dieser drei Thesen wird sich die vorliegende Arbeit der übergeordneten Fragestellung von Trauma, Sprache und biographischer Zeugenschaft widmen.

1. Sprachverlust und Trauma

Unerklärbarkeit ist einer der Topoi, die den Diskurs über die nationalsozialistischen Massenverbrechen, die Vernichtung der europäischen Juden, von Anbeginn an geprägt haben. Er bildet gemeinsam mit den Begriffen „Undarstellbarkeit“, Unvorstellbarkeit“, „Unsagbarkeit“ „Unfassbarkeit“ einen Diskurs der Verneinung.[11]

Im Folgenden soll zu nächst einmal textintern nach der Bedeutung von Sprache vs. Sprachlosigkeit bis hin zu Sprachverlust vs. Identitätsverlust gefragt werden, um diese Thematik dann unter Zuhilfenahme der Traumaforschung weiterhin zu kontextualisieren. Erst in einem nächsten Punkt soll die Sichtung erster Ansätze eines literarischen Verfahrens, um die angesprochene Problematik zu meistern, erfolgen.

1.1 Annullierung des Menschen

Chi potrebbe distinguere i nostri visi? per loro noi siamo “Kazet”, neutro singolare.[12]

Primo Levi thematisiert das Problem der Sprachfindung seiner Erlebnisse an verschiedenen Stellen seines Berichts[13] dezidiert. Am deutlichsten drückt er dies gleich zu Beginn seiner Schilderungen aus: Die so eben eingetroffenen Italiener werden in einer Art Duschraum zusammengepfercht. Sie sind nackt, frieren, leiden Durst und können doch nicht aus den Leitungen trinken; so verbringen sie die ganze Nacht. Am Morgen werden sie, nackt wie sie sind, ins Freie gescheucht, um zur hundert Meter entfernten Baracke durch den Schnee zu laufen. „Allora per la prima volta ci siamo accorti che la nostra lingua manca di parole per esprimere questa offesa, la demolizione di un uomo.”[14] Sprachverlust und Vernichtung gehen Hand in Hand und es lässt sich ableiten, dass der Mensch, der keine passenden Worte mehr für sein Erleben findet, einen der wichtigsten Aspekte seines menschlichen Daseins einbüßt, was einer Vernichtung gleichkommt. Levi führt das Bild dieser Vernichtung bis zur Annullierung des Menschen fort, wenn er schreibt: „Condizione umana piú misera non c`è, non è pensabile.”[15] Der okzidentale Mensch, der sich seit Descartes durch „Ich denke also bin ich“[16] definiert, löst sich in diesem Bild auf: Er kann nicht mehr denken, also ist er auch nicht mehr, und wenn er doch noch ist, dann wird dieser Mensch dem gleichen logischen Vorstellungsbild folgend, zum verkörperten Hunger, denn „Il Lager è la fame: noi stessi siamo la fame, la fame vivente.“[17] Herta Müller setzt diesen chronischen Hunger in der Atemschaukel[18] noch direkter in Verbindung zu Descartes, wenn sie schreibt: „Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat. Wenn man an nichts anderes mehr denken kann. […] Bis man im Kopf kein Hirn, nur das Hungerecho hat.“[19] Deutlich kristallisiert sich die Gleichung von ‚der Hunger bestimmt mein Denken = der Hunger bestimmt mein Sein‘ heraus, und auch Karl Friedrich von Rumohrs Feststellung „Der Mensch ist nichts anderes, als er ißt.“[20], erfährt bei Levi die äußerste Konsequenz: Wer nichts isst, ist Nichts.[21]

Weiterhin wird diese Vernichtung jeglicher Identität durch den Verlust der gesamten Habe, der Privatsphäre, des Heims etc. unterstrichen. Der Mensch der dann noch bleibt „[…] sará un uomo vuoto, ridotto a sofferenza e bisogno, dimentico di dignità e discernimento, poiché accade facilmente, a chi ha perso tutto, di perdere se stesso.“[22] Levi schließt diesen Gedankengang mit dem Hinweis auf die doppelte Bedeutung des Begriffs des Vernichtungslagers,[23] um dann sogleich im nächsten Absatz vom Verlust seines Namens zu berichten: „ Häftling: ho imparato che io sono uno Häftling. Il mio nome è 174 517 […]“[24]

Jenem Menschen, dem man sogar seinen Namen verweigert und ihn neu tauft, indem man ihm eine Nummer eintätowiert[25], dessen Persönlichkeit ist gefährdeter als das Leben selbst.[26]

Es ist das Bild des verhärmten Mannes, mit gebeugter Stirn und gekrümmten Schultern „[…] sul cui volto non si possa leggere traccia di pensiero.“[27], das Levi wählen würde, um all das Leid seiner Zeit in geballter Form darzustellen. Es ist ein Bild, das Identitätsverlust, Sprachlosigkeit und Nichtdenken, wie oben beschrieben, auf einen Nenner bringt.[28]

1.2 Entleerung der Wörter

Levi wird im weiteren Verlauf nicht mehr so ausdrücklich wie an dieser Stelle seines Berichts, an dem er die Sprachlosigkeit in all ihrem identitätsvernichtendem Ausmaß dezidiert benennt; jedoch fällt in der Formulierung des Autors auf, dass er vom ‚ersten Mal‘ spricht – „per la prima volta.“[29] Zwischen den Zeilen wird also deutlich, dass es sich um eine womöglich grundsätzliche, die Häftlinge immer wieder konfrontierende, Problematik handelt. Erneut thematisiert Levi dies auch anhand seiner Überlegungen, dass die im Lager verwendeten Begriffe für bspw. ‚Hunger‘ oder ‚Winter‘ ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht mehr gerecht werden: Der Signifikant entspricht hier nicht mehr seinem Signifikat. Das Bedeutungsspektrum dieser Begrifflichkeiten nimmt komplett neue, und wie oben beschrieben, existenzielle Dimensionen an. Die Nutzung der herkömmlichen Begrifflichkeiten wird zum Kompromiss: Um sich überhaupt noch ausdrücken zu können, d.h. zu kommunizieren, wird auf die bekannte Sprache zurückgegriffen, obwohl die (kollektive) Erfahrungsdimension bereits dabei ist, ein neues Vorstellungsbild der Begrifflichkeiten zu prägen. Auf der Signifikanten Achse wird nach einer neuen, härteren Sprache verlangt: „Se i Lager fossero durati piú a lungo, un nuovo aspro linguaggio sarebbe nato.[30] Die Begriffe entleeren sich. Herta Müller thematisiert diesen Sprachverlust, der sich in den unzureichenden Begrifflichkeiten akkumuliert, ebenfalls, wenn sie konstatiert, es gäbe keine passenden Wörter fürs Hungerleiden.[31] Dieselbe begriffliche Problematik spricht Levi auch im Kapitel Al di qua del bene e del male an. Die moralischen Konnotationen von Gut und Böse oder Recht und Unrecht versagen im Lager schlechthin.[32]

1.3 Schweigende Leerstellen

Worte entleeren sich, und dem Häftling wird seine Menschlichkeit genommen, indem ihm seine Existenz abgesprochen wird. „Levi verzeichnet die Auslöschung alles Menschlichen und die Vernichtung der Juden in Auschwitz mit dem Motiv des Schweigens.“[33] Sprachlosigkeit und also Schweigen, wie es auch der Text selbst kontinuierlich thematisiert[34], stehen dem Drang zu erzählen dabei diametral entgegengesetzt. Indem das Ausmaß des Schreckens aber als nicht-kommunizierbar markiert wird und an seine Stelle eine Poetik des Schweigens[35] tritt, kann das Trauma durch die entstehende metonymische Leerstelle doch kommuniziert werden, denn Unkommunizierbarkeit und Leerstelle befinden sich auf derselben Kontiguitätsebene, nämlich jener der Narration:

Das Schweigen und die Sprachlosigkeit durchziehen den Text wie Risse, unterbrechen die Erzählung und lassen das Un-Sagbare im Bruch aufscheinen. Indem sie Einheit und Geschlossenheit des Textes sprengen, wird auf das Nicht-Darstellbare und das Nicht-Vermittelbare indirekt verwiesen.[36]

Die schweigenden Leerstellen bilden also in gewisser Weise eine Brücke zwischen Sprachverlust und Sprachfindung. Eine Vielzahl der Auslassungen in Se questo è un uomo lassen sich jedoch erst im Kontext des Gesamtwerkes ausmachen und sollen deswegen an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden.

1.4 Trauma als sprachloser Schrecken

Das Schweigen scheint eine Antwort auf den Schrecken zu sein – Sprachlosigkeit sein Ausdruck.[37]

Der Holocaust wurde und wird oft als kollektives Trauma bezeichnet. Die Überlebenden, Täter wie Opfer, leiden individuell (und kollektiv) unter den Folgen der Traumatisierungen. Um den Begriff des Traumas jedoch näher fassen zu können, soll an dieser Stelle noch einmal ausführlicher auf das Bedeutungsausmaß desselben eingegangen werden, was gleichzeitig die Thematik von Trauma vs. Sprache bzw. Sprachlosigkeit beleuchten soll.

Bei einem Trauma handelt es sich um ein Erlebnis, das in dem Ausmaß seines exzessiven Schreckens einem Anschlag auf die Identität des Menschen gleichkommt.[38] Konkreter kennzeichnet sich ein traumatisierendes Ereignis dadurch, dass die s.g. Flight or Fight Reaktion auf Grund des stattfindenden Geschehens nicht mehr möglich ist. Was dann bleibt, im Sinne von no Fight no Flight, um der äußersten Bedrohung, d.i. die Auflösung des Selbst, zu entgehen, wird als Freeze and Fragment bezeichnet.[39] „Und vom Moment der Freeze-Reaktion an ist klar: Jetzt findet für den Menschen ein Trauma statt.“[40]

Das hier metaphorische Einfrieren steht für die Lähmungsreaktion, die dafür sorgt, dass der Organismus sich innerlich vom Geschehen distanzieren kann. Es handelt sich quasi um ein geistiges Wegtreten bei gleichzeitigem körperlichem Erstarren; das, was physisch nicht mehr möglich ist, geschieht psychisch. Freeze bedeutet also letztendlich die Entfremdung vom Geschehen.[41] Hinzu kommt die Reaktion des Zersplitterns. Das Erlebte wird fragmentiert, sodass das äußere Ereignis nicht mehr als zusammenhängend wahrgenommen wird und damit die akute Bedrohung psychisch aufgelöst und physisch betäubt ist. Huber erläutert das Ergebnis mit dem Bild eines zersplitterten Spiegels: Die Spiegelsplitter lassen nicht mehr erkennen „[…] was passiert ist, sondern nur noch dass etwas passiert ist.“[42]

Die in dieser peritraumatischen Situation ablaufenden Prozesse und Reaktionen sichern das physische wie psychische Überleben des Individuums auf Kosten der Integrität des Selbst. Integrität, Assoziationsfähigkeit, letztlich alle höheren Selbstfunktionen, können in der peritraumatischen Situation nicht aufrechterhalten werden, ohne das Überleben zu gefährden, stattdessen wird auf archaischere, reflexhafte Mechanismen zurückgegriffen.[43]

Die hier ablaufenden Prozesse werden auch unter dem Begriff der Dissoziation gefasst, zu deren Formen bzw. Folgen Amnesie, Derealisierung, Depersonalisierung, Fugue und die dissoziative Persönlichkeitsstörung zu zählen sind.[44] Insbesondere die fragmentierenden und distanzierenden Reaktionen während der peritraumatischen Situation kann man als dissoziative Reaktionen betrachten. „Jede einzelne Form von Dissoziation tritt [dabei] häufiger unter Stress auf. Je mehr Stress desto mehr Dissoziation.[45] Bei der Dissoziation handelt es sich also um den Traumaabwehrmechanismus schlechthin.

Die Neurobiologie geht zudem davon aus, dass ein Traumagedächtnis, auf evolutionsgeschichtlich älteren Gehirnbereichen gründend, entsteht, das unabhängig vom biographischen Gedächtnis existiert und letzteres immer wieder durch Intrusionen, Flashbacks und amnestische Lücken irritiert.[46]

Die psychologische und die neurologische Ebene zusammengenommen, verdeutlichen, wie es geschehen kann, dass ein traumatisierendes Erlebnis sich an jeder Kommunizierbarkeit vorbei entwickelt, denn ein Trauma kann auch als Problem des narrativen Wissens bezeichnet werden.[47] Durch die verschiedenen neurobiologischen Abläufe wird die Traumaerinnerung nicht über den Hippocampus an den Neocortex weitergeleitet, was für die biographische, episodische und narrative Erinnerung notwendig wäre.[48] Die peritraumatische Dissoziation sorgt also dafür, dass das Erlebte weder bewertet, noch persönlich zur Kenntnis genommen wird und somit auch nicht als Vergangenheit erkannt werden kann, womit nicht nur die narrative Erinnerung außer Kraft gesetzt wird, sondern von Anfang an eine sprachliche Verarbeitung des Geschehens blockiert wird. Dementsprechend schwierig ist es, die womöglich zusätzlich durch Amnesie dissoziierte Erinnerung wieder in eine zusammenhängende, chronologische Reihenfolge zu bringen.

Es zeigt sich also, dass an dieser Stelle eine erste Ebene des Sprachverlusts einsetzt: Denn indem nicht nur die narrative Erinnerung gestört wird, was dazu führt, dass sich auch die Fähigkeit zur Narration verflüchtigt, sondern auch die Linearität der Erinnerung durchbrochen wird, wird die Linearität der Sprache selbst gestört. Literarisch macht sich dies insbesondere durch auffallende Zeitgefüge, Lückenhaftigkeit oder tatsächliche Sprachlosigkeit bemerkbar, die die s.g. Traumaliteratur auszeichnen.[49]

Eine zweite Ebene des Sprachverlustes entspricht der in Se questo è un uomo wie oben bereits dargestellten, denn „Sich-Mitteilen bedeutet, eine Erfahrung oder eine Idee dem Denk- und Vorstellungshorizont eines anderen einzufügen. Das geht aber nur, indem man das Neue auf etwas Bekanntes zurückführt.“[50] Die Ereignisse aber sind schlichtweg zu furchtbar, als das herkömmliche Wörter sie fassen könnten, denn: „Das Trauma stellt die Konfrontation mit einem Ereignis dar, das aufgrund seiner Unvermittelbarkeit oder Grauenhaftigkeit nicht in die Schemata vorherigen Wissens eingepaßt werden kann.“[51] Es ist „[…] unique, it is untellable and unexplainable […]“ bis hin zu Dimensionen des Absurden.[52] Fragestellungen von Sinnkonstitution werden damit aufgerufen. So schreibt Sarah Kofman: „Über Ausschwitz und nach Ausschwitz ist keine Erzählung möglich, wenn man unter Erzählung versteht: eine Geschichte von Ereignissen erzählen, die Sinn ergeben.“[53] Mit dem Begriff des Sinns verbindet sich jener der Wahrheit: Der Zeuge will die Wahrheit aussprechen, diese jedoch definiert sich erneut durch ‚Sinn‘. „[…] so zerbricht die [Kopplung] von Wahrheit und Sinn […] im 20. Jahrhundert. In Ausschwitz wird die Kategorie ‚Sinn‘ auf die Begriffe ‚Rauch‘ und ‚Asche‘ zusammengeschmolzen,[54] ebenso wie die auf Ähnlichkeitsbeziehungen beruhenden Metaphern sich versagen, wenn Rauch und Asche nicht mehr sinnbildlich, sondern real und konkret zu verstehen sind.[55] „Auschwitz – und de[r] Komplex, für den dieser Name metonymisch steht – “[56] wirft also das Problem der narrativen Form der Wiedergabe auf, wenn Kategorien von Sinn und Wahrheit sich dem der Erzählung widersetzen. Elie Wiesel schreibt dazu: „A novel about Treblinka is either not a novel or not about Treblinka.”[57] Wie also geht Primo Levi mit dieser Problematik um?

[...]


[1] Edvardson, Cordelia, Für Primo Levi, S. 369-373, in: Levi, Primo, Ist das ein Mensch? Carl Hanser Verlag, München und Wien, 1988, S. 369.

[2] Thomson, Ian, Writing If This Is a Man, S. 141- 160, in: Farrell, Joseph (Hg.), Primo Levi, Peter Lang, Oxford, Bern, u.a., 2004, S. 142.

[3] 1947 erstmals bei De Silva unter der Herausgabe Franco Antonicellis erschienen.

[4] In Levis einleitendem Gedicht Se questo è un uomo wird das hebräische Shemà intertextuell aufgerufen.

[5] Vgl. De Luca, Vania, Tra Giobbe e i buchi neri, Istituto Grafico Editoriale Italiano, Neapel, 1991, S. 18.

[6] Die hier verwendete Definition von Trauma folgt insbesondere der im Fachgebiet der Psychologie zu verortenden Arbeit Michaela Hubers, als ein Ereignis, das als unerträglich empfunden wird, das individuelle Integrationsvermögen sprengt und eine den Organismus komplett überfordernde Extremsituation darstellt. Trauma, Extrembelastung, exzessiver Stress und Traumatisierung werden synonym verwendet. Vgl. Huber, Michaela, Trauma und die Folgen, Junfermann, Paderborn, 2005.

[7] Ebd., S. 22.

[8] Levi, Primo, Ist das ein Mensch? A. a. O., S. 5.

[9] Ebd.

[10] Levi, Primo, Se questo è un uomo, S. 1-181 in: Ders., Opere, Band 1, Einaudi, Turin, 1987, S. 54.

[11] Simbürger, Brigitta Elisa, Faktizität und Fiktionalität: Autobiographische Schriften zur Shoah, Metropol, Berlin, 2009, S. 20.

[12] Levi, Primo, Se questo è un uomo, a. a. O., S. 125.

[13] Vgl. hierzu Abschnitt 2.1.

[14] Ebd., S. 20.

[15] Ebd.

[16] „Cogito ergo sum“ schreibt René Descartes in seinen Meditationes de prima philosophia (1641).

[17] Levi, Primo, Se questo è un uomo, a. a. O., S. 73

[18] Müller, Herta, Die Atemschaukel, Carl Hanser Verlag, München, 2009.

[19] Ebd., S. 24f.

[20] Zit. nach Lütgehaus, Ludger, Ruhmors "Geist der Kochkunst” und der Geist der Goethezeit, im Zeitalter der kulinarischen Apokalypse, Basilisken Presse, Marburg, 2004, S.9.

[21] Gian Paolo Biasin geht in seinem Essay Our Daily Bread-Pane-Brot-Broid-Chleb-Pain-Lechem-Kenyér sogar so weit, herauszuarbeiten, inwiefern „Hunger, with the consequent search for food […] perhaps the most pre-eminent and obsessive theme of the book” ausmacht. Liest man diese These mit der oben besprochen zusammen, wird Se questo è un uomo zu einem Buch über die Annullierung des Menschen, d.h. über die Vernichtungslager im doppelten Sinne, wie auch Levi selbst diesen Begriff weiter fasst. Biasin, Gian Paolo, Our Daily Bread-Pane-Brot-Broid-Chleb-Pain-Lechem-Kenyér, S. 1-20, in: Frassica, Pietro (Hg.), Primo Levi as Witness, Casalini Libri, Florenz, 1990, S. 2.

[22] Levi, Primo, Se questo è un uomo, a. a. O., S. 20f.

[23] Ebd., S. 21.

[24] Ebd.

[25] „[…] siamo stati battezzati, porteremo finché vivremo il marchio tatuato sul braccio sinistro.” Ebd.

[26] […] abbiamo imparato che la nostra personalità è fragile, è piú in pericolo che nostra vita.” Ebd., S. 51.

[27] Ebd., S. 92.

[28] Ein weiterer Aspekt zu diesem Punkt würde die Verwandlung der bereits annullierten Häftlinge zu Tieren beschreiben, soll hier aber nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu bspw. Belpoliti, Marco und Gordon, Robert S. C., Primo Levi`s Holocaust vocabularies, S. 51-65, in: Gordon, Robert S. C. (Hg.), Primo Levi, Cambridge University Press, New York, 2007, S. 52-57.

[29] Ebd., S. 20.

[30] Ebd., S 127.

[31] Müller, Herta, Die Atemschaukel, a. a. O., S. 25.

[32] Levi, Primo, Se questo è un uomo, a. a. O., S. 87.

[33] Simbürger, Brigitta Elisa, Faktizität und Fiktionalität: Autobiographische Schriften zur Shoah, a. a. O., S. 95.

[34] Vgl. bspw. Levi, Primo, Se questo è un uomo, a. a. O., S. 10ff.

[35] Vgl. hierzu ausführlicher: Simbürger, Brigitta Elisa, Faktizität und Fiktionalität: Autobiographische Schriften zur Shoah, a. a. O., S. 92-96.

[36] Ebd., S. 96.

[37] Ebd., S. 93.

[38] Huber, Michaela, Trauma und die Folgen, a. a. O., S. 68.

[39] Vgl. ebd., S. 43.

[40] Ebd.

[41] Ebd.

[42] Ebd., S. 43.

[43] Ebd., S. 67.

[44] Ebd., S. 56f.

[45] Ebd., S. 57.

[46] Ebd., S. 67.

[47] Luckhurst, Roger, The Trauma Question, Routledge, USA (New York) und Kanada, 2008, S. 80.

[48] Vgl. Huber, Michaela, Trauma und die Folgen, a. a. O., S. 46.

[49] Vgl. hierzu Abschnitt 2.

[50] Dunker, Axel, Die Anwesende Abwesenheit, Wilhelm Fink Verlag, München, 2003, S. 25.

[51] Caruth, Cathy, Trauma und historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen, S. 84-98, in: Baer, Ulrich (Hg.), Niemand zeugt für den Zeugen, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2000, S. 93.

[52] Vgl. Stille, Alexander, Benevolence and betrayal: Five Italian Jewish Families Under Fascism, Jonathan Cape, London, 1992, S. 347.

[53] Kofman, Sarah, Erstickte Worte, Edition Passagen, Wien, 1988, S. 31.

[54] Dunker, Axel, Die Anwesende Abwesenheit, a. a. O., S. 21.

[55] „Die Welt der Konzentrationslager ist nicht ‚ähnlich‘, man kann sie nicht mit keiner anderen Erfahrung vergleichen, sie ist aber höchst konkret. Sie steht in einem Zusammenhang mit dem Rest der Welt. Für die Literatur könnte das heißen, daß auch die rhetorischen Figuren von Ähnlichkeit, also vor allem die herkömmliche Metapher als Topos der Ähnlichkeit, dieser Erscheinung nicht wirklich gerecht werden können.“ Ebd., S. 132.

[56] Ebd., S. 11.

[57] Wiesel, Elie, Art and Culture after the Holocaust, S. 403-415, in: Fleischner, Eva, (Hg.), Auschwitz: Beginning of a New Era? Reflections on the Holocaust, KTAV Publ. House, New York, 1977, S. 405.

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Details

Titel
Trauma und Sprache in Primo Levis Se questo è un uomo
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Die "Divina Commedia" und ihre literaris
Autor
Jahr
2010
Seiten
32
Katalognummer
V171400
ISBN (eBook)
9783640908219
Dateigröße
596 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Holocaust, Trauma, Sprachverlust, KZ, Auschwitz, Ist das ein Mensch?, Dante, Hölle, Inferno, Intertextualität, Augenzeugenbericht, Traumafolgeerscheinungen, Annullierung, Entleerung, sprachloser Schrecken, Kollektiv, Il Canto di Ulisse, Erzähldrang, Leerstelle, metonymische Leerstelle
Arbeit zitieren
Laura Gemsemer (Autor:in), 2010, Trauma und Sprache in Primo Levis Se questo è un uomo, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171400

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