Der Volksgerichtshofprozess gegen Helmuth James von Moltke


Lizentiatsarbeit, 1998

115 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Ausgangslage
1.2. Gliederung der Arbeit und Fragestellung
1.3. Quellenlage

1. Teil: Begriffsklärung und Grundlagen

2. Begriffsklärung: "Widerstand"
2.1. Martin Broszats Begriff der "Resistenz"
2.2. Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul: "loyale Widerwilligkeit"
2.3. Ian Kershaw: das kreisförmige Modell
2.4. Klaus Gotto und Konrad Repgen: das "Vier-Stufen-Modell"
2.5. Detlev Peukert: ein weiteres "Vier-Stufen-Modell"
2.6. Richard Löwenthal: "weltanschauliche Dissidenz"
2.7. Heinz Hürten: Die partielle Anpassung
2.8. Begriffsklärung für die vorliegende Arbeit

3. Kurzbiographie von Helmuth James von Moltke
3.1. Von 1907 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten
3.2. Die Löwenberger Arbeitslager
3.3. Im nationalsozialistischen Deutschland

4. Moltke als Mitglied des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW)
4.1. Die verschiedenen Aufgabenbereiche im Umfeld des OKW
4.2. Das konkrete Wirken von Moltke im OKW
a) Die Kombattantenfrage
b) Behandlung der Kriegsgefangenen
c) Menschenrechtsverstösse gegen Juden
d) Hilfe für die Menschen in den besetzten Gebieten

5. Der Kreisauer Kreis
5.1. Allgemeines
5.2. Die Rolle Moltkes im Kreis

6. Der Volksgerichtshof und sein Präsident Roland Freisler
6.1. Gründung, Entwicklung und Organisation des Volksgerichtshofs
6.2. Freisler als Präsident des Volksgerichtshofes

2. Teil: Prozess, Urteil und Einordnung in das Widerstandsmodell

7. Vorgeschichte des Todesurteils
7.1. Verhaftung und Haft
7.2. Anklage
7.3. Der Prozess – Verlauf und Urteil

8. Einordnung des Widerstandes im vordefinierten Modell anhand des Urteils
8.1. Der Kreisauer Kreis als Basis
8.2. Kirchliche Gebundenheit als Momentum?
8.3. Einordnung in das Widerstandsmodell
8.4. Bewertung
8.5. Die Kaltenbrunner-Berichte als Quelle für den VGH

9. Einordnung des von Moltke geleisteten Widerstands
9.1. Die Haltung zum Attentat gegen Hitler
9.2. Moltkes letzte Briefe – Kritische Quellenprüfung
9.3. Einordnung in das Widerstandsmodell
10. Urteil und Tat – Gründe für die fehlende Kongruenz der Widerstandseinordnung

11. Zwischen Prozess und Hinrichtung
11.1. Letzte Briefe
a) Christentum
b) Prozessanalyse
11.2. Gnadengesuch

12. Schlusswort
12.1. Ergebnisse
12.2. Schwierigkeiten
12.3. Weiterführendes

13. Bibliographie

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

1.1. Ausgangslage

Ein umfangreiches und historiographisch ausserordentlich interessantes Kapitel der Zeit­geschichte stellt die Widerstands­bewegung gegen den Nationalsozialismus in Deutschland dar. Unter Bewegung darf kein aufeinander abgestimmtes, einheitliches Gefüge verstanden werden, sondern ein Kampf einzelner Gruppen, die untereinander – wenn überhaupt – nur lose verbunden waren. Die Organisationen oder Personen des Widerstan­des kamen aus den verschiedensten Schichten: Katholi­ken, Protestan­ten, Sozialdemokraten, Reaktionäre, Konservative, Liberale, Kommunisten, Arbeiter und an­dere.

Eine Gruppe vereinte viele dieser Richtungen und versuchte, poli­tische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konzepte für die Zeit nach Hitler zu erarbeiten: der Kreisauer Kreis. Diese Interessengemeinschaft galt in der Geschichtsschreibung lange Zeit als theoretischer Debattierklub (siehe dazu Kapitel 4), welchem der Sinn für das Prak­tische fehlte. Da diese Ein­schätzung mittlerweile widerlegt ist, brauche ich auf diesen Aspekt hier nicht einzugehen.

Benannt wurde der Kreis nach dem schlesischen Gut des eigentlichen Initianten der Idee, Hel­muth James Graf von Moltke. Er stellte zusammen mit Graf Peter Yorck von Wartenburg den aktivsten Teil der Interessengemeinschaft dar. Moltke, ein Ur­grossneffe des Feldmarschalls von Moltke, wurde vor dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verhaftet, nämlich im Januar desselben Jahres. Durch die Verwicklung einiger "Kreisauer" in die Attentatspläne Stauffen­bergs entdeckte die Gestapo das Wirken der Männer um Helmuth James von Moltke. Acht von ihnen wurden zum Tode ver­urteilt und hingerichtet – Moltke im Januar 1945.

Neben seiner Tätigkeit im Kreisauer Kreis nutzte Moltke seine Position als Kriegsverwaltungsrat im Oberkommando der Wehrmacht, um gegen das Regime zu agieren. Dieser Aspekt aus Moltkes Leben ist weniger bekannt und wurde in der Literatur zu Unrecht vernachlässigt.

1.2. Gliederung der Arbeit und Fragestellung

In einem ersten Teil entwickle ich ein Widerstandsmodell, welches sich aus der Betrachtung der wichtigsten theoretischen Überlegungen zum Widerstandsbegriff ergibt. Die­ses Modell stellt die Basis für die zentrale(n) Fragestellung(en) dar.

Weiter behandelt der erste Part das Leben Helmuth von Moltkes, vorwiegend fokussiert auf die für den zweiten Teil der Arbeit relevanten Geschehnisse. Die Konstitution des Kreisauer Kreises mit seinen Wur­zeln sowie Moltkes Arbeit als Kriegsverwaltungsrat im Oberkommando der Wehr­macht sind impliziter Bestandteil der Lizentiatsarbeit. Helmuth von Moltkes Wi­derstehen gegen das totalitäre Regime vollzog sich auf verschie­denen Stufen und aufgrund spezieller Vorbedingun­gen. Im Gegensatz zur bisher erschienenen Literatur zu Moltke, die das Wirken im Kreisauer Kreis in den Mittelpunkt stellt, gehe ich von einem anderen Ansatz aus: zentral für diese Arbeit ist Moltkes Handeln gegen das Regime im Ober­kommando der Wehrmacht in Verbindung mit seinem Wirken im Kreisauer Kreis. Diese beiden Haupttätigkeiten Moltkes können meines Erachtens nicht unabhängig von­einander untersucht werden, sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig.

Als weiteren vorbereitenden Bestandteil lege ich die Wirkungsweise des Volksgerichtshofes dar. Dessen Präsident Roland Freisler erhielt (als Gegenpartei) in Moltkes letztem Lebens­abschnitt eine entscheidende Bedeutung. Deshalb gehört eine kurze Darlegung des Antipoden von Moltke ebenso in diesen ersten Teil wie eine Erörterung der Funktion des Gerichts.

Ich bin mir bewusst, dass einige dieser einleitenden Kapitel Mate­rial für eigene Arbeiten liefern würden. Ich möchte beto­nen, dass diese Abschnitte zwar vorbereitenden Charakter be­sitzen – eine für das Verständnis und den logischen Aufbau der Arbeit unerlässliche Vorbereitung –, jedoch ebenso die Grundlagen für das Verständnis des zweiten Teils legen.

Der zweite Teil der Arbeit stellt den eigentlichen Untersuchungsteil dar. Dabei steht ein Umstand im Mittelpunkt: die schriftliche Urteilsbegründung gegen Moltke vor dem Volksgerichtshof unter dessen Präsident Roland Freisler korre­spondiert erstaunlich schlecht mit dem Widerstand, den Moltke ge­leistet hat. Diese Tatsache führt direkt zu meiner zentralen Fragestellung in dieser Arbeit:

Wie sind die beiden unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Molt­kes Taten, das heisst seine eigenen und somit wirklich vorhandenen Umtriebe gegen das Regime, und die durch das Urteil gegebene Sicht, im Sinne des von mir entwickelten Widerstandsbegriffs einzuordnen? Genauer: wie sind die beiden Anschauungen in diesem Widerstandsmodell einzuordnen, welche Faktoren spielen dabei eine Rolle und wie erklärt sich die Unterschiedlichkeit der Einordnungen?

Natürlich ergibt sich aus dieser grundsätzlichen Fragestellung eine ganze Anzahl unter­geord­neter Fragen: Weswegen wurde Moltke überhaupt verurteilt? Wie ist die an der Oberfläche bleibende Begründung des Urteils zu erklären? Entsprachen die Gründe für die Verurteilung dem Wissen von Moltkes Umtrieben gegen das Regime?

Eingeleitet wird dieser zweite Teil durch die Darstellung der Anklage gegen Moltke. Weiter wird der Verlauf des Prozesses sowie das Urteil kurz erläutert. Damit ist die Basis gelegt für die nächsten drei Kapitel (Kapitel 8, 9 und 10), in welchen die beiden unterschiedlichen Einordnungen in das Widerstandsmodell (aus Kapitel 2.8.) untersucht sowie Erklärungen für die fehlende Kongruenz gesucht werden.

Bei der Einordnung in das Widerstandsmodell, welche anhand des Urteils vorgenommen wird (Kapitel 8), werden drei Faktoren näher untersucht, die das Urteil wesentlich beeinflussten: der Kreisauer Kreis als Basis für die Verurteilung, die Beziehungen Moltkes zur Kirche sowie die Kaltenbrunner-Berichte, welche dem Volksgerichtshof als Informationsquelle dienten.

Für eine adäquate Beurteilung des von Moltke geleisteten Widerstandes (Kapitel 9) anhand meines Schemas spielt ein Gesichtspunkt eine wesentliche Rolle: Moltkes Haltung zum Attentat gegen Hitler. Dieser Aspekt wird in der Literatur, welche sich mit dem Kreisauer Kreis beschäftigt, fast immer diskutiert. Die Frage, ob Moltke ein Attentat abgelehnt habe oder nicht, scheint mir elementar für eine Bewertung seines geleisteten Widerstandes und wurde nie unter Berücksichtigung aller Quellen beantwortet. Dies versuche ich in meiner Arbeit zu tun.

Im letzten dieser drei Kapitel, in welchem ich Gründe für die fehlende Kongruenz der Widerstandseinordnungen suche (Kapitel 10), bin ich stark auf die Quelleninterpretation angewiesen. Damit sind auch schon die Probleme dieses Kapitels aufgeworfen, denn Quellen für die Beantwortung dieser Frage sind rar oder gar nicht vorhanden.

Beschliessen werde ich meine Arbeit mit der kurzen Darlegung der Zeit zwischen der Ver­handlung und der Hinrichtung. Grundlage für dieses Kapitel sind seine "Letzten Briefe", die einem Moltkes Einstellung zur Religion näherbringen. Weiter soll der Einfluss der Briefe auf das Widerstandsbild untersucht werden.

1.3. Quellenlage

Einerseits stellt Moltke ein dankbares "Untersuchungsobjekt" dar: die Quellenlage ist ausrei­chend, vor allem dank der grossartigen Brief-Edition seiner Frau, Freya von Moltke (herausgegeben von Beate Ruhm von Oppen). Rund 600 Briefe sind ediert, nur diejenigen aus dem Gefängnis sind grösstenteils nicht veröffentlicht.[1] Zum Vergleich: von Peter Yorck sind 22 Schreiben erhalten. Das bei reicher Quellenlage oft vorhandene Problem, dass schon viel herausgearbeitet wurde, be­deutet in diesem Kontext keine Gefahr: es gibt rund um den Kreisauer Kreis viele Betä­tigungsfelder, zumal laufend neue Akten entdeckt werden, wie kürzlich in Moskau.[2]

Neben den Briefen Moltkes an seine Frau waren folgende Quellen wichtig für meine Untersuchung:

- Die unter dem Titel "Letzte Briefe" erschienenen Schriftstücke von Helmuth von Moltke. Es handelt sich um die letzten Briefe aus dem Gefängnis Berlin-Tegel, welche Moltke an seine Frau schrieb. Im Unterschied zu den oben erwähnten Briefen waren diese "Letzten Briefe" mit der Intention einer späteren Veröffentlichung geschrieben worden.
- Briefe und Erinnerungen von Personen, die Moltke kannten oder ihm nach seiner Verurteilung zu helfen versuchten. Geschrieben wurden diese Dokumente in den Jahren 1948–1965 an Historiker, welche auf diesem Weg Auskünfte über Moltke zu erhalten suchten. Diese Schriftstücke sind nicht ediert. Sie sind archiviert im Institut für Zeitgeschichte in München.
- Einige Lücken im Bild schloss ein Brief von Freya von Moltke vom Februar 1998 an den Verfasser dieser Arbeit. Sie beantwortete meine Fragen spontan und konnte einige Missverständnisse aufklären.
- Im Bereich der edierten Quellen dienten mir – neben den erwähnten Briefen Moltkes an seine Frau – Aufzeichnungen von ehemaligen Mitgliedern des Kreisauer Kreises als Basis für meine Untersuchung. Diese Aufzeichnungen wurden teilweise im untersuchten Zeitraum geschrieben (z.B. Tagebuchaufzeichnungen, Kassiber, Notizen), teilweise in den Jahren danach verfasst (Erinnerungen, Lebensberichte). Herausgreifen möchte ich den Band IV der "Gesammelten Schriften" von Alfred Delp (erschienen im Jahre 1994): in diesem wurde erstmals das Urteil gegen Helmuth James von Moltke und seine Mitangeklagten vollständig abgedruckt. Ein Faksimile des Urteils befindet sich in meinem Besitz (Kopie aus dem deutschen Bundesarchiv, Aussenstelle Berlin-Zehlendorf).

Wichtiges Material, um die Sicht der Nationalsozialisten aufzuzeigen, stellen die "Geheimen Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt" dar, welche unter dem Titel "Spiegelbild einer Verschwörung" in zwei Bänden erschienen sind. Diese Dokumente wurden vom SD verfasst und untersuchten die Vorgänge um den 20. Juli 1944 (Attentat auf Hitler). Aus den Berichten von Ernst Kaltenbrunner an Martin Bormann (Band 1) ersieht man, wieviel die Gestapo über den Kreisauer Kreis wusste. Aus dem Band 2 sind die Berichte des Parteigenossen Lorenzen über den Prozess gegen Moltke und seine Mitangeklagten relevant für diese Arbeit.

Die umfangreiche Darstellungsliteratur diente als Einstieg ins Thema und (ergänzend) für die Abfassung des ersten Teils der Arbeit.

1. Teil: Begriffsklärung und Grundlagen

2. Begriffsklärung: "Widerstand"

Begriffe, welche an Quellen herangetragen werden, bedürfen der Erläuterung. Dieser Prämisse folgend ist es für jede Arbeit, die sich mit dem Widerstand gegen den National­sozialismus aus­einandersetzt, wesentlich, den Begriff "Widerstand" zu de­finieren. Dies muss auf diese Arbeit fokus­siert geschehen, denn eine all­umfassende Begriffsklärung würde einerseits den Rahmen spren­gen, andererseits funktioniert eine allgemeingültige Definition nicht – Begriffe unterliegen einem historischen Bedeutungswandel. Allerdings ist das meist unter dem Begriff "Widerstand" oder "Opposition" subsumierte Verhalten derart zentral in meiner Untersuchung, dass keine zu eng gefasste Definition ent­wickelt wird.

In der wissenschaftlichen Diskussion existiert keine übergeordnete Definition dieses Begriffs. Einige Modelle wurden entwickelt, manche davon mit weitreichender Relevanz für die Diskussion.

Im Folgenden möchte ich den theoretischen Unterbau meiner Arbeit diskutieren, indem ich die bekanntesten Modelle der Geschichtswissenschaft aufzeige, um dann meine eigene Kreation darzulegen.

2.1. Martin Broszats Begriff der "Resistenz"

Eine begrifflich und wirkungsgeschichtlich neue Terminologie führt Martin Broszat ein.[3] Er fasst die verschiedenen Formen des Wider­stehens unter dem Begriff "Resistenz" zusammen, einer Wortschöpfung der Immunologie. "Resistenz" definiert Broszat wiefolgt: "Wirksame Ab­wehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspru­ches, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen oder Kräften her."[4] Einziges Kriterium dafür, dass Widerstand als Resistenz defi­niert werden kann, stellt die tatsächliche Wirkungseinschränkung eines Bereiches des Nationalsozialismus dar. Unausgeführte Gedanken und Pläne gelten also nach dem broszat­schen Modell nicht als Resistenz.

Broszat hob sich mit seiner Definition deutlich von der in der Wissenschaft gebräuchlichen Terminologie ab, die sich auf die "Aktionsgeschichte des Widerstandes" konzentrierte. Kershaw bezeichnet den Begriff der "Resistenz" gar als "Meilenstein" in der Geschichts­schreibung des Widerstandes, obwohl dieser Terminus in seinem Modell keine Verwendung fin­det.[5]

Broszat führt an, dass – v. a. in einem System wie dem national­sozialistischen – Taten und Wir­kungen zählen, und nicht Gedanken und Pläne, die nicht zur Ausführung gelangten.

Die einseitige Festlegung der Untersuchungen auf die grösseren Um­sturzversuche, dabei vor­wiegend auf den 20. Juli, verwirft der Autor mit der Begründung, dass diese Umsturzversuche keinen Erfolg zeitigten, während "kleine" Handlungen gegen das Regime dieses (in der Masse) erheblich einschränkten.

Weiter impliziert Broszats Resistenz-Begriff die "Zumutbarkeit" für das Leisten eines Wider­standes.[6] Die jeweilige Abhängigkeit vom System, Alter, soziale und berufliche Stellung, insti­tutioneller Rückhalt (Kirche) sind Faktoren, welche diese Zumutbarkeit beein­flussen.

Zum Schluss kommt der Autor auf die Grenzen zwischen Widerstand und Anpassung zu spre­chen. Er erläutert, dass eine klare Grenzlinie eher die Ausnahme als die Regel war. Meist fin­det man Mischformen, die Resistenz-Voraussetzung wurde oft durch eine gewisse Konfor­mität gebildet: ich denke in diesem Fall an Kurt Gerstein. Um das System von innen aushöhlen zu können, trat er in die SS ein. Zutiefst schockiert über die Vorgänge in den Vernichtungslagern versuchte er, die Öffentlichkeit zu informieren. Weil niemand seinen Berichten über die Greu­eltaten der Nazis Glauben schenken wollte, ging Gerstein zugrunde.

Martin Broszats Resistenz-Begriff umfasst viele Teile des Wider­standes. Darin liegt meines Erachtens seine Stärke, aber auch seine Schwäche.

Mit der Festlegung auf den Begriff "Resistenz" entfällt eine impli­zite Wertung der verschie­denen Formen des Widerstandes. Diese ist aber nicht nur legitim, sondern notwendig: fallen alle Arten von beabsichtigtem oder unbeabsichtigtem Widerstehen in die Kategorie "Resistenz", verlieren gewisse Formen des Widerstandes – die im Be­wusstsein des Risikos aus­geübt wurden – an historischer Relevanz, während die leichten, keineswegs 'gefährlichen' For­men über Gebühr aufgewertet werden.

Andererseits bin ich mit den Bedingungen, die Broszat für die Berechtigung zur Be­nennung als Resistenz anführt, einverstanden, sowohl was die Notwendigkeit der Wirkung als auch die Zumutbarkeit be­trifft.

In einer Kritik, die den eigenen Beitrag im Auge behält, kann ich nicht so weit gehen, wie Mallmann/Paul[7], deren Darlegung der Schwierigkeiten in ihrem Aufsatz "Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff" detaillierter aufgeführt sind. Ob bei­spielsweise Broszat durch seine Definition der "Resistenz" Bayern ins Zentrum des deut­schen Widerstandes rückte[8], ist für diese Arbeit irrelevant. Wie schon er­wähnt, hält Kershaw die Einführung des Resistenz-Begriffs für historiographisch wertvoll. Das Problem der engen be­grifflichen, nicht aber inhaltlichen Verwandtschaft zu den fremd­sprachigen Termini (wie das französische "résistance" oder das ita­lienische "resistenza") löst Kershaw durch die Entflech­tung der Wörter "Widerstand" und "Resistenz". Er sieht die broszatsche Resi­stenz als das Wir­kungsfeld, welches Verhaltensformen beschreibt, die nicht im Bereich des Widerstandes lagen, aber das Regime trotzdem oder ge­rade deswegen in irgend­einer Art einschränkten.[9]

2.2. Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul: "loyale Widerwilligkeit"

Wie in Kapitel 2.1. angedeutet, befassen sich Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul in ihrem Aufsatz mit der Begriffsbildung von Mar­tin Broszat. Begriffe definieren sie als "Werkzeuge zur Rekon­struktion und Interpretation der historischen Wirklichkeit"[10]. Damit verleihen sie der Begriffsdiskussion eine übergeordnete Bedeutung.

Die beiden Autoren stimmen mit Broszats Resistenz-Begriff keines­falls überein. Eine Resistenz im Sinne des Bayern-Projektes habe es nie gegeben. Die beschriebenen Fälle lassen sich laut Mallmann/Paul nicht als Opposition gegen das Regime interpretieren, von einer Be­hinderung oder Einschränkung des Anspruches der NSDAP kann nicht ausgegangen werden. Sie führen daher einen neuen Begriff ein: "loyale Widerwilligkeit" soll die Haltung der Basis, der Masse im Bezug auf das Regime umschreiben.[11] Ihre v. a. auf die Heimtücke-Verurteilungen aufge­baute Beweisführung legt dar, dass die überwie­gende Zahl der Heimtücke-Reden auf zeitweili­gen Abstand, aber kei­neswegs auf "mangelnde Loyalität" gegenüber dem Regime zurück­zu­führen war. Oft war es "eine Regression auf das Niveau der Fäkal­sprache ...: Stuhlgang der Seele"[12], jedoch keine grundsätzliche Auf­lehnung gegen das System oder Ablehnung der Ziele der Nazis. Das NS-Regime sei durchaus bis in seine letzten Tage fähig gewesen – dies ein Un­terschied zum Ersten Weltkrieg –, die Disziplin der Ar­beiter aufrechtzuerhalten, auch wenn sich Unmut partiell äusserte. Die Koexistenz von Übereinstimmung und Unzufriedenheit mün­det bei Mallmann/Paul in die These der "loyalen Widerwilligkeit". Entschei­dend für diese Terminologie ist, dass sich die loyale Wider­willigkeit nicht emporhob zu "Opposition und Wi­derstands­verhalten"[13].

Meine Kritik bemängelt die fehlende Breite des Begriffs der "loyalen Wider­willigkeit". Wäh­rend Broszat mit seinem Resistenz-Begriff grosse Teile der Opposition erfasst, lässt sich der Begriff von Mallmann/Paul nur auf die Basis, fast nur auf den "Arbeiterwiderstand" anwenden. Damit verliert der Begriff natürlich im Rahmen dieser Arbeit an Relevanz. Ich gehe nicht einig mit Helga Grebing, die den Text von Mallman/Paul als "präzise Zusammenfassung des Diskus­sionsstandes" erwähnt[14], denn meines Erachtens geht es den Autoren darum, den Begriff von Broszat zu entkräften. Andere Widerstandsdefinitionen werden bezogen auf Broszat diskutiert: dies ist je­doch keine Zusammenfassung des Diskus­sionsstandes.

Da der Begriff der "loyalen Widerwilligkeit" viele Formen des Wider­standes ausschliesst, geht er in die Terminologie meiner Arbeit nicht ein.

2.3. Ian Kershaw: das kreisförmige Modell

Zu Beginn des Kapitels über den Begriff des Widerstandes hält Kershaw fest, dass die Beur­teilung von Menschen, welche in einem Terrorregime Widerstand leisten, von jemandem, der nie unter einem solchen Regime gelebt hat, nur mit "Bescheidenheit und Hochachtung" erfol­gen darf.[15] Dies entbindet den Historiker natürlich nicht von der Aufgabe, das Problem des Widerstandes analytisch zu diskutie­ren.

Kershaw legt ausführlich die Position von Broszat dar, um dann in einer Synthese sein eigenes Modell vorzustellen. Wie Peukert (Kapitel 2.5.) bemüht auch Kershaw ein Bild, um die ver­schiedenen Arten von Opposition aufzuzeigen. Sein kreisförmiges Modell sieht "aussen einen weiten Dissens'brei'", welcher übergeht in ein enge­res Oppositionsband. Den kleinen Kern des Kreises bil­det der "fundamentale Widerstand". Er hält fest, dass die Grenze zwischen Dissens und Opposition fliessend, die Grenze zwi­schen Opposition und Wi­derstand jedoch deutlich wahrnehmbar gezogen werden müsste[16], da diese Steigerung einen eigentlichen "Quantensprung" bedeute.

Wie die meisten anderen Autoren, die sich mit dem Widerstands­begriff auseinandersetzten, kommt auch Kershaw zum Resultat: "In der Geschichtsschreibung zum Dritten Reich lassen sich Dissens, Op­position und Widerstand nicht losgelöst von Konsens, Zustimmung und Kolla­boration behandeln."[17]

Bei Ian Kershaw, der sich intensiv mit dem Modell von Martin Broszat auseinandersetzt, er­scheint mir der Aufbau des Modells nicht ganz logisch. Wenn er einerseits den Begriff von Broszat als Meilenstein in der Historiographie empfindet, wird nicht klar, wieso er die beiden Untergruppen – Dissens und Opposition – trennt und verschieden benennt, zumal die Grenzen sehr vage sind. In diesem Sinne könnte man festhalten, dass sich das Modell von Kershaw nicht unterscheidet von demjenigen Broszats, welches jedoch differenzierter definiert ist.

2.4. Klaus Gotto und Konrad Repgen: das "Vier-Stufen-Modell"

Klaus Gotto und Konrad Repgen entwickelten ein Vier-Stufen-Modell, um Widerstand ad­äquat zu beschreiben. Die erste und "unterste" Stufe stellt die Non-Konformität dar. Sie be­steht z. B. aus Schimpf­tiraden von Bauern, leise zum Ausdruck gebrachter Unzufriedenheit über die Löhne, o. ä. Als nächste Stufe folgt die Verweigerung, welche mit "Sachverhalten wie Resistenz, Nicht-Anpassung, Selbst­bewahrung zu verbinden ist"[18], also eine höhere, zumindest bewuss­tere Ebene impliziert.

Während die ersten beiden Stufen defensiver Natur sind, drückt die dritte Form bereits eine Offensive gegen das System aus: Gotto/Repgen nennen sie die Stufe des Protestes. Je höher die Stufe, desto gefährlicher wird ihr Ausdruck für das Regime, denn ein Protest, der sich nicht nur gegen einen Aspekt des Regimes richtet, kann zu einem Aufkünden der Regime-Loyalität führen.

Die extremste Form der Opposition stellt die letzte Stufe dar, wel­che die Autoren unter dem Begriff "aktiver Widerstand" oder "Widerstand im engeren Sinne" subsumieren. In diese Kate­gorie fällt alles, was zur Beseitigung des Regimes unternommen wurde, "... also nicht nur ein partielles, sondern ein generelles Nein zum Re­gime ...", was einen grundlegenden Unterschied zu den drei erstgenannten Schichten signalisiert.[19] Dies wiederum schliesst ein Zu­sammengehen mit Konformität in dieser letzten Stufe aus, während diese Möglichkeit bei den Kategorien eins bis drei durchaus gegeben war.

Gotto und Repgen entwickeln meines Erachtens ein brauchbares Modell zur Klassifizierung und zum Ver­stehen der verschiedenen Formen von Widerstand. Die Unterscheidung in vier Teile lässt eine Differen­zierung zu, ohne dass die Übersicht verlorengeht.

Der Makel an diesem Modell liegt in seiner doch recht groben Cha­rakterisierung der einzelnen Stufen – bei einigen Verhaltensweisen fällt die Zuordnung schwer.

2.5. Detlev Peukert: ein weiteres "Vier-Stufen-Modell"

Detlev Peukert entwickelte ein Vier-Stufen-Modell, dessen Kompo­nenten "Non-Konformität", "Verweigerung", "Protest" und "Widerstand" heissen. Inhaltlich unterscheiden sich die einzel­nen Stu­fen nicht grundlegend vom später entwickelten Modell von Gotto und Repgen. Der Unter­schied liegt in den Verknüpfungen, welche Peukert herstellt. Non-Konformität als schwächste Ausprägung einer Stellung gegen das Re­gime äusserte sich fast ausschliesslich partiell und in privatem Rahmen. Widerstand, am anderen Ende der Skala stehend, lässt auf eine generelle Ablehnung des Re­gimes schliessen und ging über den privaten Kreis hinaus, war meist staatsbezogen. Eng ver­bunden mit der ansteigenden Bereitschaft, etwas gegen die Terrorherrschaft zu unternehmen, ist gemäss Peukert die "Reichweite der Systemkritik" und der "Wirkungsraum der Handlung".[20]

Das Modell von Peukert halte ich für angemessen, um die verschie­denen Formen der Oppo­sition gegen das nationalsozialistische Regime zu klas­sifizieren. Einen Nachteil sehe ich höchstens darin, dass diese Entwicklung die älteste der vorgestellten ist (Publikation: 1982). Ein weiterer negativer Punkt ergibt sich durch die Verknüp­fungen: das Modell wirkt starr. Die Verbindung von Non-Konfor­mität mit "privat" und "partiell", sowie von Widerstand mit "staatsbezogen" und "generell" vernach­lässigt die mannigfaltigen Mischformen, welche vorhanden waren.

2.6. Richard Löwenthal: "weltanschauliche Dissidenz"

Richard Löwenthal unterscheidet drei Typen von Opposition: die "politische Opposition", die "gesellschaftliche Verweigerung" (institutionell oder individuell) sowie die "weltanschauliche Dis­sidenz"[21], wobei Überschneidungen vorkommen können.

Unter politischer Opposition versteht Löwenthal die bewusst er­folgte Gegnerschaft gegen das Dritte Reich ("Aktivitäten"), dessen Sturz herbeigeführt werden sollte, die deshalb "illegal [war] ... und konspirativ betrieben werden [musste] ..."[22].

Eine Stufe tiefer findet man mit der gesellschaftlichen Verwei­gerung auf institutioneller oder individueller Basis die quan­titativ herausragende Gruppe. Dieser Gruppe rechnet Löwenthal alle anderen Formen des Widerstandes zu, abgesehen von der Gegnerschaft der Kultur­schaf­fenden ("Innere Emigration"), welche die "welt­anschauliche Dissidenz" bilden.

Breite Unterstützung fand die Gruppe der "gesellschaftlichen Ver­weigerung", die "oft grössere Wirksamkeit"[23] besass, als der aktivere politische Widerstand.

Beim Löwenthal-Modell erhalten nur die Gruppen der politischen Op­position und der gesell­schaftlichen Verweigerung eine gewisse Rele­vanz für diese Arbeit. Doch auch diese Katego­rien bergen das­selbe Problem, wie das Modell von Broszat: die richtigerweise von Lö­wenthal als sehr wichtige Gruppe der gesellschaftlichen Verweige­rung dargestellte Einheit er­scheint zu umfassend. Genau wie beim broszatschen Begriff der Resistenz entsteht bei der Terminologie von Löwenthal ein monolithischer Block der Opposition ausserhalb des aktiven Widerstandes. Die Formen der "gesellschaftlichen Ver­weigerung" waren jedoch so vielfältig, dass ich eine Zusammen­fassung all dieser Gruppen für inadäquat halte. Deshalb scheint mir dieses Modell zu grob aufgefächert.

2.7. Heinz Hürten: Die partielle Anpassung

Auch Heinz Hürten beschäftigt sich mit dem Widerstandsbegriff, spe­zifisch ausgerichtet auf den kirchlichen Widerstand.[24] Er entwickelt keine Theorie zur Bedeutung des Wortes "Widerstand", sondern be­spricht die verschiedenen Modelle, die den Widerstandsbegriff zu klassifizieren versuchen, ganz kurz. Doch Hürten bringt – sehr aus­führlich – einen anderen Aspekt in die Diskussion, der für Helmuth von Moltke eine Rolle gespielt hat, nämlich den Aspekt der partiellen Anpassung. Hürten meint, dass Widerstand in Deutschland während der nationalsozialistischen Zeit meist ver­bunden war mit einer gewissen Anpassung an das System, als Voraus­setzung für die Möglichkeit des Weiterbestehens unter den herr­schen­den Bedingun­gen[25]. Diese Anpassung an die totalitäre Herrschaft wird von Hürten differen­ziert: erstens bot

sie ein Umfeld, in dem man sich freier bewegen konnte, zweitens gab es in vielen Grup­pen des Widerstandes durchaus Bereiche, in denen die Ziele und Vor­stellungen der Nazis und der Op­ponenten übereinstimmten. So bestand z.B. ein breiter Konsens, wo es um die Eindämmung des kommunisti­schen Einflusses ging.[26] Da man diese partielle Anpassung auch bei Hel­muth von Moltke findet, selbst wenn er den National­sozialismus schon in den Anfängen strikt abge­lehnt hat, habe ich diesen Aspekt in die Begriffsdiskussion miteinbezogen.

2.8. Begriffsklärung für die vorliegende Arbeit

In meiner persönlichen Modellbildung zur Definition von Widerstand habe ich mich für ein pyramidales Drei-Stufen-Modell entschieden. Die Benennung erscheint mir eher sekundär, denn entscheidend ist, was zu welcher Stufe gehört. Trotzdem komme ich natürlich nicht um eine Definition herum. Angelehnt an die oben diskutierten Modelle nenne ich die drei Stufen "Resistenz", "Protest" und "aktiven Wider­stand".

Der Begriff der Resistenz kann nur bedingt mit Broszats Resistenz­begriff gleichgesetzt werden. Resistenz meint für diese Unter­suchung (für die im Übrigen diese Stufe nur eine marginale Be­deu­tung besitzt) alle Momente von Abwehrhaltung gegen das Regime, die öffentlich statt­fan­den – öffentlich meint hier ausserhalb der Ge­meinschaft der Familie oder des Freundes­kreises

– aber unorganisiert und spontan passierten. Ob die Abwehrhaltung bewusst oder unbe­wusst geschah, ist nicht ent­scheidend, im Gegensatz zur Wirkung, die erzielt werden musste. Aus der Herleitung dieser Kriterien ergibt sich, dass Resistenz eher partiell als generell und eher per­sönlich, als staatsbezogen ver­standen wird.

Als Protest bezeichne ich alle Momente von Resistenz, welche nicht spontan, sondern organi­siert abliefen. Zwingend ist das Be­wusstsein des Vorgehens, ebenso musste eine Wirkung er­zielt werden, die Regierung musste gehemmt, behindert, gestört werden. Hier erkennt man also die Korrelation von Absicht und Wirkung, welche für Roland Weis notwendig ist.[27] Weiter ist eine direkte Einwirkung im Hinblick auf eine Änderung des Systems nicht vonnöten, die Personen der Kategorie des Protestes haben ihr Handeln nicht direkt auf ei­nen Umsturz

ausgerichtet. Allerdings fand auf dieser Stufe schon eine gedankliche Erweiterung statt, d. h. verschiedene Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen – beispielsweise eine Niederlage Deutschlands. Ferner findet man auf dieser Stufe den Übergang von der partiellen zur generellen Ablehnung des Sy­stems. Der Staat rückt in den Mit­telpunkt des Blickfeldes, nicht mehr der private Raum. Der Protest ist die eigentliche Vorstufe des aktiven Widerstandes, ebenso wie die Steigerung der Resistenz.

Der aktive Widerstand bezeichnet die letzte Stufe der Opposition gegen Hitler. Broszats Be­griff der Zumutbarkeit ist auf dieser Stufe irrelevant, denn niemandem war es zuzumuten, sein Leben hinzugeben. Genau damit aber mussten die Personen des aktiven Widerstandes im Falle des Scheiterns ihrer Bemühungen mit grosser Wahrscheinlichkeit rechnen. Aktiver Widerstand meint alle Momente von Pro­test, die direkt auf einen Sturz des Regimes gerichtet wa­ren. Eine durchweg generelle Ab­lehnung des Systems charakterisiert diese Kategorie. Die Stoss­richtung stellt den Staat in den Mit­telpunkt der Überlegungen.

Diese Wertung entspricht nicht der lange Zeit vollzogenen Heroisie­rung der Attentäter des 20. Juli und der damit oft einhergehenden Marginalisierung der verschiedenen, möglicherweise sogar wirkungs­volleren Arten von Opposition. Trotzdem komme ich nicht umhin, den aktiven Widerstand als Endstufe der Opposition gegen den Nationalsozialismus auszu­machen. Ob eine qualitative Diffe­renz zum Protest oder auch zur Re­sistenz besteht, ergibt sich aus der Betrachtung der einzel­nen Bei­spiele gemessen an der Wirkung. Schon die Definition der drei Stufen macht deutlich, dass scharfe Grenzen zwischen den einzelnen Kategorien nicht existieren. Die Übergänge sind fliessend, greifen situationsspezifisch ineinander über. Das Widerstehen konnte auf verschiede­nen Ebenen stattfinden.

Das Fehlen jeglicher Möglichkeit zum partiellen Konsens stelle ich auch auf der Stufe des akti­ven Widerstandes nicht fest. Wie in den beiden anderen Bereichen findet man das Zusammen­spiel von Konsens und Opposition, oft war gar eine teilweise Anpassung unerlässliche Bedin­gung, um die Voraussetzungen für das Leisten eines Widerstandes überhaupt zu erfüllen.

Unterhalb dieses Drei-Stufen-Modells existieren weitere Formen von Non-Konformität. Der grosse Brei der Unzufriedenheit aus verschie­denen Gründen erscheint mir zu wenig klar und relevant für meine Untersuchung, um ihn als unterste Stufe in mein Modell aufzunehmen.

3. Kurzbiographie von Helmuth James von Moltke

Zentral für das Verständnis von Moltkes Verhalten und Auffassungen ist dessen Bio­graphie, sowohl was seine persönlichen Wurzeln be­trifft, als auch die Ursprünge seiner Aktivitäten im Kreisauer Kreis..

Zu biographischen Fakten von Moltke existiert eine reiche Auswahl an Literatur, die sich wiederum auf eine umfangreiche Quellensammlung stützt. In dieser Hinsicht treten vor allem die Dokumentensammlung von Ger van Roon[28] sowie das Buch von Freya von Moltke, Michael Balfour und Julian Frisby[29] hervor. Sie enthalten beide hunderte von Dokumenten, die meisten in Form von Brie­fen. Für das vorlie­gende Kapitel diente mir die Darstellungsliteratur nur am Rande. Ich habe versucht, anhand der Quellen ein Bild von Moltkes Leben zu erstellen.

Im Abschiedsbrief an seine beiden Söhne (Oktober 1944) definierte Moltke den geistigen Überbau, unter dem sich sein Leben vollzog:

"Ich habe mein ganzes Leben lang, schon in der Schule, gegen einen Geist der Enge und Gewalt, der Überheblichkeit, der Intoleranz und des Absoluten, erbar­mungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass dieser Geist mit seinen schlimmen Folgeerscheinungen wie Nationalismus im Exzess, Rassenverfolgung, Glaubenslosigkeit, Materialismus überwunden werde. Insoweit und von ihrem Standpunkt aus haben die National­sozialisten recht, dass sie mich umbringen ..."[30]

3.1. Von 1907 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten

Eine wunderschöne und ausführliche Darstellung seines bisherigen Lebens gab Helmuth von Moltke in einem Brief, den er zwischen dem 28. Januar und dem 5. Februar 1944 aus dem Gefängnis Berlin Prinz-Albrecht-Strasse an seine Söhne schrieb[31], neun Tage nach seiner Ver­haftung. Sehr aus­führlich schilderte Moltke seine Jugend, "jene schöne Zeit, die mir nachträg­lich wie vergoldet erscheint, wie ein unerschöpflicher Born von Liebe und anhänglichen Ge­danken, von Erinne­rungen mit Heimatgefühlen."[32]

Am 11. März 1907 wurde Helmuth von Moltke, ein Urgrossneffe des in Deutschland verehrten Generalfeldmarschalls von Moltke (diese Verwandtschaft kam Moltke in späteren Jahren zugute, siehe Kapitel 10), in Kreisau (Schlesien) geboren. Seine Mutter war Südafrikanerin und die Toch­ter des "Chief-justice of South-Africa" Sir James Rose-Innes, was auch den englischen zweiten Vornamen von Moltke er­klärt. Die sprachliche und kul­turelle Vielfalt in seinem Elternhaus führte dazu, dass der Kreisauer nie natio­nalistisch dachte. Den Konzeptionen des Kreisauer Kreises kann man entnehmen, dass Moltke stets ein gesamteuropäisches Modell be­vorzugte, wenn es um die Wiederaufrichtung des friedlichen Zusammenlebens ging.

Als sehr wichtig für die Entwicklung des Jungen erachte ich die weltoffene, warme und vorur­teilslose Atmosphäre, die Moltkes Mutter verbreitete. Immer waren Gäste aller Nationalitäten im Haus, zu Anfang ihrer Ehe ein Umstand, welcher Dorothy Moltke-Rose-Innes nur schwer akzeptieren konnte, war sie doch fast nie mit ihrem Mann alleine. Nach und nach gewöhnte sie sich aber an diesen Zustand und kultivierte ihn. Helmuth von Moltke schilderte diesen Umstand seinen Söhnen:

"Ich kann mich erinnern, dass wir selbst in den viel ärmeren Zeiten der Nachkriegs­zeit selten weniger als vierzehn Personen zu Tisch waren und sehr oft mehr als zwanzig. Immer waren Gäste da. Kreisau war ja der Familienmittelpunkt, und alle Familienmitglieder hatten und benutzten das Recht, jederzeit zu kommen. Ausser­dem kamen häufig Freunde, hauptsächlich Musiker, und Leute, die mit der Chri­stian Science[33] etwas zu tun hatten. So war Mami in einen Strudel von Menschen gestellt, die ihr alle mehr oder weniger fremd waren, deren Sprache sie nur sehr unvollkommen, deren Sitten sie gar nicht kannte, und war zugleich von all ihren Jugendfreunden getrennt, und der Mann, den sie liebte, der war nie mit ihr allein ...

Dieser Schmerz, diese Trennung von allem, womit sie aufgewachsen war, das machte sie aber mit sich ab. Für alle Menschen war sie immer lieb, immer geduldig, immer bereit, nie war ihr etwas zuviel ... [I]n weniger als einem Jahr hatte das Haus ihren Stempel bekommen ... Alle, die kamen, waren dort zu Hause, nicht weil es nett und lustig war, sondern weil in dem Haus eine so tiefe menschliche Wärme herrschte, die alle umgab. In dieser Wärme, meine lieben beiden Kleinen, sind wir aufgewachsen, und wer diese Wärme mitbekommen hat, dem wird nie wieder kalt ums Herz werden."[34]

Durch die verschiedenen Auslandaufenthalte – und damit Schulabsenzen – verpasste der junge Moltke einiges an Schulstoff und bekundete Mühe, die Schule in der normalen Zeit zu absolvieren. Einmal wurde er nur provisorisch versetzt (was ihn selber erstaunte, denn er hatte mit einer Nicht-Versetzung gerechnet), und beim Abitur half ihm ein glücklicher Zufall: da Moltke be­kannter­massen nicht sehr fleissig gewesen war, sollte er in ziemlich vielen Fächern geprüft werden. Zuerst musste er einen Vortrag über Napoleon halten. Dieser gefiel einem Schulrat so gut, dass er Moltke vom Rest der Prüfungen suspendierte.[35]

Im Jahre 1927 schrieb sich Moltke an der rechtswissenschaftlichen Fakultät in Breslau ein. Die politischen Vorgänge interessierten ihn aber weit mehr als sein Studium. Moltke brachte dies in einem Brief an seinen Grossvater zum Ausdruck:

"I am studying law. I think that is perfectly right, I will need the juridical trai­ning all my life. I am interested in the work, – but that is not my life. Now, where is the concentration? ... I am sure, that my life is not law, but politics ... I don't see, why it is necessary, to begin your political work, when you are no more young, whereelse you begin to study every other profession, when you are young. I think that politics is so difficult a profession, that you can not begin early enough."[36]

Er lernte in Berlin die Wienerin Eugenie Schwarzwald kennen. Ihr soziales Engagement beein­druckte den jungen Moltke. Sie ermunterte ihn, in Wien zu studieren, was er für einige Monate befolgte. Das Ehepaar Schwarzwald übte auf die Entwicklung des Schlesiers eine nicht zu un­terschätzenden Einfluss aus. Er weilte während seiner Wiener Zeit oft im Haus der Schwarz­walds und lernte viele interessante Leute kennen.[37]

Moltke hatte seine Studien noch nicht beendet, als ihn der Hilferuf seines Vaters erreichte: Kreisau befand sich in grossen Schwierigkeiten. Der Sohn sollte das Gut retten. In der Betriebswirtschaft nicht sehr versiert, folgte er trotzdem dem Ruf seines Vaters und inve­stierte viel Zeit in die Rettung des landwirtschaftlichen Betriebes. Im Laufe des Jahres 1930 arbeitete er wie besessen, um Kreisau nicht verkaufen zu müssen. Ein soziales Engagement be­gleitete ihn zeit seines Lebens. Deshalb lagen ihm auch die unschuldig in Not geratenen Bauern besonders am Herzen. Dies betonte er in einem Brief an Freya Deichmann – die er 1929 kennengelernt hatte –, nachdem ein entscheidender Schritt in Richtung "Erhaltung des Gutes" vollbracht war:

"... was auch jetzt hier geschieht, ob die Sache doch noch schief geht, wenigstens verlieren nicht kleine Bauern ihr Geld, ... Ich kann kaum schreiben, weil ich mich so freue, dass ich am ganzen Leib zittere. Wenn das nicht geglückt wäre, so hätte das bedeutet, dass ein ganzes Dorf voll Bauern überschuldet, verarmt wäre ..."[38]

Am 18. Oktober 1931 heirateten Freya Deichmann und Helmuth James von Moltke. Im selben Monat zogen sie nach Berlin, wo beide ihre Studien beendeten.

3.2. Die Löwenberger Arbeitslager

Die Frage nach der Bedeutung der Löwenberger Ar­beits­lager für die Entwicklung des Kreisauer Kreises war lange Zeit umstritten.[39] Deshalb steht es diesem Aspekt aus dem Leben Moltkes in der vor-nationalsozialistischen Ära zu, ge­sondert aufgeführt zu werden.

In Schlesien gab es in den zwanziger Jahren industrielle Gebiete, ehemalige Zentren, die zu­nehmend verarmten. Die sozialen Missstände veranlassten Moltke dazu, im nahe bei Kreisau gelegenen Waldenburg Anstrengungen zu unternehmen, um die Not zu lindern. Mit seinem Vetter Carl Dietrich von Trotha und dessen Freund Horst von Einsiedel[40] wandte er sich Eugen Rosenstock-Huessy[41]. Dieser hatte sich schon seit einiger Zeit mit der Problematik der Arbeiterarmut in Schlesien beschäftigt. Zusammen regten sie die Bildung eines Arbeitslagers im Waldenburgerviertel an, an dem sich Vertreter der verschiedenen Schichten

treffen und Lösungen anstreben sollten. Moltke engagierte sich und nutzte seine gesellschaft­liche Stellung, um Kontakte zu knüpfen. So organisierte er Unterstützung von namhaften Per­sonen wie Ger­hart Hauptmann und Bernard von Brentano.[42]

Vom 14. März bis zum 1. April 1928 fand das erste schlesische Arbeitslager statt. Mehr als 100 Teilnehmer bedeuteten einen beachtlichen Erfolg, bedenkt man die schwierige wirtschaft­liche Situation, welche es vielen Arbeitern nicht erlaubte, zwei Wochen ihrem Arbeitsplatz fernzubleiben. Referenten waren unter anderem Rosenstock-Huessy und Adolf Reichwein, auch er späte­res Mitglied des Kreisauer Kreises. Unter den Gästen befanden sich auch Moltkes Eltern. Dorothy Moltke bezeichnete in einem Brief an ihren Vater das Arbeitslager als "grossen Er­folg"[43].

Die Löwenberger Arbeitslager wurden 1929 und 1930 weitergeführt, allerdings ohne die Mit­hilfe von Moltke. Weshalb er sich nicht mehr engagierte, steht nicht fest. Kurt Finker hält es für wahrscheinlich, dass Moltke den illusionären Charakter der Bewegung erkannt hat.[44] Es gibt eine einleuchtendere Erklärung: Moltke wurde 1929 von seinem Vater nach Kreisau ge­rufen, um das Gut zu retten. Wie schon erwähnt (Kapitel 3.1.), nahm diese Phase Moltke zeitlich voll in Anspruch, sodass eine Mitarbeit bei der Organisation die­ser Lager nicht mehr möglich war.

In der Literatur werden die Löwenberger Arbeitslager meist als erste Stufe des Kreisauer Krei­ses oder zumindest als Inspirationsmodell bezeichnet.[45] Hat diese Meinung ihre Berechtigung?

Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil kein spezifisches Quellenmaterial von Moltke zu diesem Punkt vorliegt. Kurt Finker behauptet, dass kein Zusammenhang zwischen den Lagern und dem Kreisauer Kreis bestehe. In einem Brief an Ger van Roon äusserte Rosenstock-Huessy:

"In Moltkes Bewusstsein hat kein Zusammenhang zwischen [Löwenberger] Ar­beitslager und Kreisauer Kreis bestanden. Sein individuelles intellektuelles Erwa­chen setzte erst später ... ein. Bedenken Sie, dass er 19 Jahre alt war, als sein Vet­ter Trotha ihn mir zuführte. ... Sie können den Gesamtschauplatz der Lager als ei­nen notwendigen Wachstumsgrad des Kreisauer Kreises betrachten, wenn Sie sich vor dem Rationalismus hüten, zu meinen, Moltke habe an die Lager gedacht, als er den Kreis bildete. Das hat er nicht getan."[46]

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen liess Rosenstock-Huessy die Feststellung gelten, er selber sei der "Erzvater des Kreisauer Kreises". So formuliert, sei diese Aussage richtig, meinte Rosen­stock.

Einen Berührungspunkt stellte die Beschäftigung mit der Minderheitenfrage dar, die Moltke bei den Löwenberger Lagern als zentral erachtete, und die ihn auch während der ganzen national­sozialistischen Zeit begleitete. Dies kam auch in den Arbeiten für den Kreisauer Kreis zum Ausdruck.[47]

Offensichtlich ist auch, dass viele Kontakte geknüpft wurden, die später leicht wiederauf­genommen werden konnten. So waren von den Mitgliedern des Kreisauer Kreises folgende Männer – neben Moltke sowie den schon erwähnten Einsiedel und Trotha – zu ver­schiedenen Zeiten an den Arbeitslagern beteiligt: Adolf Reichwein, Hans Peters, Peter Yorck von Warten­burg, Theodor Steltzer, Otto Heinrich von der Gablentz.[48]

3.3. Im nationalsozialistischen Deutschland

Moltke registrierte den absoluten Anspruch des Regimes schon in der Anfangszeit. Dies wird in einem Brief an Maria Strindberg-Lazar deutlich, den er auf der Überfahrt nach Südafrika schrieb:

"Ich wollte Ihnen eigentlich einen Brief über das Leben derer schreiben, die in Deutschland nicht verfolgt werden. Es sind die Personen, an deren nationaler Ge­sinnung man nicht zweifelt, die über sozialistische Neigungen erhaben sind, und die doch nicht ausgesprochen monarchistisch gesinnt sind. Sie werden aus dieser Be­schreibung schon entnehmen, dass ich zu dieser Gruppe gehöre. Es scheinen aller­dings Zweifel darüber zu bestehen, ob wir nicht doch zu der monarchistischen Cli­que gehören."[49]

Nach der Einleitung folgt eine Kate­gorisierung der Personen in Deutschland, abgestuft nach dem Grad ihrer Gefährdung durch die Nazis. Moltke erwähnte auch noch die Vorteile, die seine eigene Stellung mit sich brachte:

"Man hat ... folgende Vorteile: man darf eine abweichende Meinung ungestört sa­gen, denn man wird höchstens für wenig einsichtig, jedoch nicht für charakterlos gehalten; man ist höchstens begehrt, denn die Partei hat keine andere Aus­dehnungsmöglichkeit mehr, als diejenigen zu gewinnen, die ihr noch fernstehen; man erhält infolgedessen bei Veranstaltungen, zu denen man eingeladen ist, Ehren­karten, während die verehrten Parteigenossen hinten Platz nehmen dürfen; man braucht nicht mit dem Hitlergruss zu grüssen; es scheint sich allmählich die Vor­stellung einzubürgern, dass der Prolet mit Heil Hitler grüsst, während der feine Mann guten Tag sagt ... Wie Sie sehen geht es uns ganz gut ..."[50]

Dieser Brief offenbart, dass Moltke zwar nicht mit den Nationalsozialisten sympathisierte (im Gegensatz zu vielen anderen späteren Widerstandskämpfern erkannte er die Gefahr schon früh), er jedoch in diesen Jahren noch nicht ausreichend über die Missstände im Reich informiert war. Dieser 1934 geschriebene Brief ist jedoch für die nächsten Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft nicht charakteristisch, denn Moltke liess in seiner Funktion als Rechtsanwalt vielen Bedrängten Hilfe zukommen.[51]

In den folgenden Jahren hielt sich der junge Moltke oft in England auf. 1938 legte er die Prü­fung als "barrister" (englischer Rechtsanwalt) ab[52] und war somit befugt, in England vor Ge­richt rechtliche Interessen von Klienten zu vertreten. Mit dieser Ausbildung erreichte Moltke vor allem ein Ziel: er hatte einen legalen Grund, immer wieder aus Deutschland heraus­zu­kommen. Nach der abgelegten Prüfung wurde er Mitglied des "Inner Temple", was ihn ver­pflichtete, mindestens dreimal pro Jahr nach England zu fahren, um an den obligatorischen "dinners" teilzunehmen.[53]

Durch seine Eltern hatte Moltke schon seit seiner Jugend Kontakt mit Engländern. Dieser wurde während seiner Ausbildung zum "barrister" intensiviert, sodass später einige Hoffnungen des Kreisauer Kreises in die Auslandbeziehungen von Helmuth von Moltke gesetzt werden konnten.

4. Moltke als Mitglied des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW)

Der Name Helmuth James von Moltkes wird meist im gleichen Atemzug mit dem Kreisauer Kreis genannt. Diese Reduzierung auf den Widerstand im berühmten Kreis wird dem Wirken dieses Man­nes nicht gerecht, denn sein Engagement in dieser Gruppe stellte nur eine Facette seines arbeitsinten­siven Lebens dar. Freya von Moltke beschreibt dies anschaulich, wenn sie von seinen "zwei Berufen" spricht, nämlich dem "seines Amtes im Oberkommando der Wehr­macht und dem der Konspiration"[54]. Zu unrecht wird der erstgenannte Aspekt in der Literatur vernachlässigt. Die lange Zeit nach dem Krieg bestehenden Vorwürfe, der Kreisauer Kreis sei nichts Anderes als ein theoretisierender Debattierklub gewesen[55], entkräftete Moltke für seine Person allein schon mit dem stark auf die Praxis ausgerichteten Wirken gegen das Regime im Oberkommando der Wehrmacht. Eine strikte Trennung der beiden Bereiche entsprach nicht den Gegebenheiten: Moltke nutzte zum Beispiel die Möglichkeit zu Auslandreisen – die sich ihm aufgrund seiner Tätigkeit im OKW eröffnete – auch, um Kontakte für den Kreis­auer Kreis zu knüpfen. Der in Norwegen stationierte Theodor Steltzer, Mitglied des Kreisauer Kreises, verkörperte eine sol­che Verbindungsfigur: er informierte Moltke beispielsweise über die wachsenden Spannungen zwischen der norwegischen Kirche und Reichskommissar Terboven, worauf Moltke seinen Chef, Admiral Canaris unterrichtete.[56] Die beiden Widerstandsebenen greifen phasenweise in­einander über, beeinflussen sich und sind vom gleichen Ziel geleitet: der Beseitigung des Drit­ten Reiches.

4.1. Die verschiedenen Aufgabenbereiche im Umfeld des OKW

Helmuth von Moltke wurde bei der Mobilmachung kriegsdienstuntauglich, aber "büroverwendungsfähig" geschrieben.[57]

In den ersten Kriegswochen wurde er zum Kriegsverwaltungsrat ernannt und gehörte fortan – bis zu seiner Verhaftung im Jahre 1944 – zur völkerrechtlichen Gruppe der Abteilung Aus­land/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht.[58] Amtschef von Moltke war Admi­ral Wil­helm Canaris. "Der kleine Matrose", wie Canaris im Amt genannt wurde, erwies sich als kon­sequenter Hitlergegner, der allerdings mit grösster Vorsicht agierte.[59]

[...]


[1] Brief von Freya von Moltke an den Verfasser vom 26. Februar 1998. Freya von Moltke hätte mir die Briefe zwar zur Verfügung gestellt, doch nur bei persönlicher Anwesenheit. Sie lebt in den USA, was solch ein Unterfangen leider verunmöglichte.

[2] Karpen, Ulrich und Schott, Andreas (Hg.). Der Kreisauer Kreis. Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke. Heidelberg 1996, hier: S. 31. Ger van Roon äussert die Vermutung, dass sich in dem noch nicht er­schlossenen und noch nicht geöffneten Militärarchiv in Moskau das Tagebuch des Amtes Aus­land/Abwehr befinden könnte. Dies würde eine genauere Rekonstruktion der Arbeit Moltkes zulassen.

[3] Broszat, Martin. Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojektes "Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945", in: Graml, Hermann und Henke, Klaus-Dietmar (Hg.). Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat. München 1986, S. 68–91.

[4] Ebd., S.75/76.

[5] Kershaw, Ian. Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 281.

[6] Broszat, S. 77/78.

[7] Mallmann, Klaus-Michael und Paul, Gerhard. Resistenz oder loyale Widerwilligkeit? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 41, 1993, S. 99–116.

[8] Ebd., S. 103.

[9] Kershaw, S. 290.

[10] Mallmann/Paul, S. 99.

[11] Ebd., S. 105.

[12] Mallmann/Paul, S. 106.

[13] Ebd., S. 116.

[14] Grebing, Helga und Wickert, Christl. Das "andere Deutschland" im Widerstand gegen den National­sozialismus. Beiträge zur politischen Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur im Exil und im Dritten Reich. Essen 1994, S. 7.

[15] Kershaw, S. 268/269.

[16] Kershaw, S. 300.

[17] Ebd., S. 315.

[18] Gotto, Klaus und Repgen, Konrad (Hg.). Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz 1990, S. 175.

[19] Gotto/Repgen, S. 175/176.

[20] Peukert, Detlev. Volksgenossen und Gemeinschaftsfreunde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982, S. 97.

[21] Löwenthal, Richard. Widerstand im totalen Staat, in: ders. und von zur Mühlen, Patrik (Hg.). Wider­stand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Bonn 1997, S. 11–24.

[22] Löwenthal, S. 14.

[23] Löwenthal, S. 14.

[24] Hürten, Heinz. Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Mainz 1987, S. 56–76.

[25] Ebd., S. 65.

[26] Hürten, S. 66.

[27] Weis, Roland. Würden und Bürden. Katholische Kirche im Nationalsozialismus. Freiburg 1994, S.18.

[28] Helmuth James von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente (herausgegeben von Ger van Roon), Berlin 1986 (zitiert: Moltke, Völkerrecht).

[29] Moltke, Freya von; Balfour, Michael; Frisby, Julian. Helmuth James Graf von Moltke 1907–1945. Berlin 1984.

[30] Helmuth James Graf von Moltke an seine Söhne vom 11. Oktober 1944, in: Moltke, Völkerrecht, S. 312.

[31] Brief an Caspar und Konrad, in: Moltke/Balfour/Frisby, S. 9–28.

[32] Brief an Caspar und Konrad, in: Moltke/Balfour/Frisby, S. 27.

[33] Christian Science: Eine im 19.Jahrhundert entstandene religiöse Sekte. Zentrum ihres Glaubens waren Gebet, biblische Betrachtung und innere Läuterung. Dadurch wollten sie Heilung von Krankheit und sonstige Befreiung von Schlechtem erreichen.

[34] Brief an Caspar und Konrad, in: Moltke/Balfour/Frisby, S. 23.

[35] Lebenslauf von Helmuth James Graf von Moltke, geschrieben am 25. September 1925 auf Bitten Pierre Comerts, Mitarbeiter im Genfer Völkerbundssekretariat, in: Moltke, Völkerrecht, S. 40–42, hier: S. 42.

[36] Brief von Moltke an den Grossvater, 12. und 25. November 1928, in: Moltke, Völkerrecht, S. 55.

[37] Roon, Ger van. Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Wider­standsbewegung. München 1967 (zitiert: Roon, Neuordnung), S. 61.

[38] Brief an Freya Deichmann, vom 23. Februar 1930, in: Moltke/Balfour/Frisby, S. 47.

[39] Die Intention dieses Kapitels kann nicht sein, die Philosophie und die ideellen Ursprünge des Arbeits­lagers detailliert wiederzugeben, sondern das schon früh vorhandene soziale Engagement von Moltke aufzuzeigen sowie die Frage zu diskutieren, ob die Löwenberger Lager eine Vorstufe des Kreisauer Kreises darstellten, bzw. diesen in irgendeiner Form beeinflussten.

[40] Carl Dietrich von Trotha und Horst von Einsiedel gehörten später beide zum Kreisauer Kreis. Nur wenige Mitglieder dieser Gruppe wurden 1944/45 von den Verfolgungen der Gestapo verschont: Trotha und Einsiedel gehörten dazu.

[41] Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973), Rechtshistoriker und Soziologe, lehrte an der Uni­versität von Breslau. 1933 emigrierte er in die USA, wo ihn in den letzten zwölf Jahren seines Lebens eine tiefe Freundschaft mit Freya von Moltke verband.

[42] Brief an Gerhart Hauptmann vom 13. August 1927, in: Moltke, Völkerrecht, S. 47 und Brief an Ber­nard von Brentano vom 25. August 1927, in: Moltke, Völkerrecht, S. 48/49.

[43] Moltke/Balfour/Frisby, S. 37.

[44] Finker, Kurt. Graf Moltke und der Kreisauer Kreis. Berlin 1993, S. 75.

[45] Zum Beispiel in: Moltke/Balfour/Frisby, S. 38.

[46] Brief von Rosenstock-Huessy an Ger van Roon vom 23. Februar 1963, in: IfZ, ZS/A-18, Band 6.

[47] Schindler, Frank. Paulus van Husen im Kreisauer Kreis. Verfassungsrechtliche und verfassungspoliti­sche Beiträge zu den Plänen der Kreisauer für einen Neuaufbau Deutschlands. Zürich/Pader­born/München/Wien 1996, S. 98.

[48] Moltke/Balfour/Frisby, S. 38.

[49] Brief an Maria Lazar vom 7. März 1934 (an Bord der Watussi), in: Moltke, Völkerrecht, S. 84.

[50] Brief an Maria Lazar vom 7. März 1934 (an Bord der Watussi), in: Moltke, Völkerrecht, S. 85/86.

[51] Finker, S. 85; Karpen/Schott, S. 130; Freya von Moltke hielt die Eröffnung von Moltkes An­waltspraxis in Berlin sogar für eine direkte Reaktion auf die Judenverfolgungen, da er so Hilfestellung leisten konnte (zum Beispiel konnte er "arisieren"). Moltke, Freya von. Die Kreisauerin. Gespräch mit Eva Hoffmann in der Reihe "Zeugen des Jahrhunderts". Göttingen 1992 (zitiert: Freya Moltke, Kreis­auerin), S. 27.

[52] Ebd., S. 84.

[53] Moltke, Freya von. Erinnerungen an Kreisau 1930–1945. München 1997 (zitiert: Freya Moltke, Er­inne-rungen), S. 29.

[54] Freya Moltke, Erinnerungen, S. 69.

[55] Zu diesem Vorwurf äusserte sich Theodor Steltzer: "Es handelte sich [bei den Kreisauer Besprechun­gen] nicht ... nur um theoretische Studien, sondern um konkrete Vorarbeiten für eine bestimmte Situa­tion, die man eher als politische Generalstabsarbeit bezeichnen kann." Steltzer, Theodor. Sechzig Jahre Zeitgenosse. München 1966, S. 157.

[56] Roon, Ger van. Graf Moltke als Völkerrechtler im OKW, in: VfZ, Nr. 18, 1970, S. 12–61 (zitiert: Roon, Graf Moltke als Völkerrechtler), S. 51.

[57] Die Gründe für diese Einschätzung kannte Moltke nicht.

[58] Roon, Graf Moltke als Völkerrechtler, S. 16.

[59] Ebd., S. 17. Dies führte auch dazu, dass Canaris lange Zeit eine sehr umstrittene Figur in der Histo­riographie des Widerstandes war.

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Der Volksgerichtshofprozess gegen Helmuth James von Moltke
Hochschule
Universität Zürich  (Historisches Seminar)
Note
2
Autor
Jahr
1998
Seiten
115
Katalognummer
V170563
ISBN (eBook)
9783640895045
ISBN (Buch)
9783640894635
Dateigröße
855 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Volksgerichtshof, Graf von Moltke, Helmuth von Moltke, Freya von Moltke, Widerstand, Nationalsozialismus, NSDAP, 2. Weltkrieg, Widerstandsbewegung
Arbeit zitieren
Andreas Bonifazi (Autor:in), 1998, Der Volksgerichtshofprozess gegen Helmuth James von Moltke, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/170563

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