Das deutsch-polnische Verhältnis aus der heutigen Sicht der Heimatvertriebenen

Eine biographisch-sozialpsychologische Studie


Diplomarbeit, 2011

98 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung: „Über den Umgang mit offenen Fragen“

2 Aspekte der Erforschung von Stereotypen und Vorurteilen
2.1 Der Einstellungsbegriff
2.2 Was ist Politische Psychologie?
2.3 Stereotypen und Vorurteile in der sozialpsychologischen Forschung
2.4 Einzelergebnisse der Vorurteilsforschung
2.5 Abbau von Stereotypen

3 Stereotype über Deutsche und Polen im historischen Wandel
3.1 Geschichtliche Hintergründe im Entstehungszusammenhang der Stereotype
3.2 Das deutsche Polenbild in der Geschichte
3.3 Das deutsche Polenbild im Nationalsozialismus
3.4 Das deutsche Stereotyp in den polnischen Wochenschauen nach 1945
3.5 Die Wandlung des Polenbilds in der DDR
3.6 1970 - 1990: Das polnische Bild von den Bundesdeutschen verändert sich
3.7 Das Polenbild deutscher Heimatvertriebener - Ein Reisebericht
3.8 Das polnische Deutschlandbild am Beispiel alltagssprachlicher Ausdrücke
3.9 Die Zeichnung deutsch-polnischer Fremdbilder in Schulbüchern
3.10 Die antideutsche Stimmung in der Regierungsära Kaczynski
3.11 Polenwitze und Erika-Steinbach-Zitate: Stereotype in den Medien
3.12 „Die Deutschen meine Nachbarn“ - Wie junge Polen heute Deutschland sehen
3.13 Einstellungsveränderungen nach der EU-Osterweiterung
3.14 Umgang mit der deutschen Geschichte in den polnischen Westgebieten (Interview mit Robert Ryss, Gazeta Chojenska)

4 Vorbereitung und Durchführung der eigenen Untersuchung
4.1 Der persönliche Hintergrund
4.2 Der geschichtliche Hintergrund: Flucht und Vertreibung der Deutschen
4.3 Die Präzisierung der Fragestellung
4.4 Zur Struktur des Untersuchungsdesigns
4.4.1 Datenerhebung
4.4.2 Auswertung
4.4.3 Feldforschung
4.5 Exkurs: Der Einstieg ins Feld - Kennenlernen eines Vertriebenenverbands

5 Auswertung
5.1 Text- und Quellenkritik anhand von Gütekriterien
5.2 Die Beschreibung und Auswertung der Fälle
5.2.1 Frau „Glogau“ (Interview G)
5.2.2 Herr „Lauban“ (Interview L)
5.2.3 Herr „Waldenburg“ (Interview W)
5.2.4 Frau „Dörnikau“ (Interview D)
5.2.5 Herr „Bunzlau“ (Interview B)
5.2.6 Ehepaar„Hirschberg“ (Interview H)
5.2.7 Herr „Jauer“
5.3 Kategorienbildung - Übersicht über die Kategorien
5.4 Die Vorbereitung der Feinanalyse
5.5 Die Durchführung der Feinanalyse
5.5.1 Gruppe (a)
5.5.2 Gruppe (c)
5.6 Vergleich der Kategoriensysteme

6 Diskussion der Ergebnisse

7 Zusammenfassung und Ausblick

Streszczenie (Abstract in polnischer Sprache)

Literatur

Anhang A: Der Interview-Leitfaden

1 Einleitung: „Über den Umgang mit offenen Fragen“

Die „offene Frage“, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit gestellt und zu beantworten versucht wird, lautet:

Ist die Einstellung der deutschen Heimatvertriebenen zur polnischen Nation immer noch stark durch Vorurteile geprägt?1

Mein persönliches Interesse, mich mit dieser sowohl politisch als auch politisch­psychologisch bedeutsamen Frage auseinanderzusetzen, hängt in letzter Konsequenz auch mit der Tatsache zusammen, dass meine Mutter und ihre Eltern bis zu ihrer Aussiedlung im Jahre 1966 in Oberschlesien gelebt haben.

Nach einem Studienortwechsel von Berlin nach Bremen im Jahre 2007 belegte ich das in der DPO ausgewiesene (wahlpflichtige) Forschungsorientierte Vertiefungsfach „Kultur- und politische Psychologie“.

In Bremen besuchte ich die im Fach „Kultur- und politische Psychologie“ von Herrn Professor Reuter angebotenen Seminare, so u.a. Veranstaltungen zur „Psychologie des Zeitalters der Romantik“ und über „Die slavische Seele: Literatur, Kunst, Musik und Politik in Vergangenheit und Gegenwart“. In der Begegnung mit diesen Themenkreisen entwickelte sich mein Wunsch, zur Frage des deutsch-polnischen Verhältnisses eine Untersuchung durchführen zu dürfen.

Gegenstand mehrerer Gespräche mit Herrn Professor Reuter war vor allem die Frage, in welchem Maße die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen heute noch durch Vorurteile belastet sind. Daraus entwickelte sich dann die für die vorliegende Arbeit gewählte Thematik, die sehr gut zu der spezifischen, an der Universität Bremen geltenden Forschungsprogrammatik passt. Diese besondere Orientierung beschreibt Schottmayer (2009) wie folgt:

„Neben der Ausrichtung deutscher Universitäten auf die traditionelle Einheit von Forschung und Lehre gehört zum Leitbild der Universität Bremen seit ihrer Gründung vor mehr als 35 Jahren als dritte Perspektive eine konsequente Transferorientierung. Unter dem Titel 'GesellschaftlicheVerantwortung und Praxisbezug' heißt es in den Leitzielen:

'Wissenschaft findet an der Universität Bremen nicht im 'Elfenbeinturm' statt, sondern zielt auf konkrete Probleme der Gesellschaft und deren Zukunftssicherung' (Der Rektor der Universität Bremen 2007)“ (S.238f).

Im Rahmen der Überlegungen zu einem Diplomarbeitsprojekt entstand die Idee, deutsche und polnische Studierende, die jeweils im anderen Land einen Auslandsaufenthalt planen, durchführen und abgeschlossen haben, hinsichtlich ihrer wechselseitigen Einstellungen zum jeweils anderen Land zu befragen. Aufgrund von Internetrecherchen erwies sich jedoch, dass deutsche Studierende, die nach Polen zum Auslandsaufenthalt gehen, schwer zu finden waren. Darüber hinaus stellte sich in Vorgesprächen mit polnischen Abiturienten, die sich für ein Studium in Deutschland entschieden hatten, heraus, dass Vorurteile gar nicht mehr vorhanden zu sein schienen.

Herr Reuter schlug daraufhin vor, doch Personen hinsichtlich möglicher Vorurteile zu untersuchen, bei denen anzunehmen sei, dass sie noch starke Ressentiments gegenüber Polen hegen könnten.

Vor diesem Hintergrund entstand die Überlegung, die hier anklingende Problematik näher kennenzulernen, und führte zu dem Entschluss, einen einmonatigen Forschungsaufenthalt am Marburger Herder-Institut zu absolvieren, das über ein Archiv mit wichtigen Unterlagen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten verfügt und in seiner Bibliothek u.a. alle Schriften der deutschen Vertriebenenverbände sammelt. Meinem Ersuchen nach einer Praktikantenstelle wurde dankenswerterweise stattgegeben.

Aufgrund der Recherchen, die ich im Herder-Institut durchführen konnte, wurde deutlich, dass sich das Polenbild der Heimatvertriebenen nach 1989 stark verbessert hat. Während die in den Vertriebenen-Zeitschriften veröffentlichten Aufsätze bis in die 1980er Jahre hinein noch viele Stereotype und Vorbehalte erkennen lassen, hat sich die Situation in den letzten 20 Jahren sichtbar verändert. In aktuellen Artikeln werden sogar (mit Ausnahme von Berichten über die Kaczynski-Regierung) durchgängig propolnische und auf Völker­verständigung hin ausgerichtete Stimmen laut.

An das Praktikum in Marburg schloss sich in den Wintersemester-Ferien ein Auslands­aufenthalt an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen/Poznan an. Mir ging es darum, einen unmittelbaren Einblick in die polnische akademische Kultur zu gewinnen. Tatsächlich hatte ich Gelegenheit, mit vielen polnischen Studierenden zu sprechen. Außerdem lernte ich das polnische Pendant zum Herder-Institut, das „Instytut Zachodni“ (Deutschland­forschung), kennen.

Im Sommersemester 2010 entstand dann in einem weiteren Gespräch mit Herrn Professor Reuter die Fragestellung, die der Titel der hier vorgelegten Arbeit ausweist. In einer qualitativen Studie sollte geklärt werden, ob das heutige Polenbild der Heimatvertriebenen immer noch überwiegend stereotypbehaftet-revanchistisch geprägt sei oder sich inzwischen an die allgemeinen, von einem zunehmenden wechselseitigen Verständnis getragenen Vorstellungen angeglichen habe.

Auf der Grundlage eines mündlichen Berichts über das Marburger Praktikum und meinen Auslandsaufenthalt in Posen stellte mir Herr Professor Reuter zum Ende des Sommer­semesters 2010 die Aufgabe, die im Titel genannte Thematik als Diplomarbeitsprojekt zu bearbeiten. In methodischer Hinsicht wurde dabei die nachstehend wiedergegebene Empfehlung beachtet:

„Die Psychologie ist eine ausgedehnte terra incognita, in der sich die offene, neugier­gelenkte Exploration als Erkenntnisinstrument mehr anbietet, als die logisch reine Unter­suchung. Also müssen Fragen gestellt werden, die von Thema und Struktur her dem Prokrustesbett allzu rigid etablierter Methodologien Widerstand bieten, um das wirklich spannende und Lebensnahe nicht aus dem Augen zu verlieren“ (Reuter, 2002, S.80).

Diese Aussage verstehe ich als eine Aufforderung, in allen Fragen zur Vorgehensweise immer nur die Zielsetzung als maßgebend anzusehen]. Das Untersuchungsverfahren wird dem Gegenstand angepasst und nicht umgekehrt.

„Diese allgemeinen Charakteristiken sind die Quelle aller Übel“ (Heinrich Heine, 1822, S.77)

2 Aspekte der Erforschung von Stereotypen und Vorurteilen

Dąbrowską bezieht sich unmittelbar auf Heinrich Heine, wenn sie behauptet, dass „die Beschreibung einer Nation auf objektive Art und Weise nahezu unmöglich ist“ (Dabrowska, 1999, S.16). Nach dieser Interpretation lässt sich eine Nation nur dann angemessen darstellen, wenn jemand in dem betreffenden Land gelebt und viele Menschen persönlich kennengelernt hat. Es sei jedenfalls nicht möglich, ein ganzes Volk aufgrund objektiver Beobachtungen zu erfassen. So viele Informationen überstiegen aufgrund ihrer Komplexität die menschliche Verarbeitungsfähigkeit. Um dennoch die Eigenheiten einer Gemeinschaft oder einer Volksgruppe zu beschreiben, würden Stereotype und Vorurteile gebildet werden. Dabei blieben die „wahren“ Eigenschaften einer Gemeinschaft häufig im Dunkeln. Die oft generationenübergreifend aus Traditionen, Aussagen und Medien erwachsenen Vorurteile zeichnen nach Auffassung der Autorin lediglich ein verzerrtes Bild, solange sie nicht durch eigene Erfahrungen überprüft werden können.

2.1 Der Einstellungsbegriff

Die Soziologen Thomas und Znaniecki führen in einer vielzitierten biographischen Studie (1918) über die Lage polnischer Bauern den Begriff „attitude“ ein und begründen damit eine fruchtbringende Forschungstradition. Die Wissenschaftler definieren Einstellung als eine „Beziehung, die ein Individuum gegenüber einem sozialen Objekt einnimmt“ (S.137).

Der Psychologe Allport (1935) kennzeichnet Einstellung als „eine psychische durch Erfahrung organisierte Bereitschaft, die einen bestimmten Einfluß auf die Reaktionen des Individuums gegenüber allen Objekten und Situationen ausübt, zu welchen es in Beziehung steht“ (S.812).

Die Nähe zum Vorurteilsbegriff klingt an, wenn er an deren Stelle - etwas abschätzig - Einstellung mit den Worten umschreibt: „von anderen ohne ausreichende Begründung schlecht denken“ (Allport, 1971, S.20). Tatsächlich geht es in der Einstellungsforschung in sehr starken Maße um Vorurteile. Wichtige Überblicksarbeiten sind in diesem Zusammen­hang die Veröffentlichungen von Triandis (1975) und Bohner (1996).

Leithäuser sieht eine enge Verbindung zwischen den Termini Einstellung und Bewusstsein, die in der Psychologie zum Teil als Synonyma verstanden wurden (Leithäuser, 1979, S.137). Im heutigen Verständnis sei Einstellung eher „das Ergebnis der Anpassung von Einzelpersonen an die Normen sozialer Gruppen“ (ebd., S.139).

Das Einstellungskonzept ist ein zentrales Thema der Sozialpsychologie, besitzt aber auch eine besondere Bedeutung für die Politische Psychologie.

2.2 Was ist Politische Psychologie?

Moser (1979) stellt die Frage nach dem Gegenstand der Teildisziplin Politische Psychologie und versucht, verschiedene Definitionsversuche auf einen gemeinsamen Nennerzu bringen. Danach ist Politische Psychologie ein interdisziplinärer Forschungs­ansatz,

„der mit dem Anspruch auftritt, unter gleichzeitiger und zugleich wechselwirkungs­gerichteter Berücksichtigung der sozialwissenschaftlichen Trias: subjektiv-individuelle, sozial-gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Betrachtungsebene, mit den wissenschaftlichen Hilfsmitteln der Sozialwissenschaften die für politische Geschehensabläufe bestimmenden menschlichen Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu erforschen, um damit Erkenntnismittel bereitzustellen, die für die Erlangung menschlicher Selbstverwirklichung hilfreich sein können. Sie ist pluralistisch im Sinne des Umgreifens verschiedener, jeweils in sich möglichst geschlossener, konkurrierender erkenntnistheoretischer Ansätze“ (S.49).

Neben einer kultur- und sozialpsychologischen Relevanz berührt das Thema „Stereotype und Vorurteile“ auch den Bereich der Politischen Psychologie.

2.3 Stereotype und Vorurteile in der sozialpsychologischen Forschung

Gruner (1991) meint, eine objektive Betrachtung der Menschen einer Nation sei erst dann möglich, wenn der Urteilende eine Zeit lang in dem betreffenden Land gelebt und Mythen, Traditionen und Eigenheiten eines Volkes kennengelernt habe (S.31).

Generell erscheint aber auch die Warnung von Bergler (1976) beachtenswert: „Kein Vorurteil wäre bedenklicher als die Annahme, ohne Vorurteile leben zu können“ (S.7). Die Gefahr aller Vorurteile liegt in ihrer Verfestigung, die eine Revision erschwert. Alexander Mitscherlich behauptet sogar, „Vorurteile sind das Allerhaltbarste, was es in der menschlichen Seele gibt“ (Mitscherlich, zit. nach Dabrowska, 1999, S.17). Nach Prinz (1970) sind Stereotype nur als „scheinbare Begründungen“ für bestimmte Eigenarten einer Nation und keinesfalls als Tatsachenbeschreibung zu verstehen (S.199).

Der Sozialpsychologe Leuerer (2005) unterscheidet zwischen Stereotyp und Vorurteil·.

„Ersteres ist eine mentale Repräsentation, ein Bild, das sich die deutsche Allgemeinheit empirisch nachweisbar vom polnischen Nachbarn gemacht hat, gleich wie objektiv falsch oder richtig dies auch sein mag. Ein Vorurteil baut auf solchen Stereotypen auf, ist aber sehr viel mehr von einer Wertung bestimmt“ (S.34).

Ronneberger übt eine weitreichende Kritik an der Existenz von Vorurteilen. Er äußert u.a. die Vermutung, dass der Einstellungsbegriff „Nationalcharakter“ vielleicht eine Fiktion darstelle und es zunächst nur eine Hypothese sei,

„daß die Menschen einer bestimmten Nation Denk- und Verhaltensähnlichkeiten zeigen, die ihnen beim Hineinwachsen in das soziale Gebilde der Nation aufgeprägt wurden“ (Ronneberger, zit. nach Prinz, 1970, S.199).

Dabrowska (1999) bezweifelt, dass der Begriff „Nation“ als hinreichende Beschreibung einer Volksgruppe mit ähnlichen Eigenschaften und Werten dienen können und verweist auf den Konstruktcharakter. Eine Nation stelle nur eine künstliche, imaginäre Gemeinschaft dar (S.20). Aus diesem Grunde sei es schwierig, in einer wissenschaftlichen Abhandlung Begriffe wie „Volk“ oder „Nation“ geeignet zu verwenden. Sie sollten ggfs. immer mit einer kritischen Betrachtung der Verwendungsweise im Hinblick auf den historischen Kontext einhergehen (ebd.).

Grundsätzlich ist zwischen einer Untersuchung vorfindbarer Stereotype bzw. Vorurteile einerseits und praktischer Ansätze zu ihrer Überwindung andererseits zu unterscheiden. Diese Differenz berührt auch das Verhältnis zwischen grundlagenwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und der Anwendung erzielter Ergebnisse. Im vorliegenden Zusammenhang geht es ausschließlich darum, vorfindbare Einstellungen aufzudecken.

Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Kontext die Frage, warum und wie es zur Entstehung von Vorurteilen und Stereotypen kommt und durch welche Einflüsse die Veränderung derartiger Bilder begünstigt wird. Von Bassewitz (1990) nennt z.B. als Einflussgrößen, die zur Entstehung von Fremd- und Feindbildern beitragen, Informationsmangel sowie politische, soziale und wirtschaftliche Gründe innerhalb der eigenen Volksgruppe (S.23).

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Hinblick auf die wissenschaftliche Untersuchung Verschiedener volksgruppen ist das Beachten der ethnischen Herkunft des Forschenden: Als sog. „Verstehensbarriere“ bezeichnet Hofstede (1991, S.298) die Tatsache, dass jeder Wissenschaftler von seiner eigenen Entwicklung her zu bestimmten kulturellen Wert­orientierungen neigt, aus der sich eine verzerrte Betrachtung einer anderen Kultur­gemeinschaft ergeben könne. So sei z.B. eine Befragung ein Instrument, welches vor unserem eigenen kulturellen Hintergrund und vor unseren „nationalen Dimensionen“ entwickelt werden müsse (ebd.). Dieses Instrument decke deshalb nur Themenfelder ab, die auch für unsere eigene Gesellschaft relevant sind. Es gebe sicher aber auch Fragen, die bzgl. der zu untersuchenden Gesellschaft zu stellen seien, aber die uns nicht in den Sinn kämen, da sie in unserer Gesellschaft nicht auftreten.

Diese Problematik führt Hofstede auf eine Tendenz zum „Ethnozentrismus“ zurück und erkennt darin eine erhebliche Fehlerquelle wissenschaftlichen Arbeitens (ebd.). Hofstede fordert,

„Kulturvergleichende Forschung sollte also im Bestfall nur mit kulturübergreifend entwickelten Instrumenten erfolgen“, also „mit Instrumenten [...], die in kultureller Hinsicht möglichst unterschiedlich sein sollten“ (ebd.).

In ähnlicher Weise formuliert Dabrowska (1999): „Die möglichen Perzeptionsunterschiede der beiden Völker [Deutsche und Polen, Anm. AJ] können zu interkulturellen Mißverständnissen führen“ (S.19).

Letztendlich lässt sich eine allgemein zustimmungsfähige Abgrenzung zwischen „Stereotyp“ und „Vorurteil“ nur schwer vornehmen, da ein derartiger Versuch dem Usus widerspräche, die beiden Ausdrücke synonym zu verwenden (Dabrowska, 1999, S. 76), zumal beide Begriffe auch in der sozialpsychologischen Literatur vorkommen. Ein soziales Vorurteil bezieht sich auf Einzelpersonen und betont den Sachverhalt der „Vorbeurteilung“. Demgegenüber kennzeichnet das Konstrukt Stereotyp den gleichen Kontext, wird aber fast ausschließlich im Hinblick auf Gruppenbeschreibungen benutzt (Quasthoff, 1973, S.25). Nach O'Sullivan (1989) zielt ein Vorurteil auf eine affektive, gefühlsmäßig unter­mauerte Dimension (S.20). Dabrowska (1999) macht einen pragmatischen Vorschlag, wenn sie meint, Stereotype stellten nach einer gängigen sozialpsychologischen Definition „einen Wissenstyp spezieller Art dar, dessen zentrale Funktion die Orientierung ist“ (S.85).

2.4 Einzelergebnisse der Vorurteilsforschung

Die Geschichte der Vorurteilsforschung ist vor allem mit dem Namen Allport und seinem grundlegenden Werk „The Nature of Prejudice“ (1954, dt. „Die Natur des Vorurteils“, 1971). Eine gängige damals verwendete Definition von Vorurteilen wurde bereits von Allport (1971) entwickelt:

„Ein ethnisches Vorurteil ist eine Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist“ (Allport, zit. nach v. Zitzewitz, 1991, S.101).

Die Anfänge der Vorurteilsforschung als Teilgebiet der Sozialpsychologie reichen bis in die 1930er Jahre zurück: Einen ersten Höhepunkt erreichte die Vorurteilsforschung, als viele Sozialpsychologen nach der Machtergreifung Hitlers emigrierten und sich im Exil mit den Themenfeldern Antisemitismus und Nationalsozialismus beschäftigten (v. Zitzewitz, 1991, S.99). Eine herausragende Bedeutung erlangte die Vorurteilsforschung mit der Untersuchung des Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg (ebd.). Von Zitzewitz erwähnt in diesem Zusammenhang das „antiöstliche Vorurteilssyndrom“. Damals wurde z.B. versucht, die Frage zu klären, warum im Vorkriegsdeutschland „Ostjuden“ gefährlicher eingestuft wurden als „Westjuden“ (ebd.).

In diesen Zeitrahmen hinein gehören die vielfältigen Untersuchungen, die sich vor allem mit dem Namen Adorno (1995) verbinden (vgl. auch Rokeach, 1960).

Six (1978) sieht den Begriff „Stereotyp“ als „die kognitive Dimension des Vorurteils“ an (S.19) und Koch (2002) kommt aufgrund seiner Untersuchungen zu einer Auffassung, die die von Allport vertretene Position bestätigt. Danach sind Stereotype „von der Vorurteilsforschung bis in die 80er Jahre als mit dem Vorurteil weitgehend identisch betrachtet worden. Eine Auseinandersetzung mit dem Stereotyp wurde vernachlässigt [...]. Allport bezeichnet das Stereotyp als ,eine überstarke Überzeugung, die mit einer Kategorie verbunden ist. Sie dient zur Rechtfertigung (Rationalisierung) unseres diese Kategorie betreffenden Verhaltens’“ (Koch, 2002, S.265).

Garsztecki (1997) resümiert:

„Eine explizite Differenzierung zwischen Vorurteil und Stereotyp wird in der Fachliteratur nicht regelmäßig verfolgt. Häufig wird unausgesprochen von einer begrifflichen Kongruenz ausgegangen oder deren Synonymität gesetzt, besonders im umgangssprachlichen und populärwissenschaftlichen Verständnis“ (S.39).

Karsten (1978) hält aufgrund seiner Analyse für geklärt, ein Vorurteil sei ein

„Urteil über Gruppen von Menschen [...], das positiv oder negativ gefühlsmäßig unterbaut ist, das nicht unbedingt mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß und an dem, ungeachtet aller Möglichkeiten der Korrektur, festgehalten wird“ (S.5).

Dabrowska (1999) kommt in einer Untersuchung deutscher Vorurteile gegenüber Polen zu dem Resultat, der Mensch würde - sozialpsychologisch betrachtet - sich eines Stereotyps bedienen, da oft die Komplexität von Informationen kognitiv nicht ausreichend verarbeitet werden kann (S.77). Stereotype könnten aber helfen, komplexe Bilder einfacher darzustellen.

Dabrowska (1999) verwendet für ihre Studie die Definition von Vorurteilen (positiver und negativer Art) als Teilmenge der Stereotype, „wenn der affektive Aspekt die Grenze zum Positiven oder zum Negativen hin überschreitet“ (S.78). Als dritte Begrifflichkeit führt Dabrowska noch den Begriff „Klischee“ ein, der ursprünglich aus der Sprache der Drucker stammt (S.82). Nach Gebhardt (1979) ist ein Klischee „ein relativ fest umrissenes, konventionelles [...] Vorstellungsbild, das sich in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise auf Personen oder Sachverhalte bezieht, indem es unter Vernachlässigung und Verschleierung ihrer spezifischen Eigenschaften oder Merkmale kategorisiert“ (S.167).

Das Wort „Klischee“ besitzt nach Garsztecki (1997) daher eine eindeutig negative Färbung:

„Hinzuzuziehen sind für eine komplexere Deutung auch individualpsychologische Herangehensweisen, die häufig in der Sozialisationsphase des Menschen ansetzen. Hier ist denn auch eine Klammer zwischen individualpsychologischen und gruppenpsychologischen Erklärungsversuchen zu sehen [...]. Analog zu Interpretationen in der Individualpsychologie, die Stereotypen bisweilen als Krankheitssymptome einer fehlentwickelten Persönlichkeit begreifen, könnten zumindest Feindbilder als gesellschaftliche Krankheitssymptome bezeichnet werden, die ebenfalls Folge einer fehlgeleiteten, fehlgesteuerten Entwicklung sind“ (S.38).

Die kognitive Sozialpsychologie trennt die Kategorie „Stereotyp“ von der in der Vorurteilsforschung verwendeten Definition. Nach Six (1987) sind Stereotype „ein wichtiges Konzept im Themengebiet der sozialen Urteilsbildung oder der Personenwahrnehmung“ (S.44).

Garsztecki (1997) teilt vorurteilsvolles Verhalten drei Aspekten zu: dem kognitiven Aspekt, demzufolge Vorurteile unsere sozialen Umwelt illustrieren, dem affektiven Aspekt, als Ausdruck positiver oder negativer Betrachtungen fremder Gruppierungen und dem konnotativen Aspekt als Ausdruck unserer Handlungs- und Verhaltenssteuerung (S.40).

Die Beständigkeit stereotyper Bilder wird vor allem durch die „Resistenz gegenüber einem Wandel“ erklärt:

„Stereotypen widersprechende Informationen werden nicht aufgenommen oder entsprechend uminterpretiert, da der bis dato sichere Orientierungsrahmen in der Welt nur ungern aufgegeben wird“ (S.41).

Stereotype dienen nicht nur der Identitätsbildung im Sinne von Abgrenzung, sondern auch der „Aggressionsabfuhr nach außen, indem sie einen Feind bzw. eine Negativvorstellung liefern“ (S.43), und werden bereits im Rahmen kindlicher Sozialisationsprozesse verfestigt. Ein Stereotyp „richtet die Wahrnehmung des Menschen dahingehend aus, daß verstärkt bestätigende Informationen über das stereotypisierende Objekt aufgenommen werden.

Das Stereotyp erhält somit den Charakter einer .self-fulfilling prophecy’“ (ebd.).

In die gleiche Richtung weist eine Schlussfolgerung von Stüben (2006): Er meint,

„nationale oder ethnische Stereotype haben die wahrnehmungspsychologische Funktion einer Reduzierung von Komplexität durch Überbetonung von Alterität und Übergeneralisierung sowie die sozialpsychologische Funktion einer Verstärkung von Gemeinschaftsgefühl; sie dienen der Herausbildung nationaler Identität und einer nationalistischen Selbststilisierung“ (S.189)

2.5 Abbau von Stereotypen

Möglichkeiten, Vorurteile abzubauen, hatten bereits Adorno (1995) und seine Forschungsgruppe vielfältig aufgezeigt. Mit dem gleichen Thema beschäftigt sich auch Garsztecki (1997). Er meint,

„Ansatzpunkte für den Abbau von Stereotypen und Feindbildern gibt es mehrere. Es muß bei den Vermittlern angesetzt werden, d.h. bei der Familie als Primärgruppe, der Schule und den weitergehenden Bildungseinrichtungen“ (S.50).

Die Chance, dass in einer Gesellschaft alte Stereotype durch neue (harmlosere) Fremdbilder ausgetauscht werden könnten, wird von Garsztecki grundsätzlich positiv beurteilt (S.51).

Auf die Möglichkeit eines Abbaus von Vorurteilen und die Verfahren der damit im Zusammenhang stehenden Evaluation von konkreten Praxisprogrammen wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen, weil in der vorliegenden Arbeit nur die grundlagen­wissenschaftliche Analyse der Genese von Vorurteilen in der wechselseitigen Beziehung zwischen Deutschen und Polen behandelt werden soll.

„Beziehungen zwischen benachbarten Nationen sind für die Stereotypenforschung um ein vielfaches interessanter und ertragreicher als Verhältnisse zwischen geographisch entfernt voneinander gelegenen Völkern. Nur der direkter Kontakt ist in der Lage, Nährboden für emotional stark gefärbte Stereotype zu sein “ (Garsztecki, 1997, S.54).

3 Stereotype über Deutsche und Polen im historischen Wandel

Das einleitende Zitat verdeutlicht, warum gerade zwischen Deutschen und Polen tiefverwurzelte Stereotype entstanden sind. Neben der Ursache, dass Polen und Deutschland geografisch eng miteinander verknüpft sind, vermutet Garsztecki die Wirksamkeit eines weiteren begünstigenden Umstands:

„Die Polen fühlten und fühlen sich schon lange der sogenannten abendländischen, westlichen Kulturgemeinschaft zugehörig, eine Rolle, die ihnen von den Deutschen oft streitig gemacht wurde, die sich ihrerseits als .Kulturträger’ gegenüber dem slawischen Osten Europas sahen. Der sich daraus ergebende Minderwertigkeitskomplex (kompleks nizszosci) gegenüber den Völkern des Westens und besonders gegenüber den Deutschen hat wohl mit verursacht, daß der deutsch-polnische Konflikt so tief ins Gedächtnis der polnischen Nation eingegraben ist und daher besonders günstig für das Entstehen von Stereotypen war“ (S.55). Gerade die schwierige Geschichte habe „schon oft Forscher zu umfassenden Untersuchungen angeregt“, so Garsztecki, 1997, S.56.

Im Jahre 1953 wurden 881 Deutsche von Sodhi und Bergius gebeten, 14 nationale Volksgruppen anhand von 207 Charakteristika zu beschreiben. Die Einschätzung betraf auch die Population der Polen. Auffällig war eine besonders hohe Zuordnung (74%) des Attributs „Nationalstolz“ im Hinblick auf die Polen. In ähnlicher Höhe (50-70%) bewegten sich negative Charakterisierungen wie „polnische Wirtschaft“ (als Beschreibung eines maroden Arbeitsumfelds und einer undisziplinierten Arbeitseinstellung), „arm“, „Trunkenheit“, „jähzornig“, „schmutzig“, „streitsüchtig“ und „fanatisch-religiös“ (Quasthoff, 1973, S.39).

Jonda (1991) berichtet über eine von Wolf durchgeführte Querschnittuntersuchung aus dem Jahre 1966, in der bundesdeutsche Schüler nach ihren Einstellungen zu fremden Kulturen befragt wurden. Es zeigte sich darin, dass Völker „germanischen“ Ursprungs wie Engländer, Dänen, Deutschschweizer und Angloamerikaner überwiegend bessere Beurteilungen erhielten als slawische Nationen wie Russen und Polen (S.14). Auch Chinesen, Türken und Juden wurden eher kritisch beurteilt. Demgegenüber schätzten die

Befragten romanischeVölker (bspw. Franzosen, Italiener) nicht eindeutig ein. Hier blieben die Attribuierungen ambivalent (ebd.). Wolf berichtet außerdem, dass deutsche Schüler Polen mit negativen Attribute wie „schmutzig“, „faul“, „gemein“ und „frech“ assoziieren, und spricht hiervon einem generellen „antislawischen Vorurteil“ (Wolf, 1963, S.488).

Wolf (1969) kommt in einer anderen Studie, in der Schüler befragt wurden, zu einer besonderen Erklärung für die positive Einschätzung von Engländern, Dänen, Schweizern und Amerikanern. Das bessere Abschneiden dieser Nationen ist seiner Auffassung nach auf die Gemeinsamkeit des „germanischen Blutes“ dieser „germanischen Brudervölker“ zurückzuführen. Und dies sei eben Ausdruck der Überzeugung von der eigenen höheren Kultur (S.933). Derartige Charakterisierungen erinnern sehr stark an nationalsozialistische Aussagen. In diesem Zusammenhang hebt Dabrowska (1999) bei der Betrachtung der gleichen Untersuchung von Wolf die - m. E. erstaunliche - Tatsache hervor, dass ein Drittel der Oberschüler und sogar schon jüngere Kinder, nämlich die Hälfte aller Volksschüler, Polen ablehnend gegenüberstehen würden (S.26).

Aufgrund einer Querschnittanalyse von Stereotypen kam auch von Bassewitz (1990) zu dem Urteil, Deutsche würden nord- und westeuropäische Völker bedeutend positiver einschätzen als Osteuropäer (S.9). Franzosen, Spanier und Italiener bekämen die Eigenschaften Fröhlichkeit, künstlerische Vorliebe, Ästhetik und Sorglosigkeit/Leichtigkeit attestiert, während Russen, Polen und Tschechen nur mit Attributen wie „rückständig“ oder „bäuerlich“ bedacht würden (Dabrowska, 1999, S.23).

Generell ist anzumerken, dass die Bewertung von direkt angrenzenden Nachbarländern im Vergleich zu Nationen, mit denen es keine unmittelbare geografische Schnittstelle gibt, vergleichsweise schlechter ausfallen (Dabrowska, 1999, S.24). Becker (1970) kommt zu dem Ergebnis, dass das mangelnde Wissen deutscher Schüler über Polen eine „mentale Entfernung“ (S.746) erzeugt. Er nimmt an, dass diese emotionale Distanz (z.B. zwischen Bewohnern der alten Bundesländer und Polen) generell das Entstehen von Stereotypen begünstigt.

Mangelnde Kenntnisse über Nachbarländer sind nach Leuerer (2005) auch heute noch die Regel:

„Der kulturelle Austausch verläuft einseitig, mehr als zweieinhalb Millionen Deutsch lernenden Schulkindern in Polen stehen nicht einmal 5000 deutsche Schüler gegenüber, die meist in Schulen des Grenzgebietes die polnische Sprache erlernen möchten. Beim Studentenaustausch ist das Verhältnis ähnlich ungleich“ (S.38).

Diese Einschätzung ist um so verwunderlicher, als Jonda (1991) annahm, die Reisefreiheit und die damit verbundene Fähigkeit, Kontakte herzustellen und eine Kultur tiefgründiger kennenzulernen, würden begünstigen, dass sich die bestehenden Stereotype verändern (S.13). Dabrowska (1999) ist sogar der pessimistischen Auffassung, die neugewonnene Reisefreiheit habe in den frühen 1990er Jahren im Grenzgebiet zwischen Polen und Ostdeutschland zu einer Entwicklung der „Polenmärkte“2 geführt. Damals sei außerdem die Kriminalität im Raum Berlin stark angestiegen. Vor diesem Hintergrund, meint Dabrowska, lasse sich das Entstehen neuer Vorurteile erklären und dieser Zusammenhang sei eher wahrscheinlich, als dass die Reisefreiheit - nach der Erwartung von Jonda - dazu geführt hätten, Stereotype abzubauen (ebd.).

In diesem Kontext spielten auch der Eindruckvon deutschen Touristen eine Rolle, die Polen in den letzten 20 Jahren besucht haben. Der Einkaufstourismus führte, anders als Jonda (1991) es erhofft hatte, zu keinen nennenswerten kommunikativen Kontakten mit der polnischen Bevölkerung, von denen ein verstärkter Abbau von Ressentiments zu erwarten gewesen wäre. Eher trat die gegenteilige Wirkung ein: Diese „Begegnungen“ begünstigten in den 1990er Jahren die Entwicklung eines neuen Stereotyps von Polen als Land der „Händler und Diebe“ (Dabrowska, 1999, S.27). Auch dasjahrhundertealte Vorurteil, Polen sei ein Land ohne ausgeprägte Ordnung und Sauberkeit, sahen viele Einkaufstouristen anhand der „Polenmärkte“ als bestätigt an.

Erst in den letzten zehn Jahren ist im Hinblick auf Polenbesuche im verstärkten Maße ein „normaler“ Tourismus (Städte und Naturregionen) zu beobachten. Der EU-Beitritt Polens 2004 und die Unterzeichnung des Schengener Abkommens 2007 reduzierten im übrigen auch die Attraktivität der „Polenmärkte“ stark, weil sich die Preisentwicklungen einander anglichen.

Die betrachteten Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit, im Rahmen der Untersuchung von Stereotypen und Vorurteilen auch den historischen Kontext kulturpsychologisch zu analysieren. Charakteristische Verhaltensmuster der Völker sind geschichtlich entstanden und werden generationenübergreifend tradiert. Dabrowska (1999) meint, die „Einheit einer 'nationalen Psyche' wird durch den konkreten Geschichtsverlauf und die realen gesellschaftlichen Prozesse entwickelt und durch soziale, kulturelle, geistige, politische und ökonomische Prozesse geprägt“ (S.29).

„Jak świat światem nie bedzie Niemiec Polakowi bratem “ [Solange die Welt besteht, wird der Deutsche dem Polen kein Bruder sein] (Polnisches Sprichwort, 17. Jh.)

3.1 Geschichtliche Hintergründe im Entstehungszusammenhang der Stereotype

Das vorstehend zitierte polnische Sprichwort interpretiert Torbus (1993) als Ausdruck einer „tausendjährigen Feindschaft“ im deutsch-polnischen Verhältnis (S.88).

Holzer (1991) hebt hervor, dass schon der polnische Begriff „Niemiec“, der übersetzt „Der Deutsche“ heißt, vom Begriff „niemy“ abgeleitet wurde, was soviel bedeutet wie „stumm“. Der Autor bezieht sich dabei auf eine Legende, derzufolge die Deutschen immer schon eine Tendenz erkennen ließen, der Kommunikation mit Polen auszuweichen. Deshalb hätten die Deutschen auch häufig vermieden, die polnische Sprache zu erlernen. Auf diese Weise entstand in den Grenzgebieten eine ausgeprägte „Parallelkultur“, und zwar unabhängig von der Frage, ob es gelang, diese Koexistenz immer auch friedlich zu gestalten.

Immerhin ist festzuhalten, dass während einer langen Zeitperiode - vom späten Mittelalter bis zur frühen Neuzeit - zwischen Deutschen und Polen keine Ausbrüche unkontrollierter Abneigung stattfanden. So gab es von 1525 bis 1772 zwischen dem Heiligen Römischen Reich und dem polnischen Königreich keinen Krieg. Im Hinblick auf diese Zeit kann sogar von einem für Europa bemerkenswert unproblematischen Nachbarschaftsverhältnis ausgegangen werden. Möglicherweise gestalteten sich die Kontakte damals sogar freundschaftlich.

Vor dieserZeit ist die Beziehung zwischen beiden Völker alles andere als friedlich. Im Jahre 1226 betritt der Deutsche Orden erstmals polnisches Land. Die Kolonisationsarbeit durch den Orden auf einem Gebiet zwischen dem urpolnischen Landstrich Masowien und dem Baltikum führt zu jahrhundertelangen Auseinandersetzungen zwischen beiden Völkern. Die bekannte Schlacht von Tannenberg im Jahre 1410, in der Polen siegte, ist bis heute im polnischen Bewusstsein als „Schlacht von Grunwald“ fest verankert. „Ulica Grunwaldska“ wird in fast jeder polnischen Stadt als Bezeichnung für eine wichtige Straße verwendet. Tazbir (1993) meint, dass der Deutsche Ritterorden, seine säkulare Organisation und sein militärischer Expansionswille, bis heute das Bild der Deutschen in Polen prägen (S.31).

Aus der Zeit, in der der Ritterorden vordrang, stammt auch der Begriff „krzyzak“. Das Wort bedeutet übersetzt eigentlich nur so viel wie „Kreuzritter“ und hat in Polen einen stark abschätzigen Klang. Dabrowska (1999) vermutet, dass damit den Deutschen letzten Endes sogar „brutaler Expansionismus und hemmungsloser Polenhaß“ unterstellt wird (S.31).

Nach derzeit der Vorherrschaft des Deutschen Ordens tritt eine lange Phase friedvoller Koexistenz als Nachbarn ein, die bis zur Ära des preußischen Königs Friedrich II. anhalten sollte. Doch im 18. Jahrhundert ändern sich die Verhältnisse wieder grundlegend.

Friedrich der Große setzt mit einem ähnlichen „Expansionswillen“, wie er dem Ritterorden nachgesagt wird, die Vormachtstellung Preußens im Osten durch. Ein krasses Beispiel ist hier die Besetzung Schlesiens. Hier wird der gewachsene Einfluss Österreich-Ungarns gewaltsam zurückgedrängt. Da Polen keine Verbündete mehr hat, kommt es zwischen 1772 und 1795 zu drei entscheidenden Teilungen und der polnische Staat wird aufgelöst. Preußen, Österreich-Ungarn und Russland treten sein Erbe an. 1795 wird sogar Warschau preußisch. Aus dieser Epoche stammt auch das polnische Wort „prusak“, das nicht nur „Preuße“ bedeutet, sondern auch mit „Küchenschabe/ Kakerlake“ übersetzt werden kann (Dabrowska, 1999, S.32).

Otto von Bismarck hält an der von Friedrich II. begründeten Vormachtstellung Preußens (ab 1871 des Deutschen Reiches) gegenüber Polen fest. In einem Brief an seine Schwester Malwine von 1861 schreibt er:

„Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen. Ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage, aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als sie ausrotten“ (von Bismarck, zit. nach von Uthmann, 1995, S.203).

Ressentiments gegenüber Polen, wie sie zu jener Zeit im Deutschen Reich allgegenwärtig sind, spiegeln sich auch darin wider, dass 1872 der Gebrauch der polnischen Sprache in höheren Schulen verboten wird und polnischstämmige Bürger ihre öffentlichen Ämter im von Preußen besetzten Teil Polens niederlegen müssen. Es kommt zur „Zwangs- germanisierung“.

Die polnische Schriftstellerin Maria Konopnicka rebelliert gegen das deutsche Vorgehen in einem Gedicht von 1908: „Der Deutsche wird uns nicht ins Gesicht spucken, noch unsere Kinder germanisieren“ (Konopnicka, zit. nach Holzer, 1991, S.84). Noch heute ist dieser

Ausspruch in Polen vielen bekannt.

Im Jahre 1885 kommt es dann zu einer von Bismarck veranlassten Aussiedlung von 32.000 im damaligen deutschen Reichsgebiet lebenden Polen (Czubinski/Topolski, 1988, S.149). Gleichzeitig wird von einer in Posen ansässigen Kolonisationskommission die deutsche Besiedlung einst polnischer Gebiete forciert. Allein in der Provinz Posen werden 525 polnische Ortsnamen eingedeutscht (ebd., S.350).

Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es zwischen den beiden Völkern auch damals nicht nur Antipathien gibt. Vor allem aus dem 18. und 19. Jahrhundert sind viele einzelne freundschaftliche Beziehungen zwischen Polen und Deutschen bekannt geworden. Das betrifft auch ganze deutsche Staaten: So entwickelten die Polen vor allem zu den Sachsen ein gutes Verhältnis. Sächsische Kurfürsten wurden zweimal zum polnischen König gekrönt und polnischen Händlern ist es zu verdanken, dass die Leipziger Messe schon früh eine große Bedeutung erlangte. Zudem besuchten viele polnische Studenten die Universitäten Leipzig (polnisch Lipsk) und Dresden (polnisch Drezno) (Dabrowska, 1999, S.34).

In der Zeit zwischen dem polnischen Novemberaufstand im Jahre 1830 und der deutschen Märzrevolution von 1848 kommt es im deutschsprachigen Raum zu einer Phase der „Polenbegeisterung“. Viele Polen emigrieren nach dem niedergeschlagenen Novemberaufstand nach Deutschland. Sie werden als politisch Verfolgte mit frenetischem Jubel empfangen, zumal sie vorher bereit gewesen sind, gegen das militaristische Preußen und das autoritäre Russland zu revoltieren (Torbus, 1993, S.90). In dieser Zeit entstehen viele berühmte „Polenlieder“ und sog. „Polenvereine“. Auch einige deutsche Schriftsteller dieser Zeit verherrlichen den polnischen Freiheitsdrang in ihren Werken, so z.B. Heinrich Heine in seinem Bericht „Über Polen“. Auf dem Hambacher Fest 1832 werden neben den schwarz-rot-goldenen Bannern auch die polnischen Flaggen der Revolutionäre gehisst (Dabrowska, 1999, S.35).

Zu den am häufigsten verwendeten Charakterisierungen beider Völker gehört das Vorurteil, in Polen und Deutschland bestünden verschiedene Auffassungen von Tugendhaftigkeit. Dabrowska (1999, S.41) und Torbus (1993, S.16) führen Tugendhaftigkeiten, wie „Gründlichkeit, Fleiß und Disziplin“, aufdas deutsche Bürgertum als die dominierende Bevölkerungsschicht zurück. In Polen hingegen, wo etwa ein Sechstel aller Einwohner zur Adelsschicht gehören und die bürgerliche Denkweise einer gewissen Unterdrückung ausgesetzt ist, werden seit jeher „diejenigen, die durch Glück, Zufall oder einen genialen Einfall Erfolg haben“ (ebd.) mehr bewundert als hart arbeitende Menschen. In Polen gelten bis heute die Maximen „Tun was und wie man will“ sowie „Leben und leben lassen“ (ebd.).

Laut von Zitzewitz (1992) kommen „tief verwurzelte antistaatliche Denktraditionen“ hinzu (S.96) und erklären seiner Meinung nach die in Polen sprichwörtliche Tradition der Auffassung: „Gesetze sind dazu da, um sie zu brechen“. Gerade die Leichtigkeit der Lebensauffassung und die Geringerachtung von Disziplin und strenger Gesetzestreue lösen beim deutschen Bürgertum verstärkt Misstrauen gegenüber dem polnischen Nachbarn aus:

„Den Grund für die zivilisatorische Rückständigkeit des Landes der Polen und das Misslingen ihrer nationalen Einigung suchte man in der Völkerpsychologie: ,Es gibt keine Race, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich [...] Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slavische’, konstatiert Gustav Freytag 1887/88“ (Stüben, 2006, S.193).

Die deutsche Ordnungsliebe verursacht unter den Polen stets Verwunderung und Abneigung. Während des Zweiten Weltkriegs bekommt „deutsche Gründlichkeit“ auch noch einen makaberen Beigeschmack: Die perfekte „Organisation“ von Millionen Tötungen an Juden und Dissidenten in deutschen Konzentrationslagern, gerade auch auf polnischem Boden, sowie der bis ins Kleinste vorausgeplante dreiwöchige Einmarsch deutscher Truppen in Polen im September 1939 haben dieses stereotype Bild nachhaltig verstärkt (Lempp, 1993, S.15).

Krekeler (1995) weist darauf hin, dass

„bei der Betrachtung der Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen immer mitbedacht werden muß, daß es sich hier nicht nur um ein nationale, sondern häufig auch um eine religiöse und soziale Frage handelte: Grob vereinfacht war 'der Deutsche' [...] gleichzeitig auch Protestant und eher der Mittel- oder Oberschicht zugehörig, 'der Pole' war katholisch und eher aus der Unterschicht. Die Reduzierung auf die nationale Frage kann daher die Brisanz der Auseinandersetzung allein nicht erklären“ (S.17f.).

3.2 Das deutsche Polenbild in der Geschichte

„Gerade in der Untersuchung deutsch-polnischer Vorurteile“, so von Zitzewitz (1991), sei es wichtig, noch einen weiteren Begriff der Vorurteilsforschung anzuwenden: „das Schlagwort“ (S.104). Von Zitzewitz erläutert die Entstehung des Schlagworts anhand des

Beispiels „Die polnische Wirtschaft“:

„Der Naturforscher und Schriftsteller Joh. Georg Forster (1754-1794) lebte von 1784-1787 in Wilna/Polen [heute Litauen, Anm. A.J.]. Erstmalig am 24. Januar 1785 benutzte er den Begriff ,die polnische Wirtschaft’ in einem Brief an Frau Theresa Huber. Dieses Schlagwort übernimmt Forster dann in sein Werk Ansichten vom Niederrhein, Bd. 7, S.305’. Über diese Schriften findet ,die polnische Wirtschaft’ ihren Einzug in die Begriffswelt und wird zu einem der häufigsten im deutsch-polnischen Verhältnis vorkommenden und es belastenden Schlagwort. Es entsteht aus einer Kombination negativer Merkmale wie Chaos, Leichtsinn, Verschwendung, gleichzeitig aber auch für Unsauberkeit, Rückständigkeit und Ignoranz“ (v. Zitzewitz, 1991, S.104)

Von Zitzewitz (1991) macht an diesem Beispiel deutlich, dass es wenig sinnvoll ist, von einzelnen Vorurteilen zu sprechen. Vielmehr ist es so, dass sich z.T. mehrere ähnliche Vorurteile im geschichtlichen Prozess zu einem einzigen Ausdruck gebündelt haben. Diese Sammelkategorie bezeichnet er als „Schlagwort“. Derartige Schlagwörter „innerhalb der deutsch-slawischen Kontaktzone sind häufig ebenfalls bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt nachweisbar“ (Wippermann, zit. nach von Zitzewitz, 1991, S.104). Von Zitzewitz (1991) nennt in diesem Zusammenhang

„die ,polnische’ Wirtschaft, das Schlagwort, das von Deutschen über Polen gebildet wurde und jetzt, über 200 Jahre alt, noch ,lebendig’ ist wie das Schlagwort ,der deutsche Drang nach Osten’, das polnische Politiker, aber auch Historiker in Hinsicht auf das deutsch­polnische Verhältnis lange Zeit ,benutzt’ haben“ (S.139).

Für die Entstehung und die Verbreitung von Vorurteilen sind nach von Zitzewitz (1991) drei psychische Voraussetzungen notwendig: Die Unwissenheit, die Angst und der sog. „Phasenunterschied“ (S.107). Den ersten Begriff erläutert er wie folgt: „Jede Form von Unwissenheit, von mangelhafter Information, fördert das Vorurteil“ (ebd). Die Tatsache, dass in Deutschland im allgemeinen ein geringerer Kenntnisstand über Polen vorliege, diene

„als Erklärung der häufigen Entstehung von Vorurteilen und ihrer Erstarrung zu Stereotypen und Schlagworten im deutsch-polnischen Geschichtsverhältnis, das in Geschichtsbildern seinen Ausdruck findet, berücksichtigen“ (S.107).

Den an zweiter Stelle genannten Begriff Angst möchte von Zitzewitz in Bezug auf „Urängste“ (Angst vor Ausweglosigkeit, Verarmungs- und hypochondrische Angst) bezogen wissen. Um die Bedeutsamkeit des Konstrukts Angst in seinen politischen Dimensionen am deutsch-polnischen Verhältnis aufzuzeigen, verweist er exemplarisch auf die Zeit der Weimarer Republik: „Nach 1918 bestand, vorrangig in Ostdeutschland [heute sog. „Ostgebiete“, Anm. A.J.], eine latente Empörung über die neu festgelegten Ostgrenzen. Dem neu entstandenen polnischen Staat wurden in den 20-er Jahren aggressive Tendenzen unterstellt. Man lebte in ständiger .hypochondrischer Angst’ vor Einfällen polnischer Truppen. Auch die Angst der .Ausweglosigkeit und Verarmung’, bedingt durch den Versailler Friedensvertrag, war sehr stark entwickelt. Daraus entstand ein äußerst negatives Geschichtsbild, das wiederum zur Folge hatte, daß die 1927 vom polnischen Staatschef Marschall Pilsudski angestrebte und vom deutschen Außenminister Gustav Stresemann erwünschte Verständigung scheiterte [...]. So können durchaus gewisse Ängste erhebliche politische Folgen haben, indem sie zu Vorurteilen führen“ (S.108).

Der dritte Begriff, den von Zitzewitz (1991) als Voraussetzung für die Entstehung von Vorurteilen hervorhebt, ist der „Phasenunterschied“ (ebd.). Dieser kennzeichnetjene „historische Feststellung“, die

„wie ein realer Kern von der .Frucht des Vorurteils’ umgeben wird; .Frucht’ hier im Sinne einer .angenehm schmeckenden, aber verderblichen Substanz’“ (ebd.).

Medien unterstützen die Verbreitung und Aufrechterhaltung von Stereotypen und Vorurteilen. Flugblätter, Bilder, Presseberichte, Rundfunk und Bücher (Fach- und Schulbücher, aber auch Belletristik) sind wesentlich an einer Meinungsbildung über andere Volksgruppen beteiligt, gelegentlich sogar in propagandistischer Absicht (ebd., S.109).

Ein Beispiel für eine gezielte und systematische Einflussnahme politischer Art ist die unterschiedliche Färbung des Polenbilds in der nationalsozialistischen Propaganda. Bezeichnete die deutsche Presse 1934 den polnischen Marschall Pilsudskiego noch als „tapferen Soldaten“, so wurde 1939 - nach Abschluss des polnisch-britischen Freundschaftsvertrags - die polnische Nation als „Mitglied der jüdischen Weltplutokratie“ (ebd., S.109) verunglimpft. In einer Rede zur „Befreiung“ Danzigs beschreibt Adolf Hitler 1939 das Volk der Polen wie folgt:

„Polen [...] hat sich auf Kosten alten deutschen Siedlungsgebietes und vor allem auf Kosten jeder Vernunft und jeder wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgedehnt. [...] Der Pole, der diese Kultur nicht begründet hatte, war nicht einmal fähig, sie auch nur zu erhalten. [...] Überall zeigen sich bereits heute die Spuren dieses Rückschritts und Verfalls“ (Hitler, zit. nach von Zitzewitz, 1991, S.112).

Von Zitzewitz (1991) resümiert:

„Weder rechtsstaatliche noch humanitäre noch wissenschaftliche Institutionen haben die nationalsozialistische Polenbehandlung verhindern können oder wollen. Rassen- und Lebensraumideologie erwiesen sich als stärker“ (S.227).

Bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts finden sich Beispiele für die Zeichnung eines vorurteilsvoll verzerrten Polenbilds: Ernst Moritz Arndt bedient sich 1848 - im Gegensatz zu seinen früheren Texten und zum Geist der vorangegangenen Zeit, in der Polen­begeisterung vorherrschte - einer abwertenden Ausdrucksweise. Er beschreibt die Polen nunmehr als „schlechtes und leichtes Volk“ (Arndt, zit. nach von Zitzewitz, 1991, S.111). Im Hinblick auf die Literatur dieser neuen Epoche unterscheidet von Zitzewitz zwischen „Büchern mit ,eingestreuten’ antipolnischen Tendenzen’“, „Büchern mit einer fast magisch­visionären Behandlung der polnischen Gefahr“ und „Büchern, die in grober, z.T. unflätiger Weise gegen den polnischen Nachbarn Stellung nehmen“ (ebd., S.116).

Zu den Schriftstellern, die im 19.Jahrhundert antipolnische Tendenzen unterstützen, zählt u.a. auch Gustav Freytag. In seinem Werk „Soll und Haben“ (erschienen 1855) äußert er über Polen:

„Es wird dort drüben viel Pulver unnütz verschossen werden, alles Ausgaben, welche nichts einbringen, und Kosten, welche Land und Menschen ruinieren. Es gibt keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische. Was die Leute dort im Müßiggang durch den Druck der stupiden Masse zusammengebracht haben, vergeuden sie in phantastischen Spielereien“

(Freytag, zit. nach von Zitzewitz, 1991, S. 119).

Freytag bedient sich auch des Vorurteils, Polen seien aggressive Trinker: „Die Polnischen von den Gütern des Herrn von Tarow tranken viel und fingen mehr Händel an als sonst“ (ebd.). Von Zitzewitz kommt in seiner umfassenden Untersuchung über das deutsche Polenbild zu dem Ergebnis, „dass es eigentlich kaum jeweils ein stabiles deutsches Polenbild gegeben hat. Das Bild, das bestimmte Deutsche sich von bestimmten Polen bildeten, wurde erst in der Verallgemeinerung [...] zum deutschen Polenbild einer bestimmten Zeitperiode. Die Zahl und der soziale Status der ,bildbildenen’ Personen und Gruppen wechselten im Laufe der Geschichte [...]. In allen Zeiten bleiben aber die psychologischen Grundlagen der Bildbildung unverändert. [...] Die Auswirkungen des deutschen Polenbildes bewegen sich zwischen verschiedenen Extremen, die sich aus der jeweiligen politischen Situation ergeben“ (ebd., S.225).

Nach von Zitzewitz ist im 20. Jahrhundert das deutsch-polnische Verhältnis vor allem durch gewisse „sozialdarwinistische“ Vorstellungen geprägt (ebd.). Das „Germanentum“ wird als Repräsentant einer „wertvollen, herrschenden“ Rasse gesehen und das „Slawentum“ gilt als „mindere, zu beherrschende“ Rasse (ebd., S.226). Nach 1918 bzw.

[...]


1 Reuter (2002), S.172

2 „Polenmärkte“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Basare, die auf polnischer Seite an der Grenze zu Deutschland entstanden sind und auf denen Duplikate und Billigzigaretten von osteuropäischen Händlern verkauft werden. In unmittelbarer Nachbarschaft dieser Basare sind Tankstellen, Frisöre, Zahnärzte, Fastfood-Restaurants und Nachtclubs angesiedelt. Deren Dienstleistungen werden deutlich preiswerter als in Deutschland angeboten und deshalb hauptsächlich von Deutschen in Anspruch genommen.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Das deutsch-polnische Verhältnis aus der heutigen Sicht der Heimatvertriebenen
Untertitel
Eine biographisch-sozialpsychologische Studie
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Psychologie und Kognitionsforschung)
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
98
Katalognummer
V169645
ISBN (eBook)
9783640891238
ISBN (Buch)
9783640891351
Dateigröße
798 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
verhältnis, sicht, heimatvertriebenen, eine, studie
Arbeit zitieren
cand.psych. Andreas Jüttemann (Autor:in), 2011, Das deutsch-polnische Verhältnis aus der heutigen Sicht der Heimatvertriebenen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169645

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