Die Funktion der Großaufnahme bei der Darstellung des jüdischen Gesichts im antisemitischen Propagandafilm

Eine Analyse jüdischer Gesichtsbilder in den Filmen "Der Ewige Jude" und "Jud Süß"


Bachelorarbeit, 2010

44 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung

2 Physiognomik, Rassenlehre und Antisemitismus in Deutschland
2.1 Physiognomik als Vorläufer der Rassenlehren
2.2 Antisemitismus und Rassenlehren im 19. und 20. Jahrhundert
2.2.1 Lagardes Deutsche Schriften
2.2.2 Chamberlains Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts
2.2.3 Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts
2.3 Hitlers Vorbilder

3 Nationalsozialistische Rassenlehre
3.1 Antisemitische Grundzüge
3.2 Das jüdische Gesicht

4 Nationalsozialistische Propaganda
4.1 Propagandaminister Joseph Goebbels
4.2 Propaganda im NS-Film
4.3 Antisemitische Tendenzen im NS-Film

5 Großaufnahme
5.1 Balázs’ Der sichtbare Mensch
5.2 Eisensteins Das Organische und der Pathos

6 Analyse jüdischer Gesichtsbilder in den Filmbeispielen
6.1 Der Ewige Jude
6.1.1 Entstehung und Inhalt
6.1.2 Funktion der Gesichtsbilder
6.2 Jud Süß
6.2.1 Entstehung und Inhalt
6.2.2 Funktion der Gesichtsbilder
6.3 Gemeinsamkeiten - Unterschiede

7 Resümee

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Das Thema dieser Arbeit ist im letzten Semester aus zwei Hauptseminarsarbeiten entstanden. Zum Einen beruht es auf der Beschäftigung mit der Großaufnahme in der Arbeit „Die Funktion der Großaufnahme bei der Darstellung Gottes“ aus dem Hauptseminar „Gesichtsbilder“ bei Prof. Kay Kirchmann, zum Anderen auf der Analyse des Films Der Ewige Jude von Fritz Hippler in der Arbeit „Das Ahasver-Motiv im antisemitischen Propagandafilm Der Ewige Jude“ aus dem Hauptseminar „Ahasver: Geschichte eines literarischen Mythos“ bei Prof. Gunnar Och.

An dem Film besonders aufgefallen sind die Aufnahmen aus dem polnischen Ghet- to. Zwar wird durch den Ton eine eindeutig antisemitische Botschaft vermittelt, die Juden werden als Ratten oder Parasiten bezeichnet und als etwas Bedrohliches, das es zu vernichten gilt, dargestellt. Doch scheinen die Bilder alleine, insbesondere die Gesichtsbilder, losgelöst von der Tonspur diese Intention nicht zu unterstützen. Die- se Gesichter haben sowohl bei den Teilnehmern des Hauptseminars zum Ahasver- Motiv, als auch bei den Teilnehmern einer zeitgenössischen Studie zur Wirkung des Films auf die Zuschauer[1] eher Sympathie oder Mitleid, als Ekel oder Ablehnung her- vorgerufen. Diese Beobachtung hat die Frage aufgeworfen, inwieweit die Bilder selbst eine antisemitische Wirkung hervorrufen mussten oder ob nicht vielmehr die Tonspur und vorherrschende Diskurse der damaligen Zeit diesen Bildern erst eine judenfeindliche Tendenz zusprachen. Mussten die jüdischen Gesichter überhaupt für sich alleine stehend eine eindeutige Aussage treffen? Oder reichte zu dieser Zeit durch das antisemitische Klima nicht bereits die Deklarierung eines Gesichts als Jü- disches, um diesem etwas Böses zuzusprechen?

Wie verhält es sich nun aber mit dem Spielfilm Jud Süß? Hier wird dem Zuschauer nicht durch Vorspann, Kommentar oder Ähnliches erklärt, wie die gezeigten Bilder zu verstehen sind, so wie es bei Der Ewige Jude der Fall ist. Das Publikum muss sich in diesem Fall eine eigene Meinung bilden. Wie also werden hier die Großaufnahmen jüdischer Gesichter eingesetzt, um die judenfeindliche Absicht zu verdeutlichen? Man sieht in diesem Fall ein inszeniertes Bild, ein arrangiertes Gesicht. Zwar lässt sich anzweifeln, dass die Gesichter aus Der Ewige Jude neutral und ohne das Ein- greifen eines Regisseurs abgefilmt worden sind, doch wird hier zumindest der dokumentarische Schein gewahrt. Man sieht keine professionellen Schauspieler. Wie also werden die Gesichter der Darsteller in Jud Süß in Szene gesetzt, um der antisemitischen Absicht Ausdruck zu verleihen? Welche Unterschiede lassen sich zu den Laien erkennen, welche Gemeinsamkeiten gibt es?

Zunächst einmal wird untersucht, inwieweit ein antisemitisches Klima in Deutsch- land bereits vor dem Dritten Reich vorgeherrscht und die Wahrnehmung jüdischer Gesichter beeinflusst haben könnte. Zu diesem Zweck werden sowohl die geschicht- liche Entwicklung, die mit dem Aufkommen einer vorgeblich wissenschaftlich fundier- ten Physiognomik begonnen hat, als auch explizit antisemitische Rassentheorien ex- emplarisch vorgestellt. Danach wird die Rassenlehre des Nationalsozialismus, insbe- sondere physiognomische Beschreibungen jüdischer Gesichter, genauer beleuchtet. Es ist wichtig, die Rassenlehre in die Untersuchung mit einzubeziehen, da dieser Diskurs das Bild des Judentums im Dritten Reich wesentlich geprägt hat und somit auch die Darstellung der Juden in den Filmen dieser Zeit grundlegend darauf basiert. Der Einsatz bestimmter Großaufnahmen lässt sich unter Umständen vielleicht auch erst auf Grundlage dessen erklären. Das anschließende Kapitel wird sich mit der Propaganda im Dritten Reich beschäftigen, explizit mit der Filmischen, da beide Filmbeispiele zu dieser zählen. Bevor dann mit der Analyse von Jud Süß und Der Ewige Jude begonnen wird, werden noch unterschiedliche Theorien zur Funktion der Großaufnahme vorgestellt, um diese dann entsprechend in die Analyse mit einzubin- den.

2 Physiognomik, Rassenlehre und Antisemitismus in Deutschland

Bei der folgenden Darstellung handelt es sich nicht um einen vollständigen ge- schichtlichen Überblick über die Entstehung der Physiognomik oder eine Aufzählung sämtlicher, jemals veröffentlichter Rassenlehren. Das kann im Zuge dieser Arbeit nicht geleistet werden. Es soll an exemplarischen Beispielen dargestellt werden, wie sich aus der Physiognomik unterschiedliche Rassenlehren entwickelt haben und der zuvor christlich motivierte Antijudaismus langsam zu einem völkischen Antisemitis- mus geworden ist. Außerdem soll gezeigt werden, dass die rassische Ablehnung des Judentums eben keine Erfindung Hitlers gewesen ist, sondern sich auf eine lange Tradition stützen konnte. Zwar fand während der Weimarer Republik durchaus eine Annäherung zwischen Judentum und dem vorherrschenden Christentum in Deutsch- land statt, doch zeigen die Auflagen antisemitischer Werke im 19. und 20. Jahrhun- dert, dass derartiges Gedankengut durchaus eine gewisse Popularität besaß. Es werden also zum Einen solche Theorien vorgestellt, die das antisemitische Klima in Deutschland zeigen, zum Anderen die Vorbilder und Vorläufer der nationalsozialisti- schen Rassenlehre. Das Ziel ist es, zu zeigen, dass sich Hitler auf der einen Seite gängige Vorstellungen zu Nutzen machen konnte, um seine eigenen Ideen durchzu- setzen, und dass auf der anderen Seite Antisemitismus ein durchaus einschlägiger Diskurs zu dieser Zeit gewesen ist, der Bildern jüdischer Gesichter per se etwas Bö- ses zusprach.

Dieses Kapitel stützt sich hauptsächlich auf drei Werke: About Face. German Phy- siognomic Thought from Lavater to Auschwitz von Richard T. Gray, Antisemitische Geschichtsbilder herausgegeben von Werner Bergmann und Ulrich Sieg und Die na- tionalsozialistische Rassenlehre von Rupert Breitling.[2] Richard T. Gray erläutert, wie sich aus der Annäherung der Physiognomik bei Lavater an wissenschaftliche Metho- den die pseudowissenschaftlichen Rassenlehren entwickelt haben, die schließlich in Hitlers Rassenideologie ausgeartet sind. Werner Bergmann und Ulrich Sieg geben einen guten Überblick über populäre Rassenlehren im 19. und 20. Jahrhundert, die das durchaus vorhandene antisemitische Klima zu dieser Zeit in Deutschland aufzei- gen. Rupert Breitling schließlich dokumentiert den österreichischen Hintergrund und die persönlichen Erfahrungen Hitlers, aus denen sich sein Weltbild entwickelt hat.

2.1 Physiognomik als Vorläufer der Rassenlehren

Unter Physiognomik versteht man, aus den unveränderlichen physischen Zeichen des menschlichen Körpers, insbesondere des Gesichts, auf den Charakter und seeli- schen Zustand eines Menschen zu schließen.[3] Bereits Aristoteles hat sich in der An- tike mit Fragen der Physiognomik beschäftigt. Immer wieder begegnet man Theorien und Überlegungen zur Lesbarkeit des Gesichts und des Körpers und dem Versuch, diese greifbar zu machen. Es lässt sich allerdings beobachten, dass im späten 18. Jahrhundert ein neues Interesse an der „deutende[n] Darstellung des Inneren aus äußeren Zeichen des Körpers“[4] aufkam, das unter anderem untrennbar mit dem Na- men Johann Caspar Lavater verbunden ist. Der Schweizer Pastor versuchte in sei- nem Werk Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe[5] aus den Jahren 1775 bis 1778 die Physiognomik in den Stand einer empirischen und methodologischen Wissenschaft zu erheben. Er benutzte Schattenrisse, um Physiognomien zu vergleichen und zu analysieren, da diese für ihn die Objektivität der Untersuchung gewährleisteten. Schattenrisse seien Abbilder von Silhouetten und somit nicht der Subjektivität eines Zeichners oder Malers unter- wo]rfen.[6]

Schon bald nach Lavater entwickelte der deutsche Arzt Franz Josef Gall um 1800 die sogenannte Phrenologie. Hier ging es nun nicht mehr um Physiognomien im All- gemeinen, bzw. die Lesbarkeit des Gesichts, sondern speziell um die Schädel- und Gehirnform, bestimmte Gehirnareale und deren Verknüpfung zu Charaktereigen- schaften und Seelenzuständen.[7] Ende des 19. Jahrhunderts führte Cesare Lombroso diese Theorie in die Kriminologie ein und ordnete bestimmten Verbrechen bestimmte Physiognomien zu.[8] Auch die Nationalsozialisten sollten sich später auf Lombrosos Thesen berufen. Zwar postulierte Lombroso selbst noch keine explizite Rassentheo- rie, doch war es von der von Geburt aus determinierten Zuordnung zu bestimmten

Verbrechertypen kein großer Schritt mehr zu den von Geburt aus determinierten und unveränderlichen Eigenschaften bestimmter Rassen.

Gray sieht nun in Lavaters wissenschaftlich orientierter Physiognomik bereits den Weg hin zu Lombrosos Überlegungen und der späteren Aneignung durch die rassi- schen Lehren des frühen 20. Jahrhunderts und der Nationalsozialisten vorgezeich- net. Zum Einen ebnete dessen Behauptung, dass der Charakter des Menschen eben nicht durch Erziehung, Vorbilder und Gesellschaft gebildet werde, sondern vielmehr von der Natur gegeben und determiniert sei, den Weg für rassenideologische Be- trachtungen, die behaupteten, dass der Charakter nicht nur von Geburt an determi- niert sei, sondern, auch in Bezug auf die Phrenologie, bestimmte Rassen bestimmte Körpermerkmale gemeinsam hätten und somit automatisch auch bestimmte Charak- tereigenschaften. Zum Anderen distanzierte er die Physiognomik von eher mystisch behafteten Praktiken und gab ihr den Status einer empirisch belegbaren naturwis- senschaftlichen Disziplin. Dadurch besaß sie nun weitaus größere Beweiskraft und lieferte den Rassenlehren ein scheinbar auf wissenschaftlichen Methoden beruhen- des Argument, um deren Existenz und Wahrheitsgehalt zu rechtfertigen.

“[It] is the trenchant irony that, born with the theories of the Protestant preacher Lavater as a manner for promoting human love and understanding, as the subtitle to Lavater’s magnum opus itself suggests, German physiognomic science quickly reverted to a principally misanthropic and homophobic ideology that sought to es- tablish narrow characterological and behavioral norms, while stigmatizing all the traits or behavioral patterns that fell outside this closely circumscribed taxonomy of the acceptable.”[9]

Es ist erstaunlich, dass zeitgenössische Kritiker Lavaters und der Physiognomik, wie Georg Christoph Lichtenberg, diese Entwicklung bereits vorhergesehen und vor solchen Ausschreitungen gewarnt haben.[10]

2.2 Antisemitismus und Rassenlehren im 19. und 20. Jahrhundert

Mit dem Aufkommen des völkischen Denkens, das sich in den Rassenlehren niederschlagen sollte, erhielt der Antijudaismus eine neue Dimension. Sah sich dieser bislang in christlich-religiösen Motiven begründet, wie zum Beispiel der Kreuzigung und Ermordung des Heilands Jesu Christi[11] oder auch der Tatsache, dass Geldgeschäfte lange in der Hand der Juden blieben, da es Christen verboten war, mit Geld zu handeln (Juden war dies lediglich untereinander untersagt)[12], erfuhr er durch die Rassenlehren nun eine Radikalisierung hin zum völkisch begründeten Antisemitismus. Dieser Begriff entstand im 19. Jahrhundert und beschreibt eine Judenfeindlichkeit, die die Juden nicht länger nur als religiöse Gemeinschaft, sondern als minderwertige Rasse ansieht.[13] Der Erfolg dieser neuen Art von Judenfeindlichkeit ist für Bergmann und Sieg nicht einfach nachzuvollziehen:

“Die Resonanz des Antisemitismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu erklären ist schwieriger als es auf den ersten Blick scheint. Ein zentrales methodi- sches Problem besteht in der argumentativen Inkonsistenz des modernen Antise- mitismus. Gerade in einem biologistischen Weltbild bleibt die Frage, warum die Juden eine so verderbliche Rasse seien, letztlich unbeantwortbar. […] Deshalb soll […] ein weiterer Parameter betrachtet werden: das antisemitische Geschichts- verständnis.”[14]

Auch die Rassenideologie des Nationalsozialismus, die nicht nur Adolf Hitler selbst, sondern auch unter anderem Alfred Rosenberg nachhaltig prägte, ist an ein be- stimmtes Geschichtsbild geknüpft und leitet die Verwerflichkeit des Judentums von geschichtlichen Motiven ab. Dies lässt sich erklären, „wenn man bedenkt, dass sich im Zeitalter des Nationalsozialismus jede Weltanschauung historisch zu legitimieren hatte. Auf dem Höhepunkt des Historismus wurde Geschichte mit größter Selbstver- ständlichkeit in politischer Absicht herangezogen und beschworen.“[15] Zudem erfreu- ten sich solche Werke hoher Beliebtheit, die lieber verzückt in die Vergangenheit blickten, anstatt sich mit zeitgenössischen Problemen zu befassen. Diese Tendenz kam den antisemitischen Theorien ebenfalls zugute, da diese sich meist auf „nationa- listische Gemeinplätze“ und die „Schroffheit ihrer Feindbilder“[16] verließen, anstatt

wissenschaftlich fundierte Fakten zu präsentieren. Die Leser wurden mit einem „eher konventionellen Wertekanon“ und „drastischen sprachlichen Mitteln“[17] geködert. Doch nicht nur das große Interesse an der Vergangenheit und historischer Legitimation kann als Ursache für die Popularität solcher antisemitischer Geschichtswerke zu dieser Zeit herangezogen werden. Auch die sich wandelnde Medienlandschaft begünstigte deren Verbreitung. Durch den „Siegeszug der Printmedien“[18] konnte nun eine weitaus breitere Öffentlichkeit erreicht werden.[19]

Diejenigen Autoren, die im Folgenden nun in Kürze vorgestellt werden sollen, er- zielten alle einen gewissen literarischen Erfolg. Ihre Werke zählen zu den Einschlä- gigen, wurden immer wieder neu aufgelegt und finden häufig Erwähnung. Zudem haben sie das antisemitische Klima, bzw. auch das nationalsozialistische Rassen- verständnis nachhaltig geprägt. Begonnen wird mit Paul de Lagarde und seinen Deutsche Schriften (1878), der von Alfred Rosenberg zum Vorreiter der nationalsozi- alistischen Ideologie erklärt wurde. Im Anschluss werden Houston Stewart Chamber- lains Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts (1899) vorgestellt, die „auf Veran- lassung Wilhelms II. obligater Teil der preußischen Gymnasiallehrerausbildung“[20] wurden. Rosenbergs Werk Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930) selbst, bzw. sein antisemitisches Weltbild, mit dem er sich „den zweifelhaften Ruf erwarb, „Chefideolo- ge“ des Nationalsozialismus zu sein“[21], soll schließlich zum Schluss dargestellt wer- den.[22]

2.2.1 Lagardes Deutsche Schriften

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Lagarde[23] nicht unbedingt einen völkischen Antisemitismus vertrat. Für ihn lag nationales Bewusstsein, Deutschsein, nicht im Blut begründet, sondern im Geist. Allerdings lassen sich durchaus rassische Elemen- te in seinem Werk erkennen. Er warf dem Judentum vor, „es sei zutiefst unmoralisch, weil es sich nicht entschieden habe, ob es eine Rasse oder eine Religion sei.“[24] Dies bedeute, dass sie, je nachdem, wie es ihnen gerade zum Vorteil gereichen würde, mal das Eine, mal das Andere seien. Für Lagarde standen die Juden einem groß- deutschen Reich im Weg, da sie „einen Staat im Staate bildeten“[25]. Ein Fremdköper, die Juden, in einem gesunden Körper, die deutsche Nation, führe unweigerlich zu dessen Erkrankung. Die Radikalität, mit der er diese Ansichten beschreibt, bot zahl- reiche Anknüpfungspunkte für die brutale Sprache, mit der der Nationalsozialismus zum Einen die deutsche Rasse und Nation in den Vordergrund stellte und zum Ande- ren das Judentum verdammte.[26]

2.2.2 Chamberlains Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts

Auch Chamberlain[27] wurde vielfach, unter anderem von Joseph Goebbels, als Vor- läufer der nationalsozialistischen Idee bezeichnet. Er selbst sah Hitler als „messiani- schen Retter aus der Nachkriegsschmach“[28]. In seinem Werk tritt nun ganz klar die Rasse in den Vordergrund. Für ihn ist sie Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Im Grunde genommen teilt er die Menschheit in zwei Hauptrassen ein: Arier und Semi- ten. Diese Gruppen spezifizieren sich durch gemeinsame Merkmale, wie eine be- stimmte Körperlichkeit (beispielsweise Körperbau und Schädelform), bestimmte Cha- raktereigenschaften und eine bestimmte Moral. Während die Arier zum kulturstiften- den Ideal stilisiert werden, verkörpern die Semiten den „Nichtbesitz kultureller Kraft“[29]. Wichtig ist hier, dass für ihn die „edle Rasse“[30] nicht der Ursprung und durch Vermischung mit der „unedlen Rasse“[31] entartet ist, sondern Ergebnis von „Selektion und Züchtung“[32], deren Grundlage die germanische Rasse bildet. Der Germane habe die Menschheit zu Zivilisation und Kultur geführt und besitze „Kultur- und Schöpfer- kraft“[33]. Der Jude nun sei aus der Kreuzung der minderwertigsten Rassen entstan-en. Auch Chamberlain bezeichnet das Judentum mit radikaler Sprache als Krank-heit, die die von den Germanen geschaffene Kultur vergiftet und zersetzt. Auch hier wird, ähnlich wie später im Dritten Reich, den Juden vorgeworfen, sie würden sich bei einem „Wirtsvolk“ einnisten, sich anpassen, um von dessen Errungenschaften zu profitieren.[34]

2.2.3 Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts

Rosenbergs Hauptwerk versteht sich als Nachfolgewerk der Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Seine Ideologie, die sich auf die Begriffe Rasse und Re- ligion stützt und mit „einem biologistischen und einem geistesgeschichtlichen Be- gründungsmuster antisemitischer Stereotype“[35] arbeitet, wurde mit Hilfe der vor- christlichen Antike zu den Eckpfeilern des Mythus’.[36] Zwar hatte er wenig politische Erfolge im NS-Regime zu verzeichnen, seine Rassentheorie jedoch beeinflusste die Nationalsozialistische nachhaltig. Er war es, der schon früh die „Gleichsetzung von Bolschewismus und Judentum“[37] propagierte. Rosenberg beschreibt die Juden als „parasitäre Gegenrasse“[38] zur idealen nordischen Rasse. Zwar erklärt er, dass auch die Juden aus „Rassenzucht“ hervorgegangen seien, ein durchaus positiv besetzter, eigentlich der nordischen Rasse vorbehaltener Vorgang. Allerdings habe Esra bei der Stiftung einer „nationalreligiösen Gemeinschaft“ körperlich und charakterlich un- terschiedliche Typen gemischt und somit gegen die Rassengesetze Chamberlains verstoßen, nach denen unter anderem nur „vortreffliches Material“ miteinander zu mischen sei. Auch hier findet sich also der Vorwurf des „Rassengemischs“ wieder. Diesen Antisemitismus legt er im Mythus einem umfassenden Rassismus zugrunde, der den befürchteten Untergang des nordischen Volkes und seiner „Rassenseele“, die dem Judentum abgesprochen wird, in der „Rassenschande“, also der Vermi- schung „reinen“ mit „unreinen“ Blutes, sieht. Diesen Untergang gelte es, zu verhin- dern.[39]

[...]


[1] Für diese Studie wurde der Film in den Jahren 1986-1988 in Freiburg und Köln verschiedenen Ver- suchspersonen gezeigt und diese anschließend ausführlich befragt. Zudem wurden Beobachtungen in Seminarveranstaltungen zu diesem Film für eine ausführliche, psychologische Wirkungsanalyse he- rangezogen. Diese wurde von Yizhak Ahren und Christoph B. Melchers geschrieben und in dem Buch „Der Ewige Jude - Wie Goebbels hetzte. Untersuchungen zum nationalsozialistischen Propaganda- film“, in dem auch eine historische Analyse von Stig Hornshøj-Møller zu finden ist, 1990 in Aachen veröffentlicht.

[2] Diese drei Werke sind zwar die Hauptquellen, es werden aber auch andere Autoren und deren Darstellungen berücksichtigt.

[3] Die Physiognomik steht meist im Gegensatz zur Pathognomik, die aus Mimik und Gestik Affekte, Neigungen, etc. erkennen will. Vgl. hierzu: Petra Löffler: Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik; Bielefeld 2004, S.22ff

[4] Rüdiger Campe, Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik. Text - Bild - Wissen; Freiburg im Breisgau 1996, S.9

[5] Vgl. Richard T. Gray: About Face. German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz; Detroit 2004, S.XVIIff

[6] Vgl. Löffler, S.25f

[7] Vgl. Gray, S.57ff

[8] Vgl. Cesare Lombroso: L´Uomo delinquente. In rapporto all'Antropologia, alla Giurisprudenza alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie; Turin 1876. (dt: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung; Hamburg 1889) Lombroso bezieht sich in seinem Werk unter anderen auch explizit auf Lavater.

[9] Gray, S.XXf; Eigene Übersetzung: „Die traurige Ironie daran ist, dass die deutsche Physiognomik, die mit den Theorien des evangelischen Priesters Lavater als Methode zur Förderung der Menschen- liebe und Menschenkenntnis entstanden ist, wie der Untertitel von Lavater's Meisterwerk selbst be- hauptet, rasch zu einer hauptsächlich menschenfeindlichen und homophoben Ideologie umschlug, die danach strebte, begrenzte Charakter- und Verhaltensnormen zu etablieren, während all die Charak- tereigenschaften oder Verhaltensmuster stigmatisiert wurden, die aus dieser eng begrenzten Klassifi- zierung des Akzeptierten herausfielen.“

[10] Vgl. Gray, S.99ff

[11] Vgl. Jules Isaac: Genesis des Antisemitismus; Wien 1969, S.111, 116 und 120ff

[12] Vgl. Yizhak Ahren, Stig Hornshøj-Møller, Christoph B. Melchers: “Der ewige Jude“ - Wie Goebbels hetzte. Untersuchungen zum nationalsozialistischen Propagandafilm; Aachen 1990, S.79

[13] Vgl. Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus: Historische Verbindungslinien; In: Herbert

A. Strauss, Norbert Kampe (Hrsg.): Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust; Frankfurt/Main, New York 1985

[14] Werner Bergmann, Ulrich Sieg (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder; Essen 2009, S.7

[15] Ebd., S.8

[16] Ebd., S.11

[17] Ebd.; S.12

[18] Ebd., S.10

[19] Vgl. Ebd., S.7ff

[20] Ebd., S.8

[21] Ebd., S.8, Hervorhebung durch den Autor

[22] Vgl. Ebd., S.7ff

[23] Lagarde versuchte in seinem Werk eine neue „nationale Religion“ zu schaffen. Diese begründet er auf einer Verherrlichung der Vergangenheit, wie beispielsweise die „Machtstaatlichkeit“ in Assyrien. Außerdem ist diese neue Religion als Gegenentwurf zu seiner pessimistischen Sicht auf die Gegenwart zu verstehen. Vgl. Ulrich Sieg: Die Sakralisierung der Nation: Paul de Lagardes „Deutsche Schriften“; In: Bergmann/Sieg, S.103ff

[24] Ebd. S.114

[25] Ebd.

[26] Vgl. Ebd., S.103ff

[27] Chamberlain stilisiert die „Weltgeschichte [zum] apokalyptischen Rassenkampf zwischen Semiten und Nichtsemiten“. Er gibt dem Leser ein einfaches Welterklärungsmodell an die Hand, das umfassend angewandt werden kann. Die Gegenwart wird aus der Vergangenheit heraus und zukunftsweisend erklärt. Die zahlreichen Ursachen für Probleme der Zeit werden auf eine Einzige reduziert und verklärt. Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann: Houston Stewart Chamberlains rassentheoretische Geschichts-„philosophie“; In: Bergmann/Sieg, S.139ff

[28] Ebd., S.143

[29] Ebd., S.147

[30] Ebd.

[31] Ebd., S.148

[32] Ebd.

[33] Ebd., S.157

[34] Ebd., S.139ff

[35] Vgl. Miloslav Szabó: Rasse, Orientalismus und Religion im antisemitischen Geschichtsbild Alfred Rosenbergs; In: Bergmann/Sieg, S.213

[36] Im Werk selbst findet sich eine deutlich stärkere Kritik am Katholizismus, als am Judentum. Allerdings lässt sich dies aus seinem Antisemitismus heraus erklären, der auch im Mythus immer wieder erkennbar wird. Er wirft dem Katholizismus vor, er handle im Interesse der Juden. Er entwickelte und radikalisierte Chamberlains Grundlagen weiter, an dessen Einteilung der Weltgeschichte er sich hielt, hin zu einem „rassistischen und sexistischen Orientalismus“. Vgl. Ebd., S.211ff

[37] Ebd., S.211

[38] Ebd., S.214

[39] Ebd., S.211ff

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Die Funktion der Großaufnahme bei der Darstellung des jüdischen Gesichts im antisemitischen Propagandafilm
Untertitel
Eine Analyse jüdischer Gesichtsbilder in den Filmen "Der Ewige Jude" und "Jud Süß"
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Theater- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Theater- und Medienwissenschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
44
Katalognummer
V169597
ISBN (eBook)
9783640880133
Dateigröße
1082 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Propagandafilm, Nationalsozialismus, Drittes Reich, Der Ewige Jude, Jud Süß, Großaufnahme
Arbeit zitieren
Elisabeth Jung (Autor:in), 2010, Die Funktion der Großaufnahme bei der Darstellung des jüdischen Gesichts im antisemitischen Propagandafilm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169597

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