Die Transformation des Schulsystems in der SBZ / DDR während der Nachkriegszeit: Erziehung als Staatsangelegenheit


Examensarbeit, 2003

63 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Periodeneinteilung

3. Die erste Phase: Weichenstellung 1945-1949
3.1. Vorgehen der Besatzungsmächte im Vergleich
3.2. Das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule

4. Die Neulehrer

5. FDJ und Pionierorganisation
5.1. Instrumente zur Politisierung der Schule
5.2. Die FDJ
5.3. Die Pionierorganisation
5.4. Die Kirche als Konkurrenz

6. Die zweite Phase: 1949-1961/62
6.1. Krisen und Experimente
6.2. Das Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik
6.3. Die polytechnischen Oberschulen (POS)

7. Politische Erziehung in einzelnen Schulfächern
7.1. Gegenwartskunde und Staatsbürgerkunde
7.2. Der Lehrplan für den Geschichtsunterricht

8. Föderalismus und Zentralismus: BRD und DDR im Vergleich

9. Schlussbetrachtungen

10. Quellen- und Literaturverzeichnis

11. Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 mussten sich die Bürger der neuen Bundesländer einem Neuanfang stellen. Ihre Situation war vergleichbar mit der Nachkriegszeit in ganz Deutschland: neue Lebensperspektiven, aber auch eine ungewisse Zukunft! Auch das Schulsystem in den neuen Bundesländern musste eine Transformation durchleben, die an die Umwälzungen in der SBZ und DDR während der Nachkriegszeit erinnert. Das Thema „Bildungspolitik in der DDR“ ist mit der Wende zwar in sich abgeschlossen, aber die Folgen sind bis heute zugegen. Jeder DDR-Bürger wurde durch die Schule stärker geprägt, als man es sich vielleicht im Westen vorstellen kann. Wenn man darüber nachdenkt, warum „Ossis und Wessis“ den jeweils anderen selbst nach über zwölf Jahren der Wiedervereinigung teilweise noch als fremdartig und seltsam erleben, sollte man auch bedenken, dass beide Seiten eine sehr unterschiedliche Schullaufbahn hinter sich haben. Da die Jahre als Kind und Jugendlicher einen Menschen besonders stark und nachhaltig prägen, ist es wichtig, dem Schulsystem der ehemaligen DDR besondere Aufmerksamkeit zu schenken, wenn man als Westdeutscher die ostdeutsche Mentalität und Lebenseinstellung verstehen will.

Neben der wirtschaftlichen Produktion war das Bildungs- und Erziehungssystem mit dem Zweck, das Denkens jedes Einzelnen zu beeinflussen, das zweite große Hauptaktionsfeld in der Transformationspolitik der SBZ/DDR. Das Bildungssystem der DDR erstreckt sich von der Vorschulerziehung bis zu den Hochschulen und zur Erwachsenenqualifizierung. Im Folgenden werde ich mich auf die Entwicklungen der allgemeinbildenden Schulen in der SBZ/DDR während der Nachkriegszeit konzentrieren. Für die Neuordnung des Schulsystems siedle ich die Nachkriegszeit in dem Zeitraum von 1945 bis 1961/62 an, also vom Kriegsende bis zum Mauerbau, da es in dieser Zeitspanne des Wiederaufbaus völlig neu etabliert wurde. Dieser Abschnitt zeichnet sich durch zahlreiche Entwicklungen und Experimente aus, die ein völlig neues Staatssystem etablieren sollten.

Der Zeitabschnitt von 1945 bis 1949 kann als Phase der Weichenstellung betrachtet werden. Um die unterschiedlichen Entwicklungen in der Bildungspolitik in Ost und West zu begreifen, ist es erforderlich, sich zunächst mit den Vorgehensweisen der vier Besatzungsmächte zu beschäftigen. Die Alliierten waren sich über grundlegende Ziele zwar einig, aber in jeder Zone wurden die Schulreformen auf unterschiedliche Art und Weise durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich in der SBZ eine politische Entwicklung, die von den drei Westzonen wesentlich abwich, was z.B. schon an der Reparationspolitik deutlich wurde. Um jedes drohende Übel, das die Entwicklung einer neuen Gesellschaft gefährden könnte, im Keim zu ersticken, setzte die Besatzungsmacht auch im Bildungsapparat an. Kinder und Jugendliche sollten das Übel des Faschismus erkennen, der Deutschland in den vorrangegangenen zwölf Jahren geprägt hatte, und zu Trägern einer neuen Gesellschaft der Zukunft erzogen werden. In welchem Maße wurde die erforderliche Entnazifizierung durchgeführt? Was führte dazu, dass es in der SBZ zu einer gänzlich andersartigen Entwicklung als in den westlichen Zonen kam?

Ein gewichtiges Mittel, mit dem die SED zur Durchsetzung ihrer Interessen gearbeitet hatte, war die Instrumentalisierung bestimmter Personen und Institutionen. Inwiefern und mit welchem Erfolg wurden die Neulehrer, die FDJ und Pionierorganisation, aber auch einzelne Schulfächer von der Staatsführung instrumentalisiert? Wie ging die SED in diesem Zusammenhang vor, um potentielle Störungen, Behinderungen und Konkurrenz, wie etwa die Kirche, zu beseitigen?

Mit Beginn der fünfziger Jahre wurden die Maßnahmen zur Etablierung des Sozialismus und des „Arbeiter- und Bauernstaates“ wesentlich forciert. Sie wurden von zahlreichen Krisen und Experimenten begleitet. Wie wurde das Schulsystem auf aktuelle politische Entwicklungen abgestimmt?

Abschließend werde ich kurz die grundlegenden Unterschiede in den Schulsystemen der Bundesrepublik und der DDR miteinander vergleichen. Welche Weltanschauung wurde jeweils vertreten und sollte den Schülern vermittelt werden? Welche Werte sollten in ihnen gefördert werden?

Durch alle Kapitel zieht sich eine zentrale Frage wie ein roter Faden: Wie sollte die Revolution des Schulsystems dazu beitragen, dass der sozialistische Staat etabliert wird und seine Bürger zu Menschen mit einer sozialistischen Gesinnung erzogen und geformt werden können? Welche Quellen geben darüber Aufschluss? Wie sahen die Reaktionen der Schüler, Lehrer, Eltern und anderer Beteiligter aus? Mit welchem Erfolg konnte das Programm greifen?

Als die DDR noch als Staat existierte, wurde Wissenschaftlern der Einblick in das Schulwesen stark erschwert. Diese waren also stets auf schriftliche Quellen angewiesen.[1] Durch die Öffnung der ostdeutschen Archive nach dem Zusammenbruch der DDR konnte die Forschung auf dem Gebiet des Bildungs- und Erziehungssystems durch eine Fülle neuer Einzelheiten bereichert werden. Aber auch schon vor der Wende war in der alten Bundesrepublik zahlreiche Literatur erschienen, die mit heutigen Erkenntnissen in weiten Teilen übereinstimmt und auf die man noch zurückgreifen kann, wie etwa Klaus-Dieter Mendes „Schulreform und Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1965“ von 1970, das einen guten Überblick über die Entwicklungen der ersten 20 Jahre gibt. „Bildungspolitik in der BRD und DDR“ von Arthur Hearnden aus dem Jahr 1973 beschäftigt sich noch differenzierter mit den verschiedenen Phasen bis zum Anfang der siebziger Jahre. Johannes Niermann bietet mit „Lehrer in der DDR“ (1973) eine umfangreiche Untersuchung über die Ausbildung, Beschäftigung und Bedeutung der Lehrerschaft. Karl Schmitt geht mit „Politische Erziehung in der DDR“ (1980) phasenübergreifend insbesondere auf die Wirkung einzelner Schulfächer und Unterrichtsmethoden ein. Mit dem „Handbuch zum Bildungswesen der DDR“ veröffentlichte Dietmar Waterkamp 1987 nur kurz vor dem Ende der DDR schließlich ein Werk, das einen bündigen Gesamtüberblick über das Bildungswesen von der Kinderkrippe über die allgemeinbildenden Schulen bis zur Berufsbildung und zum Hochschulwesen aber auch über die Lehrerausbildung gibt. 1966 erschien mit „Zwei Jahrzehnte Bildungspolitik in der Sowjetzone Deutschlands“ eine umfassende Dokumentensammlung in zwei Bänden, die zahlreiche Gesetze, Anordnungen, Richtlinien, SED Beschlüsse und andere Quellen beinhaltet, die eine solide Basis zum Verständnis der schulpolitischen Ereignisse zwischen 1945 und 1965 bilden.

Nach dem Ende der DDR erschienen die ersten Bücher, die über die siebziger Jahre hinaus einen in sich abgeschlossenen Überblick von 1945 bis 1989 bieten können. Dazu gehört z.B. „Das Bildungssystem der DDR“ von Andreas Fischer von 1992, das nicht nur eine komplette Übersicht, sondern auch erste Neuansätze bietet, die nach dem Mauerfall gefunden werden mussten. Bei dem „Lexikon des DDR-Sozialismus“ von 1996 handelt es sich um ein Nachschlagewerk, mit dem man sich erste Eindrücke zum Bildungssystem oder auch der Jugend- und Kinderorganisation verschaffen kann. Viele Werke beschäftigen sich von nun an mit speziellen Teilgebieten im Erziehungs- und Bildungsapparat, wie etwa „Kinder im Klassenkampf“ (1997) von Leonore Ansorg. Hier wird die Entwicklung der Pionierorganisation und ihre Verzahnung mit dem Schulsystem anschaulich geschildert. Brigitte Hohlfeld konzentriert sich mit „Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945-1953“ (1992) auf das Phänomen der Neulehrerausbildung zu Beginn der Geschichte des Schulwesens. Ein sehr aktuelles Werk aus dem Jahr 2000, das ebenfalls den Zeitraum abdeckt, mit dem sich diese Arbeit beschäftigt, ist „Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962“ von Gert Geißler. Hier wird der aktuelle Forschungsstand wiedergegeben.

2. Periodeneinteilung

Gegen Ende der achtziger Jahre hatten DDR-Historiker die Entwicklung des Bildungssystems der DDR in drei Abschnitte mit jeweils eigenen kennzeichnenden Schulgesetzen eingeteilt. Diese verlaufen durchgehend parallel zur politischen Periodisierung. Der erste Abschnitt bezüglich des Bildungssystems war die „antifaschistisch-demokratische Schulreform“ (1945-1949) mit dem „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ („Einheitsschulgesetz“, Mai/Juni 1946). Hier handelte es sich um eine Übergangs- und Umformungsphase. Auch politisch spricht man von einer „Antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“, die durch die Bodenreform und Enteignung der Großindustrie als Basis für eine sozialistische Entwicklung charakterisiert wird.

Es folgten der „Aufbau der sozialistischen Schule“ (1949-1961/62) und das „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik“ (Dezember 1959). Allgemeinpolitisch betrachtet handelte es sich hier um die „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus“. Der Aufbau des Sozialismus wurde in diesem Zeitraum mit allen Kräften vorangetrieben, wie z.B. 1960 durch die Kollektivierung der Landwirtschaft.

Die letzte Phase, die sich allerdings außerhalb des abgesteckten Rahmens dieser Arbeit befindet, war die „Gestaltung des entwickelten sozialistischen Bildungssystems“ (ab 1961/62). Dazu gehörte das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ („Bildungsgesetz“, Februar 1965). Die politische Periode wurde als „umfassender Aufbau des Sozialismus“ bezeichnet.[2]

Diese parallel verlaufenden Zeitabschnitte sind nur ein erster Hinweis darauf, dass politische Ereignisse und Entscheidungen in der DDR stets auch unmittelbare Auswirkungen auf die Schulpolitik hatten. Dies wird im Verlauf der Arbeit noch an zahlreichen Stellen bestätigt und vertieft.

3. Die erste Phase: Weichenstellung 1945-1949

3.1. Vorgehen der Besatzungsmächte im Vergleich

Die Politik der alliierten Besatzungsmächte in den Besatzungszonen war von Anfang an sehr unterschiedlich. Das lag an den gravierenden Unterschieden in den politischen Systemen, die schon 1946/47 deutlich wurden.[3] In allen Zonen wurden nach Kriegsende zunächst alle Schulen vorübergehend geschlossen. Bevor sie im Herbst 1945 wiedereröffnet werden sollten, mussten Lehrer, Lehrpläne und auch Lehrmaterialien, insbesondere Geographie- und Geschichtsbücher, entnazifiziert werden. Allerdings waren die Wiedereröffnungen ungenügend vorbereitet, aber dies wurde in Kauf genommen, um die Jugend von den Straßen zu holen. Da in dieser kurzen Zeit weder ausreichendes neues Lehrmaterial beschafft werden konnte, noch die Lehrkonzepte ausgereift waren, knüpfte man in den Schulen zunächst an die Weimarer Republik an. Wegen Lehrermangels mussten pensionierte Lehrkräfte und Studenten als Hilfskräfte eingestellt werden. Der Schulbetrieb gestaltete sich insgesamt also sehr provisorisch.[4]

Im Potsdamer Abkommen legten die Alliierten für alle Besatzungszonen fest, dass das Erziehungswesen so neu zu ordnen sei, „dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht“ werde.[5] In den verschiedenen Besatzungszonen wurde diese Bestimmung ziemlich unterschiedlich ausgelegt. Jeder der Alliierten hatte schon zu Kriegszeiten seinen eigenen Entwurf entwickelt, wie im Bildungs- und Erziehungswesen vorzugehen sei. Auf der Potsdamer Konferenz wurde sich also keineswegs auf durchgängig eindeutige und einheitliche Grundsätze geeinigt.[6]

Die USA starteten ihr „Re-education“ Programm und gingen bei der Entnazifizierung rigoros vor, während Großbritannien in dieser Frage nur sehr zurückhaltend agierte. Auch Frankreich blieb bezüglich der Entnazifizierung ohne rechtes Konzept.[7] Eine wirkliche Reform ging von den Besatzern der späteren Bi-Zone nicht aus. Die USA und Großbritannien waren der Meinung, dass eine Schulreform vom deutschen Volk selbst zu entwickeln und auszuführen sei. Da diese Reform aber ausblieb, beschlossen die USA im Herbst 1946 doch einzugreifen. Sie befürworteten die Einheitsschule mit einer sechsstufigen Grundschule. Die weiterführenden Schulen sollten Gesamtschulen sein und gesonderte Schularten abgeschafft werden. Es sollten Schulpflicht bis zum 15. Lebensjahr und Schulgeld- und Lernmittelfreiheit eingeführt werden. Die USA wollten Deutschland dieses System allerdings nicht aufoktroyieren, sondern nur nahe legen. Ein Konzept zum Wiederaufbau sollte von den Deutschen selber entwickelt und durchgeführt werden. Der Vorschlag zur Umstrukturierung fand allerdings nur wenig Zuspruch.[8] Großbritannien hingegen blieb eher passiv und behielt das traditionelle dreizügige System Volksschule, Mittelschule und Gymnasium bei. Die Besatzungsmacht überließ den deutschen Länderregierungen ihrer Zone schon bald sämtliche Entscheidungen.[9] Frankreich versuchte bis 1949, das französische Schulsystem einzurichten. Dieses war auf Elitenbildung ausgerichtet. Die Aufgabe der Entnazifizierung rückte in der französischen Besatzungszone in den Hintergrund, aber die Maßnahmen in den Schulen waren umso klarer und durchdachter und wurden zielstrebig durchgesetzt. Die Schulverwaltung wurde den Deutschen nach kurzer Zeit wieder überlassen, aber Frankreich führte weiterhin eine streng kontrollierende Aufsicht. Die Franzosen wussten weit mehr über die deutsche Kultur als etwa die Amerikaner und konnten daher eine Schulreform wesentlich präziser durchführen. Aber auch das kleinere Besatzungsgebiet erleichterte ihre Arbeit. Frankreich bemühte sich zwar die Grundschulzeit zu verlängern, weil die frühe Selektion im Alter von zehn Jahren nicht in ihr Bild eines demokratischen Schulsystems passte, scheiterte in dieser Sache aber letztendlich genauso wie Großbritannien und die USA.[10]

In der SBZ hingegen hielt man sich sehr strikt an die Vorgaben des Potsdamer Abkommens und vollzog die Entnazifizierung in allen Bereichen am schnellsten und konsequentesten von allen Besatzungsmächten. Die Sowjetische Militäradministration strebte eine Umwälzung der Wirtschaft und Gesellschaft an und führte eine „antifaschistisch-demokratische“ Revolution durch. Schon im Februar 1945 begann eine Arbeitskommission der Exil-KPD ein Programm zu entwickeln, das insbesondere im Erziehungssystem deutliche Akzente auf die „Säuberung des Staatsapparates in Reich, Ländern und Gemeinden“ setzte.[11] Zu dieser Kommission gehörten u.a. Walter Ulbricht und Paul Wandel, der ehemalige Chefredakteur des Zentralorgans der KPD. Zunächst waren Sowjetische Bildungsoffiziere für den Wiederaufbau der Bildungseinrichtungen verantwortlich. Im August 1945 wurde die Deutsche Verwaltung für Volksbildung mit Paul Wandel als Präsidenten eingerichtet, welche die Schulpolitik von nun an zentral steuerte und aus der 1949 das Ministerium für Volksbildung hervorging.[12] Die Folgen der Reform war für die SBZ wesentlich gravierender und dauerhafter als in den anderen Zonen. Auch hier sollten die bisherigen Schularten aufgelöst und eine Einheitsschule geschaffen werden. Die Fertigstellung von Richtlinien und Lehrmaterialien für den Geschichtsunterricht galt als eine besondere Priorität. Wie Frankreich bemühte sich auch die Sowjetunion darum, den Deutschen die Schulverwaltung frühestmöglich zurückzugeben, allerdings nicht ohne zuvor wichtige Positionen mit Kommunisten oder Sozialdemokraten zu besetzen, die mit den sowjetischen Bildungsoffizieren kooperieren würden.[13] Besonders die Gymnasiallehrer stellten sich gegen die Reformen, aber da sie im Gegensatz zu den Reformgegnern im Westen entscheidende Stellungen verloren hatten, in denen sie sich wirkungsvoll hätten durchsetzen können, konnten sie die Entwicklungen nicht rückgängig machen. Da die Neulehrer, die nach den Grundsätzen der Einheitsschule ausgebildet wurden, bald einen Großteil des Kollegiums besetzten, wurden die Widersprüche aus den Reihen der Lehrer zunehmend weniger. Die geplante Differenzierung in der Oberstufe durch Wahlkurse stellte für viele Lehrer schließlich einen akzeptablen Kompromiss mit dem alten Schulsystem dar. Auch die Liberal-Demokraten und die CDU verteidigten das traditionelle Gymnasium, aber das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ wurde von den provisorischen Verwaltungen kurzerhand beschlossen, bevor öffentliche Diskussionen, die dagegen im Westen stets erwünscht waren, stattfinden konnten.[14] Die sowjetische Führung hatte die Information der Bevölkerung über ihr Vorgehen stets vermieden, um der Bildung jeglicher Oppositionen entgegenzuwirken. Nichts sollte eine zügige Schulreform behindern, da „die tradierte Struktur des Bildungswesens zur Entstehung von Faschismus und Militarismus beigetragen habe“.[15] Wenn man Rücksicht auf die öffentliche Meinung genommen hätte, wäre nach Erachten der sowjetischen Besatzer die Bekämpfung des Faschismus stark blockiert und verzögert worden.

In den ersten Jahren führte die Sowjetunion die Angleichung an ihre Politik und die Eingliederung der SBZ in den Ostblock möglichst unauffällig durch. Von 1948 an verzichtete sie aber auf alle Heimlichkeiten und führte ihr Vorhaben ganz offen durch. Die Sowjetpädagogik sollte fortan die allein gültige Pädagogik sein.[16]

Berlin war ein Sonderfall. Vor der Ankunft der westlichen Alliierten hatte die Sowjetunion einige Monate Zeit, das Gebiet in ihrem Sinne zu verwalten. Es wurde ein Magistrat eingesetzt, der schulpolitisch nach den Vorstellungen der Sowjetunion vorging. Bereits die Richtlinien für das Schuljahr 1945/46 hatten eine ähnliche Richtung wie die in der SBZ und zielten auf eine deutliche Umstrukturierung ab. Die westlichen Siegermächte blieben in Berlin zunächst ohne größeren Einfluss, drängten aber darauf, dass alle Reformen Befürwortung in der Bevölkerung finden sollten.[17]

Das Berliner Schulgesetz vom November 1947 beinhaltete drei Konfliktpunkte. Der Religionsunterricht war der erste Punkt. Sozialistische Reformvertreter wollten Staat und Kirche im Schulwesen trennen und sprachen sich gegen den Religionsunterricht an Schulen aus. Die katholische Kirche führte an, dass die Erziehung der Kinder stets die Verantwortung der Eltern sei, und dass zuerst die Kirche als unterstützende Kraft bereitstehe, bevor der Staat sich einschalten dürfe. Die Kirche war sogar so flexibel, dass sie den Eltern freistellen wollte, ob ihre Kinder am Religionsunterricht teilnehmen sollten oder nicht. Letztendlich setzte sich die Kirche durch. Eine zweite Streitfrage waren die Privatschulen, die nach Meinung der SED das angestrebte einheitliche Schulsystem erschüttern würden. Auf Druck der Briten und Amerikaner konnten alte Privatschulen bestehen bleiben. Erst im Jahr 1954 gab es ein Gesetz, das die Neugründung von Privatschulen in Berlin erlaubte. Die Form der neuen Einheitsschule bildete den dritten Disput. Nach langen Diskussionen einigte man sich auf die achtjährige Einheitsschule im Sinne der Sowjets, aber nach der Gründung der beiden deutschen Staaten setzte die Koalition der CDU und FDP die sechsjährige Grundschule in West-Berlin durch. Auf der weiterführenden Oberschule konnten die Schüler dann zwischen dem wissenschaftlichen, technischen und praktischen Zweig wählen. Am Beispiel Berlins wird deutlich, wie sehr die sowjetischen Grundsätze von denen der westlichen Alliierten abwichen.[18]

Das deutsche Volk reagierte auf die Programme der Besatzungsmächte sehr ablehnend. Zum einen forderte es, dass zuallererst die materielle Not im Land bekämpft werden sollte, bevor man zuviel Energie in das Bildungswesen stecken würde. Zum anderen wollte man sich nicht von den Besatzern umerziehen lassen.[19] Insbesondere die USA und Großbritannien schienen über diesen Widerstand sehr überrascht zu sein. Besonders Bayern stellte sich gegen die Amerikaner. In der französischen Zone planten die Deutschen schon bald, sämtliche Schritte, die so rigoros durchgesetzt wurden, schnellstmöglich rückgängig zu machen. In den drei westlichen Zonen bestand man auf die Wiedereinführung des Gymnasiums, es sollten lediglich die Übergänge von einer Schulart zu anderen erleichtert werden.[20] Die bisherige Selektion nach der 4. Klasse war „deutsche Bildungstradition“ und galt als Selbstverständlichkeit.[21] Im Westen Deutschlands war man sich sicher, dass „die etablierte Praxis des vornazistischen Schulsystems eine sichere Basis für einen Wiederaufbau“ wäre.[22]

Der Alliierte Kontrollrat legte im Juni 1947 zwar einheitliche Richtlinien zur „Demokratisierung des deutschen Bildungswesens“ fest, aber die unterschiedlich verlaufende Neuordnung des Bildungswesens in den verschiedenen Zonen war bereits soweit fortgeschritten, dass diese Richtlinien in der Praxis keine Anwendung mehr fanden. Die vier Zonen hatten zwar grundlegende Gemeinsamkeiten, die an die Weimarer Reichsverfassung anknüpften, und alle Besatzungsmächte sahen in der Schule eine Möglichkeit zur Umerziehung des deutschen Volkes. Die Differenzen waren aber schon bald zu groß, als dass man eine einheitliche Weiterentwicklung hätte erreichen können. Als sich die beiden deutschen Staaten 1949 jeweils ihre eigenen Verfassungen gaben, waren die Unterschiede schließlich unüberbrückbar.[23]

3.2. Das Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule

Während Westdeutschland der Sowjetunion einen beträchtlichen Einfluss auf die Umgestaltung des Bildungssystems in der SBZ/DDR zugesprochen hatte, besagte die ostdeutsche Geschichtsschreibung, dass die DDR allein und ohne sowjetische Beeinflussung die antifaschistisch-demokratische Reform durchgeführt habe. Noch bevor sich die SPD und KPD im April 1946 zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammenschlossen, begannen beide Parteien im Oktober 1945 Grundsätze zur Erneuerung der Schulen in der sowjetischen Besatzungszone zu schaffen. Eine zentrale Forderung war die „Säuberung des gesamten Lehr- und Verwaltungspersonals von nazistischen und militaristischen Elementen und die Besetzung der Schulrats- und Leiterstellen mit bewährten Antifaschisten“.[24] Des weiteren sollte ein einheitliches Bildungssystem gestaltet, Schule und Kirche getrennt und der Weg zur Hochschule für alle die geebnet werden, die unter den Nationalsozialisten daran gehindert worden waren. Außerdem sollten jegliche Bildungsprivilegien einzelner Schichten aufgehoben werden, um eine Einheit der Arbeiterklasse zu erreichen, die nach Marx und Lenin elementar wichtig für die Durchsetzung des Sozialismus war.[25] Es sollte eine „gesellschaftliche Umverteilung von Prestige und Macht mit bildungspolitischen Mitteln durchgesetzt werden“.[26]

Im Mai/Juni 1946 wurde schließlich das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ verabschiedet. Es besteht aus sieben Paragraphen und einem Vorwort, das starke Kritik an der bisherigen deutschen Schule übt. Diese wäre bisher eine „Standesschule“ gewesen, an der keine „demokratische Erziehung der Jugend zu verantwortungs- und selbstbewußten freien Bürgern“ stattgefunden hätte. Dem einfachen Volk wäre die Ausbildung an höheren Schulen und Universitäten verwehrt geblieben. Das wäre nicht von den Begabungen der Schüler abhängig gewesen, sondern stets vom Vermögen der Eltern. Es wird vom Missbrauch der Schule gesprochen, die in der Vergangenheit Kriege und Militarismus verherrlicht und somit eine „Erziehung blinder Untertanen“ angestrebt hätte. Die Nationalsozialisten hätten schließlich die Schule in eine „Stätte des Rassenhasses“ umgewandelt und die Schüler zu ihren „Werkzeugen“ gemacht. Ein demokratisches Deutschland könne nur erschaffen werden, wenn zuallererst die deutschen Schulen demokratisiert werden würden. Sie müsse „frei sein von allen Elementen des Militarismus, des Imperialismus, der Völkerverhetzung und des Rassenhasses“.[27] Das Gesetz verspricht allen Jugendlichen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und sozialem Hintergrund das gleiche Anrecht auf Bildung. In diesem Vorwort grenzt man sich also deutlich von bisherigen Schulen in Deutschland und insbesondere von faschistischen Einflüssen ab.

Der erste Paragraph beschreibt die Ziele und Aufgaben der Schule. Durch Förderung ihrer Selbständigkeit und ihres Verantwortungsbewusstseins sollen sich die Schüler zu Menschen entwickeln, die „sich voll in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes“ stellen können und wollen. Die weiteren Paragraphen regeln den Aufbau der deklarierten „demokratischen Einheitsschule“, in der die Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität einbegriffen ist. Der Kindergarten soll als Vorstufe die Schulreife der Kinder fördern. Im Alter von sechs Jahren werden sie dann in die Grundschule eingeschult, die aus acht Klassenstufen besteht. Es wird betont, dass Kinder vom Land die gleichen Bildungschancen erhalten sollen, indem die kleinen Landschulen ausgebaut und Zentralschulen und Schülerheime erschaffen werden. Im Anschluss müssen Jugendliche bis zu ihrer Volljährigkeit von 18 Jahren eine Oberschule, Berufsschule oder Fachschule besuchen. Der Besuch der Oberschule ermöglicht den Zugang zur Universität, deren Aufbau durch ein gesondertes Gesetz geregelt wird. Die Berufsschule soll eine Berufsausbildung begleiten, und im Anschluss an diese kann der Jugendliche seine Hochschulreife auf der Fachschule nachholen. Der vierte Paragraph besagt, dass die Grund- und Berufsschule unentgeltlich ist, und dass sozial schwache Familien für die Bildung ihrer Kinder an Ober- und Hochschulen nicht zu zahlen haben und finanzielle Unterstützung erhalten. Der sechste Paragraph regelt den Aufbau der Schulverwaltung. Der Präsident des Landes hat die Leitung jeglicher Schulen inne. Das Schulwesen wird in seinem Auftrag von den Volksbildungsämtern der Kreise geleitet und beaufsichtigt. Für jede Schule wird ein Leiter vom Präsidenten berufen. Dieser wird wiederum von der Lehrerkonferenz und Ausschüssen der Elternschaft beraten. Bezüglich der Lehrerausbildung ergeht ebenfalls ein gesondertes Gesetz.[28]

Privatschulen wurden verboten, da sie „als privilegierte Anstalten [...] demokratischen Erziehungsprinzipien“ nicht entsprechen würden.[29] Im gleichen Zuge wurden konfessionelle Schulen abgeschafft, die Kirche durfte jedoch Religionsunterricht in den Schulen anbieten. In dem Gesetz wird immer wieder die Förderung benachteiligter Schüler angeführt. Die Betonung der Gleichheit aller Menschen, egal welcher Schicht sie zugehörig sind, ist besonders auffällig und weist den Weg in eine sozialistische Zukunft. Mit diesem Gesetz sollte der Anfang einer innergesellschaftlichen Chancengleichheit gemacht werden. Die Einheitsschule sollte soziale Gerechtigkeit schaffen. Ansonsten sind die Paragraphen relativ neutral formuliert. Die Version aus dem Jahr 1968 hat einen sozialistischen Ton, der wesentlich deutlicher ist.[30] Sogar die USA äußerten sich positiv über das „Einheitsschulgesetz“ und die Errichtung der Einheitsschule, da diese „direkt zum Abbau des Kastensystems der deutschen Gesellschaft“ beitrage.[31]

Im Verlauf dieser Arbeit wird noch an einzelnen Beispielen verdeutlicht, ob die angeführten Zielsetzungen und Forderungen dieses Gesetzes in den folgenden Jahren verwirklicht werden konnten.

[...]


[1] Vgl. Anweiler, 1988, S. 42

[2] Vgl. Fischer, 1992, S. 29; Thomas, 1973, S. 11

[3] Vgl. Anweiler, 1992, S. 63

[4] Vgl. Benz, in: Informationen zur politischen Bildung 259, 1998, S. 27; Hearnden, 1973, S. 17

[5] Potsdamer Abkommen, 1945, zitiert nach: Mebus, 1999, S. 51

[6] Vgl. Hearnden, 1973, S. 16

[7] Vgl. Kleßmann, 1991, S. 92 ff.

[8] Vgl. Benz, in: Informationen zur politischen Bildung 259, 1998, S. 27; Hearnden, 1973, S. 19 f.

[9] Vgl. Benz, in: Informationen zur politischen Bildung 259, 1998, S. 27; Hearnden, 1973, S. 17 f.

[10] Vgl. Benz, in: Informationen zur politischen Bildung 259, 1998, S. 27; Hearnden, 1973, S. 20 f.

[11] Hohlfeld, 1992, S. 27

[12] Vgl. Margedant: Stichwort „Bildungswesen und Bildungspolitik“, in: Eppelmann u.a. (Hg.), 1996, S. 118 f.

[13] Vgl. Hearnden, 1973, S. 21 ff.

[14] Vgl. Hearnden, 1973, S. 27 ff.

[15] Hearnden, 1973, S. 35

[16] Vgl. Baske, in: Ludz (Hg.), 1964, S. 187

[17] Vgl. Hearnden, 1973, S. 30 f.

[18] Vgl. Hearnden, 1973, S. 32 ff.

[19] Vgl. Benz, in: Informationen zur politischen Bildung 259, 1998, S. 27

[20] Vgl. Hearnden, 1973, S. 23 f.

[21] Hearnden, 1973, S. 25

[22] Hearnden, 1973, S. 35

[23] Vgl. Anweiler, 1992, S. 63 f.

[24] Fischer, 1992, S. 31 f.

[25] Vgl. Fischer, 1992, S. 32 f.

[26] Schreier, 1996, S. 34

[27] Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule, 1946, in: Baske / Engelbert, Bd. I, 1966, S. 24 f.

[28] Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule, 1946, in: Baske / Engelbert, Bd. I, 1966, S. 25 ff.

[29] Hearnden, 1973, S. 53

[30] Vgl. Hearnden, 1973, S. 29

[31] School Reform in the Soviet Zone, in: Information Control, Intelligence Summary Nr. 61, 1946, zitiert nach: Hearnden, 1973, S. 23

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Details

Titel
Die Transformation des Schulsystems in der SBZ / DDR während der Nachkriegszeit: Erziehung als Staatsangelegenheit
Hochschule
Europa-Universität Flensburg (ehem. Universität Flensburg)  (Geschichte)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
63
Katalognummer
V16952
ISBN (eBook)
9783638216500
Dateigröße
669 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Examensarbeit zum 1. Staatsexamen für Realschullehrer.
Schlagworte
Transformation, Nachkriegszeit, Erziehung, DDR, Schulsystem, SBZ
Arbeit zitieren
Stephan Holm (Autor:in), 2003, Die Transformation des Schulsystems in der SBZ / DDR während der Nachkriegszeit: Erziehung als Staatsangelegenheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16952

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