Wirkungen des Weltwirtschaftsrechts auf supranationale und nationale Rechtsordnungen, am Beispiel des GATT


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2003

24 Seiten


Leseprobe


A. Einleitung

Die Frage nach der Wirkung des Rechts der Welthandelsorganisation (WTO), einschließlich des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT), in supranationalen und nationalen Rechtsordnungen hat zentrale Bedeutung für die Effektivität und Durchsetzung der Welthandelsprinzipien. Hinsichtlich der Wirkungsweise internationaler Regeln ist zunächst zwischen folgenden Begriffen zu unterscheiden. Die innerstaatliche Geltung betrifft die Zugehörigkeit völkerrechtlicher Bestimmungen zur nationalen Rechtsordnung. Die Rangfrage klärt, in welchem Verhältnis internationale Normen zu den staatlichen Vorschriften stehen. Schließlich stellt sich die Problematik der unmittelbaren Anwendbarkeit, also inwieweit internationale Regelungen staatliche Behörden und Gerichte binden und sich Bürger vor Gericht auf sie berufen können.

Sämtliche Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation sind gem. Art. XVI:4 des Übereinkommens zur Errichtung der WTO (ÜWTO) dazu verpflichtet, ihre Rechtsordnung den wirtschaftsvölkerrechtlichen Bedingungen anzupassen. Im Falle eines Verstoßes stellt sich jedoch die Frage, ob die Einhaltung dieser Verpflichtungen innerstaatlich bzw. im Rahmen einer supranationalen Organisation durchgesetzt werden kann. Von besonderem Interesse ist hier die Untersuchung, inwiefern sich Parteien in einem nationalen oder supranationalen Gerichtsverfahren auf die Bestimmungen des Welthandelsrechts berufen können. Im Folgenden soll am Beispiel des europäischen Gemeinschaftsrechts und überblicksartig an Hand der US-amerikanischen Rechtsordnung diesen Fragestellungen nachgegangen werden.

B. Wirkungen auf das europäische Gemeinschaftsrecht

I. Zur Geltung und zum Rang des alten GATT 1947

Mit dem In-Kraft-Treten des Gemeinsamen Zolltarifs am 1. Juli 1968[1] hat die Europäische Gemeinschaft (EG) die Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten aus dem GATT des Jahres 1947 (sog. „GATT 1947“) vollständig übernommen. Als De-facto -Mitglied war die EG an das GATT-Regelwerk gebunden, soweit ihre Kompetenzen nach Art. 113 (jetzt Art. 133) EGV gereicht haben.[2] Mit der Gründung der Welthandelsorganisation am 1. Januar 1995 ist die Europäische Gemeinschaft nunmehr selbst gem. Art. XI ÜWTO neben ihren Mitgliedstaaten geworden.

Seit dem Haegeman -Urteil des EuGH von 1974[3] gelten die von der EG gemäß Art. 228 und 238 (jetzt Art. 300 und 319) EGV geschlossenen Verträge als Handlungen der Gemeinschaftsorgane. Sie können vom EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 (jetzt Art. 234) EGV ausgelegt werden und stellen mit ihrem In-Kraft-Treten einen integrierenden Bestandteil der EG-Rechtsordnung dar. Durch den Verweis auf das Datum des In-Kraft-Tretens des völkerrechtlichen Vertrages macht sich der EuGH in seinen Urteilen eine monistische Grundhaltung bezüglich der Aufnahme des Völkerrechts in die EG-Rechtsordnung zu Eigen. In der Praxis fehlt zudem regelmäßig ein Transformationsakt und auch der Wortlaut von Art. 228 Abs. 7 (jetzt Art. 300 Abs. 7) EGV spricht für diese monistische Sichtweise.[4]

Das GATT 1947 ist deshalb ebenfalls als integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung anzusehen. Mag auch die juristische Herleitung der GATT-Bindung der EG früher im Einzelnen umstritten gewesen sein,[5] so scheint doch eine analoge Anwendung des Art. 228 (jetzt Art. 300) EGV nahe liegend.

Das Völkerrecht steht im Rang zwischen dem EG-Vertrag und dem auf seiner Grundlage erlassenen europäischen Sekundärrecht. Dies ergibt sich zum einen aus jenen Gerichtsentscheidungen, in denen der EuGH das europäische Sekundärrecht am Völkerrecht misst.[6] Zum anderen lässt sich der Vorrang des Primärrechts auch aus Art. 228 Abs. 6 S. 2 (jetzt Art. 300 Abs. 6 S. 2) EGV herauslesen.[7] Zwar sind die GATT-Regeln nach ständiger Judikatur des EuGH Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung geworden, damit ist aber noch nicht gesagt, dass sie auch unmittelbare Wirkung im EG-Recht besitzen.

II. Zur unmittelbaren Anwendbarkeit des GATT 1947

Für den EuGH ist eine Vorschrift eines von der EG mit Drittstaaten geschlossenen Übereinkommens als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Rechtsakts der EG, der Mitgliedstaaten oder der Vertragspartner abhängig ist. Ob die Norm in diesem Sinne „self-executing“ ist, ist durch Auslegung der Bestimmung unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Übereinkommens zu ermitteln.[8]

1. Ablehnung der unmittelbaren Wirkung durch den EuGH

Das GATT ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH integrierender Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung.[9] Hieraus lässt sich allerdings nach Ansicht des Gerichtshofs nicht notwendigerweise ableiten, dass es Maßstab einer Rechtmäßigkeitsprüfung in einem Verfahren nach Art. 173 (jetzt Art. 230) EGV sein muss. Aus der Formulierung, dass das GATT keine unmittelbare Wirkung besitzt, ergibt sich umgekehrt aber ebenso wenig, dass es nicht grundsätzlich Maßstab einer Gültigkeitskontrolle im Rahmen einer Nichtigkeitsklage sein kann.[10]

a) Anerkennung einer mittelbaren Wirkung des GATT

Das GATT-Recht kann jedenfalls dann Grundlage einer Rechtmäßigkeitsprüfung sein, wenn aus dem angefochtenen Rechtsakt der Gemeinschaft hervorgeht, dass dieser gerade einer Prüfung der Vorschriften des GATT unterliegen soll. Dies war beispielsweise im Urteil „Fediol III“[11] der Fall, bei dem Art. 2 Abs. 1 der angegriffenen Verordnung (VO) (EWG) Nr. 2641/84[12] auf die Regeln des Völkerrechts, damit auch auf das GATT, verwies. Deswegen sah sich der EuGH hier in der Lage, den Begriff der „unerlaubten Handelspraktiken“ unter anderem mit Hilfe von Art. III GATT zu interpretieren und festzustellen, ob das betreffende Verhalten als unvereinbar mit diesen internationalen Bestimmungen anzusehen war.

Ähnlich entschied der EuGH im Urteil „Nakajima“[13], bei dem in der 2. und 3. Begründungserwägung der streitigen Antidumpinggrund-VO (EWG) Nr. 2423/88[14] auf das GATT Bezug genommen wird. Die multilateralen Handelsvorschriften können nach Ansicht des Gerichtshofes auch dann berücksichtigt werden, wenn der betreffende Gemeinschaftsakt einzelne GATT-Bestimmungen implementiert, wie dies hier für das Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des GATT, dem sog. „Antidumping-Kodex von 1979“, der Fall war. In beiden Konstellationen erkannte der EuGH also eine mittelbare Wirkung des GATT-Rechts.

Hinsichtlich der europäischen Bananenmarkt-VO (EWG) Nr. 404/93[15] lag, zumindest nach Auffassung des EuGH, kein vergleichbarer Sachverhalt vor, obwohl in der Verordnung ausdrücklich auf die „internationalen Verpflichtungen“ der EG verwiesen wird. Dass hiermit insbesondere die Verpflichtungen des GATT gemeint waren, ergibt sich aus nahezu jeder Stellungnahme bei den Beratungen über die Verordnung.[16]

b) Ablehnung einer unmittelbaren Wirkung des GATT

Soweit das sekundäre Gemeinschaftsrecht keinen Hinweis auf das Völkerrecht enthält, sind für die Feststellung der Wirkungen des Welthandelsrechts allgemeine Prinzipien anzuwenden. Grundsätzlich gilt bei internationalen Übereinkommen, dass sie zwischen den Vertragsparteien verbindliche Wirkung entfalten. Die nationalen Rechtsprechungsorgane jedoch sind nicht gebunden, die völkerrechtlichen Verpflichtungen in einer bestimmten Art und Weise anzuwenden, außer das betreffende Abkommen schreibt selbst eine spezielle Wirkung ausdrücklich vor. Eine solche ausdrückliche Verpflichtung zur internen Gewährleistung der Einhaltung seiner Regelungen enthält das GATT jedoch nicht.

Ein derartiger Auftrag könnte sich allenfalls aus dem Charakter, der Struktur und den Zielen des GATT ergeben. Ob dies der Fall ist, ist nach Sinn, Aufbau und Wortlaut des Übereinkommens zu ermitteln.[17] Die Norm eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens ist danach als unmittelbar anwendbar anzusehen, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung oder deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängt.[18]

In verschiedenen Urteilen hatte der EuGH ausgeführt, dass es kein Recht des einzelnen Gemeinschaftsbürgers gebe, sich vor den nationalen Gerichten in den Mitgliedstaaten auf das GATT-Recht zu berufen.[19] In seiner Argumentation gegen die unmittelbare Rechtswirkung des GATT stellt der EuGH auf den Charakter des Abkommens ab. Er weist dabei auf die große Flexibilität[20] und Geschmeidigkeit[21] der GATT-Vorschriften hin, insbesondere der Regelungen, die eine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen gestatten, den Vorschriften über Maßnahmen bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten und über die Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten.

Gegen die unmittelbare Wirkung der GATT-Regeln wird vor allem angeführt, dass das Streitbeilegungsverfahren des GATT nicht auf eine streitige Rechtsentscheidung, sondern vielmehr auf eine politische Einigung ausgerichtet sei.[22] Gestützt wird diese Aussage darauf, dass die Panel -Berichte – vor der Gründung der neuen WTO – einstimmig vom GATT-Rat angenommen werden mussten, also auch von der unterliegenden Partei, um formal Bestandteil des GATT-Rechts zu werden. Nach Auffassung des EuGH bleibe die Beachtung der Welthandelsvorschriften damit einem politischen Prozess überlassen. Er verlangt, dass in diesen politischen Verhandlungen die Gemeinschaft in der Lage sein müsse, jederzeit beweglich und schnell gegenüber Drittstaaten zu handeln. Dabei dürfen Gerichte die notwendigen (Gegen-)Maßnahmen nicht verhindern können,[23] weil es diesen nicht möglich sei, die ökonomischen Zusammenhänge und Auswirkungen zuverlässig einzuschätzen. Deshalb müsse die wirtschaftliche Beurteilung ausschließlich im Verantwortungsbereich der politischen Organe der Gemeinschaft liegen. Diesen sollen durch Entscheidungen des EuGH und der Rechtsprechungsorgane der Mitgliedstaaten nicht die Hände gebunden werden. Nur auf diese Weise sei es den politischen EG-Organen möglich, in sinnvoller und erfolgreicher Weise am Streitbeilegungsverfahren des GATT mitzuwirken.

[...]


[1] Zur Problematik des Datums Ott, GATT und WTO im Gemeinschaftsrecht. Die Integration des Völkervertragsrechts in die Europäische Gemeinschaftsrechtsordnung am Beispiel des GATT-Vertrags und der WTO-Übereinkünfte, Köln u.a. 1997, S. 119 ff. Sie selbst geht vom 31. Dezember 1969 als Übernahmezeitpunkt aus (S. 120 f.).

[2] EuGH Slg. 1972, S. 1219 (1227 f., Rdnr. 14/18) – verb. Rs. 21 bis 24/72 „International Fruit Company“ spricht von einer schrittweisen Übernahme der Aufgaben durch die EG im Laufe der Übergangszeit.

[3] EuGH Slg. 1974, S. 449 ff. – Rs. 181/73.

[4] Vgl. Petersmann, Auswärtige Gewalt und Völkerrechtspraxis der EWG, in: ZaöRV 1975, S. 213 (272).

[5] Hierzu Ott, GATT und WTO, S. 111 ff.

[6] EuGH Slg. 1981, S. 1095 (1120) – Rs. 112/80 „Dürbeck“.

[7] Krück, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden 2000, Art. 300, Rdnr. 51.

[8] EuGH Slg. 1982, S. 3641 (3665, Rdnr. 23 f.) – Rs. 104/81 „Kupferberg I“; EuGH Slg. 1987, S. 3719 (3752, Rdnr. 14) – Rs. 12/86 „Demirel“.

[9] Vgl. EuGH Slg. 1982, S. 3662.

[10] EuGH Slg. 1991, S. I-2069 (I-2178, Rdnr. 28) – Rs. C-69/89 „Nakajima“.

[11] EuGH Slg. 1989, S. 1781 ff. – Rs. 70/87.

[12] ABl. EG 1984 Nr. L 252, S. 1.

[13] EuGH Slg. 1991, S. I-2069 ff. – Rs. C-69/89.

[14] ABl. EG 1988 Nr. L 209, S. 1.

[15] ABl. EG 1993 Nr. L 47, S. 1.

[16] Ausführlich zur Problematik des EG-Bananenregimes Cascante/Sander, Der Streit um die EG-Bananenmarktordnung, Berlin 1999 und Sander, Rechtsprobleme der EG-Bananenmarktordnung, Marburg 1997.

[17] EuGH Slg. 1972, S. 1228, Rdnr. 19/20.

[18] EuGH Slg. 1987, S. 3752, Rdnr. 14.

[19] Leitentscheidung hierzu EuGH Slg. 1972, S. 1227 f.

[20] EuGH Slg. 1989, S. 1831, Rdnr. 20.

[21] EuGH Slg. 1972, S. 1228, Rdnr. 21.

[22] Hilf, Die Anwendung des GATT im deutschen Recht, in: Hilf/Petersmann (Hrsg.), GATT und Europäische Gemeinschaft, Baden-Baden 1986, S. 11 (47 f.).

[23] Hilf, Die Anwendung des GATT im deutschen Recht, S. 49.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Wirkungen des Weltwirtschaftsrechts auf supranationale und nationale Rechtsordnungen, am Beispiel des GATT
Hochschule
Universität Hohenheim  (Institut für Rechtswissenschaft)
Autor
Jahr
2003
Seiten
24
Katalognummer
V16932
ISBN (eBook)
9783638216364
Dateigröße
714 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wirkungen, Weltwirtschaftsrechts, Rechtsordnungen, Beispiel, GATT
Arbeit zitieren
Dr. Gerald G. Sander (Autor:in), 2003, Wirkungen des Weltwirtschaftsrechts auf supranationale und nationale Rechtsordnungen, am Beispiel des GATT, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16932

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