Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in den IFRS - Eine kritische Analyse


Masterarbeit, 2010

76 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Vorgehensweise
1.3 Zielsetzung

2 Die Notwendigkeit von Wahrscheinlichkeitsbegriffen

3 Wahrscheinlichkeitsbegriffe im Rahmenkonzept
3.1 Qualitative Anforderungen
3.2 Bilanzierungsfähigkeit
3.3 Auslegungsmethodik

4 Wahrscheinlichkeitsbegriffe in den IFRS
4.1 Inventarisierung
4.2 Konkretisierung
4.2.1 Probable
4.2.2 More likely than not
4.2.3 Highly probable
4.2.4 Possible
4.2.5 Reasonably possible
4.2.6 Not possible
4.2.7 Remote
4.2.8 Reasonably certain

5 Qualität der Wahrscheinlichkeitsbegriffe
5.1 Quantifizierung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen
5.1.1 Kommunikationseffizienz
5.1.2 Numerische Wahrscheinlichkeitsgrenzen in der Fachliteratur
5.2 Übersetzung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen . .
5.2.1 Übersetzungsfehler
5.2.2 Änderung der Intention
5.2.3 Inkonsistente Übersezung
5.2.4 Mehrfachbedeutung von unwahrscheinlich
5.2.5 Änderungsvorschläge

6 Wahrscheinlichkeitsbegriffe und Bilanzpolitik
6.1 Ermessensspielräume
6.2 IAS 37 Rückstellungen
6.2.1 Ermessensspielräume in IAS 37
6.2.2 Exposure Draft zu IAS 37
6.3 IAS 12 Latente Steuern
6.4 Einschränkung von Ermessensspielräumen
6.5 Ermessensspielräume im Vergleich: IFRS vs. UGB

7 Schlussfolgerung

8 Zusammenfassung

9 Anhang

10 Literatur

Abbildungsverzeichnis

1 Wahrscheinlichkeitsbegriffe in der Bilanzpolitik

2 Abstufung der Wahrscheinlichkeit in IAS 37

Tabellenverzeichnis

1 Inventarisierung der Wahrscheinlichkeitsbegriffe

2 Anzahl und Übersetzung von probable

3 Anzahl und Übersetzung von more likely than not

4 Anzahl und Übersetzung von highly probable

5 Anzahl und Übersetzung von possible

6 Anzahl und Übersetzung von reasonably possible

7 Anzahl und Übersetzung von not possible

8 Anzahl und Übersetzung von remote

9 Anzahl und Übersetzung von reasonably certain

10 Numerische Wahrscheinlichkeitsgrenzen

11 Beispiel Kommunikationseffizienz

12 Kommunikationseffizienz

13 Übersetzungsfehler

14 Änderung der Intention

15 Inkonsistente Übersetzung

16 Mehrfachbedeutung von unwahrscheinlich

17 Alle Numerische Wahrscheinlichkeitsgrenzen

18 Vorkommen der Wahrscheinlichkeitsbegriffe

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Wahrscheinlichkeitsbegriffe werden in der internationalen Rechnungslegung verwendet, um unsichere zukünftige Ereignisse zu beschreiben. In der Rechnungslegung hat man es zwar prinzipiell mit der Erfassung vergangener Transaktionen zu tun, bestimmte Jah- resabschlussposten hingegen antizipieren zukünftige Ereignisse die mit einer gewissen Unsicherheit verbunden sind. Die internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS (kurz: IFRS) verwenden daher Wahrscheinlichkeitsbegriffe wie so gut wie sicher, wahr- scheinlich, möglich und unwahrscheinlich um verschiedene Grade von Ungewissheit in die Rechnungslegung zu integrieren. In den IFRS gibt es über zwanzig solcher Begrif- fe, die unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten repräsentieren. Fast jeder Standard beinhaltet Wahrscheinlichkeitsbegriffe. Dies ist im Vergleich zum UGB auf die stärkere Zukunftsorientierung der IFRS zurückzuführen. Die Notwendigkeit auch unsichere Er- eignisse in der Rechnungslegung zu berücksichtigen, findet man in den qualitativen An- forderungen des Rahmenkonzepts. Der Begriff wahrscheinlich (probable) ist der zentrale Wahrscheinlichkeitsbegriff und ist als Bestandteil der allgemeinen Ansatzkriterien, sowie in zahlreichen Einzelstandards, zu finden. Das Rahmenkonzept nimmt keine genauere Konkretisierung oder Definition vor und verweist bei der Frage, wie im Speziellen vorzu- gehen ist, explizit auf die Einzelstandards. Der Standardsetter verwendet ausschließlich verbale Wahrscheinlichkeitsbegriffe und verzichtet bewusst auf eine Quantifizierung. Die Intention wird teilweise durch Erläuterungen und Beispiele konkretisiert. In der Litera- tur werden hingegen in Einzelfällen Richtwerte angegeben, und auch die Praxis orientiert sich manchmal an prozentualen Größen. Eine konsistente Interpretation von Wahrschein- lichkeitsbegriffen durch die Anwender (vor allem Wirtschaftsprüfer und Finanzmanager) ist von großer Bedeutung und deshalb Untersuchungsgegenstand verschiedener Studien.

1.1 Problemstellung

Die Verwendung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen schränkt die Objektivität der Rech- nungslegung notwendigerweise ein. Es besteht ein Konflikt zwischen den beiden quali- tativen Anforderungen der Zuverlässigkeit (Objektivität) und der Relevanz (Zukunfts- bezogenheit). Die dürftige Erläuterung des Begriffes wahrscheinlich im Rahmenkonzept und die teils fehlende Konkretisierung in den Standards führen zu Regelungslücken, die einer bestimmten Auslegungsmethodik bedürfen. Neben einer unzureichenden Definition von wichtigen Begriffen, stellt möglicherweise die Vielfalt von verschiedenen Begriffen ein Problem dar. Die Varietät und eine uneinheitliche Beschreibung könnten die konsistente Interpretation beeinträchtigen. Obwohl die IFRS auf quantitative Größen zur Beschrei- bung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen verzichten, impliziert jeder Begriff eine numerische Größe bzw. ein Intervall der die zukünftige Eintrittswahrscheinlichkeit widerspiegelt. Es stellt sich die Frage, ob alle Anwender diese Größen gleich oder zumindest ähnlich ein- schätzen. Bei der Übersetzung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen kann es aufgrund von Variationen (keine Wort-für-Wort Übersetzung) und Fehlern zu einer Einschränkung der internationalen Vergleichbarkeit und Harmonisierung kommen. So wird z.B. der Begriff unlikely mit wahrscheinlich nicht, vermutlich nicht und voraussichtlich nicht übersetzt und dadurch möglicherweise auch verschieden interpretiert. Durch die subjektive Ausle- gung unbestimmter Begriffe können erhebliche Ermessensspielräume entstehen. Die bi- lanzpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten sind verglichen mit dem UGB, trotz weniger formaler Wahlrechte, größer und oft nicht erkennbar.

Aus den beschriebenen Problemen lassen sich zentrale Fragestellungen ableiten, die im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden:

- Warum muss ein Standardsetter auf dem Gebiet der Rechnungslegung überhaupt mit Wahrscheinlichkeitsbegriffen operieren?
- Welche Wahrscheinlichkeitsbegriffe gibt es in den IFRS, wo und wie oft kommen diese vor?
- Wie werden die Wahrscheinlichkeitsbegriffe an verschiedenen Stellen näher konkretisiert und welche Bereiche sind hauptsächlich betroffen?
- Wie quantifizieren betroffene Akteure Wahrscheinlichkeitsbegriffe und herrscht Einigkeit über die Interpretation numerischer Werte innerhalb dieser Gruppen?
- Inwieweit beeinträchtigt die Übersetzung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen das Pos- tulat, das internationale Rechnungslegungsnormen einheitlich angewandt werden?
- In welchen Standards entstehen erhebliche Ermessensspielräume und wie können diese eingeschränkt bzw. sichtbar gemacht werden?

1.2 Vorgehensweise

Es handelt sich bei vorliegender Arbeit um ein Querschnittsthema, weil Wahrschein- lichkeitsbegriffe in fast jedem Standard vorkommen. Dabei wird versucht, einen groben Überblick über die Thematik zu geben und trotzdem an bestimmten Stellen ins Detail zu gehen. Kapitel 2 widmet sich der Frage, warum man Wahrscheinlichkeitsbegriffe in der Rechnungslegung überhaupt braucht. Wahrscheinlichkeitsbegriffe sind unbestimm- te Begriffe, die einer Einschätzung künftiger Ereignisse bedürfen. Anschließend wird auf die Stellung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen im Rahmenkonzept eingegangen. Zum Pro- blem der Unsicherheit geben die qualitativen Anforderungen Auskunft und im Rahmen der Ansatzkriterien wird der Begriff wahrscheinlich das erste Mal genannt. Da es sich bei Wahrscheinlichkeitsbegriffen um auslegungsbedürftige Begriffe handelt, wird veranschau- licht, wie bei der Schließung von Regelungslücken vorgegangen werden soll (Kapitel 3). In Kapitel 4 erfolgt zunächst eine Unterteilung in deskriptive und präskriptive Wahrschein- lichkeitsbegriffe und eine Inventarisierung der Wahrscheinlichkeitsbegriffe in den IFRS. Dabei werden den englischen Originalbegriffen die jeweiligen deutschen Übersetzungen gegenübergestellt. Aus diesem Inventar werden einige Begriffe herausgenommen und ge- nauer analysiert. Es wird untersucht welche Sachverhalte beschrieben und wie die Begriffe näher konkretisiert werden. Kapitel 5 untersucht die Qualität von Wahrscheinlichkeitsbe- griffen, d.h. inwieweit werden grundlegende Rechnungslegungsprinzipien wie Intersubjek- tivität und einheitliche Anwendung erfüllt. Im Rahmen der Quantifizierung von Wahr- scheinlichkeitsbegriffen werden die numerischen Interpretationen von verschiedenen Stu- dien zusammengefasst. Wie hoch der Grad der Übereinstimmung, der Einschätzungen der verschiedenen Akteure ist, wird mithilfe der Kommunikationseffizienz, gemessen. Zudem werden die in der Fachliteratur angegebenen prozentualen Richtwerte zusammengetragen und mit den empirischen Studien verglichen. Das zweite Kriterium zur Bestimmung von Qualität ist das Ergebnis der Übersetzung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen, dabei wer- den Unzulänglichkeiten wie Übersetzungsfehler aufgezeigt. In Kapitel 6 wird die Stellung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen im Rahmen der Bilanzpolitik analysiert. Es wird her- ausgearbeitet, warum bei der Verwendung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen zwangsläufig Ermessensspielräume entstehen. Die beiden Standards IAS 37 Rückstellungen und IAS 12 Ertragsteuern werden beispielhaft herausgegriffen, weil dort Wahrscheinlichkeitsbe- griffe eine wichtige Rolle spielen. Dadurch soll neben der Analyse einzelner Begriffe im gesamten Regelwerk, die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen innerhalb einzelner Standards angesprochen werden. Darüber hinaus wird veranschaulicht, ob und wie man Ermessensspielräume erkennen oder verhindern kann, und wie es um das bilanzpolitische Gestaltungspotenzial im Vergleich zum UGB bestellt ist.

1.3 Zielsetzung

In der Literatur wird zwar im Rahmen der einzelnen Standards auf Wahrscheinlichkeits- begriffe eingegangen, wenn diese als Bestandteile von Ansatz- und Bewertung gelten. Es existiert jedoch nach meinem Erkenntnisstand keine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit Wahrscheinlichkeitsbegriffen als Ganzes beschäftigt. Das Ziel dieser Arbeit ist es, aufzu- zeigen welche Wahrscheinlichkeitsbegriffe es überhaupt gibt und welche relevant sind. Darauf aufbauend soll geklärt werden, welche Probleme im Zusammenhang mit deren Verwendung entstehen. Ein erhöhtes Problembewusstsein ist erforderlich, um konstrukti- ve Änderungsvorschläge entwickeln und später umsetzen zu können, und die Genauigkeit der internationalen Rechnungslegungsstandards verbessern zu können.

2 Die Notwendigkeit von Wahrscheinlichkeitsbegriffen

Rechnungslegungsabschlüsse nach IFRS als auch nach UGB beziehen sich auf vergangene Ereignisse: die Bilanz auf einen historischen Stichtag und die GuV auf ein abgeschlos- senes Geschäftsjahr. Die Erfassung von vergangenen Sachverhalten stellt in der Regel kein Problem dar. Rechnungslegungssysteme als Informationssysteme können jedoch den Zukunftsaspekt der Bilanzierung nicht außer Acht lassen. Dabei handelt es sich um Tat- bestände, die zwar ihren Ausgang in der Vergangenheit haben, aber deren tatsächlicher Wert erst durch zukünftige Ereignisse bestätigt bzw. konkretisiert wird.1 Als Paradebei- spiel können Rückstellungen genannt werden. Wahrscheinlichkeitsbegriffe sind der ver- bale Ausdruck für die Zukuntsbezogenheit in der Rechnungslegung, wobei die IFRS im Vergleich zum UGB wesentlich zukunftsorientierter ausgerichtet sind.2

Bei Wahrscheinlichkeitsbegriffen handelt es sich um unbestimmte bzw. unscharfe Rechts- Begriffe. „Ein unscharfer Begriff ist dadurch gekennzeichnet, dass der Nutzer dieses Be- griffes den Sinngehalt begreifen und erklären kann“, der Begriff „ jedoch in der Zahlenwelt des Rechnungswesens die notwendige Präzision vermissen lässt.“3 Ein Standardsetter verwendet unbestimmte Begriffe um die Vielzahl von umfangreichen und konkreten Ein- zelregelungen zu vermeiden bzw. in Grenzen zu halten. Unbestimmte Begriffe regeln vielgestaltige Sachverhalte wie die Behandlung von Rückstellungen. In den IFRS gibt es neben Wahrscheinlichkeitsbegriffen eine Vielzahl von anderen unbestimmten Begriffen (u.a. wesentlich, maßgeblich, relevant, erheblich) die in dieser Arbeit jedoch nicht behan- delt werden. Die Alternative zu unbestimmten Begriffen wäre stattdessen ausführliche und komplizierte Erklärungen zu allen möglichen Sachverhalten in die Rechnungslegung zu implementieren. Dies wäre nicht durchführbar, weil in der realen Wirtschaftswelt, die einzelnen Tatbestände so verschieden und vielfältig sind und es dafür oft keine abschlie- ßenden Erklärungen gibt.4 Außerdem sind die IFRS schon jetzt ein sehr umfangreiches und komplexes Rechnungslegungssystem.

In der Rechnungslegung handelt es sich um eine Vergangenheitsrechnung mit zukunfts- bezogenen Aspekten. Wenn man auf die Zukunftsaspekte nicht verzichten will, sind Wahrscheinlichkeitsbegriffe elementare Bestandteile, die zu beachten sind. Aufgrund der begrifflichen Unschärfe kommt es zwangsläufig zu Auslegungsschwierigkeiten, wodurch erhebliche Ermessensspielräume entstehen können.5 Wenn man sich nicht auf eine rein vergangenheitsorientierte Bilanzierung beschränken will, erscheint es unumgänglich, sich mit dem Themenkomplex Wahrscheinlichkeitsbegriffe in den IFRS, kritisch auseinander- zusetzen.

3 Wahrscheinlichkeitsbegriffe im Rahmenkonzept

Das Rahmenkonzept soll Grundlage für die Entwicklung neuer und konsistenter Stan- dards sein, sowie Hilfestellungen bei der Lösung von Rechnungslegungsthemen bieten, die in keinem Standard eindeutig konkretisiert werden.6 Da das Rahmenkonzept kein IFRS ist, ist es nicht verbindlich und hat nur eine untergeordnete Stellung. Durch die laufen- de Entwicklung neuer Standards ist die Konsistenz mit dem Rahmenkonzept zum Teil nicht mehr gegeben und immer öfter vorkommende Begriffe wie der beizulegende Zeitwert (fair value) kommen gar nicht vor. Deshalb wird im Rahmen des Konvergenzprojektes von IASB und FASB schon seit 2004 an einem neuen Rahmenkonzept gearbeitet.

3.1 Qualitative Anforderungen

Auf der Suche nach ungewissen Sachverhalten, deren Ausdruck sich in Wahrscheinlich- keitsbegriffen findet, ist es angebracht, einen Blick in die qualitativen Anforderungen des Rahmenkonzepts zu werfen. Neben den Grundprinzipien Periodenabgrenzung und Unter- nehmensfortführung kennen die IFRS vier qualitative Anforderungen, die die Nützlichkeit von Informationen im Abschluss sicherstellen sollen. Die im Rahmen von zukunftsbezo- genen Ereignissen wichtigsten sind Relevanz und Verlässlichkeit. Die beiden sind immer im Zusammenhang zu betrachten. Informationen gelten als relevant, wenn sie die Ent- scheidungen der Adressaten beeinflussen, indem sie bei der Beurteilung vergangener, derzeitiger und zukünftiger Ereignisse helfen. Informationen der Vergangenheit werden häufig als Grundlage für die Prognose zukünftiger Ereignisse verwendet (F. 26-27).

Damit Informationen nützlich sind, müssen sie auch verlässlich sein, d.h. frei von Feh- lern und verzerrenden Einflüssen. Informationen können zwar von großer Bedeutung für die Entscheidungen der Adressaten sein, aber gleichzeitig nur ein geringes Maß an Ver- lässlichkeit aufweisen.7 Vor allem bei ungewissen zukunftsbezogenen (prognostischen) Tatbeständen wie Schadensersatzansprüchen im Rahmen eines Gerichtsverfahrens oder die Behandlung eines originären Firmenwerts (F. 31-34). Das schließt jedoch die Berück- sichtigung von Ungewissheiten in der Rechnungslegung nicht aus. Der Grundsatz der Vorsicht, ein Subsidiargrundsatz zur Verlässlichkeit, schreibt eine Auseinandersetzung mit Ereignissen und Umständen, die unvermeidlich mit Ungewissheiten verbunden sind, vor. Als Beispiele werden, die Wahrscheinlichkeit zweifelhafte Forderungen einzutreiben und die voraussichtliche Nutzungsdauer von abnutzbaren Wirtschaftsgütern genannt. Vorsicht bedeutet, dass ein gewisses Maß an Sorgfalt bei der Ermessensausübung bei Ansatz und Bewertung von ungewissen Umständen erforderlich ist. Bei der vorsichtigen Bewertung sollen jedoch Erträge nicht zu hoch und Schulden nicht zu niedrig angesetzt werden. Die Bildung stiller Reserven ist explizit ausgeschlossen (F. 37).

3.2 Bilanzierungsfähigkeit

Die Bilanzierungsfähigkeit unterliegt einem zweistufigen Konzept, wobei einerseits die definitorischen Voraussetzungen eines Jahresabschlusspostens gegeben sein müssen und andererseits die Ansatzkritieren eines Abschlusspostens. Wenn im ersten Schritt ein Jahresabschlussposten gem. F. 47 bis F. 80 identifiziert wurde, sind die allgemeinen Ansatzkriterien zu überprüfen.8 Ein Sachverhalt ist gem. F. 83 zu erfassen wenn: es wahrscheinlich (probable) ist, dass ein mit dem Sachverhalt verbundener künftiger wirtschaftlicher Nutzen dem Unternehmen zufließen oder von ihm abfließen wird und der Wert verlässlich bestimmt werden kann.

An einer anderen Stelle wird gefordert, dass die Erwartung eines Nutzenzu- bzw. ab- flusses hinreichend sicher sein muss, damit das Wahrscheinlichkeitskriterium gem. F. 83 erfüllt ist (F. 50). Ansonsten wird der Begriff der Wahrscheinlichkeit wird im Rah- menkonzept weder näher präzisiert noch definiert, es wird hingegen von einer sachver- haltsabhängigen Festlegung der Wahrscheinlichkeitsgrenze ausgegangen.9 Es erfolgt eine tautologische Umschreibung die auf den Unsicherheitsfaktor hinweist.10 Das Konzept der Wahrscheinlichkeit wurde deshalb in die Ansatzkriterien aufgenommen, um auf den Grad an Unsicherheit hinzuweisen, mit dem künftige Sachverhalte verbunden sind. Ganz ge- nerell aber auch auf die Unsicherheit, die das Unternehmensumfeld kennzeichnet. Die Beurteilung des Unsicherheitsgrades erfolgt zum Zeitpunkt der Aufstellung des Jahres- abschlusses (F. 85) und widerspricht dem Wertaufhellungskonzept der östereichischen und europäischen Rechnungslegung.11 Das Rahmenkonzept ist den einzelnen Standards untergeordnet, daher ist es angebracht dort nachzuschlagen, wie der Standardsetter wahr- scheinlich und andere Wahrscheinlichkeitsbegriffe näher konkretisiert. Die Formulierung des wahrscheinlichen künftigen Nutzenzu- bzw. abflusses findet sich in zahlreichen Ein- zelstandards wieder.

3.3 Auslegungsmethodik

Bei Wahrscheinlichkeitsbegriffen handelt es sich um unbestimmte Begriffe die einer fach- gerechten Auslegungsmethodik bedürfen.12 Die IFRS stellen noch kein geschlossenes Nor- mensystem dar und aufgrund des supranationalen Charakters existiert bis heute noch kei- ne konkrete Auslegungstechnik. Bei Regelungslücken und nicht hinreichend präzisierten Regelungen (wie beim Wahrscheinlichkeitsbegriff) ist gem. IAS 1 und IAS 8 auf Ausle- gungshilfen zurückgreifen. Unter der Zielsetzung entscheidungsrelevante und verlässliche Informationen bereitzustellen lassen sich in hierarchischer Reihenfolge als Auslegungshil- fen folgende Leitlinien ableiten:

- Die analoge Anwendung von Sachverhaltsregelungen in Standards, die ähnliche und verwandte Fragen behandeln (IAS 8.11a).
- Die Ableitung einer Regelung aus den allgemeinen Definitionen, sowie den im Rahmenkonzept enthaltenen Ansatz- und Bewertungskriterien für Vermögenswerte, Schulden, Erträge und Aufwendungen (IAS 8.11b).
- Die Anwendung von Rechnungslegungsnormen anderer Standardsetter und anerkannte Branchenpraktiken. In beiden Fällen müssen diese Normen bzw. Praktiken mit den IFRS und dem Rahmenkonzept vereinbar sein (IAS 8.12).

Standardentwürfe (Exposure Drafts) sollten nicht als Auslegungshilfe herangezogen wer- den, weil bis zum Zeitpunkt einer etwaigen Veröffentlichung noch erhebliche Änderungen durchgeführt werden könnten. In der Praxis wird verschiedentlich bei bereits absehba- rer breiter Zustimmung ein verabschiedeter, aber noch in Kraft getretener Standard als Interpretationsgrundlage herangezogen. In der Literatur wird diese Vorgehensweise zu Recht kritisiert und die Heranziehung von Entwürfen negiert.13 Vor allem bei politisch umstritten Standards ist der endorsement Prozess (die Übernahme ins Gemeinschafts- recht) abzuwarten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei unklar definierten Wahrscheinlichkeitsbegrif- fen zuerst Standards, die ähnliche Sachverhalte regeln, heranzuziehen sind. Dann die Regelungen des Rahmenkonzepts; die jedoch wie bereits gezeigt, wenig hilfreich sind. Findet man abschließend zu keinem klaren Urteil bleibt der Blick in andere Rechnungs- legungsnormen wie die US-GAAP oder der Rückgriff auf die allgemein anerkannte Bran- chenpraxis.

4 Wahrscheinlichkeitsbegriffe in den IFRS

Ein Wahrscheinlichkeitsbegriff wird in dieser Arbeit, als ein unbestimmter Begriff, der einen Sachverhalt mit Zukunftsbezug umschreibt und sich direkt auf Ansatz und Be- wertung bezieht, definiert. Davon zu unterscheiden sind unbestimmte Begriffe, die zwar auch eine Unsicherheit z.B. aufgrund der komplexen Wirtschaftswelt zum Ausdruck brin- gen, jedoch keine zu bilanzierenden Sachverhalte umschreiben und keinen konkreten Zu- kunftsbezug aufweisen. Begriffe wie wahrscheinlich (probable), so gut wie sicher (virtual- ly certain) und unwahrscheinlich (remote) definieren den Ansatz bzw. Nichtansatz von Vermögenswerten und Schulden. Andere Begriffe wie normalerweise (normally), häufig (often) und oft (frequently) weisen nur allgemein auf die Unsicherheit in der Rechnungs- legung und der Wirtschaft hin, und sind daher nicht primäres Ziel der Untersuchungen in dieser Arbeit. Bei den später beschriebenen empirischen Studien werden diese Begriffe zum Teil auch in die Analysen miteinbezogen, obwohl es für die Bilanzerstellung we- nig bis gar nicht hilfreich erscheint, welcher numerischer Wert ihnen zugeordnet wird. Man kann sozusagen deskriptive von präskriptiven Wahrscheinlichkeitsbegriffen unter- scheiden, obwohl dies nicht immer eindeutig zu erkennen ist. Deskriptive Wahrschein- lichkeitsbegriffe sind unbestimmte Begriffe, die ganz allgemein die Unsicherheit in der Rechnungslegung umschreiben. Präskriptive Wahrscheinlichkeitsbegriffe beinhalten Vor- schriften über Ansatz und Bewertung. Analysiert werden vor allem jene präskriptiven Wahrscheinlichkeitsbegriffe die sich direkt auf Ansatz und Bewertung beziehen. Manche Begriffe z.B. likely (wahrscheinlich) werden als präskriptive und deskriptive Wahrschein- lichkeitsbegriffe verwendet. IAS 36.12c sieht eine Wertminderung vor, wenn sich erhöhte Marktzinssätze wahrscheinlich auf den zur Berechnung notwendigen Abzinsungssatz aus- wirken. Es handelt sich dabei um einen präskriptiven Begriff. In IAS 38.92 handelt es sich um einen deskriptiven Begriff, denn aufgrund des rasanten Technologiewandels ist es wahrscheinlich, dass die Nutzungsdauer von Computersoftware kurz ist. Im ersten Fall hängt die Bewertung (Wertminderung) von der Eintrittswahrscheinlichkeit ab. In IAS 38 wird dagegen die Wahrscheinlichkeit des Technologiewandels angenommen und hat kei- nerlei Auswirkung auf die Abschreibung. Diese Aufteilung in zwei Kategorien dient der Sichtbarmachung der unterschiedlichen Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen. Auf eine strikte Aufteilung aller Begriffe wird aufgrund der großen Anzahl verzichtet, zudem wäre es zum Teil nicht eindeutig zu erkennen. Die wichtigsten (vor allem präskriptiven) Begriffe werden sowieso ausführlicher behandelt und öfter zur Sprache gebracht. Bei der Inventarisierung werden alle Wahrscheinlichkeitsbegriffe erfasst, die nicht bereits im Voraus auszuschließen sind. Im anschließenden Unterkapitel folgt eine Konkretisierung einiger Begriffe, wobei hier der Fokus klarerweise auf den präskriptiven Wahrscheinlichkeitsbegriffen liegt. Wie bereits erwähnt ist eine numerische Zuordnung bei deskriptiven Wahrscheinlichkeitsbegriffen nicht so interessant. Auch die Übersetzungsvielfalt ist bei deskriptiven Begriffen weniger problematisch, weil es oft nur darum geht, die allgemeine Unsicherheit zum Ausdruck zu bringen. Daher wird für manche Wahrscheinlichkeitsbegriffe der Konjunktiv als Übersetzung verwendet.

4.1 Inventarisierung

Bei der Inventarisierung werden alle in den IFRS inkl. Interpretationen vorkommen- den Wahrscheinlichkeitsbegriffe in Tabelle 1 erfasst.14 Die Tabelle gibt einen Überblick über alle Wahrscheinlichkeitsbegriffe und kann als Ausgangsbasis für weitere Analysen verwendet werden. Prinzipiell werden die englischen Originalbegriffe mit den jeweiligen Übersetzungen herangezogen. Ein Grund dafür ist, dass die Originalversion in englischer Sprache verfasst ist. Würde man die deutschen Begriffe als Ordnungskriterium heranzie- hen, würde die Kompaktheit darunter leiden, weil es für jeden englischen Begriff mehrere deutsche Übersetzungen gibt. Finden sich umgekehrt mehrere englische Wahrscheinlich- keitsbegriffe in einem deutschen wieder, wird auch darauf eingegangen (z.B. unwahr- scheinlich). Die Reihenfolge der Inventarisierung liegt folgender Logik zugrunde. Zuerst wird probable, der zentrale Wahrscheinlichkeitsbegriff in den IFRS, mit sämtlichen Mo- difizierungen und Negationen aufgelistet (inklusive der Definition more likely than not ). Danach wird analog mit den Begriffen possible, likely und expected vorgegangen, gefolgt von anderen Wahrscheinlichkeitsbegriffen.15

Tabelle 1: Inventarisierung der Wahrscheinlichkeitsbegriffe

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4.2 Konkretisierung

In diesem Abschnitt werden einige Wahrscheinlichkeitsbegriffe genauer untersucht. Es wird analysiert, welche Tatbestände von bestimmten Begriffen umschrieben werden. Da- bei handelt es sich, wie schon zuvor erörtert, um Sachverhalte, die die Zukunft betreffen. In den IFRS werden die Bilanzierungsfähigkeit bzw. das Ansatzkriterium mittels eines Wahrscheinlichkeitsbegriffes definiert. In Zusammenhang mit dem beizulegenden Zeitwert kommen Wahrscheinlichkeitsbegriffe ebenfalls zur Anwendung. Weiters sind Schätzungs- unsicherheiten von Cashflows, aber auch von anderen Größen zu nennen, die zum Teil einer Sensitivitäsanalyse bedürfen. Bei zur Veräußerung gehaltenen langfristigen Vermö- genswerten und bei Leasingverträgen wird versucht zukünftige Ereignisse, durch bereits vorliegende Fakten, vorwegzunehmen. Die Bilanzierung von Rückstellungen und Even- tualschulden sowie von latenten Steuern wird in Kapitel 6 ohnehin separat behandelt. Neben konkreten Stellungnahmen zu einzelnen Tatbeständen, werden Wahrscheinlich- keitsbegriffe auch verwendet, um allgemein auf die Unsicherheit und Durchführbarkeit bzw. Nicht-Durchführbarkeit von Sachverhalten hinzuweisen. Ferner wird angeführt falls Begriffe in irgendeiner Form definiert oder beschrieben werden, um dies eventuell auf andere Standards umlegen zu können. In den nachfolgenden Tabellen wird für die je- weiligen Begriffe, die Anzahl des Originalbegriffes und die der Übersetzungen angeführt. Dadurch soll man eine ungefähre Vorstellung bekommen, wie oft ein Begriff in den IFRS vorkommt und welche Übersetzungen am häufigsten sind.

4.2.1 Probable

Tabelle 2 zeigt die Anzahl des Begriffes probable und seine diversen Übersetzungen, wobei wahrscheinlich am häufigsten verwendet wird.

Tabelle 2: Anzahl und Übersetzung von probable

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bereits im Rahmenkonzept wird wahrscheinlich im Zuge der allgemeinen Ansatzkriteri- en genannt, jedoch nicht näher definiert. Wahrscheinlich kommt überwiegend in IAS 11, 18, 37, 38 und IFRS 3 vor und wird hier wie im Rahmenkonzept häufig mit dem wahr- scheinlichen künftigen Nutzenzu- bzw. abfluss in Verbindung gebracht. IAS 11 behandelt Fertigungsaufträge, wobei Auftragserlöse bzw. -kosten verlässlich geschätzt werden kön- nen, wenn ihnen Verträge, aus denen ein wahrscheinlich wirtschaftlicher Nutzen entsteht, zugrundeliegen (IAS 11.23f). IAS 16 Sachanlagen greift zur Erfassung der Anschaffungs- und Herstellungskosten das Ansatzkriterium des Rahmenkonzeptes auf (IAS 16.7). IAS 18 beschäftigt sich mit der Erfassung von Umsatzerlösen und deren Zeitpunkt. Dies ist der Fall wenn es hinreichend wahrscheinlich ist, dass dem Unternehmen der mit dem Geschäft verbundene wirtschaftliche Nutzen zufließt. Interessant ist der Zusatz hinrei- chend, weil in der englischen Originalfassung nur probable verwendet wird (IAS 18.18f). Diese und andere übersetzungsbedingte Verzerrungen werden in Kapitel 5.2 Überset- zung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen behandelt. Auch IAS 23 beruft sich beim Ansatz von Fremdkapitalkosten auf den Grundsatz des wahrscheinlichen zukünftigen Nutzen- zuflusses. Beim Ansatz von immateriellen Vermögenswerten nach IAS 38 ist ebenfalls ein zukünftiger, wirtschaftlicher Nutzen notwendig, wobei hier probable großteils mit voraussichtlich übersetzt wird. IFRS 3 Unternehmenszusammenschlüsse sieht vor, dass Anpassungen der Anschaffungskosten abhängig von künftigen Ereignissen, zum Erwerbs- zeitpunkt mit einzubeziehen sind, wenn die Anpassung wahrscheinlich ist (IFRS 3.32f).

Bei der Verteilung der Anschaffungskosten des Unternehmenszusammenschlusses auf Ver- mögen und Schulden ist der wahrscheinliche wirtschaftliche Nutzen Zu- bzw. Abfluss ausschlaggebend (IFRS 3.37). Zahlungen an Arbeitnehmer im Rahmen eines Unterneh- menszusammenschlusses sind Eventualschulden, bis ein Zusammenschluss wahrscheinlich ist, dann handelt es sich um Schulden (IFRS 3.42). Dieser Umstand folgt der Auffassung in IAS 37, wo eine Unterscheidung zwischen Rückstellungen und Eventualschulden auch mit wahrscheinlich vorgenommen wird. In diesem Standard gibt es eine von wenigen Definitionen von Wahrscheinlichkeitsbegriffen. Probable wird mit more likely than not definiert, was nicht zwingenderweise auf andere Standards anzuwenden ist. Im Anhang zu IFRS 3 und 5 wird wahrscheinlich ebenfalls und ohne Einschränkung mit more likely than not definiert. IAS 12 Ertragssteuern behandelt latente Steuern, wobei neben den vorliegenden Voraussetzungen es auch wahrscheinlich sein muss, dass ein zu versteuern- des Ergebnis verfügbar sein wird (IAS 12.24). IAS 37 und 12 werden ausführlicher in den Kapiteln 6.2 und 6.3 behandelt.

4.2.2 More likely than not

Tabelle 3 zeigt die Formulierung more likely than not die man als Definition von probable in IAS 37, sowie im Anhang zu IFRS 3 und 5 findet.

Tabelle 3: Anzahl und Übersetzung von more likely than not

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eine Rückstellung ist eine gegenwärtige Verpflichtung, die aus einem Ereignis der Ver- gangenheit entstanden ist, verlässlich geschätzt werden kann und zu deren Erfüllung ein Abfluss von Ressourcen wahrscheinlich ist. Wahrscheinlich wird in IAS 37 mit mehr dafür als dagegen sprechend (more likely than not) definiert. Diese Auslegung ist nicht zwingend auf andere Standards anwendbar, aber auch nicht ausgeschlossen (IAS 37.23). Da das Eintreten größer ist, als das Nichteintreten der Wahrscheinlichkeit, kann die Ein- trittswahrscheinlichkeit mit größer als 50% festgelegt werden. Es wird daher auch von einer 51%-Regel gesprochen.16 Manche Autoren nehmen diese Auslegung des Begriffes wahrscheinlich generell an, wenn er im Rahmen von Ansatzkriterien verwendet wird.17 Wagenhofer schränkt dies wiederum ein, weil er vor allem bei Posten, die das Eigenkapital erhöhen, von einer 70 bis 80%-igen Eintrittswahrscheinlichkeit ausgeht. Dies kann durchaus als imparitätische Auffassung angesehen werden, denn eine Passivierung erfolgt bereits bei 51%, eine Aktivierung hingegen erst bei höherer Wahrscheinlichkeit. Für eine allgemeinere Auslegung von wahrscheinlich als more likely than not in den IFRS sprechen auch jüngere Standards wie IFRS 3 und 5, die diese Definition von wahrscheinlich im Anhang, ohne einschränkende Wirkung, verwenden.

4.2.3 Highly probable

Wie Tabelle 4 zeigt, kommt highly probable in den IFRS zwanzig mal vor und wird überwiegend mit höchst- bzw. hochwahrscheinlich übersetzt. Dieser Wahrscheinlichkeitsbegriff wird vor allem in IAS 39 Finanzinstrumente und IFRS 5 Zur Veräußerung gehaltene langfristige Vermögenswerte verwendet.

Tabelle 4: Anzahl und Übersetzung von highly probable

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In IAS 39 wird dieser Begriff bei Sicherungsgeschäften und den zugrundeliegenden Grund- geschäften verwendet. Ein gesichertes Grundgeschäft kann u.a. eine mit hoher Wahr- scheinlichkeit eintretende künftige Transaktion oder Nettoinvestition im Ausland sein (IAS 39.78). Prinzipiell müssen diese Transaktionen mit konzernexternen Marktteilneh- mern erfolgen. Eine Ausnahme ist, wenn zwei Unternehmen eines Konzerns Geschäfte mit unterschiedlichen funktionalen Währungen abschließen und auf diese Weise ein Wäh- rungsrisiko entsteht. Hier wird von einem höchstwahrscheinlich eintretenden zukünftigen Ereignis gesprochen, was nicht zwangsweise gleichbedeutend mit hoher Wahrscheinlich- keit ist.

Ein langfristiger Vermögenswert ist nach IFRS 5 als zur Veräußerung gehalten einzustu- fen, wenn der Vermögenswert im gegenwärtigen Zustand, zu Bedingungen die für den Ver- kauf derartiger Vermögenswerte üblich sind, sofort veräußerbar ist und eine Veräußerung höchstwahrscheinlich ist (IFRS 5.7). Eine Veräußerung ist dann als höchstwahrscheinlich einzustufen, wenn folgende Punkte erfüllt sind: die zuständige Managementebene hat einen Plan für den Verkauf beschlossen, dessen Umsetzung und die Suche nach einem Käufer hat begonnen. Der Verkaufspreis muss dem gegenwärtigen beizulegenden Wert entsprechen und die Veräußerung muss innerhalb eines Jahres, ab dem Zeitpunkt der Einstufung für eine Erfassung, als abgeschlossener Verkauf in Betracht kommen (IFRS 5.8). Im Anhang zu IFRS 5 wird höchstwahrscheinlich mit der etwas eigentümlichen Formulierung erheblich wahrscheinlicher als wahrscheinlich definiert.18 Im Englischen klingt die Formulierung mit significantly more likely than probable doch etwas prägnan- ter. Diese genaue Umschreibung ist für einen Wahrscheinlichkeitsbegriff selten, weil es dem ursprünglichen Sinn von unbestimmten Begriffen widerspricht, Einzelsachverhalte zu regeln. In diesem Fall handelt es sich jedoch um eine wichtige Einzelregelung, die einen ganzen Standard in Anspruch nimmt und daher einer solchen Konkretisierung bedarf.

4.2.4 Possible

Tabelle 5 zeigt, dass probable hauptsächlich mit möglich übersetzt wird. Probable wird verwendet um der allgemeinen Unsicherheit der Rechnungslegung, Rechnung zu tragen. Aber auch in einem anderen Sinn, und zwar, um die Durchführbarkeit von Vorgängen zu benennen.

Dieser Begriff bringt allgemein die Unsicherheit zum Ausdruck, die durch die Zukunfts- bezogenheit gegeben ist. Das verdeutlichen die anderen beiden Übersetzungen eventuell

Tabelle 5: Anzahl und Übersetzung von possible

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

und etwaig. Die relativierende Wirkung ist anhand verschiedener Textstellen erkennbar. So ist etwa die Rede von möglichen Verlusten (IAS 11.45, IAS 18.36), möglichen Wert- minderungen (IAS 21.25), möglichen Änderungen von Schätzungen (IAS 34.35) und mög- lichen Alternativen (IAS 38.56). Laut IAS 41 spiegeln sich mögliche Schwankungen der Cashflows in den erwarteten Cashflows, im Abzinsungssatz oder einer Kombination aus beidem wider (IAS 41.23). Es handelt sich also teilweise eher um einen deskriptiven Wahr- scheinlichkeitsbegriff. Allein in IAS 37, wo die Entscheidung ob mögliche Verpflichtungen vorliegen, gibt es sehr wohl einen direkten Bezug zur Bilanzierung bzw. Offenlegung (IAS 37.10).

In anderen Standards wird möglich im Sinne von durchführbar verwendet. So können einzelne Sicherungsinstrumente zur Absicherung von Risiken eingesetzt werden, wenn es möglich ist, dass eine genaue Zuordnung zu den Risiken erfolgen kann (IAS 39.76). Nach IAS 40.78 hat ein Unternehmen, wenn möglich, die Schätzungsbandbreite innerhalb de- rer ein beizulegender Werte liegt, anzugeben. Zudem kommt möglich in Zusammenhang mit zeitlichen oder größentechnischen Maximal- bzw. Minimalforderungen vor. Laut IAS 19.134 hat die Umsetzung des Plans Mitarbeiter zu entlassen, so schnell wie möglich zu beginnen und in IAS 39 soll die Bewertung von Finanzinstrumenten, mittels bei- zulegendem Zeitwert, möglichst marktorientiert erfolgen und so wenig wie möglich auf unternehmensspezifischen Daten beruhen (IAS 39.48A). Dadurch wird die Bedeutung an das obere bzw. untere Ende des Wahrscheinlichkeitsspektrums verschoben.

4.2.5 Reasonably possible

In Tabelle 6 sieht man reasonably possible und die dazugehörigen fünf Übersetzungen. Dieses Beispiel illustriert noch einmal, warum die englischen Originale zuerst herangezogen wurden. Anwendung findet diese Modifizierung von possible im Zusammenhang mit Schätzungsunsicherheiten (IAS 1), der Schätzung des erzielbaren Betrags von CGUs (IAS 36) und Abweichungen, die im Rahmen von Marktrisiken und Sensitivitätsanalysen aufgrund von Ungewissheiten entstehen (IFRS 7).

Tabelle 6: Anzahl und Übersetzung von reasonably possible

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein Unternehmen hat zukunftsbezogene Annahmen und Schätzungsunsicherheiten, die eine Berichtigung nach sich ziehen könnten, im Anhang anzugeben. Die Bilanzleser sollen durch die Anhangangabe die Ermessensentscheidungen des Managements besser verste- hen. Als Beispiel einer Angabe wird die erwartete Beseitigung einer Unsicherheit sowie die Bandbreite der vernünftigerweise für möglich gehaltenen Ergebnisse innerhalb des Geschäftsjahres genannt (IAS 1.116/120c). Ein Unternehmen hat weiters für zahlungs- mittelgenerierende Einheiten (CGUs), deren Buchwert des Firmenwerts bzw. immateri- ellen Vermögenswerts signifikant zum Gesamtwert ist, Anhangangaben zu machen. Eine davon ist, wenn eine für möglich gehaltene Änderung einer wesentlichen Annahme dazu führen würde, dass der Buchwert den erzielbaren Betrag übersteigt (IAS 36.134f). Ähn- liches findet man in IFRS 7 Angaben zu Finanzinstrumenten. Bei beizulegenden Werten, die nicht auf marktbezogenen Daten beruhen, sondern auf anderen Annahmen, die durch plausible Alternativen ersetzt werden könnten, sind die Auswirkungen anzugeben (IFRS 7.27c). Sind Unternehmen Marktrisiken ausgesetzt, haben sie eine Sensitivitätsanalyse durchzuführen, um die Auswirkungen der für möglich gehaltenen Änderungen aufzuzei gen. Es sind die Auswirkungen auf GuV und das Eigenkapital anzugeben, unter der Annahme, dass die für möglich gehaltene Änderung eines Risikoparameters am Bilanzstichtag eingetreten ist (IFRS 7.40/.B18).

4.2.6 Not possible

Wie Tabelle 7 zeigt, wird not possible einheitlich mit nicht möglich übersetzt und kommt in verschiedenen Standards, oft in Verbindung mit dem beizulegenden Zeitwert, vor.

Tabelle 7: Anzahl und Übersetzung von not possible

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In IAS 26 sind Kapitalanlagen von Altersversorgungsplänen prinzipiell mit dem bei- zulegenden Zeitwert zu bewerten. Handelt es sich um keine marktfähigen Wertpapie- re/Kapitalanlagen und ist eine Schätzung des beizulegenden Zeitwerts nicht möglich, sind die Gründe dafür anzugeben (IAS 26.32f). IAS 36 Wertminderungen erlaubt die Verwendung des Nutzungswertes vom Vermögenswert, sollte die verlässliche Ermittlung des beizulegendes Zeitwerts nicht möglich sein (IAS 36.20). IFRS 2 regelt die anteilsba- sierte Vergütung. Aktienbasierte Vergütungen müssten mit dem beizulegenden Zeitwert der erhaltenen Leistungen (Güter bzw. Dienstleistungen) angesetzt werden. Da dies im Regelfall nicht möglich ist, wird zusätzlich der beizulegende Zeitwert der gewährten Ei- genkapitalinstrumente herangezogen (IFRS 2.11f). Der Standardsetter ist sich der Nicht- Anwendbarkeit des beizulegenden Zeitwerts zu einem unterschiedlichen Grad a priori bewusst, indem er Formulierungen wählt wie: falls es nicht möglich ist (IAS 26), manch- mal ist es nicht möglich (IAS 36) und in der Regel ist es nicht möglich (IFRS 2).

[...]


1 Vgl. SIMON (2002) S. 601.

2 Vgl. KÜTING (2006) S. 2758.

3 TANSKI (2006) S. 60, in weiterer Folge wird die Formulierung unbestimmter Begriff verwendet.

4 Vgl. KÜTING (2006) S. 2757.

5 Vgl. KÜTING (2006) S. 2757.

6 Vgl. WAGENHOFER (2009) S. 125f.

7 Vgl. ADLER/DÜRING/SCHMALTZ (2002ff) Abschnitt 1, Rn 69ff.

8 Vgl. BAETGE et al. (2002ff) A/II, Rn 96ff.

9 Vgl. ADLER/DÜRING/SCHMALTZ (2002ff) Abschnitt 1, Rn 150.

10 Vgl. LÜDENBACH/HOFFMANN (2008) §1 Rn 21.

11 Vgl. BAETGE et al. (2002ff) A/II, Rn 98.

12 Vgl. SCHRUFF (2007) S. 240f.

13 Vgl. ADLER/DÜRING/SCHMALTZ (2002ff) Abschnitt 1, Rn 16 und vgl. BAETGE et al. (2002ff) A/II, Rn 26f.

14 Dazu werden die aktuellen, amtlichen EU Versionen auf Englisch und Deutsch herangezogen: http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/legal_framework/regulations_adopting_ias_de.htm letzter Zugriff 14. August 2010.

15 Die Anzahl der Wahrscheinlichkeitsbegriffe wird im Rahmen der Konkretisierung ergänzt. Wo man die jeweiligen Begriffe findet ist im Anhang nachzulesen.

16 Vgl. ADLER/DÜRING/SCHMALTZ (2002ff) Abschnitt 1, Rn 150, vgl. KIRSCH (2009) S. 141 und Vgl. LÜDENBACH/HOFFMANN (2008) §1, Rn 22.

17 Vgl. HACHMEISTER (2006) S. 185 und vgl. WAGENHOFER (2009) S. 146.

18 Vgl. STIBI/FUCHS (2007) S. 378.

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in den IFRS - Eine kritische Analyse
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz  (Unternehmensrechnung und Wirtschaftsprüfung)
Note
1
Autor
Jahr
2010
Seiten
76
Katalognummer
V169290
ISBN (eBook)
9783640875030
ISBN (Buch)
9783640875092
Dateigröße
1056 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wahrscheinlichkeitsbegriff, ifrs
Arbeit zitieren
Lukas Schlagnitweit (Autor:in), 2010, Der Wahrscheinlichkeitsbegriff in den IFRS - Eine kritische Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169290

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