Kurzspielfilme im Literaturunterricht


Examensarbeit, 2010

110 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Vorspann

2. Kurzspielfilm: Gattungsreflexion
2.1 Eine Frage der Länge?
2.2 Besonderheiten der Narration
2.2.1 Handlungsgerüst
2.2.2 Erzählperspektive
2.2.3 Charaktere und Charakterisierung
2.3 Produktionskontext und Ästhetik
2.4 Zugänge und Stellenwert - die „unsichtbare Gattung“
2.5 Zwischenfazit

3. Ziele und Perspektiven der Filmdidaktik
3.1 Mediendidaktische Schwerpunkte
3.1.1 Medienkompetenz
3.1.2 Spielfilmkompetenz
3.1.3 Wahrnehmungsschulung
3.1.4 Filmerleben
3.2 Ästhetische Bildung und Literarisches Lernen
3.2.1 Identität und Alterität
3.2.2 Narrative Kompetenz
3.2.3 Realitäts-Fiktionalitäts-Unterscheidungskompetenz
3.3 Zwischenfazit

4. Zugänge und methodische Vorüberlegungen
4.1 Filmanalyse
4.1.1 Funktionen
4.1.2 Vorgehensweisen und Analyseschemata
4.1.3 Instrumentarium und Hilfsmittel
4.1.4 Grenzen der analytischen Filmbetrachtung
4.2 Der Produktive Literaturunterricht und Spielfilmbildung
4.2.1 Eine produktive Hermeneutik
4.2.2 Imaginationsfördernde Verfahren
4.2.3 Selbsterfahrung durch Kunst: Die Kreative Rezeption
4.3 Zwischenfazit

5. Unterrichtsvorschläge
5.1 Begründung der Filmauswahl
5.2 Zenit (2007)
5.2.1 Filmografische Daten
5.2.2 Inhalt
5.2.3 Didaktische Analyse
5.2.4 Didaktische Intention
5.2.5 Vorgehen und Methoden
5.3 Zur Zeit verstorben (2003)
5.3.1 Filmografische Daten
5.3.2 Inhalt
5.3.3 Didaktische Analyse
5.3.4 Didaktische Intention
5.3.5 Vorgehen und Methoden
5.4 Meine Eltern (2003)
5.4.1 Filmografische Daten
5.4.2 Didaktische Analyse
5.4.3 Didaktische Intention
5.4.4 Vorgehen und Methoden
5.5 Reflexion und Zwischenfazit

6. Abspann

Literaturverzeichnis

Anhang

- Didaktisches Grundmodell: Phasen der Arbeit mit Kurzspielfilmen
- Still aus Zenit (2007)
- Still aus Zur Zeit verstorben (2003)

1. Vorspann

„Pauschal die Nichtprintmedien als Fressfeinde der Buchliteratur zu verdammen, steht einer vernünftigen schulischen Medienpädagogik im Weg.“ (Abraham 2002, 10) Der konventionelle Literaturunterricht klammerte die Bereiche Medienpädagogik und Filmdidaktik lange Zeit aus. Dies war vor allem kulturell bedingt, da das Buch und die gedruckte Literatur, im Gegensatz zu Filmen, „den Status einer hochgewerteten und in der Schule mit erheblichem Aufwand vermittelten kulturellen Praxis genießen“ (Frederking/Krommer/Maiwald 2008, 146). Allenfalls Literaturverfilmungen hatten einen festen Platz im Unterricht, doch allzu oft wurden diese lediglich im Modus des Vergleichens behandelt: „[M]eist führte dies dazu, dass Grenzen der filmischen Umsetzung aufgezeigt wurden und damit der literarische Text als differenzierter, mehrschichtiger, stärker die Vorstellungskraft anregend herausgestellt wurde“ (Spinner 2004, 199). Diese Reduzierung der mittlerweile als vierte Großgattung der Literatur angesehenen Spielfilme zeugt von einer tiefer gehenden Skepsis den audiovisuellen (AV-)Medien gegenüber. Dabei kann die schulische Spielfilmbildung, entgegen den Befürchtungen medienkritischer Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, zentrale Entwicklungsaufgaben zu erfüllen und Kompetenzen auszubilden, die ihnen einen reflektierten und lustvollen Umgang mit alten und neuen Medien ermöglichen.1

Im Rahmen seiner 2008 veröffentlichten Studie „Spielfilmbildung an deutschen Schulen: Fehlanzeige?“, für die 709 Abiturientinnen und Abiturienten verschiedener Bundesländer befragt wurden, stellt Matthis Kepser fest, dass eine „reflexive Beschäftigung mit der Ästhetik des Films“ in der Schule offenbar nur selten stattfindet (46). Die genauen Gründe dafür wurden bislang nicht genauer untersucht. Es ist jedoch anzunehmen, dass die mangelnde Ausbildung der Lehrkräfte einen entscheidenden Beitrag zur jetzigen, misslichen Lage leistet. Deutschlehrerinnen und -lehrer, die Spielfilme in ihren Unterricht integrieren wollen, stehen vor komplexen persönlichen Herausforderungen: Sie sollen sich u. a. mit Fragen der Filmauswahl auseinandersetzen, bestehende Berührungsängste gegenüber der Filmanalyse überwinden und dürfen dabei die zeitlichen Vorgaben der Bildungsinstitution Schule nicht aus den Augen verlieren.

Diesen Widrigkeiten stehen die Äußerungen heutiger Schülerinnen und Schüler gegenüber, die „überaus interessiert daran sind, sich im schulischen Kontext intensiver mit Filmen zu beschäftigen“

(Kepser 2008, 46).2 Jugendliche, die heute die Schule besuchen, sind stark AV-sozialisiert und gehen aktiv und selbstbestimmt mit den „Neuen Medien“ um. Sie spielen interaktive PC- und Konsolenspiele, sie zappen und switchen, gehen ins Kino und tauschen sich über ihre Erfahrungen und Ansichten aus (vgl. Wermke 1997, 57f.). Diese Vorerfahrungen und das Vorwissen sind wertvoll und sollten nicht ungenutzt bleiben, sonst wird „das ‚richtige‘ Tun im ‚falschen‘ Medium übersehen“ (ebd., 58). Des Weiteren kann ein Deutschunterricht, der die Lebenswirklichkeit und Erlebnisse seiner Schülerinnen und Schüler ignoriert, nur bedingt ansprechend sein.

Einen wichtigen Schritt zur Förderung der schulischen Filmbildung stellt die curriculare Verankerung filmspezifischer Inhalte in den Richtlinien der einzelnen Bundesländer dar. Im Kerncurriculum Deutsch des Landes Niedersachsen für die gymnasiale Oberstufe ist zu lesen, dass die Schülerinnen und Schüler spätestens in der Einführungsphase der Sekundarstufe II Grundbegriffe der Filmanalyse anwenden können und mit den „narrative[n] Möglichkeiten der Filmsprache und [der] fiktionale[n] Erzählweise des Spielfilms“ vertraut sein sollen (Niedersächsisches Kultusministerium 2009, 16). Darüber hinaus sollen sowohl thematische als auch ästhetische Aspekte des Mediums betrachtet werden (ebd., 13).3 Die Ernennung der Filmkompetenz zum Bildungsgut stellt jedoch nur eine Voraussetzung dar - „[a]uch die Deutschdidaktik ist wohl nach wie vor gefragt, mit überzeugenden theoretischen und praktischen Konzepten auf die Schulwirklichkeit einzuwirken“ (Kepser 2008, 46).

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich gezielt mit der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Einbindung von Kurzspielfilmen in den Literaturunterricht. In der letzten Zeit betonen einige Didaktiker, dass der Kurzspielfilm in besonderem Maße für den Literaturunterricht geeignet ist - und doch ist die Liste der Publikationen speziell zu diesem Thema bis dato spärlich (vgl. Abraham 2009, 63).

In der Tat können Kurzspielfilme den Unterricht bereichern - sie stehen für eine Ästhetik abseits des Mainstream-Kinos, an ihnen können exemplarisch Aspekte der Filmsprache besprochen werden. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer äußeren Kürze gut in den Unterrichtsalltag zu integrieren. Grundsätzlich sollte der Literaturunterricht seine Schülerinnen und Schüler m. E. auch an weniger bekannte Textsorten heranführen: Nicht nur im Kontext der Filmwirtschaft und -kultur könnte der Kurzfilm den Status des „Pionierformats“ einnehmen, da er mit typischen Langspielfilm konventionen bricht. Im zweiten Teil dieser Arbeit werde ich daher die Besonderheiten dieser „unsichtbaren Gattung“ herausstellen und mich mit Aspekten der Narration, der Ästhetik, des Produktionskontextes und der Distribution von kurzen Spielfilmen beschäftigen. Dieses Kapitel ist einerseits dem Sachaspekt gewidmet und soll andererseits erste Schlüsse für den Einsatz von Kurzspielfilmen im Literaturunterricht enthalten.

Während in den letzten Jahren einige Schlagwörter der Mediendidaktik und -pädagogik - wie Medien- und Spielfilmkompetenz, Wahrnehmungsschulung und Filmerleben - den Diskurs über die schulische Filmbildung bestimmt und erweitert haben, lassen sich m. E. darüber hinaus weitere genuin literaturdidaktische Konzepte mit zentralen Aspekten der Filmdidaktik verbinden. Die Literarische und Ästhetische Bildung der Schülerinnen und Schüler, ihre Fähigkeit zum Fremdverstehen und zum reflektierten Umgang mit Fiktionalität sowie ihre rezeptive und aktive Narrative Kompetenz können auch anhand von Kurzspielfilmen geschult und weiterentwickelt werden. Im dritten Kapitel werde ich versuchen, den Bezugsrahmen für die schulische Kurzfilmbetrachtung darzustellen und mögliche Schwierigkeiten und Desiderate aufzeigen.

Das vierte Kapitel enthält einige Überlegungen zu möglichen Unterrichtsmethoden für den Umgang mit (Kurz)-Spielfilmen. In der bereits erwähnten Studie kommt Matthis Kepser diesbezüglich zu dem Schluss, dass, sofern an deutschen Schulen überhaupt mit dem Spielfilm gearbeitet wird, die dabei angewendeten Methoden „größtenteils an den Bedürfnissen der Schüler/-innen vorbei[gehen]“ (2008, 46). Dabei erfordern die Flüchtigkeit der filmischen Texte, ihre Polyvalenz und ihr „Realitätseffekt“ - das „scheinbar reibungslose Ineinanderspielen von Technik und Wahrnehmung“ - eine wohl überlegte Vorgehensweise (Krämer 2006, 58). Selten bietet der Alltag den Rezipientinnen und Rezipienten die Möglichkeit, literarische Differenzerfahrungen mit filmischen Texten zu sammeln. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer haben dementsprechend Schwierigkeiten, sich das Gezeigte als Produkt eines längeren, künstlerischen Prozesses vorzustellen:

Bei der Literatur ist es leichter, sich vorzustellen, dass es vor den vom Autor gewählten und aufgereihten Wörtern nur das leere Blatt gab oder bei der Malerei nur die jungfräuliche Leinwand. Aus dem einfachen Grund, weil jeder schon einmal vor einem leeren Blatt gesessen hat, das er mit Wörtern füllen sollte, und gelegentlich zwischen mehreren Wörtern gezögert hat, die an derselben Stelle im Satz hätten stehen können. (Bergala 2006, 93)

Ein weit verbreitetes Missverständnis im Zusammenhang mit den produktiven und imaginationsfördernden Methoden des Literaturunterrichts ist die Annahme, dass die Lerner auf der Stufe der individuellen Wahrnehmung verharren würden. Dabei fördern und fordern verschiedene Phasenmodelle des wahrnehmungs- und wirkungsorientierten Unterrichts das „genaue Hinsehen“ und die Rückbindung an den Text in besonderem Maße (vgl. Mann/Schröter/Wangerin 1995, 107 127; Abraham/Kepser 2009, 178f.). Die sinnvolle Verbindung kreativer, gestaltender Verfahren mit Aspekten der Filmanalyse soll daher im vierten Kapitel ebenfalls im Vordergrund stehen. Hierfür werde ich verschiedene Analyseschemata und Hilfsmittel hinsichtlich ihrer Eignung für den Literaturunterricht prüfen. Von Vorteil wären dabei Ansätze, die auf das bei Lehrkräften und Lernern vorhandene literarische Vorwissen zurückgreifen und so den Zugang zu filmanalytischen Sichtweisen erleichtern.

Ziel dieser Arbeit soll es sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, Schülerinnen und Schülern eine genaue Wahrnehmung von sowie eine umfassende und intensive Auseinandersetzung mit Kurzspielfilmen zu ermöglichen. Dabei sollen sich der kritische und der genussvolle Umgang mit filmischen Texten nicht gegenseitig ausschließen: Eine reine „Bonbondidaktik“ kann den komplexen Anforderungen der Filmbildung nicht gerecht werden. Die im letzten Kapitel präsentierten Unterrichtsvorschläge sind als Anregung für den methodengeleiteten, schülerzentrierten Umgang mit Kurzspielfilmen zu verstehen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich hauptsächlich mit den Zielen und Perspektiven einer umfassenden Spielfilmbildung im Literaturunterricht - im Sinne einer integrativen Mediendidaktik ergeben sich jedoch darüber hinaus zahlreiche Querverbindungen zu anderen Fächern und weiteren Bereichen der Deutschdidaktik.

2. Kurzspielfilm: Gattungsreflexion

„Ich weiß nicht, was ein Kurzfilm ist. Was ein Kurzfilm ist, das sagt mir meine Uhr."

(Lars Henrik Gass, zit. nach Gronenborn 1998, 16)

So leicht, wie der Festivalleiter der Kurzfilmtage Oberhausen Lars Henrik Gass salopp bemerkt, ist eine Definition der Gattung Kurzfilm nicht zu leisten. Die Schwierigkeiten diesbezüglich werden in allen Publikationen zur kurzen Form des Films deutlich. Katrin Heinrich hebt hervor, dass „eine dauerhafte Definition des Kurzfilms kaum zu erreichen ist, da sie sich in kontinuierlichem Wandel befindet“ (1998, 22). Die ästhetische, formale und thematische Vielfalt des Kurzfilms resultiert nicht zuletzt aus den spezifischen Produktionsbedingungen, auf die ich im Folgenden näher eingehen werde (Kap. 2.3). Reinhard Wolf bestätigt, dass „[w]er versucht, Kurzfilm zu definieren, (…) automatisch vor dem Dilemma [steht], dass es außer der Laufzeit keine präzisen Kriterien oder eindeutigen Merkmale gibt, die auf alle Kurzfilme zutreffen“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 5). Erschwerend kommt hinzu, dass sich bei den Kurzfilmen, anders bei Langspielfilmen, keine Genres herausgebildet haben, die die Zuordnung einzelner Werke erleichtern würden (vgl. Heinrich 1998, 23).

Eine Abgrenzung entlastet die Betrachtung der Gattung im Rahmen dieser Arbeit allerdings ungemein: Da hier der Fokus auf den literarischen Charakteristika der Kurzfilme liegt, werden alle nicht-fiktionalen Formen desselben ausgenommen.1 Im Verlauf dieser Arbeit werde ich ausschließlich auf die Form des Kurzspielfilms eingehen und versuchen, mich diesem unter mehreren Gesichtspunkten, wie etwa den Besonderheiten der Narration oder der Ästhetik und des Produktionskontextes, zu nähern.2 Dabei ist es nicht mein Ziel, einen normativen Katalog von Merkmalen aufzustellen, sondern eine theoretische Basis für die vorliegende Arbeit zu schaffen. Außerdem, und daher ist der Punkt „Gattungsreflexion“ durchaus doppeldeutig angelegt, sollen die daraus resultierenden Implikationen für den Einsatz der Kurzspielfilme im Literaturunterricht erwogen werden.

2.1 Eine Frage der Länge?

Sicherlich ist die Dauer eines Kurzfilms ein wichtiges Kriterium bei der Gattungszuordnung. Allerdings gehen die Vorstellungen und Meinungen darüber, wie lang ein Kurzfilm maximal sein darf, stark auseinander. Analog zur Länge von Kurzgeschichten lässt sich lediglich feststellen, dass es keine klaren Grenzen gibt.3 Prinzipiell kann der Terminus „Kurzfilm“ auf jeden Film angewendet werden, der kürzer als ein Langspielfilm ist, die meist 90 bis 120 Minuten lang sind. Dennoch, so Quy, seien die meisten Kurzfilme in der Praxis kürzer (2007, 9). Ein oscarprämierter Kurzfilm kann beispielsweise nicht mehr als 40 Minuten dauern, da dies nun einmal die Zeitvorgabe der Akademie ist (ebd.).

In der Sekundärliteratur finden sich sehr unterschiedliche konkrete Angaben zur Länge von Kurzfilmen: Vorgeschlagen werden Zeitrahmen von unter 60, weniger als 30 oder sogar maximal zehn bis 15 Minuten (vgl. Heinrich 1998, 28). Dieses Dilemma lässt sich m. E. nicht einfach durch die Einführung weiterer Zwischengattungen lösen, wie es bei Heinrich geschieht (ebd.).4 Viel sinnvoller als die recht banal anmutende Frage der Spielzeit und äußeren Kürze ist die Beschäftigung mit der daraus resultierenden „inneren Kürze“ dieser literarischen Gattung (vgl. ebd., 54). Auch im Unterricht sollten viel eher „die Auswirkungen, die die formgebende, äußere Kürze auf die Darstellung bzw. die Umsetzung einer Narration in der Erzählzeit hat“ mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden (ebd.). Das Kriterium der „äußeren Kürze" stellt dabei lediglich eine Orientierungshilfe bei der Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der Narration im Kurzspielfilm dar (vgl. ebd., 53f.).

2.2 Besonderheiten der Narration

Die aktuelle Narratologie, schreibt Michael Scheffel, beschäftige sich mit den Folgen, die der „cultural" und der „narrative turn" in den Geisteswissenschaften auf die Kategorien des Erzählens hatten: Sie operiere „‚interdisziplinär‘, ‚transgenerisch‘ und ‚intermedial‘" und schließt aus diesem Grund auch filmische Varianten des Erzählens ein (2009, 15).

Evans behauptet griffig: „Short films are long films that finish earlier“ (2002, xi). Doch diese Formel ist nur bedingt auf den Kurzspielfilm anwendbar. Hilmar Hoffmann betont, dass es einen elementaren Unterschied gebe zwischen „kurzen Spielfilmen“ und tatsächlichen „Kurzspielfilmen“: Der kurze Spielfilm enthalte zwar, ebenso wie der Kurzspielfilm, eine „fiktive Spielhandlung“ - doch orientiere sich erstgenannter sehr an den „dramaturgischen Strukturen des langen Spielfilms“ (Hoffmann 1981, 54). Kurzspielfilme hingegen „haben zu den Konventionen des Spielfilms keinerlei Affinitäten ausgebildet, aber durchaus Alternativen der Form“ (ebd.). Bislang finden sich, trotz häufig bekundeten Interesses, sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in den Fachdidaktiken nur wenige Versuche, die narrativen Eigenheiten des Kurzspielfilms zu charakterisieren. Viele Theoretiker gehen davon aus, dass narrative Kurzfilme das literarische Äquivalent von Kurzgeschichten oder Gedichten sind:

Wenn schon Vergleiche gewagt werden, dann lassen sich die Formen des Kurz-Spielfilms am ehesten noch an den Kurzformen der Literatur überprüfen; deren Nomenklatur können wir auf den KurzSpielfilm übertragen, sofern wir sie nicht als endgültig definierte, sondern als dialektische und fließende Kategorien übernehmen (…). (Hoffmann 1981, 54)

Einige Kriterien der Narrativik ergeben sich demzufolge aus der Diskussion um die Gattung der Kurzgeschichte. Kurzgeschichten sind, wie Kurzspielfilme, „[f]ormenreiche Erzählgattung[en] der Moderne, gekennzeichnet durch Kürze und [einen] hohen Grad an Komplexität, Funktionalität und Suggestivität" (Wenzel 2000, 369).

Bei der Übertragung von Gattungsmerkmalen der Kurzgeschichte auf den Kurzspielfilm ist zu beachten, dass es deutliche Unterschiede zwischen der Informationsvergabe in Printmedien und filmischen Texten gibt: „Das Erzählen in Worten ist der [gedruckten, Anm. A.P.] Literatur vorbehalten, und der Macher eines Films soll die visuellen Möglichkeiten des Mediums auch nutzen, um die Geschichte zu zeigen" (Heinrich 1998, 2). Die Montage und der Schnitt des filmischen Materials übernehmen eine narrative Funktion: „[D]er Filmemacher [kann] den Blick des Zuschauers auf die von ihm ausgewählte Handlung lenken. Die Erzählung im Film [hat] ihren Erzähler, der Spannung aufbauen kann, Motive verknüpft, Motivationen zeigt und entscheidet, wann dem Zuschauer welche Information zugänglich wird“ (ebd., 35). Die in der didaktischen Diskussion häufig geforderte Narrative Kompetenz kann daher im Unterricht anhand von kurzen und langen Spielfilmen erworben und ausdifferenziert werden - wenn auch unter Berücksichtigung der medialen Gegebenheiten (s. Kap. 3.2.2).

Darüber hinaus unterscheiden sich die Rezeptionsweisen von Leserinnen bzw. Lesern auf der einen und Zuschauerinnen bzw. Zuschauern auf der anderen Seite: „Ein Kurzspielfilm kann (…) beim ersten Sehen nicht so umfassend und intensiv rezipiert werden wie eine Kurzgeschichte, die in dauerhafter Textversion vorliegt, und bei der der Leser die Geschwindigkeit seiner Rezeption selbst bestimmen kann“ (Heinrich 1998, 119). Da diese Schwierigkeit auch bei der Behandlung von Langfilmen auftritt, soll sie im vierten Kapitel Berücksichtigung finden. Bekannte didaktische Lösungsansätze sind die Verlangsamte Rezeption, das Verschärfte Hinsehen sowie filmanalytische Verfahren.

Ein dritter entscheidender Aspekt ist die notwendige Beschäftigung mit den Fiktionalitätsmerkmalen von Kurzspielfilmen im Unterricht. Im Vergleich zu Kurzgeschichten ist bei den filmischen Kurzformen „[d]ie Glaubwürdigkeit von Charakteren, Situationen und Handlung durch den visuellen Aspekt erhöht, weil der Zuschauer sie in realistischer Form vor sich sieht und eine viel geringere psychologische Distanz während der Rezeption zwischen ihm und dem Geschehen besteht" (Heinrich 1998, 101). Ein Ziel der Filmdidaktik muss daher sein, den Schülerinnen und Schülern bewusstzumachen, dass es sich auch bei Kurzspielfilmen um fiktionale Texte und keine Abbilder der Realität handelt (s. Kap. 3.2.3).5

Mit den genannten Einschränkungen können nun die Erkenntnisse über die Eigenheiten von Kurzgeschichten für meine Zwecke fruchtbar gemacht werden. Um die Dimensionen der Narration, die von der äußeren Form beeinflusst werden, übersichtlicher zu gestalten, werden sie im Einzelnen behandelt und ausgewertet. Bei der folgenden Unterteilung orientiere ich mich an Katrin Heinrichs Kategorien der Narrativik (1998, Kap. 5).6

2.2.1 Das Handlungsgerüst

Die Kurzgeschichte ist seit Langem Gegenstand des Literatur- und auch Fremdsprachenunterrichts. Vorteilhaft bei der Behandlung von Kurzgeschichten ist, dass diese „nicht weiter segmentiert werden [müssen] und (…) dennoch die Möglichkeit [bieten], zentrale Lernprozesse des Literaturunterrichts zu initiieren“ (Schönleber 2005, 65).

Eine Kurzgeschichte hat „ein[en] geradlinig[en] Handlungsverlauf, der häufig auf die Darstellung einzelner Ereignisse, Episoden oder Szenen begrenzt ist“ (Wenzel 2000, 369). Diese Reduktion des Handlungsgerüsts macht die Kurzgeschichte ungemein attraktiv, gerade für den Einsatz in den unteren Klassenstufen. An ihr kann im Kleinen erforscht werden, welche narrativen Strukturen literarische Texte aufweisen können, ohne dass die Lernenden sogleich von einer komplexen Handlung verunsichert werden. Allerdings kann sowohl die Handlung von Kurzgeschichten als auch von Kurzspielfilmen auf unterschiedliche Weisen erzählt werden: linear-chronologisch, kausal- progressiv, retrogressiv, assoziativ, episodenhaft usw. (vgl. Marx 2005, 74ff.). Die Erzählstruktur hat Auswirkungen auf die Rezeption eines Textes. Daher muss die Lehrkraft bei der Auswahl von Filmen auch die individuellen Voraussetzungen und literarischen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen, um diese im Unterricht weder zu unter- noch zu überfordern.

Leonie Marx führt an, dass das Hauptkompositionsprinzip der Kurzgeschichte die Verdichtung bzw. Verkürzung sei; weiterhin heißt es: „Betroffen sind, mit jeweils unterschiedlicher Intensität, alle Aspekte der erzähltechnischen Verfahrensweisen einschließlich der sprachlichen Gestaltung“ (2005, 57). Aufgrund dieses Kompositionsprinzips „häufen sich die Aussparungsmethoden in der Kurzgeschichte und wirken sich entscheidend auf die Raum-, Zeit- und Figurendarstellung sowie auf die Handlungsführung aus“ (ebd.). Diesem Prinzip folgen auch Kurzspielfilme. Ebenjenes „wechselvolle Spiel von Andeutung und Aussparung“ stellt einen idealen Ausgangspunkt für die Wahl von produktiven und kreativen Unterrichtsmethoden dar (vgl. ebd., 74). Produktive Verfahren sollen die Lerner dazu anregen, mittels ihrer Imaginationskraft Bezüge herzustellen, Leerstellen zu füllen und anklingende Symbole und Metaphern zu deuten. Auf diese Weise nähern sich die Lernenden dem Text sowohl kognitiv als auch emotional und gehen mit Widersprüchen und Verständnis- schwierigkeiten selbsttätig um.

Kurzspielfilme haben, wie bereits angedeutet, eine andere Art der Plotstruktur als Langspielfilme, sie sind konzentriert und prägnant: „Ein Kurzfilm kann sich auf den Konflikt in einem einzigen Geschehen konzentrieren und ihn sehr wirkungsvoll entwickeln, während ein [langer, Anm. A.P.] Spielfilm sich auf eine ganze Reihe von Konflikten stützen muss, die im Allgemeinen weniger tief gehend behandelt werden“ (Cowgill 2004, 10f.). Dieser Teil des Handlungsgerüsts wird auch „Veränderung“ genannt. Die Veränderung einer Geschichte kann, so Heinrich, verschiedene Formen annehmen, etwa die einer Konfrontation oder eines Konflikts, sie kann „sich als Komplikation einer bestimmten Absicht in den Weg stellen oder sie kann als plötzlicher Einbruch von etwas Unerwartetem einen Charakter in eine neue Situation versetzen, mit der er fertig werden muss“ (1998, 69). Dem Kompositionsprinzip folgend sind die Plots und Verwicklungen in Kurzspielfilmen recht überschaubar. Nach Cowgill konzentrieren sie sich auf einen Hauptkonflikt, „manchmal nur auf ein einziges Ereignis, das von seinem Beginn bis zum Höhepunkt entwickelt wird" (2004, 19). Die Veränderung im Kurzfilm muss aufgrund der geringeren Erzählzeit „prägnant, deutlich und schnell zu identifizieren sein“ (ebd., 71). Ebenso weisen Kurzspielfilme, aufgrund der äußeren und inneren Kürze, meist nur einen Erzählstrang auf, der im Unterricht behandelt und nachvollzogen werden kann, ohne dass sich Schwierigkeiten der Auslassung von Nebenhandlungen ergeben. Trotz dieser Besonderheit sollte der Gattung Kurzfilm nicht generell unterstellt werden, sie sei literarisch anspruchslos, denn: „Es gibt Tiefen genug, sie klaffen zwischen den Bildern“ (Schönleber 2005, 15).

Kurzgeschichten haben meist einen „zielstrebige[n] Anfang und ein[en] sinndeutende[n] Schluss“ (Wenzel 2000, 369). Im Regelfall beginnen sie in medias res: „Für Anfang und Schluss der Kurzgeschichte gilt die Unabgeschlossenheit als gattungsspezifisches Strukturmerkmal. Das bedeutet: Schon vor dem ersten Satz (oder vor dem Titel) hat das Geschehen längst begonnen, ist zu Beginn der Geschichte bereits in vollem Gang (...)“ (Marx 2005, 64). Analog dazu setzt die Handlung in Kurzspielfilmen relativ unvermittelt ein, detaillierte Beschreibungen und eine ausführliche Exposition sind den Langspielfilmen vorenthalten (vgl. Heinrich 1998, 65).

Aus fachdidaktischer Perspektive ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die Schülerinnen und Schüler an dieses Charakteristikum des Kurzspielfilms heranzuführen. Anfang und Schluss sind bei diesem darauf ausgelegt, die Vorstellungskraft der Filmrezipienten anzuregen. Denkbar wäre, nach Günter Waldmann, die Lerner literarische Differenzerfahrungen sammeln zu lassen, indem sie den filmischen Text im kreativen Schreiben oder Gestalten umformen. Die verkürzte oder sogar fehlende Exposition könnte zu einem Romananfang umgeschrieben und anhand dessen die spezifische Wirkung des Kurzfilmanfangs erläutert werden. Weiterhin bieten sich filmanalytische Herangehensweisen an, die etwa mittels eines Einstellungsprotokolls vorbereitet werden können. In jedem Fall muss deutlich werden, dass es in der Literatur neben den wohlbekannten Formeln wie „Es war einmal…“ zahlreiche weitere Möglichkeiten gibt, Anfänge zu gestalten. Auch diese Einsicht gehört m. E. zum Bereich der Narrativen Kompetenz (s. Kap. 3.2.2).

Ebenso offen und vieldeutig ist der Schluss von Kurzgeschichten: „Am Schluss dauert die Spannung des Geschehens bis über den letzten Satz hinaus fort, lässt den Leser emotionell bzw. gedanklich nicht los, spannt ihn zur Mitarbeit ein, weil keine Lösung geboten wird“ (Marx 2005, 65). Die Kurzgeschichte kann trotz einer Schlusspointe durchaus thematisch offen bleiben, so Marx, denn sie beleuchtet das Geschehen „schlaglichtartig", vermittelt eine Tiefenperspektive über den einzelnen Vorfall hinaus und kann aufklärend, mahnend, fragend oder witzig sein (ebd.). Auch bei Kurzspielfilmen „besteht die Auflösung am Ende oft aus einem Überraschungseffekt, der der Geschichte eine Wendung zu einer völlig neuen Richtung gibt“ (Heinrich 1998, 68). Friese und Gaida erläutern diesen Aspekt am Beispiel von nonverbalen Kurzspielfilmen:

Die Auflösung der Spannung erfolgt meistens durch eine Pointe. Dieser überraschende Schlusseffekt, der in der Regel unkommentiert und unbewertet stehen gelassen wird, wirkt oft sehr provokant. Die Zuschauer(innen) werden mit einer unvorhergesehenen Wendung konfrontiert und dann allein gelassen. Die Pointe „stört“ die Erwartungshaltung, mit der die Rezeption gesteuert wird - sie wirkt verunsichernd. (2003, 12)

Diese Polyvalenz und Unsicherheit mag für viele Schülerinnen und Schüler im ersten Moment frustrierend sein. Gattungsunerfahrene Leserinnen bzw. Leser oder Zuschauerinnen bzw. Zuschauer erwarten vielleicht aufgrund ihrer Erfahrungen mit traditionell geschlossenen Genres des Langspielfilms ein Happy End oder eine eindeutige Katastrophe. Etwaige Irritationen müssen von der Lehrperson aufgegriffen und diskutiert werden. Gerade die Affinität des Kurzspielfilms zu ambivalenten menschlichen Grunderfahrungen, die nicht einfach aufgelöst werden können, ist hilfreich für die oft im Zusammenhang mit der Medienkompetenz geforderte Anschlusskommunikation. Kurzspielfilme können thematische Einstiege in Unterrichtssequenzen leisten und deutlich werden lassen, dass es im Leben selten Pauschal- und Patentlösungen gibt.

2.2.2 Erzählperspektive

Bei der Betrachtung der Erzählperspektive ergeben sich signifikante Unterschiede zwischen Kurzgeschichten und Kurzspielfilmen. Die Perspektive einer Kurzgeschichte lässt sich in der Praxis noch relativ leicht bestimmen, da Kurzgeschichtenautoren dazu tendieren, auf multiperspektivische Erzählsituationen zu verzichten (Wenzel 2000, 369).7 Typisch für Kurzgeschichten ist eine „partnerschaftliche Erzählweise“: Der Erzähler ist meist ein personaler oder auch neutraler und vermittelt eine begrenzte Perspektive, die ihn dem Leser näher bringt (Marx 2005, 71f.). Daneben gibt es den „reduzierten“ auktorialen Erzähler, der, „etwa in ironischem Spiel mit dem Leser, seine eigene Unsicherheit offenkundig macht oder mithilfe der Verfremdungstechnik als ‚unzuverlässiger Erzähler‘ gezeigt wird (…)“ (ebd.).

Die Frage nach der Erzählperspektive oder dem Point of View im Film stellt nicht nur Lehrkräfte und Lernende vor große Herausforderungen. In der Forschungsliteratur finden sich zu diesem Thema viele verschiedene Ansätze, die hier nur kurz angedeutet werden sollen. In manchen Publikationen zur Filmsprache und -analyse übernehmen die Autoren Termini und Typologien der Narratologie unverändert (Bienk 2008, 17ff.). Andere Theoretiker verzichten wiederum auf literaturtheoretischen Anleihen (Faulstich 2002) oder reflektieren diese kritisch (Hickethier 2007).8 Viele Filmexperten stehen darüber hinaus der einfachen Gleichsetzung von Erzähler und Kamera skeptisch gegenüber (Scheffel 2009, 20f.).

Der mitunter im Film ständig wechselnde Point of View ist eine narrative Eigenheit des Mediums und kann mit Mitteln der Filmanalyse festgehalten oder von den Schülerinnen und Schülern selbst filmisch erarbeitet werden. Der Kurzspielfilm ist hier häufig komplexer als der Langspielfilm: „Aufgrund der Kürze können die Verwicklungen der Erzählebenen intensiver sein, da sie vom Zuschauer nicht so lange verfolgt werden müssen, wie im Langspielfilm“ (Heinrich 1998, 75). Dies muss bei der Filmauswahl bedacht werden. Unerfahrenen Lernern würde man sicherlich keinen narrativ vielschichtigen Kurzfilm präsentieren - auch in dieser Hinsicht muss sich eine Progression der Filmkompetenz vollziehen. Für filmkompetente Zuschauerinnen und Zuschauer kann diese Verschachtelung hingegen einen besonderen Reiz ausmachen. Generell bleibt die Bestimmung der Erzählperspektiven im Film ein anspruchsvolles Unterfangen. Die didaktische Aufbereitung dieser Dimension bleibt, zumindest vorläufig, ein Forschungsdesiderat.

2.2.3 Charaktere und Charakterisierung

In Kurzgeschichten, wie auch in Kurzspielfilmen, tritt eine begrenzte Anzahl an Hauptfiguren auf (Wenzel 2000, 369; Marx 2005, 60). Die Zahl der Nebencharaktere ist ebenfalls beschränkt, um den Fokus auf die Kernhandlung und den Protagonisten nicht zu verlieren (Heinrich 1998, 77). Bei der Kurzgeschichte meinen die Forscher entweder eine Tendenz zur Darstellung eines Durchschnittsmenschen oder eines Außenseiters auszumachen (ebd., 61). Idealisierte Charaktere kommen in Kurzgeschichten und -spielfilmen selten vor, da ihnen die menschliche Tiefe fehlt: Das Publikum würde sie als eindimensionale, stereotype Wesen wahrnehmen.

Cowgill behauptet, dass die Darstellung eines sympathischen Protagonisten für einen „Spielfilm“ unverzichtbar sei, während Kurzfilme v. a. interessant seien, weil sie mitunter unsympathische, aber faszinierende Helden zeigten (vgl. 2004, 11). Abgesehen davon, dass Cowgills Gebrauch der Gattungstermini ungenau ist - auch ein Kurzspielfilm gehört zur Gattung der Spielfilme, während der Begriff „Kurzfilm“ auch nicht-fiktionale Genres umfassen kann - übersieht sie, dass Blockbuster, vor allem Thriller wie American Psycho (2000), sehr wohl höchst unsympathische Protagonisten aufweisen können.

Charaktere in Kurzgeschichten müssen aufgrund der geringen Erzählzeit typisiert werden, d. h. sie werden „meistens mit einem charakteristischen Wesenszug, einer besonderen Eigenart in Aussehen oder Verhalten ausgestattet“ (vgl. Wenzel 2000, 369; Marx 2005, 61f.). Kathrin Heinrich postuliert, dass es auch in Kurzspielfilmen „so gut wie unmöglich [ist], die Charaktere mit der gleichen Ausführlichkeit zu präsentieren wie in Langspielfilmen, aber entsprechend dazu ist es aufgrund der unterschiedlich gewählten und betonten Themen auch nicht nötig" (Heinrich 1998, 88). Heinrich zufolge bietet dieses Minus an Charakterisierung, die jedoch bereits durch die Kostümierung und das Casting der Figur beeinflusst wird, den Zuschauerinnen und Zuschauern ein „extrem hohes Identifikationspotential“ (Heinrich 1998, 87). Auch in der Kurzgeschichte findet die Figurencharakterisierung auf mehreren Ebenen (Aussehen, Sprache und Wortwahl der Figur, Mimik, Gestik, Name usw.) statt, ist jedoch immer verbal vermittelt (Marx 2005, 61f.). An dieser Stelle wäre es interessant, auf Adaptionen von Kurzgeschichten zurückzugreifen, um die unterschiedlichen Techniken der Informationsvergabe zu analysieren. Friese und Gaida sehen in der reduzierten Charakterisierung didaktische Vorteile: „Dieses Holzschnittartige des Kurzfilms lässt aber einen großen Spielraum an Deutungsmöglichkeiten zu (…)“ (2003, 13). Es gibt allerdings auch kritische Töne zur Typisierung der Figuren in den filmischen Kurzformen:

Viele Figuren in Kurzfilmen gleichen eher zweidimensionalen Comic-Bildern: ein paar grobe Züge, gerade ausreichend für ein paar Minuten Drehbuch, aber ohne Tiefe und Lebensfülle. (…) Was im vorherrschenden Kurzfilmmodell fehlt, ist überhaupt der Gedanke, dass mehr in der Figur stecken könnte, als man von ihr weiß, dass sie teilweise geheimnisvoll bleibt und dass ihr Leben womöglich mehr umfasst als die kurze Existenz im Drehbuch. (Bergala 2006, 124)

Ein generelles filmkritisches Urteil soll an dieser Stelle nicht abgegeben werden. Die Entscheidung, ob die Figuren eines Kurzspielfilms als interessant und mehrdimensional oder, im ungünstigsten Fall, als klischeehaft und schematisch wahrgenommen werden, hängt immer vom Geschmack, den Erfahrungen und Erwartungen der Betrachterinnen und Betrachter ab.

Selten findet in Kurzgeschichten eine „glaubwürdige, tief greifende Entwicklung eines Charakters oder des Protagonisten statt“: Die Charaktere werden „höchstens enthüllt" und nicht entwickelt (Marx 2005, 62). Parallel dazu formulierte Heinrich für den Kurzspielfilm: „(…) die Veränderung eines Charakters muß begründet, plausibel und nachvollziehbar sein, weshalb sie ein hohes Maß an Ausführlichkeit verlangt“ (Heinrich, 1998, 92). Solche Entwicklungen sind im Kurzspielfilm „eher auf einen einzelnen Aspekt der Persönlichkeit eines Charakters zu reduzieren“ und häufig nur den Protagonisten vorbehalten, da diese durch die Erzählperspektive privilegiert sind (ebd.). Aus diesem Grund eignen sich narrative Langformen eher für die Bearbeitung der komplexen Veränderung eines Charakters als die kurzen Formen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es prinzipiell möglich ist, relativ klare Aussagen über die Charaktere von Kurzspielfilmen zu treffen. Ihre begrenzte Anzahl kann ein Vorteil für die Filmarbeit in unteren Klassenstufen sein, wenn man Schülerinnen und Schüler nicht sogleich mit einem komplizierten Beziehungsgeflecht konfrontieren möchte. Über den literarischen Wert dieses Sachverhalts gibt es jedoch divergierende Ansichten.

2.3 Produktionskontext und Ästhetik

Kurzspielfilme entstehen häufig an Filmhochschulen und bieten den Regisseurinnen und Regisseuren die Möglichkeit, zu experimentieren (vgl. Quy 2007, 10). Die Produktion von Kurzspielfilmen ist zumeist mit deutlich geringerem organisatorischen und finanziellen Aufwand bewerkstelligen, als es bei Langspielfilmen der Fall ist. Diese „[ö]konomische Unabhängigkeit schafft Spielraum für Experimente und Innovationen. Das ist die Stärke des Kurzfilms“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 5). Häufig sind Kurzfilme auch Teil des Portfolios einer Nachwuchsregisseurin oder eines -regisseurs, weshalb Alain Bergala sie etwas despektierlich „Visitenkartenfilme" nennt - sie sollen den Regisseuren die Türen zu größeren Produktionen öffnen (Bergala 2006, 122f.).9 In der Tat begannen viele berühmte Regisseure wie Steven Spielberg, Martin Scorsese oder George Lucas ihre Filmkarrieren mit der Regie und Produktion von Kurzfilmen.

In der 2006 von der AG Kurzfilm, dem Bundesverband für den deutschen Kurzfilm, herausgegebenen Studie mit dem Titel „Kurzfilm in Deutschland - Studie zur Situation des kurzen Films“ wird die Vielfalt der heutigen Kurzfilmproduktion deutlich: „Hergestellt wird er [der Kurzfilm, Anm. A.P.] individuell, kollektiv oder im Team auf privaten Desktops zu Hause oder in Filmschulen, aber auch in Hightech-Produktionsstudios und in Künstlerateliers“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 6). Da es keine klare Gattungsdefinition gibt, können auch privat erstellte und auf Internetplattformen präsentierte Filme als Kurzfilme gelten. Eine weitere Sparte stellen die mit hohem Aufwand produzierten Werbe- und Musikclips dar. Aus diesem Grund ist es schwierig und vielleicht auch wenig erstrebenswert, allgemeingültige Aussagen über die Ästhetik des Kurzfilms oder des Kurzspielfilms zu treffen: „The best short films are crystalline creations of precise, prismatic intensity. The worst are desperately compressed in their banality and lack“ (Evans 2002, xi).

Die Forschungsbeiträge vereint der Konsens, dass Kurzspielfilme häufig alternativ und experimentell sind: „Away from the constraints of industrial production, high finance and the need to tailor films to the expectations of audiences, those who make short films are more likely to retain creative control".10 Während sich also Regisseurinnen und Regisseure von Langspielfilmen mit den Konventionen der einzelnen Genres auseinandersetzen müssen, sind Kurzfilmmacher in der Wahl und Gestaltung ihrer Themen, Charaktere und Plots sehr frei:

Im „großen Kino“ haben sich sowohl technische und inhaltliche Standards als auch filmsprachliche Konventionen durchgesetzt, die mit jeder Verfeinerung und tieferen Verankerung in der Bildkultur gleichzeitig auch eine Reduktion des filmischen Ausdrucks und eine kulturelle Vereinfachung bedeuten. (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 5)11

Manche Anhänger des kurzen Films bezeichnen ihn daher als das „Pionierformat“ und sehen ihn als integralen Bestandteil der Filmlandschaft an: „Der Kurzfilm lebt also abseits des normierten Mainstream-Kinos und ist dabei eine Art Hoffnungsträger für all die Versprechen des frühen Kinos bezüglich ästhetischer Komplexität und inhaltlicher Vielfalt geworden.“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 5f.).

Interessant ist hierbei, dass es ähnliche Beobachtungen zur freien Ästhetik der Kurzgeschichte gibt: „Dank ihrer großen formalen und inhaltlichen Flexibilität kann die Kurzgeschichte sowohl geschlossen (z. B. durch eine Pointe) als auch offen, sowohl realistisch als auch symbolisch, gleichnishaft (wie die Parabel) oder phantastisch sein und sich für die verschiedensten Experimente öffnen" (Wenzel 2000, 369). Viele Kurzfilme und -geschichten hinterfragen gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen, widersetzen sich dem sofortigen Verständnis, eröffnen ihren Zuschauerinnen und Zuschauern ungewohnte Blickwinkel oder regen sie mittels einer bittersüßen Pointe zum Nachdenken an. Dieses Merkmal ist besonders wertvoll für den Unterricht, da Klischees, Stereotype oder einseitige Weltbilder hinterfragt werden sollten.

Anscheinend geben epische Kurzformen ihren Produzentinnen und Produzenten sui generis die Freiheit, mit neuen, unkonventionellen Ausdrucksformen zu experimentieren.12 Wolf spricht vom Kurzfilm als „Impulsgeber" der Filmkultur: Variationen und Überraschungsmomente sind Eigenheiten der Gattung. (vgl. Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 5). Diese ästhetischen und technischen Innovationen können durchaus Eingang in die Langformen finden: „So ist zum Beispiel die Digitalisierung des Kinos ohne den Kurzfilm nicht denkbar“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 6).

Die bereits erwähnten narrativen Besonderheiten der Gattung Kurzspielfilm haben Auswirkungen auf die Ästhetik desselben: Schönleber vergleicht die Filmsprache des Kurzfilms mit der reduzierten Sprache der Kurzgeschichte (2005, 69). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass Tiefenstrukturen und Leerstellen nicht nur in gedruckten literarischen Texten, sondern auch in Spielfilmen vorkommen (ebd.). Die filmische Kurzform regt die Zuschauerinnen und Zuschauer zur inneren Beteiligung an:

The principle of magnification reveals flaws and gems. Trace and testimony, all films serve as a witness statement, all cinemas become the incident room of the investigation. The shorter the evidence the more imagination plays detective, the more any problems frustrate resolution. The greater the yearning for the (literally) cursory epiphanies short films can offer (Evans 2002, xi).

Diese emotionale Komponente ist aus fachdidaktischer Perspektive zentral: Leerstellen und die Polyvalenz eines literarischen Textes sind kein Manko, sondern sie „bilden den zentralen Ansatzpunkt für seine Wirkung“ (Iser 1994, 235). In der Rezeptionsästhetik geht man davon aus, dass jede Lektüre „zu einer individuellen Aktualisierung des Textes [wird], indem der Spielraum schwach determinierter Beziehungsmöglichkeiten differenzierte Sinngestalten herzustellen erlaubt“ (ebd., 259). Demnach ist die Textlektüre im Literaturunterricht kein einfaches „Sinnentnehmen“, sondern ein höchst individueller Prozess: Die Einstellungen, das Vor- und Weltwissen sowie Erfahrungen und Erwartungen der Schülerinnen und Schüler spielen eine zentrale Rolle (vgl. ebd., 265). Die offenkundigen Parallelen zwischen der Textlektüre und der individuellen Filmrezeption erlauben es Lehrenden, Kurzspielfilme zu Medien der Literarischen und Ästhetischen Bildung zu machen (s. Kap. 3.1.2).

2.4 Zugänge und Stellenwert - die „unsichtbare Gattung“

Elsey und Kelly nennen den Kurzfilm „die unsichtbare Gattung“, obwohl dieser mit der Geschichte des Kinos untrennbar verwoben ist. Am Anfang waren, vor allem aus technischen Gründen, alle Filme kurz (2002, 2). Katrin Heinrich bedauert, dass dieser Umstand in Büchern zur Filmgeschichte „in der Regel lediglich als Einstieg in die Geschichte des langen Films genutzt“ werde (1998, 3f.). Die Gattung des Langspielfilms ist nicht nur im deutschen Kulturraum deutlich dominanter als die der kurzen Formen.

Das Wort „unsichtbar“ trifft in gleichem Maße auf den Zugang zu künstlerisch und literarisch interessanten Kurzspielfilmen zu. Die Möglichkeit, Kurzfilme anzusehen ist einerseits sehr vielfältig: Viele Webportale bieten ihren Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, selbst Gefilmtes online zu stellen oder auszutauschen, doch bis auf wenige Ausnahmen gestaltet sich die Suche nach professioneller gestalteten Kurzfilmen schwierig. Und das, obwohl sich mit rund 2.000 neuen Kurzfilmen pro Jahr in Deutschland das Produktionsvolumen derselben in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt hat (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 9).

Vor allem dem Fernsehen, das audiovisuelle Leitmedium schlechthin nicht nur für Jugendliche, unterstellen Kurzfilmliebhaber, dass es die Formenvielfalt der Filmkunst ignoriert: „Der Kurzfilm wird im Fernsehen als ein Produkt für ein Nischenpublikum verstanden und zum Teil recht lieblos auf nächtlichen Sendeplätzen ‚versendet‘“ (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 1). Kurzspielfilme finden nur selten den Weg in das herkömmliche Abendprogramm, was dazu führt, dass der durchschnittliche Zuschauer selten bis nie in Kontakt mit dieser Gattung kommt. Die erwähnte Kurzfilm-Studie fördert zutage, dass sowohl die öffentlich-rechtlichen, als auch die privaten Hauptsender Kurzfilme nie im Programm haben (ebd., 59). Die einzigen frei zugänglichen Sender, die Kurzfilme ausstrahlen, sind 3sat, ARTE und wenige Sender der ARD. Der Fernsehsender ARTE sendet nicht nur viele Kurzfilme auch von unbekannten Regisseurinnen und Regisseuren -, sondern bietet Interessierten die Möglichkeit, sich mittels des TV-Magazins „kurzschluss" über aktuelle Filme zu informieren.13 Ein weiterer wichtiger Zugangsort sind Kurzfilmfestivals. Diese sind Diskussionsforum, Marktplatz und Plattform der heterogenen Kurzfilmszene zugleich (Jahn/Kaminski/Wolf 2006, 70). Sie tragen nach und nach zu einer erhöhten Sichtbarkeit der kurzen Filmkunst bei. Jährlich finden in Deutschland etwa 90 solcher Filmtage statt, die allerdings in ihrer Ausrichtung ebenso heterogen sind, wie die Kurzfilmszene selbst (vgl. ebd., 88).

Nicht nur Festivals, sondern auch das Internet macht es heutzutage sehr einfach, mit Kurzfilmregisseurinnen und -regisseuren in Kontakt zu treten.14 Es ist durchaus denkbar, die Regisseurinnen und Regisseuren in die Schule einzuladen, Rezeptionsgespräche mit ihnen zu führen oder eigene produktive Arbeiten mit ihnen zu besprechen. Diese Unmittelbarkeit kann sehr anregend und motivierend auf die Schülerinnen und Schüler wirken.

In der Fachdidaktik wird der Kurzspielfilm langsam zu einer „sichtbaren“ Gattung. Diese Entwicklung ist zum einen darauf zurückzuführen, dass Aspekte der Medien- und Filmdidaktik in den letzten Jahren eingehender diskutiert wurden. Zum anderen stellen die engen curricularen und zeitlichen Vorgaben die Lehrerinnen und Lehrer vor das Problem der angemessenen Materialauswahl. Bei Langspielfilmen stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Schülerinnen und Schüler sie als Ganzes, im Block, Intervall- oder Sandwich-Verfahren kennen lernen sollen (vgl. Burger 1995, 595ff.). Der Einsatz von isolierten Sequenzen aus Langspielfilmen ist häufig problematisch und Lehrende sollten die „Schwere des didaktisch reduzierenden Eingriffs in das Werk“ nicht verkennen (Abraham 2009, 62). Hingegen erlaubt es die äußere Kürze der Kurzspielfilme, diese ein- oder sogar mehrmals in einer Unterrichtsstunde anzuschauen. Kurze Ausgangstexte dürften für die Lerner somit präsenter und überschaubarer sein.

2.5 Zwischenfazit

Auf den vorangegangenen Seiten wurden die wichtigsten Aspekte der Gattung Kurzfilm bzw. Kurzspielfilm angerissen. Dies ist für die weitere Auseinandersetzung mit den Zielen und Perspektiven der Filmdidaktik notwendig und soll späterhin als theoretische Grundlage für meine eigenen Unterrichtsvorschläge dienen. Aufgrund der im vorangegangenem Kapitel zusammengetragenen Charakteristika sind Kurzspielfilme, Rudolf Denk merkte dies bereits im Jahr 1977 an, „besonders prädestinierte didaktische Zeichenvermittler, an denen die Schüler die Einzelelemente der ‚filmischen Sprache‘ erarbeiten können“ (110).

Es ist festzuhalten, dass „[s]o wie sich die Kurzgeschichte in der Literatur als eigenständige, kunstvolle Form der Narration entwickelt hat, (…) sich auch der Kurzspielfilm vom Langspielfilm gelöst [hat]“ Heinrich 1998, 153). In diesem Sinne gilt der Kurzspielfilm mittlerweile als eigenständige Kunstform, die es in der Schule zu erkunden gilt. Es soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass Kurzspielfilme nun ihrerseits die lange Form verdrängen sollen, auch wenn einige Kurzfilmfreunde dies sicherlich gutheißen würden:

Wichtiger als die Beschreibung einer barocken Wirklichkeit oder von Seelengotik, wichtiger auch als die Anbiederung in anekdotischen Applikationen sind die Fixierungen der geistigen und gesellschaftlichen Bedingungen einer Epoche; sie lassen sich gleichermaßen in der Short Story wie im Kurz-Spielfilm an Einzelerscheinungen, an einem Konflikt oder psychologischen Portraits auf eine prägnante knappe Formel bringen, ohne ambitionierte literarisierende Umschweife. (Hoffmann 1981, 56)

Bemerkungen wie die von Hilmar Hoffmann verkennen ihrerseits die kulturelle Bedeutsamkeit und den Unterhaltungswert der Langspielfilme. Auch wenn filmische Kurzformen im schulischen Kontext leichter handhabbar sind, sich besser in den 45-Minuten-Takt des Unterrichts einfügen lassen, so spielen sie vermutlich im Alltag der Schülerinnen und Schüler nur eine marginale Rolle. Wahrscheinlich sammeln die meisten Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule - in Kinos oder vor dem heimischen Fernseher - die meisten Erfahrungen mit Langspielfilmen. Im Unterricht sollten die narrativen Langformen daher gleichberechtigt neben den kurzen stehen. Es gilt immer wieder von Neuem abzuwägen, wann die Beschäftigung mit einem Lang- und wann die mit einem Kurzspielfilm pädagogisch sinnvoller ist.

3. Ziele und Perspektiven der Filmdidaktik

„Deutschunterricht in einer Medienkultur muß integrativer Deutschunterricht sein. Er muß das sein, weil sein traditioneller Gegenstandsbereich - das Buch bzw. die Buchkultur - nur noch bedingt isoliert betrachtet werden kann.“ (Wermke 1996, 46)

Einem Mitglied unserer Gesellschaft ist es beinahe unmöglich, einen Tag zu verbringen, ohne sich eines Mediums zu bedienen.1 Die Schlagworte „Medienkindheit“ und „Mediensozialisation“ verweisen darauf, dass der Umgang mit medialen Angeboten mittlerweile bereits in frühen Phasen der menschlichen Entwicklung einsetzt (Wermke 1997, 54; Barsch 2006, 57). Die Schule, so die Meinung vieler Medienpädagoginnen und -pädagogen, müsse dazu beitragen, Schülerinnen und Schüler zu einem reflektierten Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien zu erziehen.2 Inzwischen gibt es konkrete Vorschläge zur Überschreitung der engen Grenzen der Einzelfächer und Verbindung unterschiedlicher Fachdidaktiken (Fuchs/Klant/Pfeiffer et al. 2008, 84; Klant/Spielmann 2008). Gerade für den Bereich der Filmbildung bietet sich eine fächerübergreifende Arbeitsweise an, da filmische Texte sich mehrerer Künste und Techniken bedienen (ebd.).

Das „Freiburger Filmcurriculum“, das aus dem Projekt „Integrative Filmdidaktik“ hervorging, versucht, die Didaktiken der Fächer Deutsch, Musik und Kunst aufeinander abzustimmen.3 Das Spiralcurriculum der Freiburger Arbeitsgruppe enthält einzelne Kompetenzen, Unterrichtsinhalte und Verfahren für die Filmbildung in allen Klassenstufen (Fuchs/Klant/Pfeiffer et al. 2008, 84). Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die im Curriculum angeführten Kompetenzen eher konkrete Lernziele darstellen und der Bezugsrahmen des Konzepts nicht expliziert wird.

Bevor verschiedene Unterrichtsverfahren und konkrete Vorschläge für die Arbeit mit Kurzspielfilmen präsentiert werden, sollen daher die wichtigsten Forderungen und Perspektiven der Filmdidaktik umrissen bzw. Vorschläge zu einer Erweiterung um genuin literaturdidaktische Ansätze unterbreitet werden. Filmdidaktik müsse, das betonen viele Forscher, im Kontext einer allgemeinen Medien- erziehung verstanden werden. Ein zentrales Anliegen der Mediendidaktik ist die Entwicklung eines tragfähigen Konzeptes einer integrativen und umfassenden Medienkompetenz. Jutta Wermke und Norbert Groeben haben Vorschläge für eine Unterscheidung verschiedener Teilkompetenzen entwickelt, die nachfolgend vorgestellt und miteinander verglichen werden sollen.

Des Weiteren soll geprüft werden, inwiefern einzelne Ziele der Filmdidaktik mit denen der Mediendidaktik übereinstimmen und um welche Dimensionen das Konzept der Spielfilmkompetenz gegebenenfalls erweitert werden müsste.

Matthias Schönleber kritisiert, dass die Filmdidaktik ihren Gegenstandsbereich bei aller Euphorie allzu „sorglos-optimistisch" ausweite, denn „[d]ie unterschiedlichen Beiträge verbindet (…) keine gemeinsame filmdidaktische Zielrichtung" (2005, 62). Die heterogenen Ansätze in der Medien- und Filmdidaktik spiegeln die Grundsatzdiskussionen des Literaturunterrichts wider: Die Frage, ob die Behandlung von Literatur im Unterricht v. a. unter dem Gesichtspunkt des kritischen Lesens oder der kreativen Aneignung stattfinden soll, stellt sich sowohl bei der Arbeit mit gedruckten als auch mit audiovisuellen literarischen Texten. Im letzten Teil dieses Kapitels beschäftige ich mich daher mit Aufgaben und Bereichen des Literaturunterrichts, die m. E. bei filmdidaktischen Überlegungen berücksichtigt werden sollten.

3.1 Mediendidaktische Schwerpunkte

Die Dimensionen der Medienkompetenz können eine Orientierungsfunktion für weite Bereiche der Filmdidaktik übernehmen. Die Binnendifferenzierung der Spielfilmkompetenz soll vor diesem Hintergrund reflektiert werden. Weiterhin werde ich mich mit der Wahrnehmungsschulung und dem Filmerleben auseinandersetzen, um dem spezifisch Filmischen gerecht zu werden. Hierbei werden Schwierigkeiten der Vereinbarkeit scheinbar gegensätzlicher Aspekte der Medien- und Filmdidaktik thematisiert.

3.1.1 Medienkompetenz

Der Begriff „Medienkompetenz“ ist im (kultur-)politischen, gesellschaftlichen und pädagogisch- didaktischen Diskurs der letzten Jahre allgegenwärtig (Groeben 2002, 11).4 Von einer einheitlichen inhaltlichen Füllung könne, so Achim Barsch, allerdings nach wie vor nicht die Rede sein (2006, 65). Er bedient sich einer Arbeitsdefinition Schorbs, die das Konzept der Medienkompetenz in einem Satz zusammenführt:

Medienkompetenz ist die Fähigkeit auf der Basis strukturierten zusammenschauenden Wissens und einer ethisch fundierten Bewertung der medialen Erscheinungsformen und Inhalte, sich Medien anzueignen, mit ihnen kritisch, genussvoll und reflexiv umzugehen und sie nach eigenen inhaltlichen und ästhetischen Vorstellungen, in sozialer Verantwortung sowie in kreativem und kollektivem Handeln zu gestalten. (2005, 262)

In dieser Definition klingt an, dass die Medienkompetenz ein mehrdimensionales und komplexes Konstrukt ist. Die impliziten Perspektiven und Teildimensionen dieses Konzeptes werden nun untersucht, da sie einen Ausgangspunkt für die sinnvolle und zielgerichtete Einbindung von Kurzspielfilmen in den Unterrichtskontext darstellen.

Eine richtungsweisende Publikation ist Jutta Wermkes im Jahr 1997 erschienene Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht - Schwerpunkt: Deutsch. Ihr Konzept der „erweiterten Medienkompetenz“ entspricht der Idee der integrativen Medienerziehung, die „die Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten [der Lerner, Anm. A.P.] im größeren Zusammenhang kultureller, technischer, persönlicher Entwicklungen definiert“ (Wermke 1997, 133). Die Komplexität des Konstrukts der Medienkompetenz, bei dem die individuellen Voraussetzungen der Medien- nutzerinnen und -nutzer in den Vordergrund rücken, wird bereits bei Wermke ersichtlich.

Jutta Wermke unterscheidet vier Teilkompetenzen bzw. „Zieldimensionen im Handlungsfeld Schule“ (1997, 135f.): allgemeine Medienkompetenz, transmediale Kompetenz, intermediale Kompetenz und kreative Kompetenz. Diese Klassifikation ist zwar begrifflich und inhaltlich noch recht unscharf und nicht weitergehend operationalisiert, enthält jedoch die wichtige Einsicht, dass die Entwicklung der Medienkompetenz verschiedene Dimensionen und Lernziele umfasst. Neben den häufig betonten kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler (z. B. Analyse und Kritik, Aufbau deklarativen Wissens) müssen auch affektive (z. B. Distanz und Genuss) und pragmatische (Mediennutzung und - gestaltung) einbezogen werden, um eine einseitige Ausrichtung des Unterrichts zu verhindern (vgl. ebd., 135f.).

Wermke bemängelt, dass der Kompetenzbegriff meist mit einer Vernachlässigung von Kreativität und Ästhetik einhergehe (1997, 135f.). Daher führt sie den Begriff der „Kreative[n] Kompetenz“ ein und meint damit die Fähigkeit zu einem „expressiven und experimentell-spielerischen kreativen Verhalten“ im Kontext der Mediennutzung (ebd., 142).5

Der Ansatz Wermkes ist wegweisend, weil sie einen besonderen Wert auf die Genussfähigkeit im Umgang mit Medien legt - die Kritikfähigkeit wird allerdings im Gegensatz dazu gesehen. Des Weiteren vertritt Wermke die mittlerweile weitgehend gesicherte Ansicht, dass es neben der dominanten Buchästhetik in der Medien- und Informationsgesellschaft weitere Ästhetiken gibt, die einer Entdeckung und Reflexion bedürfen.

Ein zweiter einflussreicher Ansatz stammt von Norbert Groeben (2002). Sein Kompetenzbegriff nimmt sowohl Aspekte der technologischen Kommunikationsinstrumente und -mittel als auch damit verbundene Auswirkungen auf das Selbst- und Weltbild der Mediennutzerinnen und -nutzer in den Blick (ebd., 160). Groeben stellt dar, dass Medien Sozialisationsinstanzen seien und zur Entwicklung der Identität und Persönlichkeit beitrügen (2002, 11ff.). Diese Erkenntnis Groebens ist für mich von zentraler Bedeutung, da sie die Übertragung von Zielen der literarischen Bildung auf Bereiche der Medien- und Filmdidaktik legitimiert. Deutlich wird somit, dass die Beschäftigung mit printliterarischen und audiovisuellen Medien unter ähnlichen Aspekten erfolgen kann (s. Kap. 3.2). Vielversprechend ist die begründete Binnendifferenzierung der Medienkompetenz bei Norbert Groeben. Dabei integriert er sowohl die von Wermke eingeforderten affektiven und kreativen bzw. produktiven Fähigkeiten der Lerner als auch die in der Didaktik wichtige Idee der Prozessorientierung.

Die erste Teildimension der Medienkompetenz nach Groeben enthält Hinweise zum Medialitätsbewusstsein und Medienwissen der Schülerinnen und Schüler (2002, 166). Diese beiden Komponenten sind zugleich Voraussetzung für einen reflektierten Umgang mit Medien und Ausgangspunkt für den Erwerb weiterer Teilkompetenzen. In den Bereich des Medialitäts- bewusstseins gehört v. a. die kognitive Fähigkeit der Lernenden, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden (RFU-Kompetenz). Mediennutzerinnen und -nutzern sollte bewusst sein, dass „sie sich nicht in ihrer alltäglichen Lebensrealität, sondern eben in einer medialen Konstruktion bewegen“ (ebd., 166). Unter dem Aspekt Medienwissen subsumiert Groeben das Kontextwissen über wirtschaftliche, rechtliche und politische Rahmenbedingungen einzelner Medien sowie über spezifische Arbeitsweisen von Mediengattungen und die potenzielle Wirkung von Medien (ebd.).

Eine zweite Teildimension umfasst das Genrewissen und die Herausbildung entsprechender Erwartungen der Schülerinnen und Schüler (Groeben 2002, 168f.). Diese Herausbildung von medienspezifischen Rezeptionsmustern könne jungen Mediennutzinnen und -nutzern als Orien- tierung dienen, die angesichts der nahezu unüberschaubaren Medienvielfalt notwendig ist (vgl. ebd.). Andererseits sind Gattungen und Genres Hilfskonstruktionen, die im Unterricht hinterfragt werden sollten.

Genuss- und Kritikfähigkeit bei der Medienrezeption - die dritte und vierte Teilkompetenz - schließen einander bei Groeben nicht grundsätzlich aus (2002, 170f.). Er stellt fest und kritisiert, dass die Genussfähigkeit lange Zeit zugunsten der ideologiekritischen Mediennutzung vernachlässigt worden sei (ebd.). Jedoch ist die wünschenswerte Balance zwischen Mediengenuss und -kritik im Unterricht anscheinend nur schwer zu erreichen, da die Kritikfähigkeit eine andere Rezeptions- haltung erfordert als die Genussfähigkeit: Die Mediennutzer sollten hierbei eine „analytisch- distanzierte Verarbeitungshaltung“ einnehmen (ebd., 173). Im Rahmen dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, eine ganzheitliche Betrachtung von Kurzspielfilmen zu ermöglichen, die diese beiden Teildimensionen berücksichtigt und mithilfe produktiver und filmanalytischer Verfahren fördert (s. Kap. 4).

Die fünfte Teilkompetenz reicht weit über den Unterricht hinaus und besteht in der sinnvollen und begründeten Auswahl und Kombination von Medienangeboten (Groeben 2002, 175). Einseitige Nutzungsgewohnheiten werden als problematisch angesehen, da sie die aktive Teilnahme an der Mediengesellschaft beeinträchtigten (ebd., 176). Des Weiteren fordert Groeben die Herausbildung aktiver Partizipationsmuster seitens der Lerner. Diesen schreibt er eine „Funktion für die Identitätsbildung des gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts“ zu (ebd., 177).

Schließlich betont Groeben die Bedeutsamkeit der Fähigkeit zur Anschlusskommunikation, die die sechste Teilkompetenz darstellt. Der kommunikative Austausch ermögliche es erst, dass die Kinder und Jugendlichen die anderen Teilkompetenzen entwickeln können:

Erst über Anschlusskommunikation wird der Durchblick in Bezug auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Alltags- und Fernseh‚wirklichkeit‘ erreicht, werden Strategien zur Verarbeitung und Bewertung von medialen Angeboten in Bezug auf Informationsgehalt, Glaubwürdigkeit, ästhetische Qualität etc. erworben. (2002, 178)

Die Anschlusskommunikation soll verhindern, dass Schülerinnen und Schüler Medienangebote passiv rezipieren oder hinnehmen. Ganz klar kann es nicht das Ansinnen der Bildungsinstitution Schule sein, die Jugendlichen bei der Verarbeitung von z. T. problematischen Inhalten allein zu lassen oder diese schlichtweg zu ignorieren.

Eine genauere empirische Operationalisierung und Validierung dieses Modells steht noch aus (2002, 187). Groeben selbst regt einen Evaluationsprozess an, in dessen Verlauf die Kategorien seines Ansatzes überprüft werden sollen. Interessant wäre, zu überlegen, welche Teildimensionen im Unterricht tatsächlich explizit gefördert und welche bei Schülerinnen und Schülern bereits implizit vorhanden sind (vgl. ebd., 188). Trotz dieser Einwände stellt Groebens Modell eine gute Grundlage für eine zielgeleitete Arbeit mit Medien im schulischen Kontext dar.

Auch Achim Barsch befürwortet das Kompetenzmodell Groebens und spricht sich dezidiert für eine didaktisch fundierte Lernprogression in allen Altersstufen aus (vgl. 2006, 70). Die Kernaufgabe der integrierten Medienerziehung bestehe darin, „Lernumgebungen zu schaffen, in denen das Wissen über Medien vertieft, erweitert und reflektiert wird, sowie sich eine kulturelle, mediale Praxis

[...]


1 Entwicklungsaufgaben sind spezifische Aufgaben, die Menschen in verschiedenen Lebensphasen erfüllen sollen und die mit sozialen und gesellschaftlichen Erwartungen verbunden sind (vgl. Grob/Jaschinski 2003, 29ff.). Auch bei der Arbeit mit Spielfilmen können die Lernenden im Unterricht beispielsweise in ihrer Identitätsfindung, dem Erlangen eines stabilen Wertesystems und in ihrer Empathiefähigkeit bestärkt werden (s. Kap. 3.2).

2 Von besonderem Interesse für die Jugendlichen sind Aspekte der Filminterpretation (79%), der Filmgeschichte (69%), der Filmtechnik (57%) und der filmischen Erzählweise (55%) (Kepser 2008, 40).

3 Im Kerncurriculum heißt es weiter „Aspekte filmischen Erzählens können im Modus des Vergleichens vielfältig aufgenommen werden: unter dem Aspekt der Literaturverfilmung (…); unter thematischen Aspekten (das Fortleben romantischer Liebesvorstellungen im Film); unter ästhetischen Aspekten (subjektive Erzählperspektive und Bewusstseinsdarstellung in moderner Erzählprosa und im Film)“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2009, 13). An dieser Stelle tritt wieder das Primat der Buchmedien in den Vordergrund.

1 Erwähnenswert ist, dass es auch durchaus kurze Dokumentar- und, etwa aus dem Biologie- oder Sachkundeunterricht bekannte, Bildungsfilme gibt, die zwar nicht-fiktional, doch häufig narrativ sind.

2 Eine kurze Begriffsklärung versucht Katrin Heinrich: „Der Kurzspielfilm zeichnet sich vor allem durch seine Verbindung von real wirkendem Schauspiel und einer Handlung aus. Eine vollständige Geschichte wird in Spielhandlung umgesetzt“ (1998, 22f.).

3 Wie auch für den Kurzfilm gilt bei der Gattung Kurzgeschichte, dass die Kürze paradoxerweise das wichtigste Definitionskriterium darstellt, obwohl „keine absoluten Aussagen über den Umfang" sinnvoll erscheinen (Wenzel 2000, 369). Bei der Kurzgeschichte wird meist mit einer Untergrenze von 500 bis 2.000 Wörtern und einer Obergrenze von 15.000 bis 30.000 Wörtern operiert (ebd.).

4 Heinrich schlägt vor, im Zweifel von „mittellangen Filmen“ zu sprechen (1998, 28).

5 Einen Ansatz zur Beachtung der filmischen Fiktionalitätsmerkmale präsentiert Gundula Busley in ihrem Aufsatz „Ist doch nur’n Film! Fiktionssignale in Kurzspielfilmen“ (2003).

6 Heinrich widmet sich der Betrachtung der Narrativik des Kurzspielfilms in ausführlicher Weise (1998, Kap. 4 und 5). Im Folgenden sollen jedoch nur die wichtigsten und für eine Behandlung im Unterricht relevanten Kategorien und Erkenntnisse reflektiert werden.

7 Der Begriff der Erzählperspektive ist auch in der Literaturwissenschaft umstritten. Er wird sehr heterogen verwendet und kann sich „sowohl [auf] die Struktur der erzählerischen Vermittlung (Erzählsituation), den Unterschied zwischen interner und externer Fokalisierung, den Standpunkt einer Figur sowie die räumliche Darstellung des Schauplatzes [beziehen]“ (Surkamp 2008, 566). Im Schulalltag finden komplexe erzähltheoretische Ansätze wie die von Genette oder Martinez/Scheffel kaum Beachtung. Häufig wird im Literaturunterricht lediglich zwischen der auktorialen Erzählperspektive, dem Ich-Erzähler sowie der personalen und neutralen Erzählperspektive unterschieden.

8 Hickethier wendet sich gegen neuere Versuche, die Erzähltheorie Genettes auf den Film zu übertragen mit der Begründung, dass „der Betrachter es im Film immer mit potentiell mehreren Erzählinstanzen (visuellen wie auditiven) zu tun hat, so dass sich die allein auf den sprachlichen Text bezogene differenzierte Begrifflichkeit Genettes schwer anwenden lässt“ (2007, 129).

9 Alain Bergala: „Meiner Meinung nach ist der Kurzfilm nur allzu oft eine hypercodierte Gattung, gerne ‚protzig' und von Neunmalklugen gemacht, deren primäres Anliegen es ist, sich eine Visitenkarte fürs Fernsehen zu verschaffen". So kranken diese „Visitenkartenfilme" häufig an ihrer Egozentrik: „Die Geschichte muss brillant sein, der Schluss überraschend, das Storyboard verschlungen, die Perspektive bizarr, das Licht aufdringlich, die Kamerafahrten virtuos" (Bergala 2006, 123). Bei aller Kritik schließt Bergala allerdings die Existenz gelungener Kurzfilme nicht aus (ebd.).

10 An dieser Stelle sind die kommerziellen Werbefilme ausgenommen.

11 Interessant ist die Frage, was passiert, wenn ein Film nicht den gängigen Vorstellungen und Schemata der Zuschauer entspricht: So verließen viele Horrorfans äußerst missmutig die Kinovorführungen des Films The Village. Das Marketing und der deutsche Trailer hatten im Vorfeld den Eindruck erweckt, es handele sich bei dem Film um einen veritablen Schocker - inklusive Monsterattacken. Dementsprechend besuchten vor allem Anhänger des Gruselkinos die Vorstellungen. Allerdings erwartete die Zuschauer in diesem Fall ein künstlerisch durchaus anspruchsvoller Film ohne erhofftes Gemetzel, dafür mit einem äußerst überraschenden und für viele enttäuschenden, da illusionsbrechenden, Ende.

12 Diese Vermutung wird bestärkt, sieht man sich die historische Entwicklung der Kurzgeschichte, sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschen Kulturraum an. Die literaturrevolutionäre Bewegung der Edwardians in England erprobten innerhalb dieser Gattung Formen des Bewusstseinsstroms und des inneren Monologs. Im Deutschland der Nachkriegszeit stellten Kurzgeschichten die wichtigste Prosagattung der „Trümmerliteratur“ dar.

13 Die Internetpräsenz des Fernsehsenders ARTE enthält viele Hinweise sowohl zum Magazin „kurzschluss“ als auch zu aktuellen Entwicklungen der Kurzfilmszene: http://www.arte.tv/de/film/Kurzschluss/184414.html (Stand: 24.01.2010).

14 Auf diese Weise kann sogleich die schwierige rechtliche Frage des Einsatzes von Kurzspielfilmen im Unterricht geklärt werden. Die von mir kontaktierten Kurzfilmmacher - etwa Damian Harmata oder Marcus Reinhardt - waren bereit, mir sowohl eine Kopie ihres Films zu schicken als auch die Verwendung dieser im Unterricht zu erlauben.

1 Der dieser Arbeit zugrunde gelegte Medienbegriff ist ein weiter, d. h. er umfasst „(alte und neue) Einzelmedien, Medienverbünde und Mediensysteme“ (Barsch 2006, 174).

2 Auf eine Ausdifferenzierung der verschiedenen medienpädagogischen und -diaktischen Ansätze muss aus Platzgründen verzichtet werden. Einen guten Überblick hierzu bietet beispielsweise Barsch (2006, Kap. 4).

3 Wünschenswert wäre eine Ergänzung dieses Filmcurriculums um weitere Didaktiken: In den Fächern Englisch, Sozialkunde und Französisch wird bereits intensiv mit Filmen gearbeitet (Kepser 2008, 40). Dieses Potenzial sollte nicht ungenutzt bleiben.

4 Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Kompetenzbegriff soll im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Ein bekennender Kritiker ist Hans-Dieter Kübler, der Anstoß nimmt an dieser „Lieblingsmetapher der Medienpädagogik“ (1996, 11). Die Genese und Entwicklung der Medienkompetenz wird bei Sutter und Charlton nachgezeichnet (2002).

5 Zu beachten gilt es hierbei, dass der produktive oder kreative Umgang mit Medien „gerade nicht das Ziel, sondern ein Unterrichtsmittel“ ist, der sich nicht verselbstständigen und auf Kosten der Reflexion verabsolutiert werden darf (Wermke 1997, 137).

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Kurzspielfilme im Literaturunterricht
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
110
Katalognummer
V169226
ISBN (eBook)
9783640874903
ISBN (Buch)
9783640874774
Dateigröße
1819 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Filmdidaktik;, Mediendidaktik, Filmanalyse, Kurzfilm, filmerleben, wahrnehmungsschulung, filmkompetenz, medienkompetenz, spielfilmbildung
Arbeit zitieren
Aileen Binner (Autor:in), 2010, Kurzspielfilme im Literaturunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169226

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