Erinnerung an die Judenverfolgung: Identität und Erinnerung in der intendierten Kinder- und Jugendliteratur


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


0. Einleitung

Im Mittelpunkt der vorliegenden Hausarbeit steht die Erinnerung an die Judenverfolgung, sowie die damit verbundenen Problematiken der Identität und Erinnerung. Zunächst wird der Begriff intendierte Kinder und Jugendliteratur näher definiert. Dabei wird auf die Interaktion zwischen der individuellen und kollektiven Erinnerung eingegangen, wobei die subjektive Erinnerung gegenüber der kollektiven im Vordergrund steht. Des Weiteren wird auf strukturtechnische Erzählverfahren verwiesen, die als Hilfsmittel dazu dienen die Erinnerung darzustellen. Im Zusammenhang mit der Erinnerung bildet die Identitätsproblematik einen weiteren Schwerpunkt dieser Arbeit. Als Exempel zur Darstellung der beiden Thematiken, die im Grunde eng miteinander verwoben sind, dient der Roman „Lauf, Junge, Lauf“ von Uri Orlev.

1. Lauf, Junge, lauf: zeitgeschichtliches Kinder und Jugendbuch Erinnerungsliteratur?

Unter zeitgeschichtlich intendierter Kinder und Jugendbuchliteratur verstehen wir Literatur, deren Handlungen sich in dem Zeitraum vom zweiten Weltkrieg abspielen und Zeitgeschichte thematisieren. Dabei werden speziell die Phasen von der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Folgen, die bis zum heutigen Zeitpunkt reichen behandelt. Die intendierten Leser sind Kinder und Jugendliche, was nicht bedeutet, dass es nicht auch für Erwachsene geeignet wäre. „Da kindliche und jugendliche Leser sich meist identifikatorisch mit dem Protagonisten auseinandersetzen, sind die Hauptpersonen dieser Bücher meist selbst Kinder oder Jugendliche mit der Folge, dass die globalen politischen Ereignisse meist nur indirekt angesprochen werden. Die Komplexität des politischen Geschehens wird reduziert“ (Aden-Grossmann 1998, S. 295), da sie sich in der Regel dem kindlichen Horizont, sowohl der Leser als auch der Protagonisten entziehen. Auch in „Lauf, Junge, lauf“ ist der Protagonist noch ein Kind, der seine Kindheitserinnerungen darstellt. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage, ob Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse des Holocausts von Anfang an im Fokus der zeitgeschichtlichen Kinderliteratur stand. In der Periodizität der Kinder und Jugendliteratur spielt in der Anfangszeit die Verdrängung des Holocaust eine wichtige Rolle. Klaus Doderer bringt diese Zeit mit den folgenden Worten zum Ausdruck: „Der Blick der Literaten, die sich der Jugend zuwandten, war rückwärts gerichtet und verklärend. Das Märchenerzählen verhindert das Aussprechen bitterer Wahrheiten“ (Doderer 1998, S. 45). Weitere Gründe für die ablehnende Haltung der Verarbeitung des Themas sind laut Dahrendorf zurückzuführen auf Schuldgefühle und verletzten Stolz. Mit der Diskussion der Hakenkreuzschmierereien auf jüdischen Friedhöfen fühlten sich die Autoren aufgefordert endlich einen Beginn zu machen mit der Verarbeitung der Geschehnisse. Somit nahm in den Sechzigern der Anfang der Aufarbeitung der Naziverbrechen ihren Lauf. Exemplarisch kann dabei das Buch von Hans Peter Richter mit dem Titel: „Damals war es Friedrich“ (1961) genannt werden. Durch politische Bewegungen in den Siebzigern und den Mut die Lösungsansätze Hitlers kritisch zu hinterfragen, entstanden Werke wie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr (1971). Für die Blüte der zeitgeschichtlichen Kinder und Jugendliteratur gaben weitere politische Ereignisse Anstoß. Dabei ist unter Blüte die Erinnerungsarbeit, die von den Autoren geleistet wird zu verstehen. Einer der Beweggründe für die zeitgeschichtliche Kinder und Jugendliteratur war der Einzug rechtsradikaler Abgeordneter in das Parlament 1981. Dies schlug sich in der KJL mit der Thematik des Erinnerns nieder, da viele den Holocaust einfach verleugneten und rechtsradikale Gruppierungen wieder zunahmen. Die Zunahme der Rechtsextremen bildete einen Indikator für die Verlagerung des Schwerpunktes auf die Verarbeitung der Naziverbrechen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es sich laut den bereits erwähnten Kriterien bei dem Roman „Lauf, Junge, lauf“ um intendierte Kinder und Jugendliteratur handelt. Des Weiteren lässt sie sich von der Verdrängungsliteratur abgrenzen und zu der Erinnerungsliteratur zuordnen. Der Zeitrahmen des Erscheinungsjahres des Romanes spricht für die Erinnerungsliteratur, sowie es sich inhaltlich um die Memoiren eines Kindes an die Judenverfolgung handelt. Dabei ist auch zu beachten, dass die subjektive Erinnerung das Kollektiv einlädt sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, beziehungsweise die Identitätsproblematik, dem der Held des Romans ausgesetzt wird zu verstehen und zu rekonstruieren.

Im Folgenden widme ich mich den Fragen, was der Gegenstand der Erinnerung ist und wie diese strukturtechnisch dargestellt wird.

2. Gegenstand der Erinnerung: Kollektives Erinnern gegen individuelles Erinnern?

„Wohl kaum eine historische Situation der deutschen Vergangenheit scheint zur Jahrtausendwende einen bedeutsameren Stellenwert für die bundesrepublikanische Selbstwahrnehmung zu haben, als das dritte Reich und seine Opfer“ (Vgl. Holzmann 1990, S. 65). Wenn man von Erinnerung an den Holocaust spricht, denkt man an die prägnanten Ereignisse wie Judenverfolgung, Deportation, Reichskristallnacht, und vor allem Konzentrationslager. Dies sind historische Fakten, die einem zumeist aus dem Geschichtsunterricht oder Deutschunterricht geläufig sind. Was bei der Erinnerung an das Kollektiv verlorengeht ist die individuelle Erinnerung. Die Erinnerung an das Judentum wurde soweit auf die kollektiven Ereignisse reduziert, so dass der Jude als ein menschliches Wesen mit einer Kindheit, mit seinen Stärken und Schwächen kaum im Blickpunkt des einzelnen Betrachters liegt. Das Motiv der Flucht eines Kindes vor dem Tod in Form der Nazis im Roman Orlevs verleiht dem ganzen eine Lebendigkeit und eine individuelle Gestaltung. Trotz dieser Differenzierung stimmen sowohl individuelle und kollektive Erinnerungen in manchen Punkten überein. Beide sind perspektivisch organisiert. Bei der individuellen Erinnerung wird die Vergangenheit, derer es sich zu erinnern gilt, von der Perspektive eines Kindes dargestellt, sowie in dem Roman Orlevs „Lauf, Junge, Lauf“ die Flucht von der Perspektive Sruliks. Dabei wird der Themenschwerpunkt vom Autor auf die Flucht gelegt.

Im Vorwort sagt der Autor, dass diese Flucht auf einer wahren Geschichte beruht. Durch diese autobiographischen Schilderungen bekommt die Flucht im Gegensatz zum kollektiven Fluchtverständnis eine gewisse Authentizität. Mit den Worten, dass die Wahrheit grausamer als jede Realität ist, verleiht der Autor der Lebenssituation des Jungen Srulik eine Plastizität, die einen appellativen Charakter besitzt. Die Situation lädt den Leser ein mit dem Protagonisten mitzufühlen und mitzubangen. Dabei ist festzuhalten, dass dies eine verschiedene Modalität des Erinnerns ist. Im Hinblick auf die Ebene des Erzählens liegt die Erinnerung in der Erzählung selbst. „Nicht nur, was erzählt wird, handelt vom Erinnern und vom Erinnerten, sondern das erzählt, beschrieben, aufgeschrieben, festgehalten und überliefert wird, ist seinerseits der Erinnerungsvorgang. Der Text schreibt an gegen das Vergessen“ (Schürmann 2000, S. 81). Hervorzuheben ist bei der individuellen Erinnerung des Protagonisten Jurek, dass es miterlebt werden soll und bewusst als ein Teil der jüdischen Geschichte memoriert werden soll. Erzähltechnisch werden von dem auktorialen Erzähler in dem Roman „Lauf, Junge, lauf“ einige bruchstückhafte Szenen der Säuberungsaktionen gegen die Juden in das Leben Jureks eingebaut. Exemplarisch erscheinen Gestapo-Verhöre, Aktionen, die Jurek am Rande mitkriegt. Um dem kindlichen Leser zu vermitteln was eine Aktion ist, klärt der Autor das in einem Dialog zwischen Josele und Srulik. „Was ist das eine Aktion?“, worauf Srulik antwortet „ Wenn die jüdischen Polizisten und die Deutschen die Juden zu den Eisenbahnen bringen, zu einer Neuansiedlung.“ (Orlev 2004, S. 46). Der allwissende Autor lässt in dieser Situation bewusst die Frage in einem Dialog beantworten, da er sonst durch sein faktisches Wissen die Authentizität des Romans mindern würde. Durch die Darstellung der Antwort aus der kindlich naiven Sicht wird der Leser nicht abgelenkt durch eventuelle Erklärungen des Autors, sondern will auch dieses historische Wissen durch die Augen Sruliks sehen.

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Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Erinnerung an die Judenverfolgung: Identität und Erinnerung in der intendierten Kinder- und Jugendliteratur
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
19
Katalognummer
V169210
ISBN (eBook)
9783640874293
ISBN (Buch)
9783640874439
Dateigröße
414 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
erinnerung, judenverfolgung, identität, erinnerung, kinder-, jugendliteratur
Arbeit zitieren
Gülcan Fahim (Autor:in), 2009, Erinnerung an die Judenverfolgung: Identität und Erinnerung in der intendierten Kinder- und Jugendliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169210

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