Die Konvergenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Philosophische Ansätze zur Hermeneutik des Qur'an


Magisterarbeit, 2010

94 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

I Einleitung

II Einführung
Über den Charakter der Wissenschaft im Islam

III Zur Hermeneutik des Qur’än
1. Warum Hermeneutik und nicht Tafslr?
Exkurs - Über die Methode des Tafsïr
2. Über die “drei Hörer”
2.1. Die ersten Hörer
2.2. Übergang von der mündlichen zur Schriftkultur
Exkurs - Über Oralität und Literalität
2.2.1 Tafsïr und Ta’wïl
3. Der moderne Mensch

IV Überlegungen zu den Begrifflichkeiten
1. Einführung in die Problematik
2. Klärung der Begriffe „QUR’ÄN“ und „MUSHÄF“
3. Text und Kontext
4. Das Wort - WAH Y

V Perspektiven
1. Die Konvergenzphilosophie
1.1 Die Methoden der Oralität
1.1.1 Primäre Methoden der Oralität
1.1.2 Mediation
1.1.3 Inspiration
1.1.4 Initiation
1.2 Die Konvergenzprinzipien
2. Die Išarl-Exegese
3. Ausblick und Fazit
Literaturverzeichnis

I Einleitung

Der Islam - auch in unserem westlichen Kulturkreis ist das schon längst nicht mehr nur ein Name für eine rätselhafte Religion der Orientalen. Der Orient - auch das ist längst nicht mehr nur ein Synonym für ein geheimnisvolles und sagenumwobenes Niemandsland, von welchem uns manche tollkühne Abenteurer berichten. Eine strikte Unterscheidung zwischen Orient und Okzident gibt es heute tatsächlich nur noch rein geographisch. Aber weder rein geographisch noch sozial kann man heute von einem „rein christlichen“ oder „rein muslimischen“ Land oder gar einer Stadt reden. Ausnahmen, wie vielleicht die Stadt Mekka bestätigen hier nur die Regel. In unserer Zeit, da das Wort „Entfernung“ schon beinahe zur Metapher geworden ist; da die westliche Zivilisation zur vorherrschenden und prägenden Kultur aufgestiegen ist und das Wort „Globalisierung“ auch tatsächlich global in aller Munde ist, nimmt es kein Wunder, dass es in kaum einem Land noch homogene soziale oder kulturelle Strukturen gibt. Denn dem Menschen bieten sich heute allgemein mehr Möglichkeiten sich den Ort frei auszuwählen, wo er sein Leben fristen will, als es in der Vergangenheit der Fall war. Der Weg führt dann in den meisten Fällen zu den Großstädten, wo sich die günstigsten Konditionen, im Sinne von: besseren Arbeits-, Entfaltungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, bieten. So gibt es heute keine Metropole, in welcher sich nicht die verschiedensten Nationen, Ethnien, Kulturen und Religionen treffen. Gerade in so einem Umfeld sollte man meinen, dass die Kluft zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ leichter überbrückt werden sollte. Ob dies auch zutrifft ist eine Frage, die hier nicht besprochen werden soll. Doch fest steht, dass das vermeintlich „Fremde“ nun nicht mehr nur in der Fremde zu Hause ist. Wir treffen es schon an, sobald wir nur vor die Haustür gehen. „Das Fremde“ ist nunmehr zu einem festen Bestandteil unserer alltäglichen realen Lebenserfahrung geworden, wodurch es auch stärker als zuvor im Fokus des allgemeinen Interesses steht. Und vor allem liegt dieser Fokus auf dem Islam, den Muslimen und ihrem heiligen Buch.

Doch was ist der Grund, weshalb heute das Interesse insbesondere an der Religion der Muslime und der Botschaft des Qur’an allgemein geworden ist? Man kann sagen: Nicht zuletzt aufgrund mancher prägenden politischen Ereignisse, wie z.B. die des 11.

Septembers; des Umstandes wegen, dass der Gebetsruf des Muezzin nicht nur im fernen Orient, sondern mitten im Herzen Europas zu hören ist; das ferner die Muslime mittlerweile einen ernst zu nehmenden Teil der europäischen Bevölkerung ausmachen und letztlich der Umstand, dass uns ständig neue Statistiken dadurch mahnen, dass der Islam mitjedem Tag immer größeren Zulauf findet, während die Kirchen das Nachsehen haben.

Aber diese Umstände dienen nur einen viel wesentlicheren Umstand zu untermauern. Dieser besonderen Fokussierung auf dem Islam liegt, so will mir scheinen, noch ein anderer, wesentlicherer Aspekt zugrunde. Im folgenden Auszug, in welcher die ehemalige US- Außenministerin Condoleezza Rice in einem Interview der „ZEIT“ über die Verfallssymptome der amerikanischen Supermacht Frage und Antwort steht, spricht sie diesen Aspekt offen aus:

„ZEIT: Macht kommt nicht nur von wirtschaftlicher Stärke, haben Sie gesagt. Was hat denn Amerika, was China nicht hat?

Rice: Eine Vorstellung von der Geschichte - wo sie hingeht und hingehen soll -, die übrigens auch die Sowjetunion hatte. In unserem Fall ist das die demokratische, die Idee der Freiheit, die über klassische Interessenpolitik hinausgeht und universelle Anziehungskraft entwickelt. Mit all seinen bewundernswerten Leistungen hat China keine solche Idee anzubieten. Es verfolgt nationale, merkantilistische Interessen. Es scheint nicht gewillt zu sein, auch Verantwortungspolitik zu betreiben oder in globale Institutionen zu investieren.

ZEIT: China kann also nicht führen?

Rice: Doch, allein, indem es sein wachsendes Gewicht in die Waagschale wirft. Aber es geht eben auch um all die anderen Einflussfaktoren - nicht nur um Währungsüberschüsse, sondern auch um eine Idee, wie die Welt sein sollte. Warum haben die chinesischen Studenten auf dem Tiananmen-Platz sonst ein Modell der Freiheitsstatue aufgestellt?“[1]

Rice verteidigt in obigem Interview die Vormachtstellung der USA indem sie die Behauptung des Reporters ablehnt, dass die Supermacht USA ihrem Ende entgegen gehe. Dies sei einfach aus dem Grunde nicht der Fall, weil es keine andere Ideologie mit „einer (eigenen) Vorstellung von der Geschichte“ gäbe, die eine Idee anzubieten habe, die internationale und interkulturelle Anziehungskraft ausstrahle.

Rice betont hier diesen besonderen Aspekt des Machtanspruches, welcher überhaupt die Vorbedingung für eine Vormachtstellung in der Welt darstellt. Auch wenn die Bedeutung der wirtschaftlichen und militärischen Stärke nicht geleugnet werden kann, so befähigt dies noch nicht zur Supermacht aufzusteigen. Wenn man der Welt keine Idee anzubieten hat, so kann man andere Kulturen auch nicht unter der eigenen Fahne versammeln. Alle Kulturen, die demnach eine Vormachtstellung in der Welt genossen, hatten so eine Ideologie anzubieten. Man mag hier einwenden, dass die kommunistische Idee, obwohl sie doch weltweit große Anziehungskraft auf alle Kulturen ausübte, keinem Staat zur Vormachtstellung verholfen hat. Interessant ist aber, dass Rice gerade zu diesem Punkt zwischen den Zeilen bemerkt, dass der vermeintlich „Kalte Krieg“ zwischen der USA und der Sowjetunion zwar tatsächlich ein Kampf um die Vormachtstellung in der Welt war, aber nicht aufgrund der atomaren Schlagkraft, sondern vor allem aufgrund ihrer attraktiven Ideologien, die beide Staaten der Welt anzubieten hatten.

Nun hat der Kommunismus mittlerweile weltweit viel an seiner Anziehungskraft eingebüßt und es scheint, dass es tatsächlich keine andere Idee gibt, die der demokratischen Vorstellung davon, wie die Welt zu sein hat und vor allem wie sie zu verstehen ist, Paroli bieten könnte - bis vielleicht auf die des Islam. Mir scheint, dass vor allem dieser Umstand, dass der Islam der Welt nach 1400Jahren anscheinend immer noch etwas zu sagen hat, der eigentliche Fixpunkt ist, wodurch diese Fokussierung auf seine Botschaft zu begründen ist.

Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu verständlich, dass immer mehr Menschen sich mit dem heiligen Text der Muslime beschäftigen und immer mehr Fragen und Zweifel bezüglich seiner Gebote und Verbote auftauchen. Ist der Qur’an ein universelles, also offenes und leichtverständliches Buch, dessen Botschaft für jeden Menschen auf der Welt leicht zugänglich und nachvollziehbar ist, oder ist es ein dunkles Buch voller rätselhafter Aussprüche? Ist es tatsächlich ein göttliches Buch oder ist es nicht doch vielmehr

Menschenwerk? Was macht die Anziehungskraft des Qur’äns aus, das uns - um es mit den berühmten Worten Goethes auf den Punkt zu bringen -, „so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen versetzt und am Ende Verehrung abnötigt“[2] ?

Man könnte behaupten: Weil der Qur’an in seinen Ausführungen klar und eindeutig und frei von Widersprüchen ist, zumal der Qur’an gleich mit solchem Anspruch anhebt:

„Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist, (geoffenbart) als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen (,..)“[3]

Dies ist die Übersetzung Rudi Parets, dessen Qur’anübersetzung in deutscher Sprache mittlerweile als Standardwerk angesehen wird.[4] Man könnte diesen Vers aber auch folgendermaßen übersetzen: „Dies ist das Buch, in welchem keine Widersprüche anzutreffen sind(...)“. Allein schon dieses Beispiel zeigt, wie schwierig es ist sogar die einfachsten Verse originalgetreu wiederzugeben. Denn auch, wenn das Gesagte eindeutig ist, so ist doch ihr Verständnis nicht immer eindeutig. So werden die Stimmen bezüglich der Mehrdeutigkeit des Qur’antextes immer lauter und allgemeiner. Während vor allem in den arabischen Ländern zum größten Teil die Vorstellung vorherrscht, dass nur Gelehrte, die in den Islamwissenschaften bewandert sind, die wahre Deutung des Qur’an wissen können, wird diese Vorstellung langsam aber sicher von der anderen Position übertönt, nach welcher - völlig nach dem Geist der Zeit - jeder Mensch den Qur’an für sich selber auszulegen hat.[5]

Die Debatten, die zu diesen Punkten geführt werden, sind aber keineswegs neu. Die Beschäftigung mit solcherlei Fragen hat die Islamgelehrten schon sehr früh zur Abfassung umfangreicher Interpretationen (Tafsïr) und in Folge dessen zur Ausarbeitung einer strengen Methodik zur Auslegung des Qur’an getrieben. Die Frage, welche Prinzipien dieser Auslegungsmethode (Usul al-Tafsir) zugrunde liegen, wird im weiteren Verlauf zu besprechen sein.

***

Wie schon aus der Überschrift ersichtlich, wird der Fokus dieser Arbeit auf eben solchen Fragen der Auslegung und Interpretation des Qur’an liegen. Dabei wird im Rahmen dieser Arbeit natürlich nicht der Anspruch erhoben werden können, dass hier neuartige Interpretationsansätze vorgelegt würden. Auch sollen nicht die bisherigen Interpretationen kritisiert werden, in dem Sinne, dass der Versuch ihrer Widerlegung in Angriff genommen würde. Es soll lediglich gefragt werden aus welcher Perspektive heraus sich diese Interpretationen erklären lassen. In diesem Sinne ist diese Arbeit keine exegetische, also eine, die auf praktische Interpretation ausgerichtet ist, sondern eine hermeneutische, die nach dem Verständnis fragt, die sich hinter dieser Auslegung verbirgt. Die Hauptfragen, die diese Arbeit stets begleiten werden, sind also: Welche Methode liegt der Interpretation zugrunde und auf welchen Grundprinzipien ruht die Methode?

Vor dem Hintergrund, dass die verschiedenen islamischen Rechtsschulen, obwohl sie nach eben derselben Methode auslegen und urteilen, dennoch zu völlig anderen, manchmal widerstreitenden Einsichten gelangt sind und folglich auch andere Praktiken in Bezug auf die Religionsausübung vorschreiben, darf gefragt werden, ob die etablierte Methode erweiterungsbedürftig oder -fähig ist; ob es denn nicht ein wissenschaftliches Kriterium in Bezug auf die Vieldeutigkeit des Qur’an geben kann, dass uns in Zukunft als ein Maßstab in der Auffindung eines Konsenses dienlich sein könnte. Mit Rückblick auf diese Frage soll einiges Licht auf die Forderung einer Konvergenz der Schriftlichkeit und Mündlichkeit - hier als jeweilige Methoden zur Erlangung wissenschaftlich begründeter Erkenntnis aufgefasst - geworfen werden, die 2005 von Jacob Emanuel Mabe gestellt wurde. Letztlich soll im Zuge dieser Arbeit der Frage nachgegangen werden, ob und in wie fern sich so eine Konvergenz der Methoden bei der Interpretation des Qur’an realisieren lässt.

Für die Zwecke dieser Arbeit wird es angebracht sein zuerst einige Orientierung zu schaffen. So scheint es im Sinne meines Anliegens angebracht zu sein im Vorfeld einiges bezüglich des Selbstverständnisses und damit zusammenhängend des Wissenschaftsverständnisses des Islam zu sagen. Diese Einführung soll ein gewisses Vorverständnis für die künftigen Ausführungen schaffen.

Im dritten Kapitel soll dann grob die Geschichte der Ta/sîr-Wissenschaft umrissen werden. Es wird hierbei mein Anliegen sein nicht nur die Geschichte der Interpretation des Qur’än von der Zeit der Offenbarung bis zur Gegenwart kurz und prägnant darzustellen, sondern dabei auch stets der Frage nachzusinnen, ob und inwiefern man von Tafsîr im Sinne von „Hermeneutik“ reden kann. In diesem Zusammenhang wird es nötig sein zwischen den Begriffen Tafsîr und Ta’wil zu Unterscheiden und zu zeigen, was jeweils unter diesen Begriffen verstanden wurde. Hiernach bietet es sich an über die Rolle des Propheten als erster Interpret des Qur’än einzugehen. Von hier anhebend will ich einen kurzen Seitenblick auf die Geschichte des Qur’äntextes an sich werfen. „Kurzer Seitenblick“ soll besagen: Der Fokus dieser Erläuterungen soll auf der frühen Zeit der Sammlung der Qur’änfragmente liegen. Dieser Exkurs bietet dem Verfasser dann die Möglichkeit speziell einiges über die Rolle des Propheten bei der Verschriftlichung nachzulesen.

Um aber abschließend zum eigentlichen Thema zurückzukehren werden - in Kapitel vier - anhand des Beispiels eines bestimmten Verses die Interpretationen von verschiedenen Gelehrten miteinander verglichen werden. Die Interpretationsbeispiele werden hierbei chronologisch geordnet sein. Es soll dann nach dem Grund für diese verschiedenen Interpretationen gefragt werden. Dieser Kapitel wird in seinem Charakter eher hermeneutisch als historisch sein. Für die Zwecke dieser Arbeit soll zuerst der Versuch einer hermeneutischen Definition des Begriffs „Qur’än“ unternommen werden. Dieser Definitionsversuch wird uns dazu führen zwischen den Begriffen „Qur’än“ und „Mushäf“ deutlich - deutlicher als es bisher der Fall ist - zu unterscheiden. Diese Unterscheidung, welche im Grunde die Unterscheidung zwischen der „Oralität“ und „Literalität“ ist, gibt mir im Folgenden Anlass über die Sprache an sich nachzusinnen. Letzten Endes wird nach dem Begriff des „Textes“ als solches gefragt werden.

Im vorletzten Kapitel soll als eine Möglichkeit der besseren Erschließung eines Textes der Vorschlag der Konvergenzphilosophie in Augenschein genommen werden, welcher die Forderung ausspricht, dass die Methoden der Schriftlichkeit mit den Methoden der mündlichen Erkenntnissuche miteinander konvergiert, d.h. zusammengeführt werden müssen. Die Erläuterung dieser Forderung führt uns letztendlich dazu einen Seitenblick an die Methoden der sufistischen Exegese zu werfen.

Wie gesagt kann im Rahmen dieser Arbeit nicht der Anspruch erhoben werden, dass hier eine endgültige These einer neuen Exegese des Qur’an vorgelegt würde. Es sieht seine Aufgabe als erfüllt, wenn es lediglich die Frage, die dieser ganzen Arbeit zugrundeliegt, vollkommen ausformulieren konnte: Ist Konsens möglich? Zumindest jedoch wird diese Frage ihre ganze Entfaltung in der Schlussthese dieser Arbeit erfahren, welcher besagt, dass es unabdingbar für künftige hermeneutische Arbeiten ist, dass man sich des oralen Charakters des Qur’an bewusst werde. Diese Arbeit wird zeigen, dass Interpretationen und Antworten, die diesen fundamentalen Umstand ignorieren, uns keine befriedigenden Antworten liefern können.

II Einführung

Über den Charakter der Wissenschaft im Islam

Die Hermeneutik richtet ihren Blick zum Boden. Das tut sie aber dann, wenn wir von der allgemeinen Definition von Hermeneutik absehen, die besagt, dass sie „die Wissenschaft vom Verstehen“ sei und von ihr ferner fordern, dass sie vor allem Einsicht sein solle. Unter „Einsicht“ soll aber nicht „Erkenntnis“ verstanden werden. Denn der Zweck der Hermeneutik ist nicht das Kennen, sondern das Sehen. Das Kennen fällt dabei den empirischen Wissenschaften zu. Und mitunter darf sich die Hermeneutik dieser empirischen Kenntnisse bedienen, um besser sehen zu können. Damit die Hermeneutik jedoch Hermeneutik sein kann, muss sie streng genommen den Bereich der exakten Wissenschaften verlassen. Sie darf nicht Forscher, sondern muss Beobachter sein. Sie strebt nämlich nicht hinauf zu neuen Erkenntnissen, sondern wundert sich eher über diese. Sie fragt nach dem Grund dieser Erkenntnis und richtet ihren Blick zum Boden auf welcher diese Erkenntnis fußt. Denn die Erkenntnis ist ein Produkt, ist eine Frucht. Der Boden aus welcher sie hervorgesprossen ist, ist das Gedächtnis. Die Wurzel, die sich von diesem Boden ernährt: Das Verständnis. Aus dieser Wurzel entwächst das Verstehen, welches lebendig ist und sich somit in ständiger Entwicklung befindet. Unter günstigen Umständen findet sich, dass die Äste dieses Baumes Früchte tragen: Die Erkenntnis.

Die Wissenschaften können außerhalb dieses „Erkenntnisbaumes“ nicht existieren. Eben sowenig die Hermeneutik, die als eine „Wissenschaft vom Verstehen“ angesehen wird. In diesem Falle sitzt sie nämlich genau am Angelpunkt des ganzen Erkenntnisprozesses und stellt sich dabei die ganze Zeit selbst in Frage, da sie sich unter diesen Umständen über sich selbst nicht bewusst sein kann. Deshalb muss sie aus diesem Strom der Erkenntnis heraustreten, um das zu erlangen, wonach sie trachtet: Einsicht. Diese Einsicht jedoch fordert ein Gesicht, dem sie Angesicht zu Angesicht stehen und in das sie hin-einsehen kann.

Dabei mag vielleicht entgegengestellt werden, ob denn überhaupt eine objektive Sicht möglich ist, zumal doch alles Betrachten immer von einem Subjekt aus, also subjektiv geschieht. Diese Bemerkung kann ich nur unterstreichen. Es geht auch gar nicht um eine „objektive Sicht“, so wie man es gewöhnlich versteht, sondern um eine „intersubjektive“, wie man vielleicht sagen könnte. Es ist der Blick eines Subjektes auf ein anderes Subjekt und dieser Blick richtet sich gen Boden. „Gen Boden“, also dahin wo es fußt, aus welchem Boden (Gedächtnis) sich seine Wurzel (Verständnis) ernährt. Damit aber so ein Blick möglich ist, wurde gefordert, dass die Hermeneutik aus den Wissenschaften heraustrete. Nur so kann sie sich als ein Subjekt, der Wissenschaft, als dem Subjekt seiner Betrachtungen, gegenüberstellen.

Aber was wäre in diesem Fall die Perspektive der Hermeneutik, aus welcher her sie beobachtet; oder anders ausgedrückt: Was ist ihr Selbstverständnis, durch welche sie selber versteht und in ihr gegenüberstehendes Subjekt einsieht? Vorerst möchte ich sagen, sei es das, was einen innerlichen Blick erst ermöglicht, nämlich: Besinnung. Was diese Besinnung charakterisiert, sei, kann man sagen, „Empfindung“. Dies mag in diesem Stadium der Arbeit noch nicht einleuchtend sein, weshalb dieser Bestimmung vorausgeschickt wurde, dass es vorerst so genannt werden möge. Es ist nur ein Teil ihres Namens. Man könnte sagen es sei ihr Vorname. Dieser Punkt soll zum Schluss noch einmal aufgegriffen werden. Behalten wir jedoch im Gedächtnis die Bezeichnung, die Schleiermacher der Hermeneutik gibt. Dass die Hermeneutik bei ihm nämlich als eine „Kunst“ bezeichnet wird, ist eine neue Bestimmung der wesentlichen Ausrichtung der Hermeneutik.[6]

Diese Voreinsicht möge genügen, dass der Leser meine Bedenken beim Lesen des folgenden Auszuges nachvollziehen könne:

„So sehr historisch-kritische Exegese dem christlichen Glauben geholfen hat, sich auf seine Mitte zu besinnen, so offensichtlich ist es jedoch auch, dass dieses bewährte Verfahren, wenn es isoliert wird, zu einem mindestens einseitigen Verständnis der biblischen Texte führt. Allenthalben sind im Christentum Aufbrüche zu entdecken, neue Zugänge zu finden und zu erproben. Dabei richtet sich der Blick auch auf den Islam: Wie ist es möglich, dass der Qur’an auch heute eine unübersehbare geistliche Kraft entfaltet, obwohl der Islam ohne das Instrumentarium der historisch-kritischen Exegese arbeitet, ja dieses sogar ausdrücklich verwirft? Handelt es sich hier nur um ein kulturgeschichtlich erklärbares Phänomen, also um eine vor-aufgeklärte Religiosität, so dass man warten muss, bis es auch den Islam „erwischt“?“[7]

Diese Worte gehören Hans Martin Barth, welche er anlässlich eines Symposiums zu dem Thema „Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog“ aussprach. Barth unterstreicht in seiner Rede die Notwendigkeit, dass Christentum und Islam sich nun gegenseitig füreinander aufschließen müssen, indem sie den Anderen in seiner Andersartigkeit anerkennen sollen. Barth fordert - damit Kommunikation und gegenseitiges Verständnis überhaupt fruchten können -, dass beide Parteien davon absehen müssen den Anderen immer nur rein aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus zu beurteilen und zu bewerten; im Sinne von: den Anderen herabsetzen, weil man es anders nicht kennt. Bevor ich auf obiges Zitat zu sprechen komme, möchte ich diesen Punkt mit Barth etwas ausführen, da diese Ausführungen eine solide Grundlage für das weitere Fortschreiten bieten können.

In Bezug auf das Selbstverständnis der Christen und Muslime, insbesondere hinsichtlich ihrer heiligen Schriften, sagt Barth folgendes:

„Die Bibel ist Zeugnis von der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus, der Qur’an wird selbst als Selbstoffenbarung Allahs verstanden. (...) Die Bibel ist nach dem Selbstverständnis der Christen nicht „der Qur’an“, nämlich nicht ein - wie der Qur’an nach Auffassung der Muslime - unantastbares Buch, dessen einzelne Aussagen wortwörtlich als Gottes Selbstoffenbarung verstanden werden müssen, sondern vielfältiges Echo, vielstimmiges Zeugnis, Reaktion auf die Begegnung mit dem Gottjesu Christi, die ihrerseits Reaktionen auszulösen vermag. Umgekehrt ist nach dem Selbstverständnis der Muslime der Qur’an nicht „die Bibel“, nicht wie die Bibel nach Auffassung der Christen „nur“ Zeugnis, sondern Allahs höchsteigenes Wort in arabischer Sprache.“[8]

Barth unterstreicht hier die Notwendigkeit, dass man sich dem unterschiedlichen Selbstverständnis des Anderen gewahr werde. Die populäre Forderung der Hervorhebung der Gemeinsamkeiten für ein besseres gegenseitiges Verständnis kann nur funktionieren, wenn man sich der grundlegenden Unterschiede, d.h. über die grundlegende „Andersheit“ des jeweiligen Selbstverständnisses bewusst wird. Erst diese Einsicht in die Andersheit kann uns ein erstes Verständnis eröffnen. Man muss nämlich verstehen, dass es möglich ist, dass man auch anders verstehen könne.

Um dies am Bild unseres „Erkenntnisbaumes“ zu verdeutlichen, kann man sagen, dass man also von seinem eigenen Selbstverständnis absehen muss, um in das Selbstverständnis des Anderen, des Gegenübers hineinsehen zu können. Damit soll aber keine Selbstaufgabe oder Selbstleugnung im Sinne von absoluter Neutralität gefordert werden. Denn das Neutrum hat keinen Charakter, keinen eigenen Stand(punkt). Auch wenn die Forderung einer Neutralität im Sinne von „Objektivität“ einnehmend klingt - zumal es die populäre Rede unserer Zeit ist - ist es schlichtweg nicht möglich und - auch wenn es möglich wäre - nicht besonders fruchtbar. Denn ein Neutrum hat keinen Raumanspruch, keinen Ort, von wo aus es die Welt betrachtet. Es kann überall sein und somit ist es nirgendwo. So hat es auch keine Perspektive. Und ohne einen Bezug zu einem bestimmten Standpunkt hat es auch keinen festen Boden auf dem es fußt, wo es Wurzeln schlagen könnte. Und ohne diese Wurzeln hat es auch keine Bindung zum nährenden Boden, d.h. zum Gedächtnis. Das es letztlich ohne dieses auch kein Selbstverständnis haben kann, ist offensichtlich. Deshalb darf keine absolute Objektivität gefordert werden. Denn somit verlangt man ein Neutrum ohne Sinn - weder für sich selbst noch für das ihn Umgebende. Folglich darf auch kein absolutes Verstehen^) des Anderen postuliert werden. Was aber gefordert werden muss, ist Nachvollzug. Und was hieraus postuliert werden kann ist Verständnis. Die Frucht des erfolgreichen Nachvollzugs nenne ich also Einsicht.

Nun hatte Barth gefragt, wie es sein kann, dass der Islam ohne „historisch-kritische“ Exegese soviel geistliche Kraft entfalten könne und ob man auf eine „Aufklärung“ des Islams warten müsse? Auch wenn er die Frage nach dem vermeintlichen Fehlen dieser „historisch-kritischen“ Exegese später selber mit der Feststellung beantwortet, dass es sich aus dem Selbstverständnis des Islams her erklären lasse, welcher den Qur’än als das „höchsteigene“ und unmittelbare Wort Gottes[9] versteht, so ist hier doch das Fehlen einer grundlegenden Einsicht spürbar. Denn überhaupt kann die Frage nach einer „historisch­kritischen“, also wissenschaftlich-empirischen Exegese des Qur’än nur von einer Weltanschauung heraus gestellt werden, die die Wissenschaft dem Heiligen oder Traditionellen kontradiktorisch gegenüberstellt und welcher den eigens von ihm geprägten Begriff der „Aufklärung“ zum Grundpfeiler seiner Identität gemacht hat, nach dessen Postulaten es die Welt um sich herum bewertet und versteht, oder eben nicht versteht. Nun sollte für die Zwecke des Rechten Verständnisses folgender Gedankengang nachvollzogen werden:

Der geläufige Begriff der „Aufklärung“ versteht sich historisch gerade aus dem Kampf zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen heraus. Wenn man es auf eine Formel bringen will, lässt sich der moderne Begriff der Aufklärung auf folgende Parolen reduzieren: Wissenschaft vs. Glauben, oder Vernunft vs. Dogma. Vor diesem Hintergrund ist es nur natürlich, dass man jeden Text der Forderung nach einer „historisch-kritischen“ Exegese im Sinne eben dieses Verständnisses von der „Aufklärung“ unterzieht. Nun, was ist der Grund, dass ich hier beim Ausspruch des Wortes „Aufklärung“ es gleich mit Ausrufezeichen markiere?

„Der Qur’an ist nicht ein Bericht, der sich auf ein grundlegendes Ereignis bezieht.

Es ist das grundlegende Ereignis.“[10]

Was will damit gesagt sein? Es meint: Im Selbstverständnis der Muslime ist der Qur’an nicht nur ein Bericht von alten Prophetengeschichten, nicht nur ein heilbringender Trost in Notlagen, sondern ein Ereignis an sich. Es ist eine Revolution, ein Bruch injeder Hinsicht, sozial, kulturell, historisch und auch wissenschaftlich. Der Qur’an ist Aufklärung (!). Es ist aus islamischer Perspektive der Inbegriffjeglicher Art von Aufklärung. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Zeit vor dem Islam als die dunkle Zeit der Gähiliyya, also der Unwissenheit angesehen wird.[11] Wenn der Europäer an das Mittelalter denkt, so denkt er an die dunkle Zeit der Unwissenheit vor der Aufklärung, wobei zu bedenken gilt, das die islamischen Wissenschaften gerade in dieser Zeitspanne ihre Blütezeit erlebten. Als „Mittelalter“ gilt dem Islam die Zeit vor der Aufklärung durch die Offenbarung des Qur’an.

Wenn also der westliche Begriff der Aufklärung von der Kontradiktion des irdischen und himmlischen geprägt ist, so bedeutet es im Islam gerade die Zusammenführung des himmlischen und des irdischen.[12] Wenn also die Zeit vor der Offenbarung der Schrift als die

Zeit der Unwissenheit angesehen wird, so ist der Qur’än der Inbegriff des Wissens und der Weisheit. Wenn man den islamischen Begriff des „Wissens“ und der „Wissenschaften“ nachvollziehen will, so muss man sich die Vorstellung verinnerlichen, dass der Qur’an für die Muslime der Ursprung und der Quell aller Gelehrsamkeit ist. Das Wort „Dogma“ ruft in der westlichen Gesinnung sofort eine Reaktion des Zweifels hervor, wodurch dieses Wort nunmehr soviel bedeutet wie: Das Zweifelhafte, Unsichere, Ungesicherte, das Dunkle. Im muslimischen Verständnis bedeutet esjedoch soviel wie: Das Sichere, das Unbezweifelbare, das Licht, der Gipfel aller Erkenntnis. Dieses ist aber die Einheit und Einzigartigkeit Gottes und dieses Dogma ist der Prüfstein an dem sich alle Wissenschaftlichkeit prüfen muss. Denn das ist die Kernbotschaft „der Schrift“ und „die Schrift“ ist - wie erwähnt - historisch gesehen der Anfang aller Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit im Gedächtnis der Muslime.

Hierbei kann man geneigt sein mir entgegenzustellen, dass man in diesem Sinne streng genommen nicht vom Charakter „der Wissenschaften im Islam“, sondern nur vom Charakter der „religiösen Wissenschaften“ reden kann. Denn mit Verweis auf Imam Ğazalı, der in seinem Hauptwerk Ihyä ‘Ulüm al-Dïn deutlich zwischen „religiösen“ (sari) und „areligiösen“ (gayr šarh) und unter den letzteren zwischen „notwendigen“, „nützlichen“ und „verwerflichen“ Wissenschaften unterscheidet, muss angemerkt werden, dass hier die Mathematik z.B. als eine areligiöse Wissenschaft bezeichnet wird.[13] Wenn man diese Unterscheidung berücksichtigt, dürfte man die angeführte Charakterisierung im Grunde nur für die religiösen Wissenschaften gelten lassen, die aus dem Qur’an hervorgegangen sind und sich hauptsächlich mit ihm beschäftigen, wie z.B. die Ta/sïr-Wissenschaft oder die Fikh.

Dieser Einwand ist nur bedingt berechtigt. Hier muss als erstes gefragt werden: Woher rührt denn die angesprochene Unterscheidung der Wissenschaften Ğazalıs und was ist der Maßstab, an dem sich diese Unterscheidung orientiert?

Die hauptsächliche Differenzierung wird mit den Begriffen „sari“ und „gayr sarı“ ausgedrückt und nicht etwa mit „dînî“ und „lä dînî“. Denn, während das Wort „al-dîn“ die Entsprechung des deutschen Wortes „Religion“ ist, bezieht sich das hier verwendete Wort nicht so sehr auf die Religion selber, als auf ihre praktische Ausübung. So gesehen beruht die Unterscheidung auf der Überlegung inwiefern die Wissenschaften Anwendung in Bezug auf die praktische Ausübung der Religion finden. Es ist daher wichtig zu beachten, dass die Mathematik nebst der Medizin unter den „notwendigen“ Wissenschaften gezählt werden, wobei die Mathematik vor allem wegen ihrer Unabdingbarkeit in Bezug auf die Berechnungen der Zakät-Abgaben14 diesen Status zugesprochen bekommt.

Aber sei es wie dem auch sei, wichtig ist allein festzuhalten, dass im Rahmen der oben ausgeführten Charakterisierung die Wissenschaften nicht deswegen als „islamisch“ bezeichnet wurden, weil sie ihren Ursprung im Qur’an haben und in ihrer wissenschaftlichen Formation letztlich auf den Qur’an abzwecken, sondern vor allem aufgrund des ihnen grundlegenden „Dogma-Verständnisses“, welche allen Wissenschaften sobald sie als islamisch bezeichnet werden sollen, zugrunde liegt. Das aber ist die absolute Unantastbarkeit des ersten und obersten Prinzips des Qur’anischen Dogmas: Die Einheit und Einzigartigkeit Gottes. Der Qur’an ist für die Muslime der erste und der letzte Prüfstein, an dem sich jede Wissenschaftlichkeit beweisen muss. Ich will meine Position anhand einer Anekdote etwas weiter verdeutlichen.

Ein türkischer Mathematikprofessor sagte mir einst, dass es eine interessante Tatsache sei, dass zu Zeiten, als die islamische Astronomie in ihrem Zenit stand, also über die besten Instrumentarien zur Erforschung der Himmelskörper verfügte, die chinesischen Quellen von explodierenden Sternen berichteten, während in den islamischen Quellen der selben Zeit nichts davon zu lesen sei. Er erklärte dieses Phänomen damit, dass die Paradigmen oder Dogmen, die unserer Weltanschauung zu Grunde liegen, bestimmen, was wir in der Welt wahrnehmen und was nicht. Die Muslime hatten nach seiner Ansicht diese Explosionen schlichtweg nicht bemerkt. Einfach aus dem Grund, weil in ihrer Weltanschauung der Himmel über dem Mond göttlich, perfekt und ohne Fehl und Mängel sein musste.[14]

Damit soll hervorgehoben werden, dass die Paradigmen, die unserem Denken zugrunde liegen, erst bestimmen, was wir als „wissenschaftlich“ ansehen und was wir überhaupt wahrnehmen und was nicht. Insofern ist auch Ğazalıs Unterscheidung der Wissenschaften allein aus dieser Perspektive heraus zu verstehen und zu erklären. Sie widerlegt unsere Charakterisierung nicht, sondern ihr liegt im Gegenteil auch diese Charaktereigenschaft zugrunde. Ferner kann man nicht zuletzt darauf verweisen, dass die Tatsache, dass die muslimischen Übersetzer, welche damit beauftragt waren die philosophischen und poetischen Werke der Griechen ins Arabische zu übertragen, ursprünglich jene Stellen in den Texten, die von „den Göttern“ sprachen, also von polytheistischem Charakter waren, entweder vollständig weggestrichen, oder, wenn das nicht möglich war, immerhin doch so umgeschrieben haben, dass es möglichst Qur’ankonform war.[15] Die islamische Philosophie zumindest kann nicht richtig nachvollzogen werden, wenn man diesen besonderen Umstand missachtet.

Wenn die Frage nach dem vermeintlichen Fehlen der „Aufklärung“ im Islam in diesem Sinne also verworfen werden muss, da es sich hier einfach grundlegend um ein völlig anderes historisches Selbstverständnis handelt, so darf ferner der Qur’an nicht ohne Weiteres mit den eigenen (Denk)Schablonen untersucht werden. Ungeachtet ihrer religiösen Überzeugungen gilt diesjedoch für alle Menschen, sobald wir von dem modernen Menschen sprechen.

In Bezug auf die „historisch-kritische“ Exegese sind zweierlei zu sagen. Zum ersten scheint sich nun aus der islamischen Perspektive heraus das Christentum mit diesem seinem Vorgehen selbst ein Bein zu stellen, indem es sein eigenes Dogma mit den Methoden der historisch-kritischen Exegese untersucht. Denn das heißt, dass es sich selbst unter dem Licht der Paradigmen der wissenschaftlich-empirischen Forschung betrachtet, welcher das „Dogma“ja gerade zum Inbegriff des Zweifels transformiert hat. Dadurch aber stellt es sich während seiner ganzen Untersuchungen die ganze Zeit selbst in Frage und ist so gesehen höchstselbst für das Erlahmen seiner Stimme verantwortlich. Deshalb fühlen sich die christlichen Exegeten getrieben ständig nach „neuen Zugängen“ zu suchen. In diesem Sinne bleibt sich das christliche Dogma nicht selbst ein Rätsel, „obwohl“ sie über das „Instrumentarium der historisch-kritischen Exegese“ verfügt, sondern gerade eben weil sie sich dieser bedient. Ich bin mir natürlich bewusst, dass dieses so pauschal eigentlich nicht gesagt werden darf, da es sich beim Phänomen der Bibel um ein ganz andersartiges Buch handelt und schon der Umstand, dass die heutige Bibel letztlich nur eine Übersetzung des verschollenen Originals ist, so eine historisch-kritische Untersuchung unumgänglich macht. Allein, das Gesagte ist eine Umkehrung des Spiegels, welche die Probleme solch einer Pauschalisierung hervorheben soll. Denn das Pauschalisieren ist im Grunde ein Überstrapazieren der Gültigkeitsbereiche einer gewonnenen wahren Erkenntnis.

Zum zweiten Punkt sei gesagt, dass es ein genauso pauschales Urteil ist zu sagen, dass der islamischen Exegese eine historisch-kritische Methode fehle. Es stimmt nur insofern, wenn man damit eine Exegese fordert, die sich nach den Prinzipien des westlichen Verständnisses von der Aufklärung richten solle, dieja überhaupt alle Heiligkeit in Frage stellt. Die eigene Weltanschauung meint dort eine Lücke entdeckt zu haben, wo es eigentlich keine gibt. Denn tatsächlich ist die islamische Exegese sowohl kritisch, als auch historisch - jedoch ist ihr Verständnis dieser Begriffe wohl eine etwas Andere. Der Hauptbegriff an dem sich das Verständnis spaltet ist diejeweilige Auffassung des Begriffs „Dogma“.

Es wird an dieser Stelle angebracht sein, dass man auf die Entwicklung des Tafsïr eingehe, um zum Einen das Charakteristische an seiner Auffassung der „Historizität“ und „Kritik“ noch schärfer herauszustellen und um ferner der Frage nachzugehen, ob und inwiefern heute eine neue hermeneutische Herangehensweise notwendig geworden ist.

III Zur Hermeneutik des Qurän

1. Warum Hermeneutik und nicht TafsIr?

“The modern study of Islamic hermeneutics is in its infancy. One reason for this is the field’s vastness. It involves dimensions of almost all the traditional Islamic sciences: Quranic commentary, prophetic tradition, jurisprudence, dialectical theology, historiography, the study of Islamic sectarianism, grammar, rhetoric, mysticism, and philosophy. Each of these areas created particular conceptions of textual interpretations, each had its own methodologies, developed over centuries.

Each arose and evolved through the efforts of individual participants, within the context of complex webs of interstitial relationships maintained with other fields of study, in response to the needs of particular intellectual environments, the demands of different historical conditions.”[16]

Peter Heath, der hier die hermeneutischen Untersuchungen in Bezug auf den Qur’an als noch “in ihren Kinderschuhen steckend” bezeichnet, fasst die Gründe für diese schleppende Entwicklung einfach mit der „Weite des Feldes“ zusammen. Da es in den klassischen islamischen Wissenschaften keinen Wissenschaftszweig gibt, die an sich als „die islamische Hermeneutik“ bezeichnet werden könnte, ist man darauf angewiesen, dass man die hermeneutisch relevanten Stellen aus dem riesigen Korpus der wissenschaftlichen Werke herauslese und zusammentrage.

Wenn wir sagen, dass es im Korpus der klassischen islamischen Wissenschaften keinen Wissenschaftszweig gibt, den man spezifisch als die „islamische Hermeneutik“ bezeichnen könnte, so ist damit aber nicht gesagt, dass es dieses überhaupt nicht gibt. Wenn wir Hermeneutik als eine Wissenschaft verstehen, die sich mit Fragen der Interpretation auseinandersetzt, so kann man getrost alle klassischen islamischen Wissenschaften, die auch Heath oben anführt, als hermeneutische Werke ansehen. Denn, wie wir auch oben schon hervorgehoben haben, richtet sich ihr Blick stets auf den Qur’an und ist um dessen richtige, oder besser gesagt: jeweils relevante Auslegung bemüht. Die Auslegung des Qur’an ist ein zentrales Thema von Anbeginn der Offenbarungszeit an. Wenn man bedenkt, dass der Qur’an von jeher das Zentrum des muslimischen Universums und das Manifest ihres Denkens und Fühlens ist, so ist es nur offensichtlich, dass die Frage der richtigen Methode der Auslegung die Muslime schon sehr früh beschäftigt hat. Tatsächlich verfügt die Tafsïr- Wissenschaft über eine überaus spezifizierte und anspruchsvolle Methodik.

Exkurs - Über die Methode des TafsIr

Die Wissenschaft, die sich mit der Auslegung des Qur’än beschäftigt, nennt man Tafsïr. Das Wort Tafsïr leitet sich aus dem Stamm f-s-r ab und bedeutet soviel wie „aufdecken“ oder „deutlich machen“. In diesem Sinn wird es z.B. in Vers 25:33 verwendet, wo geschrieben steht:

„Und sie bringen dir kein Gleichnis vor, ohne dass wir dir die Wahrheit und die beste Deutung bringen würden.“[17]

Wenn oben die Idee verworfen wurde, dass es im Islam keine „historisch-kritische“ Exegese gäbe, so wurde dies vor allem mit Hinblick auf die Methoden des Tafsïr ausgesprochen. Der exakte Wortlaut des Qur’an war den Muslimen seit Anbeginn der ersten Offenbarung an die heiligste und wichtigste Sache und macht das Fundament ihres ganzen Credos aus. Der Grund für diese äußerste Sensibilität liegt in der Folge des bisher Gesagten auf der Hand und wurde von Toshihiko Izutsu äußerst prägnant und schlagend ausformuliert:

“Islam arose when God spoke.”[18]

Man muss sich immer wieder verdeutlichen, dass der Qur’an für den Muslim nicht nur ein Gebetsbuch oder ähnliches ist, sondern Gottes höchsteigenes Wort - seine höchstpersönliche Anrede an den Menschen. Nicht zuletzt aus diesem Grund waren die Muslime schonjeher sehr Sprachfixiert. So nimmt es also kein Wunder, dass die Wissenschaft der Sprache einen zentralen Platz in den TafSïr-Werken einnimmt. So schreibt Zarkaši (gest. 794/ 1391) in seinem Burhän:

„Um die Ziele dieser Wissenschaft zu erreichen, nimmt die Tafsïr-Wissenschaft die Dienste folgender Wissenschaftsbereiche in Anspruch: Lexik, Grammatik, Morphologie, Rhetorik, die Methodenlehre der islamischen Rechtswissenschaft und die Lehre von den Qur’anlesarten. Weiterhin sind auch Kenntnisse über die Offenbarungsanlässe und das Abrogierende undAbrogierte unverzichtbar.“[19]

Nachdem auch Abu Hayyan (gest. 754/ 1353) die Wissenschaften aufzählt, die für die Tafsfr-Wissenschaft unabdingbar sind erläutert er seine Position folgendermaßen:

„Die von uns hier behandelte Wissenschaft ist eine, die weitere Wissenszweige umfasst. Wenn wir sagen, dass es sich hier um eine Wissenschaft handelt, die sich mit der Aussprache der Qur’anwörter befasst, so ist hier insbesondere die Kenntnis der Qur’anlesarten gefordert. Ferner weisen wir auf die Kenntnis des Bedeutungsgehaltes der Qur’anischen Wörter hin, wofür die Kenntnis der Philologie unentbehrlich ist. Die Forderung der Kenntnisse der Phraseologie umfasst Kenntnisse in der Morphologie, Grammatik und Rhetorik. Die Stelle, die über die Kenntnis des Bedeutungsgehalts eines Wortes entsprechend seiner phraseologischen Bestimmungen spricht, erstreckt sich (ferner) auf solche Bedeutungen, auf die der Wortsinn der realen Geltung nach nicht hinweist, sondern die nur durch den Tropus/die Metapher (magäz) zu erschließen sind. (...) Mit der Forderung der Kenntnis „der anderen Wissenschaften“, sind vor allem Kenntnisse in Bezug auf die Abrogation und den Offenbarungsanlässen gemeint. Weiterhin die Fähigkeit eine mehrdeutige Stelle im Qur’an mit der Anführung von relevanten Erzählungen zu erklären.“[20]

Wir sehen hier, dass das Auslegen schon jeher eine sehr ernstzunehmende Angelegenheit war, welches Kenntnisse in nahezu allen Wissenschaften (sar’f und gayr sar’f) forderte und voraussetzte. In diesem Sinne ist es höchst bemerkenswert, dass die Tafsfr-Wissenschaft in der Hierarchie der islamischen Wissenschaften den höchsten Rang zugesprochen bekommt, weshalb in den osmanischen Lehrinstitutionen der Rang des Exegeten die höchste Stufe war, den ein Student entsprechender Wissenschaften überhaupt erlangen konnte.[21]

Bei aufmerksamer Betrachtung der angeführten Zitate werden wir merken, dass der Exeget eine fundierte Kenntnis in allen Bereichen der Sprache vorweisen musste. Der Exeget musste also vor allen Dingen ein Meister der Sprachwissenschaften sein, um überhaupt etwas sagen zu dürfen. Das hebt noch einmal hervor, welche Bedeutung die Muslime der Sprache beimaßen. Zarkasi spricht ferner davon, dass die Tafsïr- Wissenschaft die Dienste der „Methodenlehre der islamischen Rechtswissenschaft“ in Anspruch nimmt, womit gesagt ist, dass man unter anderem auch insbesondere Logik beherrschen musste. Wenn weiterhin die Kenntnis der Abrogation und der Offenbarungsanlässe gefordert wird, ist damit gemeint, dass es unabdingbar ist, dass der Exeget die Geschichte jedes einzelnen Verses kennen muss. Er muss wissen warum, zu welchem Anlass und unter welchen Umständen der jeweilige Vers offenbart wurde. Das heißt natürlich auch, dass er die Überlieferungen zur Lebensgeschichte des Propheten (Hadït) studiert haben muss. Nur nach erfolgreichem Abschluss des Studiums dieser Wissenschaften, welche wir hier nur Skizzenhaft aufgezählt haben, ist der klassische Exeget hinreichend für das kritische Studium des Qur’an ausgerüstet.

Zusammengefasst muss er also fähig seinjeden Vers in seinem eigenen sprachlichen, strukturellen und historischen Kontext zu betrachten und zu analysieren. Erst hiernach ist er berechtigt ihn in Bezug auf seine eigene Zeit und seine eigenen Umstände zu bewerten und entsprechend zu deuten. Das ist also der Grund, weshalb oben behauptet wurde, dass die islamische Exegese durchaus als „historisch-kritisch“ zu betrachten sei. Es dürfte aber auch der Unterschied zwischen der modern­westlichen und der „klassisch“-islamischen Auffassung dieser Begriffe deutlich geworden sein. Das hierbei unter „Kritik“ nicht die Kritik am Text an sich verstanden werden kann, dürfte allein schon aus dem Umstand ersichtlich geworden sein, dass es sich hier um die Rede Gottes handelt. Und wer mochte es sich wohl anmaßen Gott zu kritisieren?

Da Gott vollkommen ist, ist auch sein Wort vollkommen. Wer unvollkommen ist, ist der Mensch allein. Deshalb ist die hier verstandene Kritik immer eine „Ich-Kritik“. D.i.: Eine kritische Betrachtung der eigenen Person, der eigenen Zeit und der eigenen stets variierenden Umstände. In einem wissenschaftlichen, textgerichteten Sinn ist „Kritik“ das Unterscheidungsvermögen.

[...]


[1] Siehe: http://www.zeit.de/2010/03/Condirice-interview?page=3 (Kursivsetzung vom Verfasser)

[2] Goethe,J.W., West-Östlicher Divan, 1820, S. 239

[3] Q: 2/2.

[4] Falls nicht anders vermerkt wird im weiteren Verlauf stets auf die Qur’anübersetzung Parets zurückgegriffen werden. In: Rudi Paret, Der Koran, 1982

[5] Für nähere Informationen siehe: Abdullah Saeed, Interpreting the Qur’än. Towards a contemporary approach, 2006; siehe auch: Ismail Cerrahoğlu, Tefsir Tarihi, 1988

[6] F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 1977

[7] Hans Martin Barth, “Nimm und lies!" Die spirituelle Bedeutung von Bibel und Qur’än, in: Hans Martin Barth / Christoph Elsas (Hg.), Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog, 1996, S. 16 (Falls nicht anders vermerkt: Kursivsetzungen und Übersetzungen stets vom Verfasser)

[8] Ebd., S. 14

[9] Im angeführten Zitat benutzt Barth das Wort „Allah“. Ich will künftig davon absehen dieses Wort als einen Eigennamen anzusehen. Ich fasse es als eine Idee auf, weshalb ich stets die deutsche Entsprechung dieser Idee angeben werde: „Gott“. Als Grund sei unter vielen Aspekten nur folgender erwähnt: Wenn im türkischen Sprachgebrauch „tanri“, also das türkische, mitunter vorislamische Korrelat dieses Wortes verwendet wird, so kann diese Verwendung eine gewisse philosophische Distanz schaffen. Benutzt man im Deutschenjedoch sein deutsches Korrelat, so kann die Kluft des Missverständnisses überbrückt werden, indem somit die Gemeinsamkeit der monotheistischen Idee unterstrichen wird.

[10] zitiert nach: Mohamed Talbi, Hören auf sein Wort. Der Koran in der Geschichte der islamischen Tradition, in: A. Bsteh (Hg.), Hören auf sein Wort, 1992

[11] Vgl., Toshihiko Izutsu, God and Man in the Qur'an, 1964

[12] möchte ich bemerken, dass ich denke es sei so, weil ihre „Weltanschauung“ viel zu sehr von westlichen Paradigmen geprägt ist. Das wichtigste übernommene Paradigma in diesem Kontext: der Kalender.

[13] Ğazalı, Ihya Ulüm al-Dïn, Bd. I

[14] Allgemein bekannt als die „Almosensteuer“

[15] Siehe: Henry Corbin, Histoire de la philosophie islamique, 1964; Majid Fakhry, A history ofislamic philosophy, 1970

[16] Peter Heath, Creative Hermeneutics: A Comparative Analysis Of Three Islamic Approaches, in: Arabica 36,1989, S. 173-211

[17] Übersetzt vom Verfasser

1S Izutsu, God and Man in the Qur’an, 1964, S. 164

[19] Al-Zarkasi, alBurhänftUlüm al-Qur’än, Bd. 2, S. 284,1994

[20] Abu Hayyan, al- Bahr al-muhft, Bd. 1, S.14., 1990

[21] Für Details siehe: Cündioğlu, Anlamm Tarihi, 1995

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Die Konvergenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit
Untertitel
Philosophische Ansätze zur Hermeneutik des Qur'an
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
94
Katalognummer
V168862
ISBN (eBook)
9783640870387
ISBN (Buch)
9783640870189
Dateigröße
895 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Islamische Philosophie, Hermeneutik, Exegese, Koran, Islam, Philosophie, Konvergenz, Schriftlichkeit, Mündlichkeit, Tradition, Dogma
Arbeit zitieren
M.A Hureyre Kam (Autor:in), 2010, Die Konvergenz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168862

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