"Dieses" oder "diesen" Jahres?

Korpuslingusitische Untersuchung zu einer "ungrammatischen" Genitiv-Konstruktion


Term Paper, 2009

14 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. DWDS
1.1 Kernkorpus
1.2 Die ZEIT
1.3 Berliner Zeitung:

2. COSMAS II

3. Sketch Engine

4. Mögliche Ursachen

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Kürzlich stieß ich beim Zeitungslesen in einem Artikel auf die Formulierung „Anfang diesen Jahres…“ Ich wunderte mich darüber, denn mein Sprachgefühl rebellierte innerlich gegen diese Form, ich empfand sie als falsch. Umso erstaunter war ich, als ich verschiedenen Muttersprachlern unabhängig voneinander die Frage stellte, welche Form sie für die richtige hielten, diesen Jahres oder dieses Jahres, und nicht wenige erstere angaben. Ein Blick in den Duden wiederum gab mir recht und kannte keine andere Form als dieses Jahres, dieses Hauses, dieses Mannes

Offensichtlich kommt es hierbei aber – wie bei dem noch weiter verbreiteten, häufiger in der Mündlichkeit gebrauchten wegen dem statt wegen des – zu einem Widerstreit zwischen normativer und deskriptiver Grammatik. So wie die Welt sich unaufhörlich verändert, so findet unweigerlich ein steter Sprachwandel statt. Es kann also sein, dass sich bestimmte Sprachgebräuche von Formen wegbewegen, die zu einer Zeit als die verbindlich richtigen galten und in Regelbücher aufgenommen wurden. Da Regelbücher immer nur mit Verzögerung das als Sprachnorm aufnehmen, was de facto gesprochen und von der Mehrzahl der Sprecher als korrekt empfunden wird, kann es zu einem Auseinanderfallen von vorgeschriebener und tatsächlich gesprochener beziehungsweise geschriebener Sprache kommen.

Damit ist diese vermeintlich grammatikalisch inkorrekte Form diesen Jahres ein interessanter Gegenstand für eine korpusgestützte Untersuchung. Korpora bieten die Möglichkeit, Sprache in einer (unterschiedlich) großen Sammlung authentischer Sprachzeugnisse zu untersuchen. Aus diesem Interesse an einer empirischen Untersuchung des realen Sprachgebrauchs ergibt sich eine Reihe von Fragen, die nicht befriedigend vom Linguisten am Schreibtisch beantwortet werden können, der sich allein auf seine persönliche Sprachkompetenz oder Grammatikbücher stützt:

Lässt sich diese Form überhaupt belegen? Wenn ja, auch in einer Häufigkeit, die einen zufälligen ideolektalen Missgriff ausschließt? Lässt sich möglicherweise sogar ein Anstieg der Verwendung beobachten, bzw. demgegenüber ein Rückgang der „grammatisch richtigen“ Form?

Mit diesen Fragen werde ich mich in der nachfolgenden Arbeit an verschiedene Korpora wenden. Da mir diese Wendung in einem Zeitungstext begegnete und ich dort eine häufige Verwendung dieser Art der chronologischen Orientierung erwarte, werde ich mich auf Korpora dieser Textsorte konzentrieren. Zunächst werde ich in verschiedenen DWDS-Korpora recherchieren, anschließend im Korpussystem COSMAS II (genauere Informationen zum jeweiligen Korpus im entsprechenden Abschnitt). Weil andererseits die Vermutung nahe liegt, dass sich ungrammatische Konstruktionen vermehrt in umgangssprachlicheren oder weniger offiziellen Texten finden lassen, werde ich zuletzt ein Web-Korpus abfragen. In Anbetracht meiner kleinen, freilich keineswegs repräsentativen Befragung, bei der diesen Jahres auf breite Akzeptanz stieß, vermute ich einen allmählichen Anstieg dieser Form in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten.

Zum Schluss werde ich noch einige Überlegungen zu den möglichen Gründen anstellen, weshalb sich diese Form entwickelt haben könnte.

1. DWDS

1.1 Kernkorpus

Das DWDS (= Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts) ist ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademien der Wissenschaft mit dem Ziel, den Wortschatz der (geschriebenen)[1] deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts möglichst umfassend zu erfassen und abzubilden. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurde für das sogenannte Kerncorpus zum einen eine mittelgroße Textbasis von 100.000.000 Token erstellt, zum anderen auf eine ausgewogene Verteilung auf die Dekaden und verschiedenen Textsorten geachtet. Als eine Art Nebenprodukt zu dem Hauptprojekt, ein digitales Wörterbuchsystem zu erstellen, entstand ein Internetcorpus in Form einer computerlinguistischen Suchmaschine, welche sich zur Untersuchung vieler linguistischer Fragestellungen – die der vorliegenden Arbeit eingeschlossen – sehr gut eignet. Insbesondere sollten sich Phänomene der Sprachentwicklung mit diesem Korpus nachverfolgen und untersuchen lassen.

Bei der ersten Anfrage[2] an die Suchmaschine jedoch stellt sich schnell Ernüchterung ein: sie liefert insgesamt nicht mehr als zehn Treffer, wovon ganze drei Treffer „aufgrund rechtlicher Nutzungsvereinbarungen anzeigbar“ sind. Die angezeigten Belege setzen sich zusammen aus zwei Zeitungstexten von 1988 und 1994 sowie einem Belletristiktext aus dem Jahr 1996. Dies ließe höchstens den Schluss zu, dass es sich bei dieser Form um eine Entwicklung neueren Datums handeln muss. Allerdings lassen sich bei einer so verschwindend geringen Trefferanzahl im Grunde keine sinnvollen bzw. haltbaren Aussagen treffen. Das Ergebnis müsste wohl so gedeutet werden, dass es sich um mehr oder weniger zufällige, jedenfalls kaum gebräuchliche Abweichungen von der Standardsprache handelt.

Glücklicherweise bietet die DWDS-Korpussuche noch andere Ressourcen als das Kernkorpus zur Internetrecherche an. Da häufigere Vorkommen der zu untersuchenden Form diesen Jahres in Zeitungstexten erwartet wurden, und unter den drei Treffern im Kernkorpus immerhin zwei eben dieser Textsorte entstammen, erscheint die Suche in den Zeitungskorpora besonders aussichtsreich.

1.2 Die ZEIT

Das ZEIT-Korpus für sich genommen setzt sich aus mehr Token zusammen als das gesamte Kernkorpus.[3] Verglichen mit diesem ist die Trefferanzahl für dieselbe Suchanfrage mit 237 Treffern auch deutlich höher – gegenüber 16.029 Treffern für die vermeintlich „richtige“ Form dieses Jahres allerdings nach wie vor eher unbedeutend. Zumindest kann man bei 237 Treffern Tippfehler und dergleichen ausschließen und feststellen, dass es diese Form gibt.

Bevor jedoch die Suchergebnisse zu weiteren Interpretationen herangezogen werden, sei hier vorab bemerkt, dass diese mit äußerster Vorsicht zu genießen sind. Die Suche nach der Form dieses Jahres ergab für das Jahr 1974 (siehe Abb. 2) 506 absolute Vorkommen. Eine Stichprobe der KWIC zeigte, dass nicht wenige dieser Vorkommen mehrfach gezählt wurden: allein bei Überprüfung der besonders häufigen, augenfälligen Wiederholungen des Kontextes entpuppten sich sage und schreibe 96 Treffer als Mehrfachzählungen. D.h. drei verschiedene Belege tauchten in den Ergebnissen ganze 99 mal auf, hätten aber natürlich nur 3 mal als Treffer gewertet werden dürfen. Diese Verfälschung der Ergebnisse ist umso verwunderlicher, als sich der zugrunde liegende Fehler eigentlich sehr leicht beheben lassen müsste. Solche Fehler müssten nun eigentlich mühsam von Hand aussortiert werden. Dies wurde aus arbeitsökonomischen Gründen in diesem Fall nicht getan, zudem besteht die Möglichkeit, dass sich dieser Fehler systematisch wiederholt und zumindest nicht die Größenordnungen verfälscht – wobei sich für die ohnehin selteneren Vorkommnisse von diesen Jahres keine solche Vervielfachungen von Treffern auffinden ließen. Die Aussagekraft der absoluten Trefferzahlen könnte zusätzlich dadurch geschmälert werden, dass es keine Angaben zur Menge der Token je Jahr gibt, auf die sich diese absoluten Zahlen hätten umrechnen lassen. Gäbe es für einen Jahrgang, aus welchen Gründen auch immer, insgesamt doppelt so viele Token wie den vorherigen, würde eine Verdoppelung der Vorkommnisse als Steigerung erscheinen – was sie relativ gesehen gar nicht ist.

Die DWDS-Korpussuche ermöglicht eine graphische Darstellung der chronologischen Verlaufsstatistik bestimmter Wortformen, allerdings nur für das Kernkorpus und zudem ziemlich grobkörnig, für jedes Jahrzehnt eine Säule. Weil dies aber meines Erachtens eine geeignete Form der Ergebnispräsentation für diachrone Untersuchungen ist, werden die Suchergebnisse nachfolgend in eigenhändig angefertigten Diagrammen dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthaltenAbb. 1

[...]


[1] Die Textsortenverteilung sieht folgendermaßen aus: Schöne Literatur (ca. 26%), Journalistische Prosa (ca. 27%), Fachprosa (ca. 22%) sowie Gebrauchstexte (ca. 20%). Der vergleichsweise niedrige Anteil transkribierter gesprochener Sprache liegt lediglich bei ca.5%, was sicherlich in erster Linie Aufwand und hohen Kosten geschuldet ist. Außerdem zählen dazu Redemanuskripte, die nur sehr bedingt Zeugnisse der Mündlichkeit darstellen. Insofern deckt das DWDS-Kerncorpus die gesprochene deutsche Sprache des 20. Jahrhunderts zumindest wesentlich weniger umfassend ab.

[2] Die erste Anfrage lautet: „@diesen @Jahres“ – Die Anführungszeichen sind nötig, um nach einer Phrase zu suchen, die @-Zeichen schließen aus, dass nach allen lemmatisierten Formen gesucht wird. Zudem achtet die DWDS-Suche auf Groß- und Kleinschreibung.

[3] Laut Angaben unter www.dwds.de/textbasis umfasst dieses Korpus 106 Millionen Token, verteilt auf die gesamten Ausgaben der ZEIT von 1996-2007 und 22 Ausgaben zwischen 1946-1988. Diese Angaben dürften allerdings längst veraltet sein, da das ZEIT-Korpus täglich aktualisiert und mit neuen Artikeln eingespeist wird. Insbesondere die älteren Bestände müssten inzwischen ziemlich aufgestockt worden sein, da man für die Kontrastsuche der richtigen Form dieses Jahres für jeden der genannten Jahrgänge und für den Zeitraum 1988-1997 Treffer en masse findet. Vgl. dazu auch Abb. 2.

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Details

Title
"Dieses" oder "diesen" Jahres?
Subtitle
Korpuslingusitische Untersuchung zu einer "ungrammatischen" Genitiv-Konstruktion
College
University of Hamburg  (Institut für Germanistik I)
Course
Einführung in die Korpuslinguistik
Grade
1,3
Author
Year
2009
Pages
14
Catalog Number
V168729
ISBN (eBook)
9783640867110
File size
530 KB
Language
German
Keywords
dieses, jahres, korpuslingusitische, untersuchung, genitiv-konstruktion
Quote paper
R. Fehl (Author), 2009, "Dieses" oder "diesen" Jahres?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168729

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