Die Darstellung inzestuöser Übergriffe in ausgewählten amerikanischen Romanen


Examensarbeit, 2010

83 Seiten


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Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Inzest historisch

3. Inzest als Tabu

4. Inzest in der Literatur

5. Toni Morrison: The Bluest Eye (1970)
5.1. Der Titel
5.2. Der Fibeltext
5.3. Die Einleitung
5.4. Kapitel VIII: Vater
5.4.1. Chollys Lebensgeschichte
5.4.2.Die Vergewaltigung
5.5. Intertextuelle Verweise
5.5.1. Philomela
5.5.2. Persephone
5.5.2.1. Die Jahreszeiten
5.5.2.2. Das Blumenmotiv
5.5.2.3. Die Menstruation als weibliche Initiation
5.5.2.4. Hades als Vaterfigur
5.5.2.5. Folgen der Vergewaltigung

6. Alice Walker: The Color Purple (1983)
6.1. Analyse der Briefe
6.1.1. Erster Brief
6.1.2. 47. Brief
6.2. Inzest und Sprache in The Color Purple.

7. Matt Ruff: Set This House in Order (2003)
7.1. Ordnung im Chaos: Die Darstellung dissoziativer Identitätsstörung, Räumlichkeit und Zeit
7.1.1.Die Darstellung dissoziativer Identitätsstörung
7.1.2. Die Darstellung von Räumlichkeit
7.1.3. Die Darstellung von Zeit
7.2. Das real erlebte Trauma: Darstellung des Inzests, des Täters und die Frage nach der Verantwortung der Mutter
7.2.1. Darstellung des Inzests
7.2.2. Darstellung des Täters
7.2.3. Die Frage nach der Verantwortung der Mutter

8. Fazit
8.1. The Bluest Eye
8.2. The Color Purple
8.3. Set This House in Order.
8.4. Schlussbemerkung

9. Literaturverzeichnis
9.1. Untersuchte Werke
9.2. Konsultierte Publikationen

1. Einleitung

„Deep water has no ford. The broad field has no end. Small stones have no number. A pretty girl has no kinsmen.”

(Slowenisches Volkslied)1

Der Inzest ist eines jener großen Themen, die die Frage nach dem Grund menschlichen Lebens aufwerfen. Mit seiner spezifischen Kopplung von Liebe, Begehren, Verbot und Überschreitung rührt er an fundamentale Probleme der subjektiven, kulturellen und gesellschaftlichen Existenz des Menschen.2

Mit diesen Worten eröffnet Dagmar von Hoff ihr Buch Familiengeheimnisse und artikuliert damit die essenziellen Aspekte, die dem Inzest innewohnen. Es ist ein Thema, das die Menschheit seit Jahrtausenden beschäftigt und bis heute nichts von seiner prekären Aktualität verloren hat. Inzestverbrechen wie ‚der Fall Amstetten‘ im Jahre 2008 erweisen sich als äußerst medienwirksam, das jahrzehntelange Martyrium der 42-jährigen Tochter eines Inzesttäters hält sich monatelang in den Schlagzeilen und beschäftigt die Bevölkerung. Es ist der Bruch eines instinktiven Tabus, der den Inzest so besonders schockierend wirken lässt.

Gerade dieses schockierende Moment scheint es zu sein, das den Inzest als beliebtes Thema der Literatur kennzeichnet. Immer wieder taucht es in literarischen Werken auf, wobei sich die Bearbeitung durch sämtliche Genres zieht. Wie Dagmar von Hoff feststellt, ist die Inzestthematik darüber hinaus mit einer großen Fallhöhe verbunden: „Sie reicht von Sophokles‘ Tragödie Ö dipus bis zu den Niederungen der Pornographie.“3

In der amerikanischen Literatur findet man Inzest in den unterschiedlichsten Bearbeitungen - sei es in der Thematisierung der Geschwisterliebe, wie in Edgar Allen Poes The Fall of the House of Usher und William Faulkners The Sound and the Fury, oder in der Vater-Tochter-Beziehung, die Vladimir Nabokov in seinem Roman Lolita bearbeitet. Die Konstellationen der interfamiliären sexuellen Beziehungen sind zahlreich, und jede birgt in sich andere Aspekte, die es zu entschüsseln gilt.

Die vorliegende Arbeit wird sich auf die Analyse inzestuöser Beziehungen zwischen Vater und Tochter konzentrieren; dabei steht der gewaltsame Übergriff seitens des Vaters im Vordergrund. Zu diesem Zweck wurden drei zeitgenössische amerikanische Romane ausgewählt, in denen gewaltsame inzestuöse Übergriffe thematisiert werden. Es handelt sich dabei um Toni Morrisons The Bluest Eye, Alice Walkers The Color Purple und Matt Ruffs Set This House in Order. Besonders interessant erscheint mir dabei die Tatsache, dass in keinem der drei Romane der Inzest ein handlungstragendes Element zu sein scheint; der wissenschaftliche Diskurs hat sich daher bis dato mit anderen Aspekten der ausgewählten Werke befasst. Die Frage nach der Inzestthematik birgt daher ein großes Erkenntnispotenzial.

Das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegt auf der Darstellung von inzestuösen Übergriffen in der ausgewählten Literatur. Dabei spielen narratologische Umsetzung und rhetorische Stilmittel eine besonders große Rolle. Da in allen drei Romanen die Schilderung des Inzests einen sehr geringen Raum einnimmt, stellt sich zusätzlich die Frage nach dessen Bedeutung für das Gesamtwerk. Hierzu liefert Dagmar von Hoff in ihrem Buch Familiengeheimnisse eine interessante These, die die Thematisierung von Inzest in zeitgenössischer Literatur betrifft. Laut von Hoff wohnt dem Inzest in der Literatur immer auch ein Motivcharakter inne, der auf ein Trauma in einem größeren Zusammenhang verweist: „Inzestuöse Familiengeschichten verdecken vielmehr politische Diskurse, die aufgeschlüsselt werden wollen.“4 Die Autorin argumentiert, dass „für die deutschsprachige Literatur der Gegenwart nichts einschneidender und bestimmender gewesen [ist] als das Trauma des Nationalsozialismus“5, dass inzestuöse Darstellungen also auf dieses Thema referieren. Für die südamerikanische Literatur sieht sie das zu verarbeitende gesellschaftliche Trauma in der Militärdiktatur, das sich „durch die Inzestthematik hindurch [artikuliert]“.6 Es stellt sich nun die Frage, ob ein solcher Motivcharakter auch in den untersuchten nordamerikanischen Romanen zu finden ist. Auch die USA blicken schließlich auf ein Jahrhundert zurück, in dem ein gesellschaftliches Trauma wie der Rassismus eine große Rolle spielt. Die vorliegende Arbeit wird sich daher zwei Bereichen widmen: Zum einen soll die Darstellung der inzestuösen Übergriffe analysiert und im Gesamtzusammenhang des jeweiligen Romans betrachtet werden, zum anderen wird die Frage nach dem Motivcharakter des Inzests beantwortet. Die Arbeit erhebt dabei nicht den Anspruch, eine allgemeingültige Aussage zur Verwendung des Inzestmotivs in der nordamerikanischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts zu machen, da die Anzahl der untersuchten Romane keinesfalls eine repräsentative Auswahl darstellt. Vielmehr gilt das Erkenntnisinteresse der individuellen Botschaft der drei Romane, ein etwaiger Motivcharakter kann demzufolge nur für das betrachtete Werk an sich gelten.

2. Inzest historisch

“The prohibition of incest is less a rule prohibiting marriage with the mother, sister, or daughter, than a rule obliging the mother, sister, or daughter to be given to others. It is the supreme rule of the gift, and it is clearly this aspect, too often unrecognized, which allows its nature to be understood.”7

Die Inzestproblematik ist kein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Seit Menschengedenken setzt sich die Gesellschaft mit diesem Tabu auseinander, was unter anderem auch daran zu erkennen ist, dass schriftliche Aufzeichnungen von Inzestverboten weit zurückreichen. So bezeichnete schon das Mosaische Gesetz der Thora Inzest als verbotene Handlung:

Niemand von euch darf sich einer Blutsverwandten nähern, um ihre Scham zu entblößen. Ich bin der Herr. Die Scham deines Vaters, nämlich die Scham deiner Mutter, darfst du nicht entblößen. Sie ist deine Mutter, du darfst ihre Scham nicht entblößen. Die Scham der Frau deines Vaters darfst du nicht entblößen; sie ist die Scham deines Vaters. Die Scham deiner Schwester, einer Tochter deines Vaters oder einer Tochter deiner Mutter, darfst du nicht entblößen, sei sie im Haus oder außerhalb geboren. Die Scham einer Tochter deines Sohnes oder einer Tochter deiner Tochter darfst du nicht entblößen; denn ihre Scham ist deine eigene Scham. Die Scham der Tochter einer Frau deines Vaters darfst du nicht entblößen. Sie ist deinem Vater geboren, also deine Schwester; du darfst ihre Scham nicht entblößen. Die Scham einer Schwester deines Vaters darfst du nicht entblößen; denn sie ist mit deinem Vater leiblich verwandt. Die Scham der Schwester deiner Mutter darfst du nicht entblößen; denn sie ist mit deiner Mutter leiblich verwandt. Die Scham des Bruders deines Vaters darfst du nicht entblößen; du darfst dich seiner Frau nicht nähern; denn sie ist deine Tante. Die Scham deiner Schwiegertochter darfst du nicht entblößen. Sie ist die Frau deines Sohnes; du darfst ihre Scham nicht entblößen. Die Scham der Frau deines Bruders darfst du nicht entblößen; denn sie ist die Scham deines Bruders. Die Scham einer Frau und gleichzeitig die ihrer Tochter darfst du nicht entblößen; weder die Tochter ihres Sohnes noch die Tochter ihrer Tochter darfst du nehmen, um ihre Scham zu entblößen. Sie sind leiblich verwandt, es wäre Blutschande. Du darfst neben einer Frau nicht auch noch deren Schwester heiraten; du würdest sie zur Nebenbuhlerin machen, wenn du zu Lebzeiten der Frau die Scham ihrer Schwester entblößt.8

Auch die Antike hatte den Bereich der Verwandtenehe klar geregelt. Die Solonischen Gesetze Athens verboten die Geschwisterehe, die vorher erlaubt war. Ebenso waren Ehen zwischen Eltern und Kindern untersagt. Die Römer gingen sogar so weit, Ehen bis zum sechsten und siebten Verwandtschaftsgrad zu verbieten; bei Verstoß drohten drastischen Strafmaßnahmen: der Zwang zum Selbstmord durch Sturz vom Tarpejischen Felsen.9 Die Germanen im frühen Mittelalter waren kulturell bereits stark von den Römern geprägt und übernahmen die Eheverbote. Auch die Kirche missbilligte den Inzest; Christentum und Islam verboten ihn und christliche reformierte Kirchen haben diese Verbote noch verschärft.10

In der Neuzeit waren und sind Eheschließungen zwischen nahen Verwandten in nahezu allen Völkern verboten. Der sexuelle Kontakt jedoch wird nicht überall strafrechtlich verfolgt, sondern lediglich missbilligt. Napoleon erklärte im Zuge der Französischen Revolution 1810 Inzest für straffrei und diesem Beispiel folgten später auch andere europäische Länder wie Portugal, Spanien und die Niederlande. Auch heute noch unterscheiden sich die Inzestverbote hinsichtlich des Verwandtschaftsgrades und des Strafmaßes. Das deutsche Strafgesetz beispielsweise sieht Freiheits- und Geldstrafen vor:

Beischlaf zwischen Verwandten.

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.11 In der Türkei, China, der Elfenbeinküste und Russland hingegen spielt Beischlaf unter Verwandten juristisch gesehen keine Rolle, sexuelle Übergriffe innerhalb einer Familie werden durch andere Gesetze geahndet. Auch in den USA ist Inzest in den meisten Staaten verboten und kann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden.12

Aus historischer Sicht ist das Inzestverbot jedoch widersprüchlich, war es doch nicht allgemein gültig, sondern abhängig vom sozialen Status der Betroffenen. „[B]ei bevorrechtigten Kasten bestimmter Kulturen [wurde] Inzest nicht nur erlaubt, sondern sogar empfohlen.“13 Dies galt in hohem Maße für Herrschaftshäuser, Priester und Adelige um die Reinheit des Blutes zu gewährleisten. Als Vorbild diente hierfür vermutlich die Mythologie, denn in beinahe allen Hochkulturen des Altertums finden sich inzestuöse Verbindungen, allen voran die Geschwisterehe. So waren in Griechenland Zeus und Hera Geschwister, in Japan Yama und Iami, in Ägypten Isis und Osiris und in der nordischen Mythologie Freyr und Freya.

Was für die Götter und ihre weltlichen Vertreter ein Vorrecht war, galt jedoch mitnichten für die normal sterbliche Bevölkerung. Inzest war also schon in frühester Menschheitsgeschichte geprägt von Ambivalenz und Doppeldeutigkeit, was wesentlich zu seiner Tabuisierung beitrug.

3. Inzest als Tabu

„Wenn ich die Eindrücke meiner Leser richtig abzuschätzen weiß, so getraue ich mich jetzt der Behauptung, sie wüßten nach all diesen Mitteilungen über das Tabu erst recht nicht, was sie sich darunter vorzustellen haben und wo sie es in ihrem Denken unterbringen können. […] Aber andererseits fürchte ich, eine eingehende Schilderung dessen, was man über das Tabu weiß, hätte noch verwirrender gewirkt, und darf versichern, daß die Sachlage in Wirklichkeit recht undurchsichtig ist.“14

Siegmund Freuds Worte über das Tabu scheinen in der Tat verwirrend, denn es fällt schwer, etwas in Worte zu fassen, was per definitionem unausgesprochen bleibt oder worüber allenfalls hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird; das Tabu beschreibt „etwas Undefinierbares, der Erfahrung Unzugängliches“15.

Die Verständnisschwierigkeiten beginnen bereits im Ursprung des Wortes. Der polynesischen Sprache Tonga entlehnt ist die Bedeutung des Wortes ‚tapu‘ ambigue; es ist unklar, ob der Ausdruck etwas ‚Unreines‘ oder etwas ‚Heiliges‘ bezeichnet16. Etymologisch betrachtet setzt sich das Wort aus den Morphemen ta = ‚bezeichnen‘ und pu = ‚außerordentlich‘ zusammen. Es verweist also auf Gegenstände und Wesen, die nicht berührt werden dürfen, weil sie in irgendeiner Weise als außergewöhnlich gelten17. Es stellt sich die Frage, was zu einem Tabu gemacht werden kann. Orientiert man sich am Ursprung des Wortes tapu, so handelte es sich häufig um sakrale Elemente, deren Annäherung verpönt war, wie beispielsweise das Berühren von Toten oder ihnen zugehörige Gegenstände. Das Tabu kann also mit großer Wahrscheinlichkeit auf einen religiösen Ursprung zurückgeführt werden. Für die vorliegende Arbeit gilt es jedoch, eine Definition des Tabubegriffs zu finden, die weniger die religiösen Ursprünge betont, sondern die kulturellen Aspekte in den Vordergrund rückt. Eine gute Grundlage bildet daher Hartmut Schröders Verständnis des Begriffs ‚Tabu‘. Ihm zufolge markiert das Tabu einen „Teil des sozialen Kodex einer Gemeinschaft [...], der festschreibt, welche Handlungen und Verhaltensweisen nicht ausgeführt werden sollen[...], über welche Themen nicht kommuniziert werden soll und welche Wörter vermieden werden sollen.“18 Aufgabe des Tabus sei somit die „Funktion der Verhaltensregulierung, der Etablierung von Grenzen, der Anerkennung von Autoritäten z.B. zur Sicherung von Eigentums-, Herrschaftsverhältnissen und bestimmter sozialer Ordnungen.“19 Dabei gilt es zu beachten, dass sich der Begriff des Tabus klar von dem des Verbots unterscheidet; während Verbote in der Regel auf rationalen Begründungen fußen, die hinterfragt werden können, sind die Ursprünge eines Tabus oftmals nicht mehr nachvollziehbar. Sie stehen „außerhalb jeder Diskussion, da sich die tabuisierte Handlung quasi von selbst verbietet.“20 Somit entzieht sich also nicht nur die tabuisierte Handlung jeglicher Definition, sondern selbst der sprachliche Diskurs ist per definitionem nicht existent. Dem Tabu haftet somit stets etwas Geheimes und Unausgesprochenes an; gleichzeitig soll es ganz natürlich und instinktiv von jedem Einzelnen als solches erkannt und geachtet werden. In dieser Implizitheit liegt die Schwierigkeit des Begreifens eines Tabus. Das gilt ebenso für das Überschreiten der moralischen Grenze, die das Tabu markiert.

Dieser Sprachlosigkeit begegnet man auch in der Auseinandersetzung mit Inzest. Wie sich in der Analyse der drei Romane zeigen wird, spiegelt sich besonders in der literarischen Verarbeitung des Inzestmotivs die dem Tabu eigentümliche Sprachlosigkeit wider. Die Frage, wie das Erschreckende und Verstörende dieser Grenzüberschreitung angemessen dargestellt werden kann, birgt daher ein großes Erkenntnispotential.

4. Inzest in der Literatur

“Frigid gentlewomen of the jury! I had thought that months, perhaps years would elapse before I dared to reveal myself to Dolores Haze, but by six she was wide awake, and by six fifteen we were technically lovers. I am going to tell you something very strange; it was she who seduced me.”21

Auch in der Literatur finden wir Inzest in den unterschiedlichsten Konstellationen. Die von Siegmund Freud als archetypisch verstandene Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist dabei am seltensten vertreten, da die Kombination einer älteren Frau und eines jüngeren Mannes nicht der poetischen Ästhetik entspricht22. Am häufigsten wird die Liebe zwischen Geschwisterpaaren thematisiert. Hierbei steht die - meist unglückliche - Liebe der beiden im Vordergrund. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Konstellation Vater-Tochter, wobei die Tochter in allen Fällen Opfer einer Vergewaltigung ist. Somit wird hier nicht nur das Tabu der interfamiliären sexuellen Beziehung gebrochen, sondern es findet zusätzlich eine gewaltsame zwischenmenschliche Grenzüberschreitung statt. Der Tabubruch erscheint umso grausamer, da die Opfer in allen Fällen Kinder sind, was ein weiteres Tabu darstellt. Inzest zwischen Vater und Tochter ist ein häufig verwandtes Thema in der Literatur. Die Tochter fungiert dabei in der Regel als Ebenbild und Ersatz der (meist kürzlich verstorbenen) Mutter. Auffällig ist, dass man den Stoff bereits in den Ursprüngen aller Geschichten finden kann, nämlich in Märchen und mythologischen Sagen. So muss die Protagonistin des häufig aufgearbeiteten Aschenputtel-Märchens in einer Ursprungsvariante nicht unter der tyrannischen Herrschaft ihrer Stiefmutter leiden, sondern sich vielmehr gegen die Annäherungsversuche des Vaters zur Wehr setzen, der sie an den Platz der verstorbenen Gattin setzen will23. In Grimms Märchen „Allerleirauh“ finden wir dieses Thema ebenfalls: Die sterbende Königin verlangt ihrem Gatten ab, nur wieder zu heiraten, wenn ihre Nachfolgerin ihr in Schönheit und Anmut in nichts nachstünde. Nach verzweifelter Suche erkennt der König, dass nur seine Tochter diese Anforderungen erfüllen kann und verlangt von ihr, ihn zu heiraten. Die Prinzessin versucht verzweifelt, sich den Avancen des Vaters zu widersetzen, indem sie ihm scheinbar unlösbare Aufgaben stellt, ehe sie seinem Ansinnen nachgäbe. Als diese Abwehrversuche jedoch scheitern, bleibt ihr nur die Flucht aus dem Elternhaus. Der gleiche Stoff wurde auch in der keltischen Sage der heiligen Dymphna verarbeitet.24 Auch sie musste vor den inzestuösen Übergriffen des Vaters fliehen, der in ihr das Ebenbild der kürzlich verstorbenen Mutter sah.

Diese ursprünglichen Darstellungen von Inzest weisen viele Parallelen zu den hier untersuchten Werken auf. Dabei ist es unerheblich, ob es sich beim Täter um den biologischen oder den Stiefvater handelt; wichtig ist, dass er in dem familären Gefüge die Vaterrolle innehat. Dadurch wird der sexuelle Übergriff zum Inzest und wird aufgrund des Tabubruchs und des Vergewaltigungsaspekts in jedem Fall als traumatisch und grausam erachtet.

5. Toni Morrison: The Bluest Eye (1970)

„It was a long time before my sister and I admitted to ourselves that no green was going to spring from our seeds. Once we knew, our guilt was relieved only by fights and mutual accusations about who was to blame. For years I thought my sister was right: it was my fault. I had planted them too far down in the earth. It never occurred to us that the earth itself might have been unyielding.”25

Der Roman The Bluest Eye erzählt die Geschichte von Pecola Breedlove, einem jungen schwarzen Mädchen, das vergeblich versucht, sich in der Welt zu behaupten. Dabei stellen sowohl gesellschaftlicher Rassismus als auch ihre zerrütteten Familienverhältnisse immer wieder unüberwindbare Hürden dar. Toni Morrison portraitiert somit die systematische Zerstörung der Protagonistin durch die von einem weißen Schönheitsideal geprägte Gesellschaft.

The Bluest Eye verfügt über einen sehr komplexen Aufbau. Der Roman ist keine bloße Aneinanderreihung von Kapiteln, die Geschichte ereignet sich auf mehreren Ebenen. Die Autorin verzichtete nicht nur auf ein Inhaltsverzeichnis, sondern bei einem Teil ihres Werks auch auf Überschriften. Um den Aufbau des Romans klar wiederzugeben und die Referenzen eindeutiger zu machen, folgt zunächst eine Einteilung und Benennung der einzelnen Abschnitte von The Bluest Eye:26

0. Fibeltext

HERBST
1. Einleitung
2. Kapitel I (ohne Titel)
3. Kapitel II: Das Haus
4. Kapitel III: Die Familie

WINTER
5. Kapitel IV (ohne Titel)
6. Kapitel V: Die Katze

FRÜHLING

7. Kapitel VI (ohne Titel)
8. Kapitel VII: Die Mutter
9. Kapitel VIII: Der Vater
10. Kapitel IX: Der Hund

SOMMER

11. Kapitel X (ohne Titel)
12. Kapitel XI: Der Freund

Zunächst finden wir die Rahmenhandlung, sie bildet sowohl den Anfang (4) als auch das Ende (162-164) der Histoire. Claudia schaut zurück auf die Ereignisse in ihrer Kindheit und zieht am Ende persönliche Schlussfolgerungen daraus. Die Binnenhandlung wird teils von einer homodiegetischen Erzählerin, der jungen Claudia, relativ zeitnah erzählt und von einem heterodiegetischen Erzähler ergänzt. Die Binnenhandlung teilt sich in vier Teile, die den vier Jahreszeiten zugeordnet werden: Pecolas Geschichte beginnt mit dem Abschnitt ‚Herbst‘, gefolgt von ‚Winter‘, ‚Frühling‘ und ‚Sommer‘. Jeder der vier Abschnitte wird von einem Erzählerbericht der jungen Claudia eingeleitet. Auffällig hierbei ist, dass es sich bei der Zeitform anfänglich immer um das Präsens handelt, das später in Präteritum übergeht; Claudia leitet somit ihre Erzählung immer mit einem Gedankenbericht ein, der ein allgemeines Thema ihres persönlichen Lebens beschreibt: Im Abschnitt ‚Herbst‘ handelt es sich um eine Skizzierung ihres Alltags und ihrer Familie, im ‚Winter‘ lernen wir etwas über ihren Vater, im ‚Frühling‘ sinniert sie über den Zusammenhang der frisch erblühten Zweige und körperlicher Gewalt, die in ihrem Leben eine alltägliche Erfahrung darstellt. Die Einleitung des Abschnitts ‚Sommer‘ steht im Zeichen der Erinnerung an Sommerstürme. Den im Präsens gehaltenen Textabschnitten folgt ein Wechsel zum Präteritum und damit die Wendung zur Haupterzählung. Claudia berichtet Geschehnisse aus ihrer eingeschränkten Perspektive, es liegt eine interne Fokalisierung vor. Ergänzt werden diese Ereignisse durch Kapitel, deren Überschrift Teile des anfänglichen Fibeltextes sind. Wie in Abschnitt 5.2. noch zu sehen sein wird, verweisen diese Überschriften auf den Inhalt der Kapitel. Präsentiert wird das Geschehen hier durch einen heterodiegetischen Erzähler, der über mehr Wissen als Claudia verfügt und somit die Geschichte vervollständigt.

Im Folgenden werden nun ausgewählte Teile des Romans analysiert, um ein genaues Bild der Inzestdarstellung zu erhalten. Dabei gilt es zu beachten, dass sich die Darstellung nicht nur auf die Vergewaltigungsszene selbst beschränkt, sondern sich durch den gesamten Roman zieht.

5.1. Der Titel

‚Man soll ein Buch nicht nach dem Umschlag beurteilen.‘ Was dieses alte Sprichwort besagt, trifft besonders auf den Titel von Toni Morrisons Roman The Bluest Eye zu. Zunächst könnte man davon ausgehen, dass der Titel auf den vordergründigen Plot hinweist, in dem die Protagonistin sich nichts sehnlicher wünscht als blaue Augen zu haben. Doch der Titel wirkt befremdlich, sind wir doch im allgemeinen Sprachgebrauch daran gewöhnt, ‚Augen‘ im Plural zu verwenden. Hier kommt das menschliche Bedürfnis zum Tragen, die Welt als ein duales System zu begreifen, in dem binäre Unterscheidungen getroffen werden. Wir finden diese Zweiteilung in nahezu allen Lebensbereichen. Menschliche Ethik- und Moralvorstellungen unterscheiden naturgemäß zwischen gut und böse, Recht und Unrecht. Dieses Empfinden lässt sich zumeist auf mythologische Grundvorstellungen zurückführen, die mit dem Gegensatzpaar ‚Himmel‘ und ‚Hölle‘ eben jene Moralvorstellungen widerspiegeln. Aber auch in beinahe allen anderen, natürlichen Lebensbereichen finden wir dieses dualistische Weltverständnis. Wir unterscheiden zwei Geschlechter, Mann und Frau. Die Zeit ist unterteilt in Tag und Nacht. Und auch der menschliche Körper weist genügend Beispiele für Dualität auf; so verfügen wir nicht umsonst über zwei Arme, zwei Beine, zwei Ohren und eben auch zwei Augen. Es scheint uns also nur natürlich, von ‚Augen‘ als einem Paar zu sprechen, sieht man von dem Fall ab, dass ein bestimmtes Auge Gegenstand der Äußerung ist. Mit ihrem Titel The Bluest Eye weckt Toni Morrison also die Aufmerksamkeit eines potentiellen Lesers, den dieser Bruch von sprachlichem Dualismus irritiert. Ebenso irritierend wirkt der hier verwendete Superlativ ‚bluest‘ , da Farbadjektive als nicht steigerbar gelten; ein Gegenstand kann blau, rot, grün oder gelb sein, oder er ist es eben nicht (auch hier findet sich das Dualitätsprinzip wieder). Auf den ersten Blick scheint der Romantitel also ungrammatisch zu sein.

Der Titel The Bluest Eye bietet jedoch mehrere Lesarten. So stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von ‚blue‘. Hierbei handelt es sich um ein Homonym, da sowohl die Farbe Blau damit gemeint sein kann als auch die Beschreibung einer traurigen, melancholischen Stimmung. Somit kann sich hinter dem Adjektiv bereits der erste Hinweis auf die bevorstehenden Ereignisse verbergen. Führt man diesen Gedanken weiter, so wird auch die Doppeldeutigkeit des Nomens ‚eye‘ deutlich. Hinsichtlich der Aussprache ist es schließlich identisch mit dem Personalpronomen ‚I‘ und man könnte den Titel durchaus auch im Sinne von „the most distressed Ego“27 verstehen. Nicht zuletzt deshalb, da wir Augen und das menschliche Selbst sehr eng miteinander in Verbindung bringen. Das liegt vermutlich daran, dass der visuelle Sinn für uns der präsenteste ist, den wir aktiv nutzen können. Visuelle sinnliche Wahrnehmungen sind viel komplexer als haptische, gustatorische oder akustische und können vergleichsweise differenziert wahrgenommen werden; Eindrücke können ausgeblendet oder fokussiert werden und man kann sich ihnen entziehen, indem man schlicht die Augen schließt. Der Sehsinn wird auch im Alltag am stärksten gefordert, sei es durch Werbereize oder farbliche Konnotationen wie beispielsweise im Verkehrswesen (etwa eine rote Ampel).

Das Auge und das Ich scheinen also sehr stark miteinander verbunden zu sein. Sprichwörter wie ‚Augen sind die Fenster zur Seele‘ verdeutlichen diese semantische Nähe und auch in der Philosophie finden wir diese Interpretation wieder. So spricht einer der berühmtesten Autoren der amerikanischen Literaturgeschichte Ralph Waldo Emerson davon, sein Selbst in einen ‚transparent eyeball‘ zu verwandeln um die Grenzen seines isolierten und individuellen Daseins zu überwinden und eins mit der Welt als Ganzem zu werden.28 Was Emerson als transzendentale Erfahrung beschreibt, findet sich auch in The Bluest Eye wieder. Wie dieses Kapitel noch zeigen wird, durchläuft die Protagonistin eine Entwicklung, die sie von sich selbst und ihrer Individualität entfernt. Toni Morrisons Titel könnte also durchaus als ein Verweis auf Emersons Transzendenzvorstellung gedeutet werden.

5.2. Der Fibeltext

Toni Morrison wählt einen ungewöhnlichen Einstieg in ihren Roman, indem sie einen typischen Erstlesertext präsentiert, wie er in jedem gängigen Grundschullesebuch zu finden sein könnte. Der Text besteht aus sehr kurzen und einfach strukturierten Hauptsätzen, die dem Leser eine typische weiße Mittelschicht-Familie präsentieren; diese besteht aus der Mutter, dem Vater und den Kindern Dick und Jane. Schon die Namensgebung weist auf die Stereotypie hin, da ‚Dick‘ und ‚Jane‘ in den USA sehr gängige Namen sind. ‚Dick‘ galt vor allem in den 1940er Jahren, der Zeit, in der The Bluest Eye spielt, als äußerst beliebter Jungenname; von tausend Kindernamen rangierte er unter den obersten 200.29 ‚Jane‘ war zu jener Zeit sogar einer der 100 häufigsten Mädchennamen und seine Beliebtheit hält sich bis heute, so dass der Name nach wie vor zu den 400 häufigsten zählt.30 Neben der Familie werden auch das Haus, ein Hund und eine Katze präsentiert und unterstreichen damit den stereotypen Charakter des Fibeltextes. Die Protagonistin ist Jane, die Tochter, die einen Spielgefährten sucht, doch niemand findet sich.

Dem Text ist eine sehr klare Struktur inne: Alle Figuren werden vorgestellt durch das Wort ‚see‘. Es folgt ein Satz, der den Präsentierten beschreibt: „See Jane. She has a red dress.[…]See the cat. It goes meow-meow.[…]See mother. Mother is very nice.[…]See father. Father is smiling.[…]See the dog. Bowwow goes the dog.“ (1) Nun wird nach jeder Vorstellung die rhetorische Frage „Will you play with Jane?“ gestellt und die Reaktion des Betreffenden geschildert: „Mother laughs. […] Father is smiling. […] See the dog run.“ (1) Darauf folgt eine Äußerung im Imperativ, die den Angesprochenen auffordert, seine Reaktion fortzusetzen: „laugh, mother, laugh. […] Smile, father, smile. […] Run, dog, run.“ (1) Diese Struktur wird auch am Ende des Textes weitergeführt, als ein Freund eingeführt wird, der nun mit Jane spielt: „Here comes a friend. The friend will play with Jane. […]Play, Jane, play.“ (1) Lediglich die Katze entzieht sich dieser Strukturierung.

Die plakative Harmonie wirkt an dieser Stelle sehr künstlich; ein Fibeltext in einem Roman, der sich an ein erwachsenes Zielpublikum richtet, scheint deplatziert und in gewisser Weise verdächtig. Tatsächlich steht die friedliche und harmonische Darstellung von Janes Familiensituation im krassen Widerspruch zu allem, was der Leser im Laufe des Romans über die Familie Breedlove erfährt. Auf euphemistische Art und Weise werden hier die Charaktere eingeführt, die um Pecola Breedloves Schicksal kreisen. Zynisch wird hier als Spiel beschrieben, was für die Protagonistin zur Tortur werden wird, die letztendlich in ihrer persönlichen Desintegrierung endet.

Dem idyllischen Fibeltext folgt nun derselbe Text noch einmal, diesmal allerdings syntaktisch aufgebrochen, da jegliche Interpunktion fehlt. Auch die Kapitalisierung an möglichen Satzanfängen wurde weggelassen. Darüber hinaus wurde auch der Zeilenabstand verringert; es scheint, als sei die harmonische Familie von Dick und Jane näher zusammengerückt. Diese typographisch geschaffene Nähe vermittelt jedoch mitnichten ein Gefühl von Geborgenheit oder Zusammenhalt, wie man es einer glücklich wirkenden Familie wohl unterstellen mag; viel eher hat der Leser das Gefühl, dass eine gesunde, notwendige Distanz fehlt. Die ineinander übergehenden Sätze, die nur noch schwer als individuelle Aussagen ausgemacht werden können, irritieren ebenso wie der geringere Zeilenabstand. Leicht passiert es, dass man etwas überliest oder in der Zeile verrutscht, so dass das Leseerlebnis quasi verfälscht wird. Diese Darstellung des Textes ist symptomatisch für die Beziehungen innerhalb der Breedlove-Familie und Pecolas zersplitterte Wahrnehmung der Realität. Zwischenmenschliche Grenzen und Distanz werden eingerissen durch den Missbrauch von Pecola, sei es aus sexueller, gesellschaftlicher oder egoistischer Motivation heraus. Der syntaktisch aufgebrochene Text zwingt den Leser, noch genauer hinzuschauen um wirklich alle Zusammenhänge zu begreifen und weist damit auf die bevorstehenden Schwierigkeiten hin, die im Roman präsentierten Ereignisse zu entschlüsseln und zu verstehen.

Auf die syntaktisch aufgebrochene Version des Fibeltextes folgt eine dritte Version, in der die typographische Struktur nun vollends zusammenbricht. Leerstellen wurden weggelassen und alle Wörter ohne Rücksicht auf Kapitalisierung von Satzanfängen und Eigennamen gehen nahtlos ineinander über. Der Zeilenabstand wurde noch weiter verringert und im Gegensatz zur vorherigen Version sind hier auch die Zeilenumbrüche von dem chaotischen Schriftsystem betroffen - weder Wort- noch Satzgrenzen werden mehr eingehalten. Die Autorin treibt damit die Wirkung von Chaos und Zerfall auf die Spitze. Bedurfte es in der zweiten Version großer Konzentration um die einzelnen Sätze zu identifizieren, ist es nunmehr nur noch möglich, weil der Leser bereits um den Inhalt weiß. Allzu schnell verliert man beim Lesen den Sinn des Textes aus den Augen und es ergeben sich völlig neue, unzusammenhängende Wörter; aus ‚see‘ und ‚the‘ wird plötzlich ‚seethe‘ und hinterlässt den Eindruck eines brodelnden Hexenkessels, etwas, das unter der Oberfläche schlummert und droht, herauszubrechen. In ‚shehasareddress‘ findet man eine graphische Ähnlichkeit zu ‚hazard‘ und auch zu ‚harass‘, wieder ein Hinweis auf bevorstehende Ereignisse. Die fehlende Wortgrenze zwischen ‚Jane‘ und ‚the‘ kreiert bei flüchtigem Lesen eine ‚Janet‘, also eine völlig neue Person, gefolgt vom maskulinen Personalpronomen ‚he‘. Es ergeben sich also auch hier wieder völlig neue Lesarten der bevorstehenden Geschehnisse. Das in dieser Version präsentierte absolute Chaos ist ebenso repräsentativ für Pecolas Zerfall im Laufe des Romans wie die beiden vorangegangenen Versionen, denn es verweist auf den kompletten Zusammenbruch jeglicher Struktur im Leben und in der Realitätswahrnehmung der traumatisierten Protagonistin.

Der Verlauf des Fibeltextes von der zynischen Darstellung der Bilderbuchfamilie bis zu ihrem graduellen - typographisch repräsentierten - Zerfall spiegelt also die Entwicklung der Familie Breedlove, insbesondere die von Pecola, wider. Deshalb scheint es auch umso passender, dass die Autorin die Versatzstücke der morphologisch dekonstruierten dritten Version des Fibeltextes als Überschriften für ihre Kapitel wählt. Dabei ist besonders auffällig, dass diese immer einen klaren thematischen Bezug zum Inhalt des Kapitels aufweisen. So geht es beispielsweise im Kapitel mit der Überschrift

„HEREISTHEHOUSEITISGREENANDWHITEITHASAREDDO ORITISVERYPRETTYITISVERYPRETTYPRETTYPRETTYP“

um das Haus und die damit verbundenen Lebensumstände der Familie Breedlove. Die Wiederholung des Satzes „It is very pretty“ gefolgt von den Wiederholungen des Wortes „pretty“ scheinen zunächst lediglich eine typographische Aufgabe zu erfüllen, nämlich die, den angestrebten Blocksatz zu komplettieren. Allerdings wirken die Worte dabei auch wie ein nicht verhallen wollendes Echo der Schönheit, etwas, wonach sich Pecola innig sehnt und worum ihr gesamtes Dasein kreist. Auch hier findet sich wieder das Prinzip gradueller Dekonstruktion: Zu Beginn findet man die Hauptsätze „Here is the house“, „It is green and white“, „It has a red door“ und „It is very pretty“. Der nächste Schritt des Zerfalls zeigt sich in der Wiederholung lediglich des letzten Satzes, gefolgt von einem erneuten Aufbrechen in die Wiederholung eines einzelnen Wortes. Wie auch im Fibeltext vollführt die Autorin ihre Dekonstruktion von der semantischen über die syntaktische auf die morphologische Ebene. Mit diesem linguistischen Modell verdeutlicht sie die Verletzung und Ablehnung, die Pecola zuteilwird, und die ebenso auf drei verschiedenen Ebenen stattfindet:

Zunächst auf der gesellschaftlichen Ebene, wo sie aufgrund ihrer Hautfarbe abgelehnt wird, über die persönliche Ebene, da sie innerhalb ihrer Familie weder von ihrer Mutter, noch von ihrem Bruder oder ihrem Vater ernsthafte familiäre Liebe erfährt, bis hin zur Ebene ihrer Individualität, die durch die Vergewaltigung ihres Vaters zerstört wird und in der Aufspaltung ihrer Persönlichkeit endet.

5.3. Die Einleitung

Das erste Kapitel, das in die Haupthandlung einführt, ist ein Rückblick der homodiegetischen Erzählerin Claudia. Sie sinniert über die Ereignisse die zu Pecolas Zerstörung führten. Auf extradiegetischer Ebene nimmt sie die nicht erblühten Ringelblumen im Jahr 1941 zum Anlass, die Geschehnisse revue passieren zu lassen. Es wird nicht klar, wie weit die von Claudia analeptisch berichteten Ereignisse zurückliegen, ob die Erzählerin noch immer ein Kind ist oder aus der Perspektive einer erwachsenen Frau zurückblickt. Die Tatsache, dass die nicht erblühten Ringelblumen scheinbar im Vordergrund des Berichts stehen und nicht die Vergewaltigung Pecolas, lässt auf eine noch immer sehr kindliche Sichtweise der Welt schließen. Das bestätigt auch die Autorin in ihrem Nachwort:

The next sentence31 will make it clear that the sayer, the one who knows, is a child speaking, mimicking the adult black women on the porch backyard. The opening phrase is an effort to be grown-up about this shocking information. The point of view of a child alters the priority an adult would assign the information. (170)

Claudia ist jedoch in jedem Falle reif genug, die Geschehnisse des Jahres 1941 zu begreifen. Sie verfügt über einen sehr anspruchsvollen Sprachstil, der untypisch für ein Kind ist, was in Ausdrücken wie „our guilt was relieved only by fights and mutual accusations about who was to blame“ (4) zum Vorschein tritt. Auch die Reflexionsfähigkeit der Erzählerin lässt eher auf eine erwachsene Frau als auf ein Kind schließen:

Our innocence and faith were no more productive than his lust or despair. What is clear now is that of all that hope, fear, lust, love, and grief, nothing remains but Pecola and the unyielding earth. Cholly Breedlove is dead; our innocence too. (4) Solch eloquente Auseinandersetzungen mit komplexen Themen wie ‚Unschuld‘ und ‚Glauben‘ sind untypisch für ein Kind. Man kann also davon ausgehen, dass sich die Erzählerin der extradiegetischen Handlung auf einer Schwelle zwischen Jugend und Erwachsenenalter befindet.

Die Autorin wählt für die homodiegetische Erzählerin eine interne Fokalisierung; damit wirkt der Bericht Claudias umso realistischer, da ihre Wahrnehmung beschränkt auf ihre Person ist. Durch das rückwendige Erzählen im Präteritum gibt Morrison ihrer Figur die Möglichkeit, die Dinge mit Abstand und durch die Augen einer erwachseneren Claudia zu betrachten, als der des zeitnahen Geschehens; die ältere Claudia begreift die Bedeutung der Gräueltaten Chollys und glaubt nicht länger mit kindlicher Naivität daran, dass Gebete und Opfergaben ihrer Freundin Pecola helfen können. Diese veränderte Wahrnehmung führt dazu, dass das Hauptereignis der Binnenhandlung, nämlich die Vergewaltigung, in der Einleitung bereits angekündigt wird; gleich der zweite Satz lüftet dieses Geheimnis und bereitet den Leser auf die bevorstehenden Ereignisse vor: „We thought at the time, that it was because Pecola was having her father's baby that the marigolds did not grow.“ (4) Bei erstmaligem Lesen wirkt diese Aussage beunruhigend, da man unvorbereitet mit einem Tabu konfrontiert wird. Wir sind nicht daran gewöhnt, offen über Tabus zu sprechen, was Toni Morrison auch mit den ersten Worten „Quiet as it's kept“ (4) zum Ausdruck bringt. Gleich zu Beginn wird suggeriert, dass es hier um etwas geht, worüber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird.

Trotz des Schockeffekts der plötzlichen Konfrontation mit dem Inzestthema hat dieser in-medias-res Einstieg auch den Effekt, den Leser nicht unvorbereitet auf die Ereignisse treffen zu lassen. Die Erwähnung des Inzests, herausgenommen aus dem literarischen Geschehen, scheint ihm gleichwohl etwas von seiner Grausamkeit zu nehmen. Der große zeitliche Abstand und die Erwähnung durch eine autodiegetische Erzählerin schaffen Distanz, wodurch der Leser in seiner Beobachterposition ein großes Stück vom Geschehen wegrückt.

[...]


1 Zit. nach Herman 1

2 V. Hoff 1

3 Ibid.

4 V. Hoff 3

5 Ibid.

6 V. Hoff 4

7 Levi-Strauss: The Elementary Structures of Kinship, 1949 (zit. nach Herman 50)

8 Lev. 18, 6-18

9 Vgl. Frenzel 391

10 Frenzel 391

11 StGB § 173

12 Vgl. http://www.3sat.de/dynamic/sitegen/bin/sitegen.php?tab=2&source=/nano/news/36282/index.ht ml (13. 1. 2010)

13 Frenzel 391

14 Freud, Siegmund zit. nach v. Hoff 29

15 V. Hoff 29

16 Vgl. v. Hoff 32

17 Vgl. ibid.

18 http://tabu.sw2.euv-frankfurt-o.de/tabubegriff/index.html (6. 4. 2010)

19 Ibid.

20 Ibid.

21 Nabokov: Lolita (zit. nach Herman 22)

22 Vgl. Frenzel 392

23 Vgl. Herman 1

24 Vgl. http://www.bbkl.de/d/dympna.shtml (31.3.2010)

25 Morrison 4

26 Nummerierung und Titel der einzelnen Kapitel bzw. Abschnitte wurden von der Autorin dieser Arbeit gewählt. Teilweise stimmen sie mit den Benennungen durch Toni Morrison überein, teilweise handelt es sich um eine Reduzierung der Kapitelüberschriften oder wurden frei gewählt um eine klarere sprachliche Bezugnahme zu gewährleisten. Die Arbeit bezieht sich im Folgenden auf die oben dargestellte Einteilung.

27 Vgl. hierzu Carmean 18

28 Vgl. Emerson in: Baym 1109

29 Vgl. http://www.thinkbabynames.com/meaning/1/Dick

30 Vgl. http://www.thinkbabynames.com/meaning/0/Jane

31 gemeint ist der zweite Satz der Einleitung: „We thought, at the time, that it was because Pecola was having her father’s baby that the marigolds did not grow.“ (4)

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung inzestuöser Übergriffe in ausgewählten amerikanischen Romanen
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Autor
Jahr
2010
Seiten
83
Katalognummer
V167895
ISBN (eBook)
9783668113558
ISBN (Buch)
9783668113565
Dateigröße
22188 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
darstellung, übergriffe, romanen
Arbeit zitieren
Charlotte Dolff (Autor:in), 2010, Die Darstellung inzestuöser Übergriffe in ausgewählten amerikanischen Romanen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167895

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