Rekonstruktion jugendlicher Erfahrungsräume im Internet

Interpretation von Gruppendiskussionen anhand der dokumentarischen Methode


Magisterarbeit, 2011

124 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG

2 THEORETISCHER TEIL
2.1 Digital Natives
2.1.1 Marc Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants
2.1.2 Rolf Schulmeister: Gibt es eine »Net Generation«?
2.1.3 Peter Kruse: Digital Visitors und Digital Residents
2.1.4 John Palfrey und Urs Gasser: Generation Internet
2.2 Jugendstudien
2.2.1 Shell Jugendstudie 2010
2.2.2 „Jugend, Information und (Multi-)Media“-Studie 2009
2.2.3 ARD/ZDF-Onlinestudie 2010
2.3 Zwischenfazit

3 METHODISCH-METHODOLOGISCHER TEIL
3.1 Karl Mannheim
3.1.1 Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation
3.1.2 Das Problem der Generationen
3.2 Dokumentarische Methode
3.2.1 Entstehung des Gruppendiskussionsverfahrens
3.2.2 Formalien des Gruppendiskussionsverfahrens
3.2.3 Konkrete Auswertungsschritte des Gruppendiskussionsverfahrens mit der dokumentarischen Methode
3.3 Exkurs Akteur-Netzwerk-Theorie
3.3.1 Methodische Parallelen zwischen der dokumentarischen Methode und der Akteur- Netzwerk-Theorie
3.3.2 Mögliche Beiträge der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Erfassung jugendlicher Erfahrungsräume im Internet
3.4 Zwischenfazit

4 EMPIRISCHER TEIL
4.1 Forschungszugang
4.2 Die Gruppe „Schüler“
4.2.1 Diskursbeschreibung
4.3 Die Gruppe „Abiturientinnen“
4.3.1 Diskursbeschreibung
4.4 Die Gruppe „Generation 40+“
4.4.1 Diskursbeschreibung
4.5 Gegenüberstellung der Gruppendiskussionen

5 SPANNUNGSFELDER JUGENDLICHER ERLEBNISWELTEN
5.1 Experimentieren versus Reglementieren
5.1.1 Fake-Accounts im Internet als generationstypische Form des Identitätsspiels
5.1.2 Computerspiele als Symbol der Spannung zwischen den Dimensionen Experimentieren und Reglementieren
5.1.3 Probleme der Reglementierung
5.1.4 Sexualisierte Erlebniswelt Internet
5.2 Intimität versus Fremdheit
5.2.1 Orientierungen bezüglich des Umgangs mit privaten Daten in den sozialen Netzwerken der Schüler im Internet
5.2.2 Fokussierungsmetapher: SchülerVZ - ein Raum nur für Schüler?
5.2.3 Indexikale Wörter: „Stalken“ als positive Praxis
5.2.4 Selbstdarstellungspraktiken in Social Network Sites
5.2.4.1 Exkurs Akteur-Netzwerk-Theorie: Die ICQ-Funktion „Unsichtbarkeit“ als determinierender Faktor des Internetgebrauchs

6 VERGLEICH DER ERGEBNISSE MIT DEM AKTUELLEN STAND DER FORSCHUNG
6.1 Identitätsspiel
6.2 Computerspielsucht
6.3 Geschlechtlichkeit und Pornographie
6.4 Privatheit
6.5 Kommunikation und Selbstdarstellung

7 FAZIT

8 QUELLENVERZEICHNIS
8.1 Druckwerke
8.2 Internetressourcen
8.3 Weiterführendes Quellenverzeichnis

9. ANHANG
9.1 Transkriptionsregeln
9.2 Diskursbausteine
9.3 Exemplarische Interpretationen
9.3.1 Gruppe „Schüler“, Passage: Vor- und Nachteile des Internets
9.3.1.1 Formulierende Interpretation
9.3.1.2 Reflektierende Interpretation
9.3.2 Gruppe „Abiturientinnen“, Passage: Kontakte
9.3.2.1 Formulierende Interpretation
9.3.2.2 Reflektierende Interpretation
9.3.2 Gruppe „Generation 40+“, Passage: Regeln für das Internet
9.3.2.1 Formulierende Interpretation
9.3.2.2 Reflektierende Interpretation
9.2 Fragebogen
9.3 Transkriptionen

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Konzentrische Kreise nach Palfrey und Gasser

Abbildung 2: Facebook-Screenshot

Abbildung 3: Tabellarische Gegenüberstellung der Gruppendiskussionen

Generation 40+:1

3f: aber die sind jetzt in dem alter da muss man denen schon ein bisschen vertrauen (.) ich finde die machen das ganz gut (.) bei ihr weiß ich (.) die macht ja unheimlich viel auch mit dieser fotografie und und bildbearbeitung ja (.) wie soll ich das reglementieren ja (.)

Y1: |//mmh//

3f: |ich würd ja auch nicht zu ihr sagen du darfst jetzt heute nur 3 aquarelle malen

1f: |ja

3f: |also das kann man (.) dass das kann man schwer reglementieren

Schüler:

Y1: und glaubt ihr eure eltern (.) also wissen die genau auf was für seiten ihr geht (.) weil du hast jetzt irgendwie hier gesagt redtube oder so ( )

8f: |also ich glaub ma

1m: |neee

4m: |nee (.) die ham keine ahnung

Abiturientinnen:

2f: myspace (.) facebook (.) ICQ (.) äämh (.) willkommen in der welt der missverständnisse

1 Einleitung

Das übergeordnete Forschungsinteresse dieser Arbeit besteht zunächst in der Frage nach den Auswirkungen des technischen Fortschritts auf den Menschen und die Gesellschaft. Im Vergleich zu den Umwälzungen der industriellen Revolution zu Zeiten der soziologischen Geistesväter Karl Marx, Émile Durkheim und Max Weber, erscheinen die durch den technischen Fortschritt bedingten, Veränderungen in der heutigen Zeit subtiler. Maschinen haben das Leben der Menschen schneller verändert als jedes politische System, jede Umweltkatastrophe, jede Religion oder jeder Krieg es vermocht hätten. Die Entstehung der Soziologie ist zu einem Teil der Ungewissheit über die Auswirkungen solcher Veränderungen geschuldet. Heute scheinen die Veränderungen der Lebenswelt weniger von derart massiven Eingriffen in die äußeren Lebensräume, sondern eher von immateriellen, zumindest das äußere Erscheinungsbild weniger berührenden, Vorgängen verursacht zu werden. Für die meisten Bürger westlicher Gesellschaften und der Schwellenländer ist der Umgang mit Handy, Computer und Internet selbstverständlich geworden. Die verbesserten Kommunikations- und Abbildungsmöglichkeiten wurden mehr oder weniger gut adaptiert. Die neuen Medien sind tief in den Alltag vieler Menschen eingedrungen.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends schrieb Marc Prensky einen folgenreichen Aufsatz mit dem Titel „Digital Natives, Digital Immigrants“. In diesem Aufsatz beschreibt Prensky die neue Generation der „Digital Natives2 “ als Kinder und Jugendliche, die mit den neuen Medien, insbesondere dem Internet, aufgewachsen sind und sich in den neuen digitalen Räumen und Kanälen selbstverständlicher bewegen als die so genannten „Digital Immigrants“. Diese mussten sich nach Prensky die Techniken der neuen Medien erst mühsam aneignen. Das Konzept ist stark polarisierend, wie anhand der vorgestellten Forschungsliteratur deutlich werden wird. Ist es möglich, dass unsere Gesellschaft geteilt ist in solche, für die der Umgang mit dem Internet eine Selbstverständlichkeit ist und solche, die ihn sich erst erarbeiten mussten, weil sie noch in einer anderen, einer analogen, Welt aufgewachsen sind? Wie können Kinder und Jugendliche noch kontrolliert werden, wenn sie in dieser fremden Welt leben? Haben sie andere Interessen? Diese und andere Fragen machen das Konzept für Forschung und Industrie, aber auch für Eltern und Pädagogen so attraktiv. Oft genug wird das Konzept dabei unhinterfragt übernommen. Für das Interesse einer Erhebung jugendlicher Erfahrungs- und Erlebnisräume im Internet scheinen die Inhalte einer Diskussion um die Eigenschaften einer Generation, die mit den neuen Medien aufgewachsen ist, aufschlussreich zu sein. Im theoretischen Teil dieser Arbeit wird die Forschungsliteratur des Digital Native Konzepts dargestellt. Anhand dreier Langzeitstudien zu dem Thema Jugendliche und Internet, sollen die Aussagen einer ersten Prüfung unterzogen und das Bild der Jugendlichen im Internet spezifiziert werden. Im methodisch-methodologischen Teil wird ein besonderes Augenmerk auf die Herleitung und Explikation der dokumentarischen Methode gelegt.

Karl Mannheim versuchte Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem Text: „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“ eine Methode zu entwickeln, die es ermöglichte, anhand verschiedener Dokumente Homologien des Sinns zu ermitteln. In Zusammenarbeit mit Werner Mangold, der seit längerem an einer theoretischen Erfassung und Auswertung von Gruppendiskussionen arbeitete, entwickelte Ralf Bohnsack auf Basis des Mannheimschen Theorieansatzes Mitte der 1980er Jahre die dokumentarische Methode. Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte ist die dokumentarische Methode eng mit der Durchführung und Auswertung von Gruppendiskussionen verbunden. Ralf Bohnsack arbeitet stetig an einer weiteren Anwendung und Aktualisierung der dokumentarischen Methode, die neben der Auswertung von Gruppendiskussionen auch auf andere Textsorten sowie Bild- und Videomaterial anwendbar ist. In der vorliegenden Arbeit soll die dokumentarische Methode jedoch im „traditionellen“ Sinne zur Erfassung und Auswertung einer Gruppendiskussion benutzt werden. Die vorangestellten Zitate stehen stellvertretend für die kollektiven Orientierungen einiger Teilnehmer in Bezug auf das Internet. Anhand der dokumentarischen Interpretation eines Gruppendiskussionsverfahrens können konjunktive Erfahrungsräume artikuliert werden, die einen Einfluss auf Orientierungsrahmen haben. Solche Orientierungen können lebensweltliche Konsequenzen haben, da sie an der Ausgestaltung einer Handlungspraxis, einem Habitus3, beteiligt sind.

Im empirischen Teil der Arbeit beginnt dann die Auswertung des in drei Gruppendiskussionen erhobenen Materials. Die erste Gruppendiskussion wurde mit Schülern der zehnten Klasse einer Gesamtschule durchgeführt. Als minimaler Kontrast dient eine weitere Gruppendiskussion mit Abiturientinnen der gleichen Schule. Eine dritte Gruppendiskussion wurde mit Teilnehmern in der Altersstufe von 40 bis 55 Jahren durchgeführt. Die Transkrip]tion dieser Diskussionen dient dem Vergleich anhand eines maximalen Kontrastes. So können nun konjunktive Erfahrungsräume und Orientierungsrahmen der Jugendlichen im Internet identifiziert und verglichen werden. Diese werden im vorletzten Kapitel mit aktueller Forschungsliteratur geprüft und erweitert. Am Schluss stehen die Auswertung und das Fazit des empirischen Materials mit Blick auf die gesamte Arbeit.

Die Erforschung kollektiver Orientierungen einer Alterskohorte, vor allem in Bezug auf das Internet, unterliegt einer besonderen Zeitgebundenheit. Der Rückgriff auf ältere Forschungsliteratur ist nicht immer möglich, da sich Nutzungsverhalten und Softwarefunktionen stets verändern. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit vor allem aktuelle Forschungsliteratur und Studien verwendet. Die Handhabung der Quellen muss daher einer besonders kritischen Betrachtung unterliegen. In der vorliegenden Magisterarbeit wird versucht diesem Erfordernis dadurch gerecht zu werden, dass jeweils auf die empirische Basis der vorgestellten Studien und die Autoren der Internetquellen eingegangen wird. Am Ende eines jeden Kapitels sollen die vorangegangenen Inhalte kurz und prägnant zusammengefasst und ein Fazit gezogen werden.

2 Theoretischer Teil

In diesem ersten Teil der Arbeit werden die Inhalte und die Diskussionen des Digital Native Konzeptes präsentiert und kritisch reflektiert. Um einen Einblick in die relevanten Kontroversen zu gewährleisten, werden zunächst die wichtigsten Protagonisten vorgestellt und der Kontext beschrieben, in dem sich die Auseinandersetzung vollzieht. Die Kontroversen verlaufen entlang einer generationsspezifischen Diskussion um besondere Fähigkeiten und Eigenschaften von Kindern und Jugendlicher, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Die Aussagen der Befürworter und Gegner solcher generationsspezifischen Zuschreibungen werden Anhand dreier Langzeitstudien zur Mediennutzung einer ersten Prüfung unterzogen. Diese Studien vermitteln darüber hinaus eigene Erkenntnisse jugendlicher Erfahrungsräume im Internet.

2.1 Digital Natives

Was ist ein Digital Native? Der von Marc Prensky in seinem Aufsatz „Digital Natives, Digital Immigrants“ geprägte Begriff des Digital Native ist, zunächst begrifflich, angelehnt an das linguistische Konzept eines „native speakers“. Die einfachste Definition des „native speakers“ ist laut Wörterbuch: „A person who has spoken the language in question from earliest childhood“ (McKean 2005)4. Marc Prensky geht davon aus, dass diese Annahmen nicht nur auf die Ausbildung einer Sprache anwendbar sind. Er überträgt das Konzept auf die Welt des Digitalen. Das englische Wort „digital“ wird unter anderem mit: „involving or relating to the use of computer technology“ erklärt (McKean 2005). Eine Übertragung des Konzeptes erscheint also auf den ersten Blick sinnvoll. Ein „native speaker“ lernt seine Muttersprache von frühester Kindheit an, ebenso wie ein Digital Native die digitale Welt der computerbasierten Technologien kennenlernt. Abgesehen von dieser einfachen

Übertragung existieren weitere Parallelen dieser beiden Konzepte. Sie werden beide kontrovers diskutiert und bewegen sich nicht immer in einem wissenschaftlichen Rahmen:

“Recent studies on the image of the native speaker (…) all explore the gray area between the L1 and the L2 speaker and excavate many repositories of ideology therein. Paikeday´s work, a linguistic forum on the native speaker, is structured as a kind of tragicomedy with Noam Chomsky (…). On the subject of native-speaker intuition, Paikeday says, >>Such intuition comes with training and experience, not from circumstances or birth or infancy (...)<< (…) Chomsky, (…) claims that the grammaticality of an utterance can always be verified by a native speaker, but he continually dodges the question on what exactly a native speaker is” (Bonfiglio 2010: 9f.).

Thomas M. Paikeday und Noam Chomsky sind Antagonisten in der Diskussion um das Konzept des „native speakers“. Paikeday, der 1985 sein Werk „The Native Speaker Is Dead! An informal discussion of a linguistic myth with Noam Chomsky and other linguists, philosophers, psychologists and lexicographers!” veröffentlichte, ist der Ansicht, dass eine Sprache ebenso erlernt werden kann wie alle anderen Kulturtechniken; durch Erleben und Lernen. Chomsky hingegen geht von angeborenen Strukturen im Gehirn aus, die es Kindern erleichtern, sich eine Sprache anzueignen und die es ihnen ermöglichen, grammatikalische Unterschiede per se festzustellen (vgl. Gerrig et al. 2008: 386). Wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, verläuft die Diskussion um die Digital Natives entlang ähnlicher Positionen.

2.1.1 Marc Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants

Marc Prensky absolvierte 1968 seinen Master of Arts in Teaching an der Yale Graduate School und wurde zunächst Lehrer an einer High-School in New York. 1999 gründet er die Firma „Games2Train“. Prensky konzentriert sich mittlerweile nach eigener Aussage hauptsächlich auf die Tätigkeit des Schreibens und Redens. Nach Erscheinen des hier zu besprechenden Aufsatzes „Digital Natives, Digital Immigrants“ veröffentlichte Prensky drei Bücher zum Themenkomplex „Game-Based Learning“ (Prensky 2008).

Der 2001 verfasste Text beginnt mit der Aussage, dass die heutigen Schüler und Studenten sich radikal verändert hätten. Im Gegensatz zu den üblichen Umgestaltungen von Generation zu Generation, stelle der aktuelle Wandel eine einmalige Zäsur dar. Diese Singularität oder Diskontinuität resultiert nach Prensky aus der Entstehung und Ausbreitung digitaler Technologien gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Computer, Videospiele, Internet und die damit einhergehenden Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail und Instant Messaging5, MP3-Player, Digitalkameras und Handys seien die ubiquitären Begleiter der heutigen Jugendlichen geworden. Doppelt so oft spielten sie am Computer, als dass sie ein Buch lesen. Eine logische Konsequenz dieser Entwicklung sei, dass Studenten und Schüler Informationen fundamental anders verarbeiten als ihre Vorgänger. Daher scheint es Prensky auch sehr wahrscheinlich, dass sich die Gehirne der Jugendlichen physisch verändert hätten. Als Bezeichnung scheint ihm der Begriff Digital Natives am sinnvollsten, denn: „Our students today are all „native speakers“ of the digital language of computers, video games and the Internet.“ (Prensky 2001a: 1). Am anderen Ende der Skala stehen, nach Prensky, die Digital Immigrants. Sie hätten sich der neuen, digitalen Umgebung zwar angepasst, behielten aber bis zu einem gewissen Grad einen „Akzent“. Diesen Akzent verdeutlicht Prensky anhand einiger Beispiele. So druckten sie sich beispielsweise eine E-Mail aus, um sie zu lesen, oder riefen jemanden in ihr Büro, um ihm eine interessante Website zu zeigen, anstatt einfach die URL zu schicken. Dies sei zwar amüsant, führe aber zu großen pädagogischen Problemen: „(…) our Digital Immigrant instructors, who speak an outdated language (that of the pre-digital age), are struggling to teach a population that speaks an entirely new language“ (Prensky 2001a: 2).

Im Folgenden beschreibt Prensky die Eigenschaften der Digital Natives. Sie könnten schneller Informationen verarbeiten, seien Multitasking fähig, zögen Graphiken einem Text vor und bevorzugten hypertextartige Strukturen6, funktionierten am besten in Netzwerken und präferierten direkte wie auch stetige Belohnung. Natürlich, betont Prensky, favorisieren sie auch Computerspiele gegenüber ernsthafter Arbeit. Diese Eigenschaften würden leider nicht von den Digital Immigrants anerkannt, welchen Prensky kontrastierend die folgenden Attribute zuschreibt. Sie seien langsam, erledigten Dinge Schritt für Schritt und Eines nach dem Anderen, ihnen sei Individualität und Ernsthaftigkeit wichtig (vgl. Prensky 2001a: 2f.). Prensky schließt den Text mit dem Appel die Lehrmethoden zu ändern. Durch die Anpassung der Lehrinhalte an die Vorlieben der Digital Natives könne das Wissen besser und schneller vermittelt werden: „My own preference of teaching is to invent computer games to do the job“ (Prensky 2001a: 4).

In einem zweiten Aufsatz versucht Prensky mithilfe einiger Studien seine These zu belegen, dass sich Gehirnstrukturen aufgrund verschiedener Stimuli tatsächlich physisch verändern. Dies sei bei den Digital Natives durch den Einfluss von Computerspielen und hypertextartigen Strukturen im Internet geschehen. Die Folge seien schnellere Reaktionszeiten, verbessertes induktives Schlussfolgern, ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig unter Kontrolle zu haben. Auch Negatives wird hier erstmals angesprochen. Eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und fehlende Reflexivität seien allerdings nur in Bezug auf die „alten“ Lehrmethoden zu konstatieren. Mit erhöhter Interaktivität und der Anpassung an die Rezeptionsvorlieben der Digital Natives könne dem entgegengewirkt werden. Im weiteren Verlauf des Textes werden verschiedene Beispiele für Game-Based Learning angeführt. Der Text schließt mit dem sich stets wiederholenden Appell, die Lehrinhalte auf die weiter oben beschriebene Weise anzupassen (vgl. Prensky 2001b).

Aufgrund der Einfachheit und Redundanz seiner Texte überrascht es zunächst, dass Prensky eine so große Resonanz im wissenschaftlichen Diskurs erzielt hat. Durch seine berufliche Tätigkeit kann darüber hinaus möglicherweise ein Interesse an einer Proklamation veränderter Rezeptionsgewohnheiten der Jugendlichen im Sinne der Digital Natives vermutet werden. Dennoch scheint Prensky bestimmte Veränderungen der jugendlichen Handlungspraxen erkannt und vor allem zum richtigen Zeitpunkt benannt zu haben. Es stellt sich die Frage, ob mit der Adaption der Lehre an solche Rezeptionsgewohnheiten mehr als ein nur kurzfristiger positiver Effekt erzielt werden kann, langfristig gesehen aber der Verlust anderer Kompetenzen in Kauf genommen werden muss.

2.1.2 Rolf Schulmeister: Gibt es eine »Net Generation«?

Eine Gegenposition zu Marc Prensky nimmt Rolf Schulmeister, Professor für Pädagogik an der Universität Hamburg und Herausgeber der „Zeitschrift für E-Learning“, ein. Der Aufsatz „Gibt es eine Net-Generation? Dekonstruktion einer Mystifizierung“ erschien erstmals 2008 mit dem Beisatz „Work in Progress“. Mittlerweile liegt die dritte, erweiterte Version des Aufsatzes vor und umfasst 168 Seiten, in welchen knapp 150 Quellen zu dem Thema „Net-Generation“ verarbeitet werden.

Zu Beginn des Aufsatzes schreibt Schulmeister, dass sich, beginnend mit Don Tapscotts Werk „Growing Up Digital: The Rise of the Net Generation“ (1997), eine Reihe von Autoren in das Fahrwasser einer unreflektierten und überhöhten Darstellung der Generation stellt, die mit den neuen Medien aufgewachsen ist. „Die Propagandisten der Net Generation“ hätten vielfältige Bezeichnungen für diese jungen Menschen gefunden: Net Geners, Digital Natives, Millenials, Multitaskers, Instant Message Generation, Gamer Generation, Generation @, Generation C, Generation Y, Net Generation, Digitally Literate Students und Technology-Savvy Students (vgl. Schulmeister 2009: 2). Entweder würden die „Digital Natives“ mit überwiegend positiven Eigenschaften beschrieben oder es werde vor Gefahren wie Reizüberflutung und psychosozialen Folgen gewarnt (vgl. Schulmeister 2009: 9ff.).

Schulmeister wirft den Autoren mangelnde Wissenschaftlichkeit vor: „Sie haben ihre ›Daten‹ (orale Äußerungen, Anekdoten) überwiegend durch Gespräche und Telefonbefragungen gewonnen. (…) Mehrere Kritiker merken an, dass der Mythos der Netzgeneration jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt“ (Schulmeister 2009: 6). Außerdem sei die Mehrzahl der Bücher aufgrund eines kurzweiligen Hypes und dem Profitstreben der Autoren entsprungen (vgl. Schulmeister 2009: 38).

Im Folgenden führt Schulmeister Untersuchungen an, die die affirmativen Aussagen der Apologeten einer „Net-Generation“ empirisch widerlegen. So wird eine Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung angeführt, dessen kulturwissenschaftlich ausgerichteter Forschungsschwerpunkt ein „notwendiges Korrektiv gegenüber generationstheoretischen Verkürzungen“ darstelle. Ein Beitrag von Mario Rainer Lepsius, Soziologe und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, erweitert Schulmeisters Argument: „Generation ist also oft nur eine Zuschreibung und man muss schon genau bestimmen, über welche Prozesse die Relevanz und die Funktion dieser Zuschreibungen tatsächlich erfolgt“ (Lepsius zit. nach Schulmeister 2009: 48). Ebenfalls werden bestimmte Typologien von Mediennutzern herangezogen, um zu verdeutlichen, dass diese vor allem von ihrem Erkenntnisinteresse geleitet sind und dass jede Altersgruppe aus einer Vielzahl heterogener Individuen besteht, die jeweils unterschiedlich gefördert werden müssen (vgl. Schulmeister 2009: 64). Im Kapitel „Medien-Nutzungsmotive“ resümiert Schulmeister, dass die neuen Medien hauptsächlich in der Freizeit Relevanz für Kinder und Jugendliche besitzen und auf diese Weise zu alltäglichen Begleitern der traditionellen Aktivitäten des Jugendalters werden (vgl. Schulmeister 2009: 115).

Im letzten Teil der Arbeit widmet sich Schulmeister dem für ihn relevantesten Thema. Besitzen die Schüler und Studenten der „Net-Generation“ eine besondere „media-literacy“, also eine gesteigerte Medienkompetenz aufgrund des häufigen Umgangs mit diesen? Anhand einer Studie der Southwestern University Texas aus dem Jahre 2001 referiert Schulmeister das Fazit. Die Studierenden verfügen weder über spezielles Wissen bezüglich der Arbeitsweisen des Internets oder der Datenbanktechnologie noch über eine gesteigerte Kenntnis der Vernetzung. Schwächen werden betreffs der Recherche und Evaluation von Informationen sowie der Bewertung der Rechercheergebnisse identifiziert (vgl. Schulmeister 2009: 142).

Schulmeisters Kritik an den Vertretern einer Netzgeneration ist vor allem deshalb berechtigt, weil die jeweilige Literatur nicht empirisch abgesichert ist und dessen ungeachtet versucht wird, den Eindruck wissenschaftlich geerdeter Hypothesen zu vermitteln. Den Digital Natives attestierte Eigenschaften, wie eine größere Fähigkeit zum Multitasking und zu einem insgesamt geschickteren Umgang mit Computern, aber auch Negatives, wie Aufmerksamkeitsdefizite und psychosoziale Störungen aufgrund der gesteigerten Mediennutzung, konnten, wie Schulmeister zusammengetragen hat, widerlegt werden (vgl. Schulmeister 2009: 117ff.). Generell hält er es für unmöglich einer bestimmten Generation ein einheitliches Profil zuzuschreiben. Die Nutzung des Internets verlaufe in verschiedenen altersabhängigen Phasen, sie beginne mit dem solitären Spiel und führe schließlich zur sozialen Kommunikation. Das Medium sei für die Jugendlichen in seiner Selbstverständlichkeit und Allgegenwart banal und werde hauptsächlich für Aktivitäten in der Freizeit genutzt. Die Benutzung des Internets spiegle die normalen sozialisatorischen Aktivitäten junger Menschen wider. Handy und Computer würden zum Alltagsgerät mit der vorwiegenden Funktion, die Kommunikation mit den Peers effektiver zu erledigen. Klassische Medien wie Film und Fernsehen hätten nach wie vor Priorität. In Bezug auf das Lernen und den damit verbundenen Fähigkeiten und Präferenzen, habe sich seit Einführung des Mediums Internet nichts verändert. Zwar entwickeln sich selbstverständlich neue Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen durch den Umgang mit dem Computer, doch, wie in der Auseinandersetzung zwischen Thomas M. Paikeday und Noam Chomsky, ist Rolf Schulmeister der Meinung, dass sich diese Kompetenzen ebenso bei regelmäßigen Computerbenutzern, die nicht der fraglichen Alterskohorte angehören, entwickeln (vgl. Schulmeister 2009: 145ff.).

2.1.3 Peter Kruse: Digital Visitors und Digital Residents

Ein weiterer Kritiker des Digital Natives Konzeptes ist Peter Kruse. Der nicht unumstrittene7 Wissenschaftler ist Honorarprofessor für Allgemeine- und Organisationspsychologie an der Universität Bremen und Leiter der Unternehmensberatung „Nextpractice“. Auf der „Re:publica“ 2010, einer Konferenz über Weblogs, soziale Medien und digitale Gesellschaft, präsentierte er seine Modifikation des Digital Native Konzepts. Leider liegt zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Verschriftlichung der Forschungsarbeit vor, weshalb sich im Folgenden nur auf die Folien des Power- Point Vortrages von Herrn Kruse auf besagter Veranstaltung Bezug genommen werden kann.

Basierend auf knapp 200 Interviews mit Internetnutzern identifiziert Kruse zwei Personentypen mit unterschiedlichen Einstellungen zum Internet. Ähnlich wie bei Marc Prensky stehen sich diese Typen antagonistisch gegenüber. Analog zu den Digital Natives und Digital Immigrants bezeichnet Kruse diese Typen als Digital Residents und Digital Visitors.

Bei den Digital Residents erkennt Kruse eine starke Identifikation mit dem Internet. Tätigkeiten, wie Bloggen, sich in den sozialen Netzwerken des Internets8 darstellen und mit anderen Internetnutzern emotional in Verbindung stehen, seien für die „Netz-Bewohner“ Teil ihrer Persönlichkeit. Die Digital Visitors hingegen, nutzen das World Wide Web lediglich als Werkzeug. Sie verfolgen verbindliche Ziele und assoziieren das Internet mit Anonymität, Täuschung und Schnelllebigkeit (vgl. Kruse 2010 Folie 24 ff.). Kruse bezieht sich in seiner Analyse auf kollektive Präferenzen und Einstellungen und nicht auf Fähigkeiten. Eine hohe Identifikation mit dem Internet sei keine Domäne der Digital Natives, das Alter demnach keine entscheidende Variable. Die Gruppe der Digital Residents reiche weit über die der Digital Natives hinaus. Peter Kruse konstruiert die Dichotomie entlang kultureller Wertewelten. Digital Resident zu sein, sei Einstellungssache und kein Geburtsrecht (vgl. Kruse 2010 Folie 32). Im weiteren Verlauf seines Vortrags prognostiziert Kruse eine weitere Steigerung der gesellschaftlichen Bedeutung von Netzwerken. Die Schärfe des Disputes pro und contra Internet sei ein Indikator für die Existenz unzureichend reflektierter Wertedifferenzen (vgl. Kruse 2010 Folie 8).

2.1.4 John Palfrey und Urs Gasser: Generation Internet

Sieben Jahre nach Erscheinen des ersten Aufsatzes von Marc Prensky und relativ zeitgleich zu Rolf Schulmeisters Kritik an dem Konzept der Digital Natives publizieren die Professoren für Rechtswissenschaft, John Palfrey und Urs Gasser, ihr Werk: „Born Digital. Understanding the first generation of digital natives”, welches hier in der deutschen Version „Generation Internet“ mit dem Untertitel „Die Digital Natives: Wie sie leben | Was sie denken | Was sie arbeiten“ besprochen wird.

Dem Werk liegen etwa 100 Interviews und 150 Gespräche mit Jugendlichen und Lehrer zugrunde. Die Autoren formulieren keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 15). Das Buch ist um einiges differenzierter als die kurzen, polarisierenden Thesen von Marc Prensky. Erwähnenswert sind die dialektische Betrachtung der Thesen und Argumentationslinien der Digital Native Diskussion, sowie ausreichende Belege und Referenzen zu seriöser Forschungsliteratur. Der Tonfall bleibt lässig, das digitale Universum der Jugendlichen wird in bildreicher Sprache anhand von Beispielen und Anekdoten beschrieben. Der Ist-Zustand der Gesellschaft wird als rechtlich-politischer Scheideweg beschrieben, dessen Soll-Zustand, eine ideal-utopische Vorstellung des partizipativen und kreativ ermöglichenden Netzes, bedroht sei durch teilweise irrationale, teilweise berechtigte Ängste von Eltern, Lehrern, Unternehmen und Medien. Die verschiedenen Akteure sollen über das Leben ihrer Kinder, Schüler und Studenten, Konsumenten und Rezipienten aufgeklärt werden (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 8f.).

Palfrey und Gasser ordnen wie Prensky alle nach 1980 geborenen Individuen als Digital Natives ein. Die Digital Natives, so wird im Weiteren erläutert, seien jedoch keine homogene Gruppe. Innerhalb der Weltbevölkerung besäße nur ein Sechstel Zugang zu den digitalen Technologien. Auch innerhalb dieser privilegierten Population gebe es Unterschiede. So wird zwischen Digitalen Pionieren, Digital Immigrants, Digital Natives, die kreativ schöpferisch sind und Digital Natives, die lediglich am Web partizipieren, unterschieden (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 4ff.). Für die Gruppe der Digital Natives bringe das Internetzeitalter, vor allem was Aufbau und Gestaltung der eigenen Identität betrifft, große Veränderungen mit sich. Die Identitätsbildung unterscheide sich hinsichtlich der Experimentiermöglichkeiten und der Art und Weise des Ausdrucks mittels Blogs, YouTube oder Social Network Sites von jeder vorigen Generation (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 21f.). Dabei werde die Identität der Jugendlichen allerdings nicht als fragmentiert wahrgenommen. Die digitale und die reale Identität seien nicht separiert, sondern lediglich in verschiedenen Umgebungen vertreten (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 22). Onlineprofile seien Eckpfeiler ihrer Identität und unterlägen einer ständigen Aktualisierung. Das Spiel mit verschiedenen Aspekten der Identität sei aus psychologischer Sicht eine wichtige Phase der allgemeinen Identitätsbildung. Dabei fungiere die öffentliche Kommunikation in Social Network Sites als Methode zur Entwicklung und Entfaltung der Auffassung von persönlicher Identität der Digital Natives (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 29ff.).

Palfrey und Gasser arbeiten mit den in der Sozialpsychologie gebräuchlichen Begriffen der persönlichen und sozialen Identität9. Die soziale Identität ist von subjektiv unterschiedlich bedeutungsvollen Mitgliedschaften in sozialen Kategorien wie Gruppen oder Milieus beeinflusst, wohingegen sich die persönliche Identität aus den individuellen Fähigkeiten, Kenntnissen, Kompetenzen, Präferenzen und Persönlichkeitszügen zusammensetzt. Die beiden Formen der Identität schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern sind interdependent (vgl. Güttler 2003: 164). Anhand dieser Unterscheidung erkennen die Autoren ein Paradoxon: Ihrer Meinung nach lasse sich die persönliche Identität der Jugendlichen schnell und unkompliziert anhand eines Onlineprofils verändern. Aufgrund des Vernetzungseffekts verringere sich jedoch die Möglichkeit einer Kontrolle der sozialen Identität und damit der Wahrnehmung ihrer Person durch andere: „Und obwohl sie10 nun im Netz mit mehreren Identitäten experimentieren kann, mag sie heute durchaus stärker an eine Einzelidentität gebunden sein, als es in einem früheren Zeitalter der Fall gewesen wäre“ (Palfrey und Gasser 2008: 22). Die negativen Aspekte einer Identitätsbildung eines Jugendlichen im Internet seien daher Unbeständigkeit und Unsicherheit: Unbeständigkeit durch die häufigen Veränderungen der persönlichen Identität und Unsicherheit durch die fehlende Kontrolle der Wahrnehmung und mögliche Manipulationen von außen (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 38).

Die folgenden Kapitel geben einen guten Überblick der möglichen Erfahrungsräume und Lebenswelten der Digital Natives, denen sich im Interpretationsteil angenommen werden wird. Im Kapitel „Sicherheit“ werden Gefahren des Internets hinsichtlich Pädophilie, Pornographie, Internetsucht und Cyberbullying11 dargestellt. Dabei warnen Palfrey und Gasser vor einer, durch die Medien initiierten, irrationalen Angst. Die Gefahren seien nicht durch das Medium Internet entstanden, sondern entsprechend der Verlagerung vieler Aktivitäten in das Internet, übertragen worden (vgl. Palfrey und Gasser 2008 Kap. 4). Im Kapitel „Kreativität“ wird die sinnvolle Unterscheidung zwischen Kreation und Kreativität eingeführt. Maximal einer von vier Jugendlichen betätige sich tatsächlich schöpferisch im Sinne eines Weblogs oder der Herstellung eines YouTube

Videos (vgl. ebd. Kap. 5). Im Kapitel „Piraterie“ wird die häufige Praxis des illegalen Herunterladens von MP3-Dateien angesprochen. Teilweise aus Unwissenheit und teilweise aus fehlendem Unrechtsbewusstsein begehen die Digital Natives wie selbstverständlich geistigen Diebstahl und Urheberrechtsverstöße (vgl. ebd. Kap 6.). Das Problem der Unterscheidung von falschen und richtigen Informationen im Internet spielt im Kapitel „Qualität“ sowie im Kapitel „Lernen“ eine Rolle. Universitäten sollen sich an die neuen Gewohnheiten und Bedürfnisse der Digital Natives anpassen, jedoch nicht auf eine radikale Weise. Für Digital Natives hänge es von der Fähigkeit des Einzelnen ab, die unübersichtliche Informationsvielfalt des Internets zu beherrschen (vgl. ebd. Kap. 7 und 11).

Die Vorgehensweise der Autoren zeigt sich in jedem Kapitel. Es werden positive wie negative Aspekte des neuen Mediums aufgezeigt. Aus einer juristischen Perspektive heraus, plädieren die Autoren für rechtliche Rahmenbedingungen, die flexibel genug sind, um die positive Entwicklung des Internets im Sinne des Ideals eines egalitären, partizipativen und kreativ ermöglichenden Netzes durchzusetzen, die negativen Aspekte jedoch auszubremsen: „Die vier Hauptwerkzeuge, die wir dabei einsetzen sollten, sind Ausbildung, technische Entwicklung, soziale Normen und ein angemessener rechtlicher Schutz“ (Palfrey und Gasser 2008: 121). Hilfestellung dabei sollen die in dem „konzentrischen Kreis“ von Palfrey und Gasser dargestellten Akteure bieten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Konzentrische Kreise nach Palfrey und Gasser

Quelle: Palfrey und Gasser 2008:13

Im Inneren des Kreises stehen die Digital Natives, die von Freunden und Familienmitgliedern zu verantwortungsbewussten und aufgeklärten Internetnutzern erzogen werden sollen, die den zweiten Ring des Kreises bilden. Dahinter stehen Lehrer, Trainer und Mentoren. Sozialverantwortliche

Unternehmen und an äußerster Stelle der Staat sollen für die korrekten Rahmenbedingungen im Internet verantwortlich sein (vgl. Palfrey und Gasser 2008: 13).

„Generation Internet“ ist ein von Marc Prenskys Thesen emanzipiertes Werk, dessen ausführliche Darstellung der relevanten Diskussionen und Forschungen um die Lebenswelten der Digital Natives der vorliegenden Magisterarbeit als Inspirationsquelle dient. Mit fortschreitenden Kapiteln entfernt sich das Buch vom Konzept der Digital Natives. In ihrem letzten Kapitel erklären die beiden Autoren den Umgang mit dem Konzept als „hermeneutisches Hilfsmittel, um die Leser einzuladen (…)“ (Palfrey und Gasser 2008: 348f.). Die Begrifflichkeit wurde also primär genutzt, um Aufmerksamkeit zu generieren. Mittlerweile hat der Begriff sich verselbstständigt und wird in den unterschiedlichsten Kontexten benutzt.

2.2 Jugendstudien

Anhand aktueller Langzeitstudien zum Medienumgang Jugendlicher in Deutschland soll an dieser Stelle versucht werden, ein realistisches Bild der Jugendlichen und Kinder sowie deren Mediennutzungspraktiken in Deutschland darzustellen. Dabei werden die drei größten deutschen Studien zu dem Thema vorgestellt. Die erst kürzlich erschienene 16. Shell-Jugendstudie: „Jugend 2010“, die JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest: „Jugend, Information und (Multi-) Media 2009: Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland“ und die ARD/ZDF-Onlinestudie 2010.

Die Befunde der Studien werden hinsichtlich des Forschungsinteresses zusammengefasst. Dabei stehen diejenigen Ergebnisse im Fokus, welche, neben Statistiken des Internetgebrauchs, einen erhellenden Blick auf Lebensumstände und Wertorientierungen der aktuellen Jugend in Deutschland werfen. Das Bild, welches diese Studien zeichnen, soll die empirischen Befunde der dokumentarischen Methode zu jugendlichen Erfahrungs- und Erlebnisräumen ergänzen.

2.2.1 Shell Jugendstudie 2010

Die Shell Jugendstudie wird seit 1953 in einem drei- bis vierjährigen Turnus herausgegeben. Der Mineralölkonzern Shell beauftragte in den letzten beiden Studien den Bielefelder Sozialwissenschaftler Professor Klaus Hurrelmann mit der Durchführung der Studie. In der aktuellen Auflage sind neben Hurrelmann, Professor Mathias Albert und Dr. Gudrun Quenzel (ebenfalls Universität Bielefeld) für die konzeptionelle Grundlegung und inhaltliche Ausrichtung der Studie zuständig. Laut eigener Aussage beschränkt sich Shell mit der finanziellen Ausstattung der Studie (vgl. Albert et al. 2010: 11f.). Die repräsentative Stichprobe der Studie umfasst 2604 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren.

2010 wird das Bild einer krisenfesten und optimistischen Jugend gezeichnet, welche sich von der Wirtschaftskrise nicht hat entmutigen lassen. Dennoch stehen Kinder und Jugendliche unter dem erhöhten Leistungsdruck, sich in Schule und Beruf durchsetzen zu müssen. Geeignete Problemlösungsstrategien wie ein gemäßigter Hedonismus und eine abermals gestiegene Hinwendung zu Familie und Freunden bilden einen Schutz gegen die hohen persönlichen sowie beruflichen Anforderungen:

„Kennzeichnend ist auch weiterhin die auffällig pragmatische Umgehensweise mit den Herausforderungen in Alltag, Beruf und Gesellschaft. Leistungsorientierungen und das Suchen nach individuellen Aufstiegsmöglichkeiten im Verbund mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Beziehungen im persönlichen Nahbereich prägen diese Generation. Eine pragmatische Generation behauptet sich“ (Albert et al. 2010: 15).

Diese positiven Befunde stehen im Kontrast zu fortschreitenden sozialen Disparitäten. Die Chancen zur beruflichen und persönlichen Selbstverwirklichung sind noch stärker von der familiären Herkunft anhängig, als es schon 2006 der Fall war (vgl. Albert et al. 2010: 15). Eine weitere Spaltung wird anhand zunehmender Geschlechterunterschiede konstatiert. Mädchen und junge Frauen können sich laut den Autoren besser an die Anforderungen der Leistungsgesellschaft anpassen und haben ihre männlichen „Konkurrenten“ nicht zuletzt bei den Bildungsabschlüssen überholt. Die gestiegenen Möglichkeiten für Frauen, in bisherigen Männerdomänen zu arbeiten, ebenso wie die Erweiterung des männlichen Rollenspektrums, führt zu einer Irritation vor allem bei männlichen Jugendlichen in Bezug auf geschlechterspezifische Normen (vgl. Albert et al. 2010: 44).

Bei den Wertorientierungen erkennen die Autoren der Studie eine Balance zwischen materialistischen Orientierungen wie Fleiß, Ordnung und Sicherheit und postmaterialistischen Zielen, die mit Selbsterfüllung, Kreativität und Genuss beschrieben werden (vgl. Albert et al. 2010: 47). Trotz der gestiegenen Belastung in der Schule und dem Studium steht den Jugendlichen ein so großes Repertoire an Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung offen, wie kaum einer Generation vor ihnen. Das „Labor der Selbsterfahrung“, wie die Autoren den Begriff Freizeit umschreiben, kann dabei helfen, die oben angesprochenen Ziele und Irritationen zu bearbeiten: „Einen entsprechend hohen Stellenwert hat es bei den Jugendlichen, Alternativen auszuprobieren, Grenzen zu testen und Erfahrungen zu sammeln“ (Albert et al. 2010: 80). Die Freizeit und Freizeitgestaltung ist bei Jugendlichen heute meist untrennbar mit elektronischen Unterhaltungsmedien aller Art verbunden. (Albert et al.2010: 356). Dabei steht „im Internet surfen“ bei den Jugendlichen an erster Stelle (Albert et al. 2010: 99).

Weiter stellen die Autoren fest, dass eine Veränderung des Kontaktverhaltens zur Gleichaltrigen- und Freundesgruppe durch die Möglichkeit der Nutzung verschiedener Internetplattformen hinzugekommen ist (vgl. Albert et al. 2010: 47). Eine Hinwendung zur Gleichaltrigengruppe ist für die Lebensphase der Jugend typisch. In Fragen der Lebensstilgestaltung, Medienorientierung und Lebensperspektivität nimmt die Peergroup nach wie vor die wichtigste Funktion ein. Demgegenüber steht der Trend, dass Jugendliche aufgrund prekärer Arbeitsmarktsituationen und einer gestiegenen Ausbildungs- und Studienzeit, immer länger zu Hause wohnen bleiben. Generell ist seit Längerem eine Ausdehnung der Lebensphase „Jugend“ festzustellen. Deshalb „müssen junge Frauen und junge Männer heute oft eine Doppelbeziehung zu ihren Eltern und Gleichaltrigen konstruieren und in diesem Spannungsfeld ein Werte- und Normensystem herausbilden, das mit ihren eigenen Handlungen übereinstimmt“ (Albert et al.2010: 46f.). Dieser Punkt ist für die Betrachtung der Kommunikation und Präsentation in Netzwerkplattformen interessant. Wird die Informationspreisgabe oder generell die Bewegung im Netz durch die Aufwertung der Elternrolle beeinflusst?

Für diese Arbeit ist von besonderer Bedeutung, dass in der Shell-Jugendstudie 2010 erstmals ein Unterkapitel existiert, welches sich ausschließlich mit der Relevanz des Internets für Jugendliche beschäftigt. Besonders erwähnenswert ist die gestiegene Verbreitung des Mediums und der Abbau des so genannten „Digital Divides12 “ in Deutschland. Regionale Unterschiede sind bei der Frage des Internetzugangs mittlerweile entscheidender als Schichtzugehörigkeit (vgl. Albert et al. 2010: 103). Seit 2002 hat sich die verbrachte Zeit der Jugendlichen im Internet verdoppelt. Teenager und Twens geben nun an, knapp 13 Stunden die Woche im Internet zu surfen (vgl. Albert et al. 2010: 103). In dem Unterkapitel: „Content - oder was Jugendliche fesselt“ sprechen die Autoren den Social Network Sites eine hohe Bindungskraft zu. Ebenfalls wird das Internet von den Jugendlichen häufig zu Recherchezwecken benutzt. Als außergewöhnlich bezeichnen die Autoren die Tatsache, dass fast die Hälfte der Jugendlichen angibt, E-Mails nur selten zu nutzen (vgl. Albert et al. 2010: 103f.).

Die Verwunderung über die seltene Nutzung von E-Mails hätten sich die Autoren allerdings mit der Nutzung von integrierten Nachrichtenfunktionen in Netzwerkplattformen erklären können. Auch der für die Autoren erstaunliche Befund, dass manche Jugendliche im Internet „einfach drauflossurfen“ dokumentiert ein Nichtverständnis des Mediums. Soziale Netzwerke im Internet wie „Facebook“ oder „Twitter“ sind so strukturiert, dass die Pinnwandnachrichten, Links13, Bilder und Statusmitteilungen anhand der Aktualität des jeweiligen Postings14 von oben nach unten betrachtet werden. Ein „Drauflossurfen“ ist also eine konventionelle Praxis auf Social Network Sites.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Facebook-Screenshot

Quelle: facebook.com, eigene Bearbeitung

2.2.2 „Jugend, Information und (Multi-)Media“-Studie 2009

Die Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest basiert auf der telefonischen Befragung einer repräsentativen Stichprobe von 1.200 Jugendlichen in der Zeit vom 2. Juni bis 6. Juli 2009. Seit 1998 wird der Medienumgang der 12- bis 19- Jährigen in Deutschland untersucht. Das erklärte Ziel ist eine Versachlichung der Diskussion um die Mediennutzung der Jugendlichen. Zu Beginn der Studie wird unter anderem eine dieser Arbeit ähnliche Fragestellung formuliert: „Doch ist Internet gleich Internet und was machen die sogenannten „digital natives“ eigentlich im Netz? Bedeutet Internet für jeden das gleiche? Welche Angebote werden im Alltag wirklich genutzt?“ (JIM- Studie 2009: 3).

Bezüglich der Möglichkeit Jugendlicher das Internet zu nutzen, ermitteln die Forscher, neben Handy, Computer und Fernseher, eine Vollversorgung. Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Internetzugang von 90 auf 100 Prozent erhöht (vgl. JIM 2008: 46). Interessant ist vor allem die den Jugendlichen zuzuschreibende, treibende Kraft bei der Verbreitung des Internets: „Die hohe Ausstattung in den Familien mit Jugendlichen liegt deutlich über dem Schnitt der bundesdeutschen Haushalte. So weist die Media Analyse 2009 nur für 69 Prozent der Haushalte in Deutschland einen Internetzugang aus“ (JIM 2009: 6). Am deutlichsten wird die rasante Verbreitung des Mediums, wenn man die Unterschiede zwischen der ersten JIM-Studie 1998 und der aktuellen Studie 2009 betrachtet. 1998 behaupteten lediglich 18% der Jugendlichen zumindest selten im Internet zu surfen bzw. Online-Dienste zu nutzen (vgl. JIM 1998: 37), wohingegen dies aktuell von 98% angegeben wird (vgl. JIM 2009: 7).

Infolge der gestiegenen Internetnutzung haben andere Medien an Attraktivität verloren. Mit fünf und neun Prozentpunkten verlieren Fernsehen und Radio von 1998 bis 2009 am wenigsten an Relevanz für die Jugendlichen. Deutlichere Einbußen sind bei Zeitschriften (-20%) und Tageszeitungen (-16%) zu verzeichnen. Durch frei verfügbare Musik(-Videos) auf YouTube und einer regen Tauschkultur von MP3s unter Jugendlichen werden knapp 30 Prozent weniger CDs genutzt. (vgl. JIM 2009: 18). Die Verwendung der verschiedenen Medien ist altersabhängig. Tageszeitungen, online wie offline, werden mit steigendem Alter vermehrt gelesen. Computer- und Konsolenspiele verlieren hingegen mit zunehmendem Alter an Attraktivität (vgl. JIM 2009: 35). Die Nutzung des Internets teilen die Autoren der JIM-Studie in die Bereiche „Kommunikation“, „Spiele“, „Information“ und „Unterhaltung“ ein. Dabei wird zirka die Hälfte der Nutzungszeit im Bereich Kommunikation, hier Social Network Sites, Chat-Rooms, E-Mail-Provider und Instant Messaging Services, eingeordnet. Die restlichen Bereiche teilen sich den Rest der jugendlichen Aufmerksamkeit zu etwa gleich großen Teilen, wobei sich bei der Nutzung von Computerspielen bei Jungen und Mädchen die größten Unterschiede zeigen (vgl. JIM 2009: 33).

Zu dem beliebtesten Genre zählen Strategiespiele wie beispielsweise „die Sims“. Dieses besonders bei Mädchen beliebte Spiel (vgl. JIM 2009: 41) basiert auf einer Simulation des Alltags. Es besteht in der Möglichkeit, Häuser zu bauen, Freundschaften (virtuell aber nicht online) zu schließen und wirtschaftlich zu handeln. Danach folgen Actionspiele (Ego-Shooter), Auto- und Fußballsimulationen und Geschicklichkeitsspiele. Erst dann folgen Online-Rollenspiele wie „World of Warcraft“ mit neun Prozent der Nennungen (vgl. JIM 2009: 42). Zwar stehen Online-Rollenspiele relativ weit hinten in der Beliebtheitsskala der Teenager, doch erkennen die Autoren der JIM-Studie trotzdem die Wichtigkeit der auch oft als „MMORPG“, also „Massively multiplayer online role-playing game“, bezeichneten Spiele wie „World of Warcraft“: „Betrachtet man nur die jeweiligen Nutzer der unterschiedlichen Spielsituationen, dann zeigt sich, welche Form der Spiele die größte Alltagsrelevanz impliziert. Die gemeinsame Nutzung onlinebasierter Spiele ist am stärksten im Alltag Jugendlicher verankert“ (JIM 2009: 40).

Im Bereich „Unterhaltung“ sind vor allem YouTube und Musik-Seiten für die Jugendlichen interessant (vgl. JIM 2009: 37). Hier ist anzumerken, dass der Fernseher in diesem Bereich immer noch die größte Rolle spielt. Zwar ist die Nutzungsdauer des Internets, etwa 2 ¼ Stunden wöchentlich, mittlerweile auf dem gleichen Niveau wie die des Fernsehers (vgl. JIM 2009: 27), doch sind die Nutzungsformen des Internets auch auf andere Bereiche verteilt. Der Bereich „Information“ ist hauptsächlich mit der Schule verknüpft. 83 Prozent suchen mehrmals pro Woche nach Informationen, die Schule und Ausbildung betreffen. 49 Prozent tun dies sogar täglich (vgl. JIM 2009: 36). Aufschlussreich ist ebenfalls die Erhebung, welches Medium die Teenager zur Informationsbeschaffung verwenden: „Für knapp die Hälfte der Themen wird das Internet als die bevorzugte Informationsquelle angegeben. Dies gilt für eigene Probleme, Musik, Ausbildung und Beruf, Internetthemen, Computer und Konsolenspiele sowie das Handy und Konzerte vor Ort“ (JIM 2009: 27).

Der für diese Magisterarbeit interessanteste Bereich ist hier mit dem Überbegriff „Kommunikation“ belegt und hat für die jugendlichen Aktivitäten im Internet die größte Relevanz. Als zentrale Elemente der Online-Kommunikation werden Social Network Sites und Instant Messenger ermittelt (vgl. JIM 2009: 34ff.). 85 Prozent der Jugendlichen geben an, zumindest selten Online-Communities zu besuchen und 72 Prozent, 15 Prozent mehr als 2008, nutzen Online-Communities mehrmals die Woche (vgl. JIM 2009: 45). Online-Communities sind bei Mädchen etwas beliebter als bei den Jungs, die dafür mehr Computer spielen. Das „Stöbern in Profilen der Online-Communities“ wird häufig als beliebte Beschäftigung genannt (vgl. JIM 2009: 38). Durchschnittlich sind die Jugendlichen bei 1,5 Communities angemeldet und haben 144 Freunde. SchülerVZ ist die mit Abstand am häufigsten genutzte Netzwerkplattform bei Jugendlichen in Deutschland: „Die Nutzung von Communities hat sich im Medien-Alltag stark habitualisiert. Die Hälfte der Internetnutzer sucht täglich das eigene Profil oder die Profile Anderer auf und von diesen wiederum 57 Prozent sogar mehrmals am Tag“ (JIM 2009: 46f.). Die häufigsten Angaben auf den Profilen der jungen Leute sind mit 80 Prozentpunkten Hobbies. Über 75 Prozent stellen Fotos oder Filme von sich und 50 Prozent von anderen online. Ein Drittel gibt die Instant Messenger Nummer oder die E-Mail Adresse an. Seit der letzten Erhebung habe die Preisgabe von Informationen zugenommen (vgl. JIM 2009: 46).

Lässt man die Communities außen vor, dann zeigen die Jugendlichen jedoch bei den sonstigen „Mitmach“- bzw. Web 2.0-Aktivitäten des Internets ein eher verhaltenes Interesse. Am weitesten verbreitet sind hier noch Einträge in Foren oder Newsgroups (vgl. JIM 2009: 27). Einen besonderen Schwerpunkt legte die Studie dieses Jahr auf die Problematik des „Cybermobbings“:

„Ein Viertel berichtet, dass es im Freundeskreis schon einmal zu Ärger aufgrund von Interneteinträgen kam. 14 Prozent ist es schon einmal passiert, dass Falsches oder Beleidigendes im Internet verbreitet wurde. In Kontakt mit regelrechtem Cyber- Mobbing sind bisher ein Viertel der Internetnutzer gekommen. Jedes dritte Mädchen und jeder fünfte Junge kann darüber berichten, dass jemand aus dem Freundeskreis im Internet schon einmal fertig gemacht wurde - sei es in einer Community oder in einem Chat“ (JIM 2009: 48).

Abschließend warnen die Autoren der JIM-Studie vor dem Negativpotential der neuen Technologie und mahnen zur Aufklärung der Jugendlichen durch Eltern, Pädagogen und Anbieter (vgl. JIM 2009: 61).

2.2.3 ARD/ZDF-Onlinestudie 2010

Ging es in der Shell-Studie um Jugendliche generell und in der JIM Studie um die Mediennutzung der Jugendlichen im Allgemeinen, so beschäftigt sich die ARD/ZDF-Onlinestudie mit der Internetnutzung der gesamten Bevölkerung Deutschlands. Die ARD/ZDF-Onlinestudie wird seit 1997 jährlich durchgeführt und basiert auf einer Stichprobe von 1804 Erwachsenen ab 14 Jahren. Eine Neuerung der aktuellen Studie ist, dass seit 2010 die Grundgesamtheit um alle in Deutschland lebenden deutschsprachigen Ausländer erweitert wurde. Dies führte zu einer Vergrößerung der Grundgesamtheit von knapp sechs Millionen Personen. Aufgrund des geringeren Altersdurchschnitts zeichnen sich die deutschsprachigen „Nicht-Bundesbürger“ durch eine etwas größere Internetaffinität aus, da mit zunehmenden Alter die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine Person wenigstens gelegentlich ins Internet geht (vgl. van Eimeren und Frees 2010: 334f.)15.

So nutzen nunmehr 49 Millionen und damit 69,4 Prozent der deutschsprachigen Personen ab 14 Jahren wenigstens gelegentlich das Internet. Das Durchschnittsalter der Nutzer liegt bei 39 Jahren und damit zehn Jahre unter dem Durchschnittsalter eines Fernsehzuschauers (vgl. van Eimeren und Frees 2010: 335). Bei den 14-19 Jährigen liegt der Anteil derjenigen, die zumindest eine gelegentliche Onlinenutzung angeben, erstmals bei 100 Prozent. Dicht gefolgt von der nächsthöheren Alterskohorte der 20-29 Jährigen, die zu 98,4 % zumindest gelegentlich online sind. Eine in vorigen Studien ermittelte Generationenkluft hat sich demzufolge nicht aufgehoben, jedoch weiter nach hinten verschoben. Sind bei den 40-49 Jährigen noch 81,9% im Internet, so verringert sich der Anteil bei der Altersstufe von 50-59 auf 68,9% und fällt bei 60 Jahren oder älter auf 28,2 Prozent ab. Ebenfalls verringert sich der Graben zwischen männlichen und weiblichen Internetnutzern dank des starken Zuwachses der ab 50-jährigen Frauen auf 12 Prozentpunkte (vgl. van Eimeren und Frees 2010: 336f.).

Ein wichtiges Ergebnis der hier besprochenen Studie ist, dass sich die Kommunikation im Internet mehr und mehr auf die sozialen Netzwerke im Internet verlagert. Die Nutzung stieg im letzten Jahr von 27 auf 32 Prozentpunkte. Hier wird wieder einmal der Unterschied zu den Jugendlichen, in dieser Studie 14-19-jährige, deutlich, die zu 78% derartige Networks nutzen. Bei der Erhebung bestimmter Onlineanwendungen nach Altersstufen ergeben sich weitere interessante Unterschiede. Abgesehen von E-Mail Providern und Suchmaschinen, die von allen Altersstufen häufig genutzt werden, unterscheiden sich die Jugendlichen von der Grundgesamtheit vor allem bei der Nutzung von Instant Messaging (81% zu 29%) und Gesprächsforen, Newsgroups und Chats (63% zu 19%). Ebenso ist mit 96 zu 32 Prozent die Nutzung von Videoportalen bei Jugendlichen wesentlich beliebter als beim „Durchschnitts-Onliner“ (vgl. van Eimeren und Frees 2010: 340ff.).

Unter der zunehmenden Nutzung der Netzwerkplattformen leidet vor allem die aktive Teilhabe anderer Web 2.0 Anwendungen. Die Forscher der Onlinestudie haben das „Mitmachnetz“ in sechs Angebotsformen kategorisiert. Weblogs, Onlineenzyklopädien, Foto- und Videocommunities, Social Network Sites, Social Bookmarking Dienste und Microblogging Dienste (Twitter). Dabei stellen die Forscher fest, dass das Interesse der aktiven Teilhabe an diesen Angebotsformen des Web 2.0 stagniert. Nur noch 22 Prozent aller User zeigen sich demnach sehr oder etwas interessiert an den vielfältigen Chancen, sich selbst einzubringen. Bei den Jugendlichen liegt das Interesse zwar noch bei 35%, ist jedoch seit dem letzten Jahr um 14% gesunken (vgl. Busemann und Gscheidle 2010: 360f.). Falls Videos oder Texte im Internet verbreitet werden, dann eher in der eigenen Community:

„Private Netzwerke entwickeln sich demnach immer mehr zum All-in-One-Medium; Web-2.0-Anwendungen, die seit Jahren eine geringe aktive Nutzung aufweisen, erfreuen sich innerhalb der im großen World Wide Web relativ überschaubaren und klar abgegrenzten Community großer Beliebtheit“ (Busemann und Gscheidle 2010: 366).

Lediglich die Hälfte aller in den sozialen Netzwerken des Internets aktiven User gibt den vollständigen Namen an. Bei den Teenagern sind es sogar nur 20 Prozent. Daraus schließen die Forscher eine gestiegene Aufmerksamkeit gegenüber der öffentlichen Diskussion um Datenmissbrauch im Internet (vgl. Busemann und Gscheidle 2010: 367). Diese Interpretation steht im Gegensatz zu den Ergebnissen der JIM-Studie, die sogar eine Zunahme der angegebenen Daten bei Jugendlichen verzeichnet.

2.3 Zwischenfazit

Marc Prensky beschreibt in einer Analogie zum linguistischen Konzept des „native speakers“ eine Generation, die mit den neuen Medien aufgewachsen ist. Ab 1980 geborene Personen werden als Digital Natives bezeichnet. Diesen attribuiert Prensky bestimmte, meist positive, Eigenschaften die mit dem häufigen Umgang mit digitalen Geräten zusammenhängen. Daraus folgert Prensky die Notwendigkeit einer Anpassung des Lehrbetriebs gemäß dieser Fähigkeiten. Das Konzept ist weder empirisch abgesichert noch wissenschaftlich konzipiert, wie der deutsche Pädagoge Rolf Schulmeister kritisiert. Anhand diverser Studien zeigt Schulmeister, dass kein einheitliches Profil einer Generation möglich sei. Die Nutzung des Mediums verlaufe entlang normaler sozialisatorischer Aktivitäten. Der Unternehmer und Organisationspsychologe Peter Kruse schließt sich der Ablehnung eines Generationenkonzepts an und erweitert den Diskurs um die Perspektive einer Dichotomie entlang kultureller Wertepräferenzen. Die Rechtswissenschaftler John Palfrey und Urs Gasser nutzen die öffentliche Aufmerksamkeit bezüglich der Digital Natives, um bestimmte Aspekte jugendlicher Lebenswelten im Internet zu betrachten und plädieren für eine flexible Rechtsprechung zur Ermöglichung kreativer und kommunikativer Betätigung Jugendlicher im Internet.

Das für Wissenschaft, Medien, Unternehmen und Privatpersonen populäre Konzept der Digital Natives entspringt einem pädagogischen Diskurs und greift auf andere Wissenschaftsbereiche über. Pädagogen, Psychologen, Rechtswissenschaftler, Neurowissenschaftler und Sozialwissenschaftler beschäftigen sich mit der Thematik. Trotz berechtigter Kritik an dem Postulat einer Netzgeneration, kann der Diskurs um die Digital Natives wichtige Erkenntnisse liefern, anhand derer etwas verändert, erforscht und überprüft werden kann. In diesem Sinne dient der Diskurs um die Digital Natives auch als Inspiration für die vorliegende Magisterarbeit.

Die als Digital Natives bezeichnete Generation wurde mit einem Schwerpunkt auf Internetnutzung Jugendlicher anhand dreier Langzeitstudien genauer untersucht. In der Shell-Jugendstudie wird eine pragmatische Orientierung der Jugendlichen in Deutschland festgestellt. Hohe Anforderungen in Schule und Alltag, aber auch vermehrte Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung, kennzeichnen diese Genration. Das Internet nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Mit der JIM-Studie 2009 spezifiziert sich die Betrachtung der Jugendlichen auf die reine Mediennutzung. Die Jugendlichen sind ein Motor der Verbreitung des Mediums in den Familien. Die Internetnutzung ist vor allem für die Kommunikation der Jugendlichen relevant. Es deuten sich Phasen der Internetnutzung Jugendlicher an. In der ARD/ZDF-Onlinestudie 2010 wurden nicht nur Jugendliche untersucht, so dass Unterschiede zu anderen Altersgruppen deutlich werden können. Die häufig konstatierte Abkehr vom so genannten „Mitmachnetz“ wird mit einer Konvergenz der verschiedenen Nutzungsformen in den sozialen Netzwerken des Internets erklärt. Schwächen der Studien werden anhand undifferenzierter Angaben über Informationspreisgabe deutlich. Dies zeigt sich auch in der Tatsache, dass sich die ARD/ZDF- Onlinestudie und die JIM-Studie in diesem Punkt widersprechen. Bei der Shell-Jugendstudie deutet sich ein fehlendes Verständnis der Nutzungsgewohnheiten von Social Network Sites an.

Die vorgestellten Forschungen relativieren die Postulate einer neuen Mediengeneration. Die Frage nach der Richtigkeit des Konzeptes stellt sich demnach kaum mehr. Interessanter erscheint es zu beobachten, wie sich die vermehrte Nutzung des Internets und insbesondere der Netzwerkplattformen auf die Lebenswelt der Jugendlichen auswirkt. Die Beschreibungen der jugendlichen Erlebnis- und Erfahrungsräume werden weder in den vorgestellten Studien, noch in den Publikationen erforscht. Diese Forschungsfrage lässt sich mit der dokumentarischen Interpretation der Ergebnisse eines Gruppendiskussionsverfahrens angehen, da auf solche Weise Einblicke in die tatsächlichen Erlebniswelten und Gedanken der untersuchten Gruppen ermöglicht werden. Angereichert mit den Ergebnissen der drei vorgestellten Studien, kann sich so ein umfassenderes Bild des Umgangs der Jugendlichen mit dem Internet ergeben.

3 Methodisch-Methodologischer Teil

Um eine fundierte Interpretation der Ergebnisse zu erreichen, soll ein Schwerpunkt auf die im Rahmen dieser Untersuchung verwendete Methode gelegt werden. Zunächst sollen die dokumentarische Methode und die dazugehörige Erhebungsform des Gruppendiskussionsverfahrens sowie deren Entstehung dargelegt werden. Ralf Bohnsack entwickelte Mitte der 1980er Jahre diese neue Form der qualitativen Datenerhebung und Auswertung. Die Verfahrensweise basiert ursprünglich auf dem methodischen Entwurf Karl Mannheims, eine Trennung von immanentem und dokumentarischem Sinngehalt vorzunehmen, um homologe Sinnstrukturen an verschiedenen Kulturgebilden zu erkennen. Die relevanten Texte Mannheims werden im Folgenden präsentiert, um dann im nächsten Schritt den Übergang zur der von Bohnsack entwickelten Methodik nachvollziehbar zu machen. Die dokumentarische Methode stellt in diesem Zusammenhang ein Verfahren zur Interpretation von Gruppendiskussionen dar. Neben der Auswertung von Gruppendiskussionen lassen sich auch narrative Interviews, Beobachtungsprotokolle teilnehmender Beobachtung sowie Ton-, Bild- und Videomaterial mit der dokumentarischen Methode bearbeiten (vgl. Bohnsack et al. 2007). In einem Exkurs werden darüber hinaus Parallelen zwischen der Akteur- Netzwerk-Theorie und der Dokumentarischen Methode aufgezeigt und es wird erörtert, inwieweit eine Kombination verschiedener Aspekte dieser Methoden sinnvoll und fruchtbar sein könnte.

3.1 Karl Mannheim

Karl Mannheim spielt eine zentrale Rolle in dieser Arbeit. Seine Überlegungen zu gemeinsamen Erfahrungen sind sowohl in der Generationenforschung als auch auf dem relativ jungen Forschungsfeld der Jugendsoziologie relevant geworden (vgl. Scherr 2009: 62). Darüber hinaus basiert das der Arbeit methodisch zugrundeliegende Gruppendiskussionsverfahren auf seinen Überlegungen zur dokumentarischen Methode. Es scheint, als erlebe dieser Denker zurzeit eine Renaissance im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs (vgl. Sparschuh 2007: 171). Die derzeitige Rezeption des Werkes steht in keinem Verhältnis zu der relativ dünnen Literaturlage über die Person Karl Mannheim, weshalb eine kurze Einführung zu seiner Biographie an dieser Stelle angebracht erscheint.

Karl, ursprünglich Károly, Mannheim wurde am 27.3.1893 in Budapest geboren. Als Sohn ungarisch- deutscher Eltern jüdischer Abstammung studierte Mannheim ab 1912 in Budapest, Berlin, Paris, Freiburg und Heidelberg Philosophie, Kunstgeschichte und Soziologie, unter anderem bei Georg Lukács, Georg Simmel, Alfred Weber und Adolf Grimme. Letzterer verhalf ihm 1930 zu einer ordentlichen Professur für Soziologie an der Universität Frankfurt, bei welcher ihm kurzeitig Norbert Elias als Assistent zur Seite stand. In seinen Arbeiten bezieht sich Mannheim unter anderem auf Wilhelm Dilthey, Karl Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Wie so viele brillante jüdische Denker musste Mannheim 1933 Deutschland auf Grund der nationalsozialistischen Machtübernahme Deutschland verlassen und emigrierte nach England. Hier arbeitete er an der „London School of Economics and Political Science“ als Dozent. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Mannheim als Professor am "Institute of Education" der Universität London, wo er auch die "International Library of Sociology" gründete. Im Alter von 56 Jahren verstarb Mannheim am 9.1.1947 in London (vgl. Lichtblau 1997: 595f.).

Einige Autoren der Sekundärliteratur teilen Mannheims Forschungsinteresse entlang seiner Biographie in verschiedene Phasen ein. Mannheims Hinwendung zur Kulturphilosophie, Soziologie und politischer Pädagogik wird von ihnen analog zu seinen Migrationsbewegungen von Ungarn über Deutschland nach England gedeutet (vgl. Lichtblau 1997: 595f.; Sparschuh 2007: 186; Endreß 2007: 89). Diese Perspektive liegt nahe, da Mannheim selbst die Problematik der Standortgebundenheit als auch der „Lagerung“ der Menschen oder Generationen im sozialen Raum in seinen Schriften untersuchte. Getreu Mannheims Maxime einer Synthese verschiedener Disziplinen, also einer interdisziplinären Geisteswissenschaft, zur Bewältigung seiner Forschungsfragen lässt sich das Mannheimsche Werk von Anfang an als Versuch deuten, sich dem Weltanschauungsbegriff und der damit verbundenen Generationenproblematik auf verschiedenen Wegen zu nähern (vgl. Sparschuh 2007: 183). Insbesondere Mannheims Grundlagenforschung zur Möglichkeit, den in vortheoretischer Weise erfassten Begriff der Totalität in theoretisch-wissenschaftlicher Sicht erfassen zu können, mündete in der Wiederbelebung einer Wissenssoziologie und führte zu einer Auseinandersetzung mit dem Einfluss gesellschaftlichen Wissens durch soziale Prägung (vgl. Endress 2007: 77ff.).

3.1.1 Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation

Bereits in seiner Heidelberger Studienzeit veröffentlichte Karl Mannheim den Aufsatz: „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“ (1921). Für viele Forscher ist hier das Fundament sowohl für die Forschung über Generationenzusammenhänge als auch für die dokumentarische Methode zu situieren, weshalb die Originalquelle (wieder abgedruckt in „Karl Mannheim, Wissenssoziologie, Auswahl aus dem Werk“, herausgegeben von Kurt H. Wolff) hier vorzustellen ist.

Zu Beginn definiert Karl Mannheim die Aufgabe, den logischen Ort und die methodologische Struktur eines Weltanschauungsbegriffes zu bestimmen. Eine endgültige Lösung des Problems erschien Mannheim bei dem damaligen Stand der Wissenschaft noch nicht möglich. So könne beispielsweise die formale Stilgeschichte als Teil der Kunstwissenschaft die Einmaligkeit und den Ausdruckscharakter eines Kunstwerkes zwar zeitweilig ausblenden, um dessen Einordnung in eine bestimmte Epoche vorzunehmen, das sich jeweils ändernde „Kunstwollen“ des Kreativen, also dessen Motivation und Intention, zu erfassen, bliebe ihr dennoch versagt, solange man nicht auf umfassendere Totalitäten wie Zeitgeist oder Weltanschauung rekurriere. Diese umfassenden Totalitäten seien nur durch eine synthetische Forschungsrichtung, also einen interdisziplinären Ansatz zu klären (vgl. Mannheim 1964: 92).

Es bedurfte der hermeneutischen Ausrichtung der Geisteswissenschaften, wie sie Wilhelm Dilthey vertrat, um eine Weltanschauung zu „verstehen“ und als solche zu identifizieren. Die Abkehr vom Theoretischen sei unumgänglich für die Erforschung dieser Einheit oder Totalität, wie Mannheim die Weltanschauung auch bezeichnet. Demzufolge seien sämtliche Kulturgebilde Ausstrahlungen der Weltanschauung und sämtliche Kulturobjektivationen, wie Religion, Kunst und Philosophie, Trägerinnen derselben. So eröffnet Mannheim der Forschung neue Möglichkeiten das Auftreten des Weltanschauungsbegriffs nicht nur inhaltlich, sondern vor allem der Form nach in seinen verschiedenen Ausprägungen zu untersuchen. Diesen Gewinn erkauft er sich, wie er selbst schreibt, allerdings durch eine größere Anfechtbarkeit seiner Position und die Problematik der Übersetzbarkeit des Atheoretischen ins Theoretische (vgl. Mannheim 1964: 97ff.).

Um eine Weltanschauung anhand eines Kulturobjektes zu erfassen, bedürfe es der Unterscheidung verschiedener Sinnschichten. Ein Gegenstand könne entweder unvermittelt oder vermittelt gegeben sein. Unvermittelt bedeutet bei Mannheim das An-Sich-Seiende oder die Selbstgegenwart eines Objektes. Das Vermittelnde wiederum könne in verschiedenen Rollen auftreten. Die zur Erfassung einer Weltanschauungstotalität relevanten Mittler seien vor allem die des Ausdrucks- und des Dokumentsinns: „Dementsprechend werden wir drei >>Sinnschichten<< an jedem vollen Kulturgebilde unterscheiden: a) den objektiven Sinn, b) den intendierten Ausdruckssinn, c) den Dokumentsinn“ (Mannheim 1964: 104).

Expliziert werden die drei Sinnschichten anhand eines Beispiels: Zwei Freunde gehen durch die Stadt und einer der beiden gibt einem Bettler einen Almosen. Von außen betrachtet werde die Bewegung nicht nur als physikalische oder physiologische aufgefasst, sondern als Träger eines Sinnes. Dieser Sinn sei hier das soziologisch lokalisierbare Sinngebilde „Hilfe“, gegeben durch den objektiven sozialen Zusammenhang, in dem es Bettler und Besitzende gibt. Wichtig hierbei ist, dass kein Verständnis der Akteure und deren „Innenwelt“ vonnöten sei, um den objektiven sozialen

Zusammenhang zu verstehen (vgl. Mannheim 1964: 105f.). Womöglich habe der Gebende den objektiven Sinn „Hilfe“ nicht nur realisiert um zu helfen, sondern wollte mit seiner Aktion noch etwas anderes ausdrücken, nämlich dem Bettler und/oder seinem Freund Mitleid und Barmherzigkeit signalisieren. Auf diese Art und Weise wird die erste objektive Sinnschicht um eine zweite ergänzt. Diese zweite Sinnschicht sei nun eine Vermittelte und für ihr Verständnis ist, im Gegensatz zum objektiven Sinn, die Kenntnis der „Innenwelt“, oder zumindest der Intention des gebenden Subjekts vonnöten (vgl. Mannheim: 106 f.).

Der Verstehende kann nun also den objektiven Sinn und den Ausdruckssinn erfassen. Darüber hinaus gebe es noch die dritte Interpretationsebene; den Dokumentsinn. Der Sinn dieser Handlung offenbare sich dem Freund in unserem Beispiel möglicherweise als Heuchelei. In diesem Zusammenhang dokumentiere sich der Akt des Gebenden dem Freund in unbeabsichtigter Art und Weise. Die dokumentarische Sinnschicht sei nur vom Rezipienten aus erfassbar. Nicht das „Was“, sondern das „Dass“ und das „Wie“ seien für diese Sinnschicht wichtig:

„Nichts wird im eigentlich vermeinten Sinn (d. h. mittels intentionaler Interpretation) oder in seinem objektiven Leistungscharakter belassen, sondern alles dient als Beleg für eine von mir vorgenommene Synopsis, die, wenn sie den engeren Kreis des ethisch Relevanten verläßt, nicht nur seinen ethischen Charakter, sondern seinen gesamt- geistigen >>Habitus<< ins Auge zu fassen imstande ist“ (Mannheim 1964: 108f.).

Die Weltanschauungstotalität manifestiere sich auf verschiedene Art und Weise, sowohl im Ausdrucks- als auch im Dokumentsinn. Während der Ausdruckssinn jedoch die Interpretation der gesamten objektiven Sinnschicht eines Kulturgebildes erfordere, könne das Dokumentarische auch an einzelnen Fragmenten des Werkes erkannt werden. Solch ein dokumentarisches Fragment, oder Moment, wie Mannheim schreibt, müsse noch ergänzt werden. Diese Ergänzung könne aber nicht nur innerhalb des bereits untersuchten Kulturgebildes gefunden, sondern müsse anhand sämtlicher Hervorbringungen des kreativen Subjektes untersucht werden. Das weitere Suchen dürfe jedoch nicht als eine Hinzufügung verstanden werden. Die Konfrontation mit anderen künstlerischen Fragmenten desselben Subjektes fungiere als Bestätigung des bereits Erkannten durch Homologien (vgl. Mannheim 1964: 121).

So könne man an grundverschiedenen objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich den gleichen dokumentarischen Charakter entdecken. Durch dieses Vorgehen ist Mannheim nun dem Ziel einer Weltanschauungsinterpretation näher gekommen:

„Alle diese Versuche einer dokumentarischen Interpretation bauen also aus den in den zusammengehörigen Kulturobjektivationen zerstreuten dokumentarischen Momenten neuartige Totalitäten auf, die wir dann als >>Kunstwollen<< (Riegl), >>Wirtschaftsgesinnung<< (Sombart), >>Weltanschauung<< (u. a. Dilthey), >>Geist<< (u. a. Max Weber) je nach den in ihnen enthaltenen Verschiedenheiten benennen können“ (Mannheim 1968: 123).

Problematisch an der dokumentarischen Vorgehensweise sei allerdings, dass der Forscher selbst einem bestimmten Zeitgeist, einer bestimmten Weltanschauung unterworfen ist, welche auf seine dokumentarische Interpretation einwirken. Daher müsse die dokumentarische Methode in jedem Zeitalter neu durchgeführt werden. Kurz geht Mannheim auf die für diese Arbeit wichtige Analyse einer Ausdrucks- und Dokumentinterpretation hinter den Werken von Kollektivsubjekten ein. Dabei bilde der Ausdruckssinn einen Durchschnitt des gemeinten Sinnes der Gemeinschaft. Bei der dokumentarischen Untersuchung einer Gruppencharakteristik hingegen würden Subjekte konstruiert, deren subjektives Korrelat der Charaktereigenschaft dieses Kollektivs entspreche (vgl. Mannheim 1964: 125f.)

Im letzten Kapitel des Aufsatzes kommt Mannheim auf den methodischen Zirkel zu sprechen, nach dem der Teil helfe, das Ganze und das Ganze wiederum helfe, einen Teil zu erfassen. Man müsse also sämtliche Gebiete der Kultur unter einem durchgehaltenen dokumentativen Gesichtspunkt vergleichen, um Ähnlichkeiten zu finden. Dafür benötige der Forscher einheitliche Begriffe, die geeignet sind, sich sämtlichen Kulturobjektivationen sprachlich anzupassen. Des Weiteren sollten die Begriffe nicht nur interkategorial, sondern auch epochenübergreifend angemessen sein. Als fruchtbar erscheinen Mannheim deshalb Äquivokationen, oder Homonyme, also Wörter oder Begriffe, die mehrere Bedeutungen haben können. Sie machen es möglich, synästhetische, Erfahrungsbereiche auszudrücken, wie zum Beispiel mit bildnerischen Stilkategorien das Musikalische und mit musikalischen das Malerische zu benennen (vgl. Mannheim 1964: 148). Als naheliegend erscheint es Mannheim, sich den verschiedenen Gebieten mit dem Begriffsapparat der bildenden Kunst zu nähern, da sie der irrationalen Sphäre einer Weltanschauungsinterpretation näher stehe als beispielsweise der laut Mannheim erwähnens- und lobenswerte, aber dennoch misslungene Versuch Diltheys einer Kategorisierung von Lebenssystemen. Im weiteren Verlauf des Textes fasst Mannheim einige Versuche zusammen, die Weltanschauungstotalität in ihrer jeweiligen Ausprägung abhängig vom Forschungsgegenstand des Wissenschaftlers zu identifizieren. Dabei grenzt er sich auch stark gegen die an der Naturwissenschaft orientierten Methoden ab. Die Weltanschauungsforschung sei stets ein Deuten und nicht ein Erklären. Eine Kausalerklärung würde im Fall einer dokumentarischen Analyse lediglich einem anderen Dokument die Ursache zuschreiben und nicht auf die dahinter liegende Totalität verweisen. Am Ende steht die Erkenntnis Mannheims, dass „das Verständnis für die Eigenart des Geistigen und Historischen erwacht, daß man nach einer Totalität ringt und auch die Bedeutung des Gehaltes und der Gestalt der vortheoretischen Gebilde für die Wissenschaft erobern will(…)“ (Mannheim 1964: 154).

Zusammenfassend sollen im Folgenden kurz die wichtigsten Punkte benannt werden: Die Weltanschauung ist nach Mannheim eine hinter den Dingen liegende Totalität, deren Identifizierung nicht durch eine rein theoretische Herangehensweise möglich ist. Diese schwierige Aufgabe ist für Karl Mannheim vielmehr nur mit einem interdisziplinären Ansatz, nämlich der Synthese verschiedener Forschungsrichtungen, zu lösen. Kulturerzeugnisse, aber auch soziale Situationen können als Untersuchungsgegenstand dienen. Mannheim unterscheidet drei Sinnschichten von denen der objektive Sinn unvermittelt ist, der Ausdrucks- und Dokumentsinn jedoch vermittelt sind. Der Objektsinn erfordert die Kenntnisnahme des Gesamten, ohne auf die dahinterliegenden Subjekte zu schließen. Der Ausdruckssinn erfordert die Interpretation der Intention des Handelnden. Der Dokumentsinn schließlich kann anhand einzelner Spuren und Elemente des Subjektes im Sinne einer Deutung erfasst werden. Diese Dokumente bedürfen dann noch einer Konfrontation mit anderen Dokumenten desselben Subjektes, um anhand von Homologien eine Bestätigung zu finden. Durch die Interpretation dieser dokumentarischen Sinnschicht lässt sich dann auf die dahinter liegende Totalität einer Weltanschauung schließen, so dass zwischen der Totalität und dem Dokument eine Wechselwirkung besteht. Um diese Interpretation durchzuhalten plädiert Mannheim für die Bildung eines Begriffsapparates, der allgemein genug ist, um auf verschiedene Kulturgebiete und Epochen angewendet zu werden.

3.1.2 Das Problem der Generationen

Ein weiterer für diese Arbeit relevanter sowie einflussreicher Aufsatz aus der „deutschen Phase“ Mannheims ist „Das Problem der Generationen“ von 1928. In diesem Text geht es Mannheim nicht nur darum, einen Generationenbegriff zu entwickeln, sondern darüber hinaus die Mechanismen aufzudecken, die zu einer Ausformung spezifischer geistiger Inhalte führen. Wiederum bezieht Mannheim dabei die verschiedenen wissenschaftlichen Denkansätze und Theorien in seine Untersuchung ein, führt positive sowie negative Aspekte der jeweiligen Sichtweise an, um dann zu einer Synthese der fruchtbaren Aspekte zu gelangen, die er mit seinen eigenen Überlegungen anzureichern sucht. Zunächst weist er darauf hin, dass die Generationendebatte hauptsächlich zwei Wege eingeschlagen habe: einen positivistischen und einen romantisch-historischen. Auf ersterem soll der Begriff der Generation quantitativ erfasst werden, wohingegen der zweite Weg zu einem qualitativen Zugriff auf das Problem führen soll (vgl. Mannheim 1964: 509).

[...]


1 Dies sind Ausschnitte aus drei verschiedenen Gruppendiskussionen, die mit dem Ziel der Rekonstruktion jugendlicher Erfahrungsräume im Internet durchgeführt wurden. Die Transkription wurde nach den Regeln des Transkriptionssystems „TiQ“ vorgenommen. Eine Beschreibung der Zeichen findet sich im Anhang.

2 „Digital Native“ und „Digital Immigrants“ wird in Anlehnung an die bereits existierende Forschungsliteratur und der Einfachheit halber im Folgenden ohne Anführungszeichen geschrieben. Dies soll nicht bedeuten, dass das Konzept unhinterfragt übernommen wird.

3 Zum Vergleich der beiden Begriffe bei Bohnsack und Bourdieu (vgl. Gaffer und Liell 2007: 197)

4 Verweise auf Internetquellen können teilweise keine Seitenangaben beinhalten. Weitere Angaben zu diesen Quellen sind jeweils in dem Kapitel Internetressourcen zu finden.

5 Mit Instant Messaging Programmen wie beispielsweise „ICQ“ ist es möglich, sich im Internet kurze Nachrichten und Dateien in Echtzeit zu schicken

6 Ein Text mit direkten Querverweisen zu anderen Artikeln. Eher assoziativ als linear.

7 Hier wird sich auf eine Auseinandersetzung zwischen Udo Reents von der FAZ und Wolfgang Michal aus der Blogosphäre bezogen (siehe Internetressourcen).

8 Internetseiten wie „Facebook“, „MySpace“ „StudiVZ“ oder „Wer Kennt Wen“ werden in der Forschungsliteratur

uneinheitlich bezeichnet. „Netzwerkplattformen“ (vgl. Schmidt 2009), „Social Network Sites“ (Boyd und Ellison 2007) oder „soziale Netzwerke im Internet“ sind m. E. treffende Bezeichnungen und werden daher in dieser Arbeit verwendet. In einer Auseinandersetzung mit Belangen des Internets, lassen sich bestimmte Anglizismen nicht vermeiden. Die Verwendung des Begriffes „Social Network Site“ ist allgemein verständlich und wurde in der Kurzform „Social Network“ auch häufig von den Teilnehmern der Gruppendiskussionen verwendet.

9 In der hier behandelten Publikation wird keine Begriffsdefinition vorgenommen.

10 Palfrey und Gasser verdeutlichen ihre Überlegungen anhand eines fiktiven 16-Jährigen Mädchens.

11 Cyberbullying oder Cybermobbing bezeichnen das Sticheln, Lästern, Beleidigen, hinterlistige Täuschen, also dem generellen Herabwürdigen anderer mithilfe der neuen Medien.

12 Der ungleichen Verteilung von Internetzugang aufgrund sozialer Herkunft.

13 Link ist die Kurzform von Hyperlink und bezeichnet einen Querverweis zu einer anderen Seite im Internet.

14 Beiträge in Newsgroups, Foren oder Social Network Sites.

15 Die Zusammenfassung basiert auf der Darstellung der ARD/ZDF-Onlinestudie in der Zeitschrift Media Perspektiven Band 7/8 2010.

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Rekonstruktion jugendlicher Erfahrungsräume im Internet
Untertitel
Interpretation von Gruppendiskussionen anhand der dokumentarischen Methode
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
124
Katalognummer
V167786
ISBN (eBook)
9783640847372
ISBN (Buch)
9783640843367
Dateigröße
2086 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ralf Bohnsack, Karl Mannheim, Dokumentarische Methode, Generation, Akteur-Netzwerk-Theorie, Shell Jugendstudie, JIM-Studie, Internet, Social Media, Nutzungsverhalten, Gruppendiskussion, Gruppendiskussionsverfahren, Schäffer, Erfahrungsräume, konjunktive Erfahrungsräume, Digital Native, Digital Immigrants, Digital Natives, Marc Prensky, Rolf Schulmeister, Peter Kruse, Generation Internet, John Palfrey, Urs Gasser, Facebook, ICQ, MSN, StudiVZ, ARD/ZDF-Onlinestudie, Weltanschaaung, Fake-Accounts, Identität, Identitätsspiel, Erlebnisraum, Sexualisierung, Stalken, Spielsucht, Digital, Online, Fokussierungsmetapher, Indexikal, soziale Netzwerke, Social Networks, Social Network Service, Webbasierte Kommunikationsplattform, Selbstdarstellungspraktiken, Web 2.0, Privatheit, Private Daten, Sherry Turkle, Danah Boyd, Malene Charlotte Larsen, Nicola Döring, Technische Akteure, Aktanten, Jugendliche
Arbeit zitieren
Nemo Tronnier (Autor:in), 2011, Rekonstruktion jugendlicher Erfahrungsräume im Internet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167786

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