Über "Meine freie deutsche Jugend" von Claudia Rusch

Gedächtnisgemeinschaft "Generation Trabant"


Hausarbeit, 2010

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Totalitärer Staat und Identitätsbildung
2. 1 Leitmotiv: Die Sehnsucht nach Reisefreiheit
2. 2 Identität und Öffentlichkeitsebenen
2. 3 Schwerter zu Pflugscharen
2. 4 Die Jugendweihe als Institution

3. Gedächtnisgemeinschaft Generation Trabant

4. Fazit

5. Literaturverzeichniss

1. Einleitung

Den Raum der Kindheit erinnernd zurückzuholen, ist eine verbindendende Intention der Autoren und Autorinnen, deren Werke im Seminar gelesen wurden. Erinnerungsbücher wie Meine freie deutsche Jugend von Claudia Rusch, um das es in der vorliegenden Ausarbeitung gehen soll, nehmen eine besondere Rolle ein, da sie nicht nur über den Prozess des Erwachsenwerdends erzählen, sondern auch über einen Staat schreiben der parallel dazu verschwand.

Die Ich-Erzählinstanz führt den Leser in Meine freie deutsche Jugend über 27 pointenreichen Erinnerungsgeschichten durch ihre Kindheit und Jugend in der DDR. Der Titel bezieht sich auf die Jugendorganisation der DDR, die FDJ (Freie deutsche Jugend), der Jugendliche im Alter von 14 Jahren obligatorisch beitraten. Die Anekdoten sind autobiographisch und vermitteln aufgrund ihrer Authentizität einen tiefen Einblick in das Lebensgefühl eines Oppositionnellenkindes, können jedoch aufgrund der Segmenthaftigkeit kein umfassendes und zusammenhängendes Bild von der Kindheit und Jugend der Schriftstellerin leisten. In den einzelnen Geschichten wechselt der Standpunkt der Erzählerin vom Kind zur Jugendlichen oder zur Erwachsenen. Rusch wird mit jeder Geschichte älter, ähnlich dem Protagonisten eines Bildungsromans.

Anders als im Erinnerungsbuch Zonenkinder von Jana Hensel, die den Anspruch hat im “Wir” für eine ganze Generation zu sprechen, geht es Claudia Rusch um Erinnnerungen an ihre individuelle Lebensgeschichte, diese ist einerseits geprägt von außergewöhnlichen Erfahrungen eines Oppossitionellenkindes in einem totalitären Staat und andererseits von typischen Kindheitsmuster in der DDR. Wolfgang Hilbig schreibt diesbezüglich etwas pathetischen: „Und ich wiederhole es, die Geschichten sind, bei aller Subjektivität, bei allem Beharren auf der persönlichen Begebenheit, immer wieder voll von Geschichte.”[1]

Auf welch schicksalshafte Weise das Leben von Claudia Rusch mit der Existenz der DDR verbunden ist wird schon am Geburtsdatum deutlich. Sie wurde 1971 in Stralsund geboren, wuchs auf Rügen auf, bis sie mit ihrer Mutter, die zum Freundeskreis des Dissidendenten Robert Havemann gehörte, nach Brandenburg und 1982 nach Berlin zog - und feierte ihre Volljährigkeit im Jahr des Mauerfalls 1989. Damit wurde sie nicht nur vom Gesetz mit größeren Entscheidungsfreiheiten ausgestattet, sondern auch die Begrenzungen der DDR- BürgerInnen wurden gleichzeitig mit dem Fall der Mauer aufgehoben. So konnte sie nach ihrem Abitur Germanistik und Romanistik in Berlin, Bologna und Paris studieren. Seit 2001 lebt Claudia Rusch als freie Autorin in Berlin, 2003 erschien ihr Werk Mei ne freie deutsche Jugend, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur. Von Kritikern wurde ihr Buch in eine Reihe mit teils systemkritischen (u.a. Mein erstes T-Shirt von Jakob Hein) teils „ostalgischen“ (u.a. Zonenkinder von Jana Hensel) Auseinandersetzungen ihrer Generation mit Kindheit und Aufwachsen in der DDR gestellt. Entsprechend wurden Hensel und Rusch auch als östliches Pendant zur westlichen Generation Golf bezeichnet, der entsprechende Begriff Generation Trabant war schon 2001 geprägt worden. Auf den Aspekt der Gedächnisgemeinschaft Generation Trabant werden ich im letzten Punkt eingehen.

Die vorliegende Ausarbeitung ist so aufgebaut, dass auf eine gesamte Inhaltsangabe, aufgrund der Segmenthaftigkeit der einzelnen Erzählungen, verzichtet wird. Im ersten Punkt wird die Rolle des politischen Regimes und seiner Institutionen für die Identitätsbildung der werdenden Schrifstellerin untersucht werden.

Zuletzt wende ich mich auch der Frage zu, wodurch das Verhältnis der autobiographischen Darstellung zum Prozess der Erinnerung gekennzeichnet ist.

Das Buch wurde deshalb von mir ausgewählt, weil die Eltern eines Freundes auch zur (kirchlichen) Oppositionsbewegung der DDR gehörten und er teilweise ähnliche Differenzerfahrungen machen durfte. Außerdem macht die Aktualität des Buches eine Bearbeitung attraktiv, mit der allerdings auch die als defizitär zu bezeichnende Forschungslage zusammenhängt.

2. Totalitärer Staat und Identitätsbildung

Rusch bietet dem Rezipienten eine Konstruktion von Kindheit an, die neben den individuellen Faktoren stark gesellschaftlich und historisch determiniert ist. Wie schon in der Einleitung erwähnt und auch in den folgenden Punkten ausgeführt werden wird, nimmt der totalitäre Staat mit seinen Strukturen dabei eine Schlüsselstellung ein. Zugunsten einer Bearbeitung dieses Themenkomplexes, der Einflussnahme des totalitären Staates auf die Identitätsbildung, konnten weitere Aspekte der Identitätsbildung, wie z. B. das Verhältnis zu den Eltern, nicht bearbeitet werden, da sie den Rahmen dieser Ausarbeitung übersteigen würde.

2.1 Leitmotiv: Die Sehnsucht nach Reisefreiheit

Das Leitmotiv in Meine freie deutsche Jugend ist die Sehnsucht nach fernen Ländern bzw. der Freiheit zu reisen, die Rusch sicherlich mit fast allen ehemaligen DDR-BürgerInnen teilt. Das Buch fängt mit dem tiefen Wunsch der kindlichen Claudia „auf die Schwedenfähre zu steigen und auf die andere Seite der Ostsee” zu fahren[2], an. Die Begrenzheit der Möglichkeiten wird dem Kind früh bewusst.

Eine meiner frühesten Erinnerungen beschwört genau dieses Bild. Wir sind allein am menschenleeren Strand von Bakenberg, hinter uns die Steilküste mit Uferschwalben. Ich trage eine von diesen weißen Kindermützen, sitze auf dem Schoß meiner nackten Mutter und mache Winke-Winke zu dem großen Schiff. Meine Mutter küsst mich und flüstert mir ins Ohr, ich verspreche dir, eines Tages werden wir mit dieser Fähre fahren, du und ich, auf die andere Seite der Ostsee. Ganz sicher.[3]

An dieser Stelle wird der Prozess des Erinnerns bewusst mit einbezogen. Der Abstand vom erzählendem Ich zum erzähltem Ich ist hier sehr groß, wenige Zeilen später verringert sich dieser Abstand indem aus der Perspektive der informierten Erwachsenen geschrieben wird:

Ich wusste damals nicht, wie viele Menschen bei Fluchtversuchen über die Ostsee umgekommen waren, dass skandinavische Fischer über Jahre hinweg immer wieder Leichen in ihren Netzen fanden.[4]

Die DDR wird hier als ein Land das seine Bewohner einmauert und gefangen hält vorgestellt. Im weiteren Text versucht uns das erzählende Ich zu vermitteln wie prägend dieses System, weit über dessen politisches Ende hinaus, war. Dies wird u.a. dadurch deutlich, dass einer der ersten Wünsche die Claudia Rusch sich nach der Wende erfüllt eine Fahrt mit der Schwedenfähre ist, wobei sie eine nachgetragene Wut über die Freiheitsberaubung ausdrückt:

Mir lief der Rotz aus der Nase, und ich dachte an die Ohnmacht, die dieses Weiße Schiff immer ausgelöst hatte. An das Gefühl ausgeschlossen von der Welt, im Osten inhaftiert und vergessen zu sein. [¼] Es ging nicht um Schweden oder um diese Fähre, es ging um die Freiheit am Horizont.[5]

Diese Erfahrung des sich eingesperrt Fühlens im Land betraf wahrscheinlich die Mehrheit der DDR BürgerInnen. Als Oppossitionellenkind machte Rusch jedoch auch Erfahrungen mit der Staatssicherheit, die über das damals übliche Maß der politischen Kontrolle hinaus gingen und somit auch ihre Außenseiterposition begründen.

2.2 Identität und Öffentlichkeitsebenen

Das hohe Maß der politischen Kontrolle lässt die Erzählerin früh lernen, den privaten vom öffentlichen Diskurs zu trennen ein wesentliches Merkmal des Alltags im DDR Staates. Sie wohnte teilweise mit ihrer Mutter im Haushalt des Systemkritikers Robert Havemann, der für das Fußvolk der Stasi den Ausdruck Kakerlaken verwendete. Diesen Ausdruck kennt die kindliche Claudia nur in diesem Kontext, wodurch es zur komischen Anekdote mit dem Titel Die Stasi hinter der Küchenzeile kommt, in der sie lernt, dass Kakerlake ein anderer Begriff für Küchenschabe ist. Sie vermittelt uns damit auch, dass sie teilweise noch zu jung war um mit den Anforderungen des ständigen Sondierens der privaten und öffentlichen Ausdrucksweisen umzugehen.

Als fünfjähriges Kind nimmt sie die ständige Präsenz des Staatssicherheitsdientes als selbstverstänlich wahr und bezieht es sogar positiv auf sich selbst: „Für mich waren die ewig wartenden Männer beruhigend. Sie passten auf mich auf. Ganz im Sinne der Stasi-Ballade: Leibwächter.”[6] Das Wesen des Stasiregimes wird in der Geschichte mit dem Titel Der Verdacht beschrieben. Wie stark das Stasisystem, vor allem mit Hilfe der informellen Mitarbeiter (IM), ein Klima des Misstrauens in der DDR schuf, wird hier anhand Ruschs Familiengeschichte deutlich. Nach dem Fall der Mauer konnten sie Einblick in die Akte ihres in Untersuchungshaft verstorbenen Großvaters nehmen, dessen von der Staatssicherheit gegebener Deckname „Tanne“ war. Im Zusammenhang mit der Akte Katja Havemanns stellte sich die Frage wer der IM „Buche“ seine könnte, der nur im Umfeld von Ruschs Mutter auftaucht. Die Nähe des Decknamens zu dem von Ruschs Großvater lässt den Verdacht sogar auf die Großmutter fallen: „Möglich war alles. Auch das Undenkbarste. Die Stasi-Akten offenbarten gnadenlos. Der Betrug machte vor Familienbanden keinen Halt. Immer häufiger trat der Verrat an den nächsten Menschen zutage.”[7] Die Angst bzw. der Verdacht von nahestehenden Menschen bespitzelt worden zu sein reflektiert die Erzählerin besonders deutlich in der folgenden Stelle:

Denn das war die eigentliche Stärke der Staatssicherheit: zu schaffen, dass Millionen Menschen sich ängstlich, ruhig und misstrauisch verhielten. Sie sorgte dafür, dass man beim Erzählen eines poitischen Witzes automatisch die Stimme senkte. Der vorrauseilende Gehorsam griff in jede Faser der Gesellschaft und schüchterte ein ganzes Volk ein.[8]

[...]


[1] Hilbig 2003, S. 156.

[2] Rusch 2003, S. 10.

[3] Ebd.

[4] Rusch 2003, S. 11.

[5] Rusch 2003, S.15.

[6] Rusch 2003, S. 17.

[7] Rusch 2003, S. 112.

[8] Rusch 2003, S. 113.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Über "Meine freie deutsche Jugend" von Claudia Rusch
Untertitel
Gedächtnisgemeinschaft "Generation Trabant"
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
16
Katalognummer
V167563
ISBN (eBook)
9783640841783
Dateigröße
481 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
meine, jugend, claudia, rusch, generation, trabant
Arbeit zitieren
Johanna Elstermann (Autor:in), 2010, Über "Meine freie deutsche Jugend" von Claudia Rusch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167563

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