Aggression in der Grundschule - Erklärungsmöglichkeiten, Auftretensformen, Handlungschancen


Examensarbeit, 2000

87 Seiten, Note: 1,5

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Definitionsversuche
1.2 Arten der Aggression
1.3 Gewalt: Begriffsklärung und Beispiele

2. Aggressionstheorien
2.1 Biologische Faktoren
2.1.1 Erbanlagen
2.1.2 Geschlecht
2.1.3 Körperliche Ursachen und Krankheiten
2.2 Soziologische Erklärungen
2.3 Psychologische Erklärungen
2.3.1 Psychoanalytische Ansätze
2.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie
2.3.3 Lerntheorien
2.3.4 Handlungsmodelle
2.4 Vergleich und Kritik der Ansätze

3. Ein Modell aggressiven Schülerverhaltens
3.1 Entwicklungsbegriffe: Aktualgenese, Ontogenese, Phylogenese
3.2 Ontogenese aggressiven Verhaltens
3.3 Integratives Modell der Aktualgenese von Ärger-Aggression

4. Auftretensformen
4.1 Bullying
4.2 Studien an deutschen Schulen
4.2.1 Entwicklungstendenzen und Unfallstatistik
4.3 Bedingungen aggressiven Schülerverhaltens

5. Prävention und Handlungschancen in der Schule
5.1 Gewalt früher und heute
5.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede
5.3 Bewegung und Aggression
5.4 Einsatz von Medikamenten
5.5 Entstehung von Aggressionen innerhalb der Schule
5.6 Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit Gewalt und Aggression
5.6.1 Gewaltprävention im Stadtteil
5.6.2 Zusammenarbeit von Schule und Eltern
5.6.3 Konfliktschlichtung in der Schule
5.6.4 Gewalt bei Lehrkräften
5.6.5 Prävention in der Klasse

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Aggression und Gewalt waren schon immer brisante Themen und werden auch in Zukunft Bestandteil der menschlichen Existenz bleiben. Die Meinung, dass Aggressionen und Gewalt heute ein wesentlich größeres Problem darstellen als früher, ist immer häufiger anzutreffen. Vor allem hört man immer wieder, dass Kinder wesentlich aggressiver seien. Die Hauptursache für diesen Eindruck liegt vermutlich in den Berichten der Medien. Man hört von einem 15-jährigen Schüler, der seine Lehrerin mit 22 Messerstichen brutal ermordet hat oder von Gruppen, die anderen Kindern auflauern, sie erpressen oder quälen. In den USA häufen sich Fälle von jugendlichen Amokläufern, die Dutzende von Kindern erschießen. Die Allgemeinheit scheint sich der Gründe sicher zu sein: Man hört Schlagworte wie „Gewalt im Fernsehen“ oder auch „Verwahrlosung“. Inwiefern die Inhalte dieser Begriffe eine Rolle spielen, werde ich im Laufe der Arbeit klären.

Für mich persönlich waren mehrere Punkte ausschlaggebend dafür, dass ich dieses Thema gewählt habe. Soweit ich mich an meine Kindheit erinnern kann, verlief diese relativ friedlich. Sicherlich gab es Raufereien und üble Streiche. Trotzdem drängte sich auch mir der Eindruck auf, dass die Kinder heutzutage wesentlich respektloser mit ihrem Gegenüber umgehen. Wenn wir innerhalb der Klasse Ärger hatten, dann wurde getreten, gekratzt und an den Haaren gezogen. Im letzten Blockpraktikum in der Grundschule konnte ich mehrere Male miterleben, dass Kinder ohne Skrupel mit geballter Faust dem anderen direkt in das Gesicht schlugen. Meinen Erinnerungen zufolge habe ich das nicht ein einziges Mal in meiner Kindheit erlebt. Ich fragte mich also, ob die Kinder tatsächlich aggressiver geworden sind oder ob die Allgemeinheit die Vergangenheit nicht doch zu rosig betrachtet. Ferner stellte ich mir die Frage, worin die Gründe für gesteigerte Gewaltbereitschaft liegen könnten.

Der zweite Aspekt der mir bei der Wahl des Themas sehr wichtig war, ist meine Erfahrung im Bereich des Kampfsportes und der Selbstverteidigung. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis sich zu schützen, weil sie fürchten, angegriffen, ausgeraubt oder vergewaltigt zu werden. In dem großen Zulauf bei unserer Kindergruppe wurden die Ängste der Eltern besonders deutlich. Zum Teil brachten Mütter ihre 4-jährigen Töchter, damit diese lernen, sich zu wehren. Ich fragte mich, ob wirklich Anlass dazu besteht, Kleinkinder mit dieser Problematik zu konfrontieren. Die Angst der Eltern scheint mir auch jetzt noch übertrieben.

Letztendlich war für mich die Frage interessant, warum einige Leute besser mit Aggressionen umgehen können als andere. Warum entwickelt eine Person eine starke Abneigung gegenüber Gewalt, während eine andere sie ohne Zögern einsetzt?

Zu guter Letzt stellte sich mir als angehende Lehrerin die Frage, wie ich handeln kann, wenn Aggressionen in der Klasse auftreten oder bereits konkrete Vorfälle geschehen sind. Diese Fragen waren unter anderem der Beweggrund, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.

In meiner Arbeit versuche ich, systematisch vorzugehen. Nach einigen Definitionsvorschlägen und der Unterscheidung verschiedener Arten der Aggression, werde ich zunächst die wichtigsten Aggressionstheorien und Erklärungsmöglichkeiten darstellen. Kapitel 2 beschäftigt sich mit biologischen Faktoren, mit soziologischen Erklärungen und psychologischen Theorien. Es folgt ein kurzer Vergleich der Ansätze. Nach den ersten beiden allgemeinen Kapiteln, werde ich in den folgenden Punkten direkten Bezug zur Schule herstellen. Zunächst werde ich in Kapitel 3 ein Modell aggressiven Schülerverhaltens darstellen. Kapitel 4 beschreibt konkrete Erscheinungsformen von Aggressionen in der Schule. Die wichtigste Frage wird allerdings sein, was die Schule und Lehrer unternehmen können, damit Aggressionen und Gewalt gar nicht erst zum Problem werden. Vorschläge zur Prävention aber auch konkrete Maßnahmen in akuten Fällen werden in Kapitel 5 aufgeführt.

1.1 Definitionsversuche

Unter dem Begriff „Aggression“ kann sich mit Sicherheit jeder etwas vorstellen. Die Frage ist nur, ob wir alle dasselbe darunter verstehen. Während für die einen nur massive körperliche Angriffe als aggressiv gelten, empfinden andere schon subtile verbale Andeutungen als aggressiv. Was genau Aggression ist, lässt sich nicht sagen. Es kann aber der Versuch unternommen werden, die Phänomene, in denen sich Aggression äußert, zu beschreiben. Nahezu allen Definitionen gemein ist der Begriff der „Schädigung“.

- „Aggression umfaßt jene Verhaltensweisen, mit denen die direkte oder indirekte Schädigung eines Individuums, meist eines Artgenossen, intendiert wird.“ ( Merz, 1965, S.571)[1]

- „Unter aggressiven Verhaltensweisen werden hier solche verstanden, die Individuen oder Sachen aktiv und zielgerichtet schädigen, sie schwächen oder in Angst versetzen.“

(Fürntratt, 1974, S.283)[2]

Eine weitere Eingrenzung kann durch die Zuschreibung der Intention erfolgen. Nolting (1998, S.23) führt ein Beispiel an, in dem eine Person auf eine andere schießt, der Schuss aber daneben geht. In diesem Fall wird von Aggression gesprochen, obwohl niemand geschädigt wurde.

- „Aggression wird hier definiert als eine Handlung, mit der eine Person eine andere Person zu verletzen versucht oder zu verletzen droht, unabhängig davon, was letztlich das Ziel dieser Handlung ist.“(Felson, 1984, S.107)[3]

Diesen relativ eng gefassten Definitionen stehen weiter gefasste gegenüber. Diese gehen vom lateinischen Ursprung des Wortes aus: aggredi = herangehen.

- „Als Aggression gilt...alles, was durch Aktivität - zunächst durch Muskelaktivität - eine innere Spannung aufzulösen sucht.“ (Mitscherlich 1969a, S.12)[4]

Dieser weite Aggressionsbegriff wird von nur wenigen Autoren verwendet. Die Mehrheit hält sich an die engere Definition, da der Begriff sonst unbrauchbar ist. Er besagt in der weiten Definition dasselbe wie „Aktivität“ und verwischt die Grenze zwischen Tatkraft und Destruktivität. Egal wie eine Person handelt, nach dieser Definition wäre sie immer aggressiv. Aus diesen Gründen werde ich ebenfalls die Definition im engeren Sinne verwenden, wenn nicht anders angegeben.

1.2 Arten der Aggression

Aus den oben genannten Definitionen geht hervor, dass es sehr schwer ist, eine allgemein gültige Definition von „Aggression“ zu finden. Es ist fragwürdig, ob es sich bei einem Wutausbruch über eine Beleidigung, dem Abwerfen einer Bombe und einem Bankraub um „dieselbe“ Aggression handelt. Nolting[5] unterscheidet daher verschiedene Arten der Aggression. Zunächst beleuchtet er die Motivation die hinter der aggressiven Handlung steht, dann grenzt er kollektive von individueller Aggression ab.

- Vergeltungs - Aggression

Sie ist eine Reaktion auf eine Provokation und motiviert durch Ärger, Wut und Hass. Die gezielte Schmerzzufügung am anderen verschafft ein Gefühl der inneren Befriedigung. Ziel ist die Wiederherstellung der „Gerechtigkeit“ und des Selbstwertgefühls.

- Abwehr - Aggression

Diese reaktive Form der Aggression ist in erster Linie nicht aggressiv motiviert, sondern instrumentell. Die Schadenszufügung ist Mittel zum Zweck und mit Emotionen verbunden. Ziel ist die Abwehr von Gefahr/Angst oder die Abwehr von Belästigungen.

- Erlangungs - Aggression

Sie ist aktiv und instrumentell motiviert. Das Hauptziel ist das Erreichen von „Vorteilen“; Schadenszufügung dient nur als Mittel zum Zweck. Weitere Ziele sind Durchsetzung, Erlangung materiellen Gewinns, aber auch Beachtung und Anerkennung.

- Spontane Aggression

Motiviert ist sie aus „Aggressionslust“ und daher aktiv. Durch die Schmerzzufügung wird emotionale Befriedigung erlangt. Auch Selbsterhöhung und Nervenkitzel spielen eine Rolle. Oft geht diese spontane Aggression mit Kampflust und/oder Sadismus einher.

Individuelle und kollektive Aggression[6]

- Individuell

Eine einzelne Person ist Aggressor und richtet die Aggression meistens gegen einzelne Personen. In den meisten Fällen kennen sich Opfer und Aggressor. Die Aggression ist eigenmotiviert (aktiv oder reaktiv) und häufig gehemmt durch Angst vor Strafe oder persönlichen Einstellungen. Die Entscheidung wird selbst getroffen und ausgeführt.

- Kollektiv

Mehrere kooperierende Personen richten ihre Aggressionen meistens gegen ein anderes Kollektiv, manchmal aber auch gegen Einzelne. Oft kennen Opfer und Aggressor einander nicht und bleiben anonym. Die Aggression ist fremdmotiviert durch Befehle, Vorbilder u.s.w. Durch die Anonymität werden Hemmungen oftmals vermindert, so wie durch Gruppenideologie, Propaganda etc. Entscheidungen werden häufig über Befehle getroffen und in Verantwortungs- und Arbeitsteilung ausgeführt. In vielen Fällen wird die Gewaltausübung bei organisierten Kollektiven systematisch geschult.

Ein Beispiel für individuelle Gewalt ist z.B. ein Vater, der seinen Sohn verprügelt oder zwei Arbeitskollegen, die sich gegenseitig mobben. Kollektive Gewalt zeigt sich z.B. wenn zwei Gruppen von Fußballfans sich bekämpfen oder zwei Nationen gegeneinander Krieg führen. Diese Einteilung in verschiedene Arten der Aggression soll lediglich einen Überblick darüber geben, wie Aggression sich in ganz unterschiedlicher Weise äußern kann.

1.3 Gewalt: Begriffsklärung und Beispiele

Wenn über Gewalt geredet und berichtet wird, so ist keineswegs sicher, dass alle Beteiligten unter diesem Begriff dasselbe verstehen. Der Gewaltbegriff ist unpräzise und selbst in der Umgangssprache bezeichnet er unterschiedliche Phänomene. So verstehen die einen unter Gewalt in erster Linie körperliche Angriffe und Auseinandersetzungen, während andere auf indirektere Formen der Gewalt hinweisen, wie z.B. verbale Gewalt. Manche empfinden auch institutionelle Zwänge als eine Form der Gewaltanwendung. Aus diesen verschiedenen Verständnissen von Gewalt heraus, scheint es sinnvoll, den Gewaltbegriff nach und nach einzugrenzen[7]:

a) Gewalt als körperlicher Angriff

In diesem Punkt scheint es zunächst keine Meinungsverschiedenheiten zu geben. Prügeleien in der Klasse, das gezielte Zusammenschlagen eines Mitschülers oder auch die Anwendung von Waffen sind zweifellos als Gewalt zu definieren. Dabei wendet eine Partei der beteiligten Personen Gewalt an oder droht damit sie anzuwenden. Ziel ist die Schädigung der anderen Partei/Person. Diese Schädigung ist ebenfalls körperlicher Natur und reicht von Beinstellen und Ohrfeigen bis zu Knochenbrüchen oder noch weiter. Doch auch hier ist die Grenze schwer zu bestimmen: Ist jede Ohrfeige und jeder Klaps auf den Hintern, der lange als ganz normales Erziehungsmittel galt, als Gewalt zu definieren? Wesentlich zweifelhafter ist folgendes Beispiel (Tillmann, 1995):

Eine Person hindert einen betrunkenen Freund daran in sein Auto zu steigen und zu fahren. Der Betrunkene wehrt sich und die Person ist gezwungen ihn etwas fester anzupacken. Ist in diesem Fall von Gewaltanwendung zu sprechen, bloß weil der Betrunkene ein paar blaue Flecken davonträgt? Aus Sicht von Anwesenden war dies sicher die Tat eines guten Freundes, der aus vernünftigen Gründen eingriff, weil er sich verantwortlich fühlte, Schlimmeres zu vermeiden. Wahrscheinlich sieht sogar der Betrunkene in nüchternem Zustand dieses Eingreifen als Freundschaftsdienst.

Spätestens bei Beispielen dieser Art wird klar, dass das Verständnis von körperlicher Gewalt nicht eindeutig ist und die Grenzen des Begriffs fließend sind. Trotzdem kann man die berechtigte Kritik anbringen, dass der Begriff „Gewalt“, als körperliche Gewalt betrachtet, zu eng definiert ist. In folgenden Abschnitten soll der Begriff erweitert und verfeinert werden.

b) Gewalt als verbaler Angriff

Jede Person hat schon die schmerzliche Erfahrung gemacht, durch verbale Angriffe verletzt oder bloßgestellt zu werden. Das geschieht unter anderem in Form von Beleidigungen, Demütigungen, Erniedrigungen und ironischen Bemerkungen. Man kann einen Menschen mit Worten oft wirkungsvoller treffen als mit Schlägen und tiefe psychische Wunden verursachen, die im Gegensatz zu einem blauen Auge von der Umwelt nicht wahrgenommen werden. Die Gewalt äußert sich hier auf eine subtilere Art und Weise, zielt aber ebenfalls auf die Schädigung anderer. Das Opfer wird auf psychischer Ebene verletzt, was genauso schwere, wenn nicht sogar schwerere Folgen nach sich zieht als eine direkte körperliche Attacke. Zudem wird diese Form der Gewaltanwendung eher gesellschaftlich akzeptiert und als weniger schwerwiegend betrachtet; wohl auch, da sie nicht so offensichtlich stattfindet und dem Geschädigten nicht anzusehen ist.

Gerade in der Schule findet verbale Gewalt relativ häufig statt. Und das nicht nur zwischen den Schülern, sondern auch zwischen Lehrer/in und Schüler. Dazu gehören ironische Bemerkungen des Lehrers über einen bestimmten Schüler, aber auch das gezielte Bloßstellen eines Schülers, wenn dieser z.B. keine Antwort weiß, weil er nicht aufgepasst hat. Umgekehrt macht ein Jugendlicher einen unbedachten lockeren Witz über die Klamotten oder die Frisur der Lehrerin, was diese als sexistische verbale Attacke deutet. Ob in solchen Fällen verbale Gewalt oder psychische Schädigung vorliegt ist sehr subjektiv und keineswegs eindeutig zu klären. An welcher Stelle ein unbedachter Witz in eine Beleidigung übergeht, wird von Person zu Person anders empfunden. Die Grenze zwischen Spaß und verbaler Gewalt ist nicht präzise festzustellen. Eine Person mit niedrigem Selbstwertgefühl wird sich mit Sicherheit schneller angegriffen oder verletzt fühlen, als eine Person mit starkem Selbstbewusstsein. Hinzu kommt, dass das was früher vielleicht als „Unhöflichkeit“ oder „Taktlosigkeit“ bezeichnet wurde, heute zu schnell als „Gewalt“ beschrieben wird. Diese Grenze ist sicherlich subjektiv.

c) Gewalt als institutioneller Zwang

Bei der körperlichen und der verbalen Gewalt standen immer zwei oder mehr Personen in Interaktion miteinander. Doch auch institutionelle Zwänge werden gerade von Schülern oft als Gewalt empfunden. Diese Machtausübung, die letztendlich der Lehrer ausführt, äußert sich in einem aufgezwungenem 45-Minuten-Takt, dem Notendruck, Versetzungszeugnis u.s.w. Diese Art von entpersonalisierter Gewalt wird nicht von jedem als solche wahrgenommen und ist schwer zu erkennen. Dennoch sehen die meisten Schüler die Benotung als Gewaltmittel der Schule und der Lehrer. Sie rücken sich somit in die Rolle der Opfer, die durch die gewaltimmanenten Aspekte der Institution Schule kollektiv geschädigt werden.

Sicherlich ist institutionelle Gewalt immer latent vorhanden. Doch es besteht die Gefahr, dass der Gewaltbegriff ausufert und dramatisiert wird. Einen Schritt in diese Richtung macht der norwegische Friedensforscher Johan Galtung, der „Gewalt“ als Gegensatz zu „Frieden“ sieht[8]. Er prägte den Begriff der „strukturellen Gewalt“. Galtung argumentiert, dass es nicht notwendigerweise einen identifizierbaren Täter geben müsse, der Gewalt anwendet. Einer Person könne Gewalt auch anders angetan werden, z.B. als Armut durch Mängel im System. Auf der anderen Seite ergänzt Galtung, dass die Gewalt nicht körperlicher Natur sein müsse, um Schaden anzurichten. Seinem Verständnis zufolge ist „Gewalt“ also alles, was dem Menschen in irgendeiner Form Schaden zufügt, das heißt: den Menschen daran hindert sich selbst zu verwirklichen.

Diese Art der „Begriffs-Entgrenzung“ (Tillmann, 1995) umfasst zwar wesentliche politische, gesellschaftliche und strukturelle Kritik, führt aber zu einer noch unklareren Vorstellung von Gewalt. Denn nach diesem Verständnis wären z.B. auch unterschiedliche Lohnauszahlungen als Gewalt zu verstehen. Tillmann (1995) macht den sinnvollen Vorschlag, den Begriff der „strukturellen Gewalt“ in das Bewusstsein aufzunehmen, die Definition von „Gewalt“ aber deutlich enger zu fassen.

Diesem Verständnis von Gewalt kann ich mich in weitestem Sinne anschließen, möchte aber doch einen mir persönlich wichtigen Punkt hinzufügen: Ob eine bestimmte aggressive oder schädigende Handlungsweise als Gewalt verstanden wird oder nicht, ist für mich in erster Linie abhängig von der Motivation des „Täters“. Um auf das oben genannte Beispiel des Betrunkenen zurückzukommen, wäre in diesem Fall also nicht von „Gewalt“ zu sprechen. Die Absicht des Freundes war ehrlicher und hilfsbereiter Natur. Er griff ein, um seinen betrunkenen Freund und andere Verkehrsteilnehmer zu schützen. Dass er dies nicht durch Diskussion erreichen konnte, sondern handgreiflich einschreiten musste, ändert nichts an seiner guten Absicht. Er benutzte die Handgreiflichkeit als Mittel zu einem guten Zweck, weshalb ich dieses Verhalten definitiv nicht als „Gewalt“ bezeichnen würde. Er wollte seinen Freund schützen und nicht schädigen. Vermutlich teilen die meisten diese Einstellung. Die Gefahr besteht darin, dass Gewalt durch die Absicht legitimiert werden kann. Aus Sicht der Nazis im Dritten Reich diente die Vertreibung und Vernichtung der Juden auch einem „guten“ Zweck. An einem solch pervertierten Verständnis von „guter Absicht“ kann deutlich gemacht werden, wie gefährlich es sein kann, den Begriff „Gewalt“ von der Motivation und Absicht der Ausführenden abhängig zu machen.

Ein alltäglicheres Beispiel wäre auch eine Mutter, die ihr Kind schlägt, weil dieses ungehorsam ist. Die Mutter würde mit Sicherheit argumentieren, sie wolle nur das Beste für ihr Kind. Aus ihrer Sicht waren die Schläge nötig, da das Kind auf „gutes Zureden“ gar nicht reagiere. Auch hier zeigt sich die Doppeldeutigkeit: Das Kind wird sich vermutlich als Opfer von Gewalt sehen, während die Mutter ihr Kind nur zu einem guten Menschen erziehen will.

Ganz offensichtlich wird die Problematik anhand des folgenden Beispiels: Eine Frau wird auf dem Weg nach Hause abends angegriffen. Der Angreifer will kein Geld, sondern hat die Absicht, die Frau zu vergewaltigen. Die Frau wehrt sich mit Händen und Füßen und verletzt den Angreifer schwer. Wer würde in einem solchen Fall behaupten, diese Frau wäre gewalttätig? Auch hier hat eine Person in erster Linie versucht, sich selbst zu schützen. Dazu war es leider nötig, einen anderen zu verletzen. Gesetzt dem Fall es würde sich herausstellen, dass der „Angreifer“ lediglich die Uhrzeit wissen wollte und die Frau deshalb von hinten antippte, würde sich der Fall trotzdem kaum ändern. Die Frau hätte somit einen „Notwehrexzess“ begangen, da sie nicht angemessen reagiert hat. Da sie aber aus Angst, Verwirrung und Schrecken reagierte, wird sie vor Gericht nicht bestraft („Beweislastumkehr“). Obwohl eine Person eine andere ohne rationalen Grund verletzt hat, wird sie keine Strafe bekommen. Ihre Absicht war, sich zu schützen. Dass sie im Irrtum war, weil dafür gar kein Anlass bestand, wird ihr nicht angelastet.

2. Aggressionstheorien

Dieses Kapitel dient der allgemeinen Übersicht und nimmt noch keinen konkreten Bezug zur Aggressionsproblematik in der Schule. Nach den biologischen und soziologischen Faktoren folgen die wichtigsten psychologischen Erklärungen. Am Ende des Kapitels steht ein kurzer Überblick über die Ansätze in vergleichender und kritisierender Form.

2.1 Biologische Faktoren

2.1.1 Erbanlagen

Man kann in der biologisch orientierten Forschung zwei Richtungen unterscheiden. Die erste beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen aggressivem Verhalten und hormonellen Faktoren[9], Neurotransmittern[10] oder dem allgemeinen Erregungsniveau[11]. Bislang ist der genaue Zusammenhang zwischen physiologischen Prozessen und aggressivem Verhalten noch unklar. Es kann aber angenommen werden, dass genetisch bedingte Unterschiede von Mensch zu Mensch bestehen. Gleichzeitig werden hormonale Faktoren durch Lernprozesse beeinflußt, ebenso wie auch das allgemeine Erregungsniveau.

Die zweite Forschungsrichtung bezieht sich auf die Verhaltensforschung. Ausgehend von Beobachtungen bei Tieren übertrug Lorenz (1963) einen Aggressionstrieb auf Menschen. Nach seinem „psychohydraulischen“ Verhaltensmodell liefert der Aggressionstrieb ständig Energie. Diese Triebenergie sammelt sich an, bis sie durch eine aggressive Handlung abgeführt wird (Katharsis). Lorenz geht von einem physiologischen Mechanismus aus, durch den Aggression entsteht. Aggression ist keine Reaktion auf einen Reiz von außen, sondern eine innere Energie, die unabhängig von Reizen von Zeit zu Zeit entladen werden muss. Nach Lorenz hat die innerartliche Aggression den Zweck, dem Überleben des Individuums und der Art zu dienen. Auf diese Weise werden sich nur die „besseren“ Männchen fortpflanzen. Dieses Erbe aus der Frühgeschichte des Menschen wurde in vielen Stämmen und Kulturen streng reglementiert, um unkontrollierte aggressive Handlungen zu hemmen und zu vermeiden. Der Theorie von Lorenz zufolge ist dieser arterhaltende Trieb beim Menschen zu einer Bedrohung geworden[12].

Eine ritualisierte Form aggressiven Verhaltens ist heutzutage z.B. die verbale Aggression, die von Eibl Eibesfeldt (1984) als eine der höchstentwickelten Formen angesehen wird. Die Verhaltensforschung sieht den Aggressionstrieb als angeboren, nicht aber die konkreten Formen. Durch kulturelle Lern- und Sozialisationsprozesse wird aggressives Verhalten kanalisiert. Aus Sicht der Verhaltensforschung sollte die angestaute Triebenergie auf unschädliche Weise kontinuierlich abgeführt werden, z.B. durch Sport. Kritiker der Verhaltensforschung bemängeln die unreflektierte Übertragung der Beobachtungen an Tieren auf Menschen.

2.1.2 Geschlecht

Die Annahme, dass Jungen und Männer aggressiver sind als Mädchen und Frauen, ist nicht gesichert. Allerdings werden durch verschiedene Studien[1] Geschlechtsunterschiede im aggressiven Verhalten bestätigt. Jungen und Männer zeigen mehr körperliche Aggression, während Frauen und Mädchen eher indirekte Formen der Aggression (z.B. verbale Aggression) zeigen. Bei Männern könnte das Geschlechtshormon Testosteron Einfluss auf aggressives Verhalten haben, wobei das geschlechtstypische Rollenverhalten und die persönliche Lerngeschichte sicherlich stärker ins Gewicht fallen[2]. Bandura (1973, S. 36) bemerkt, dass Sexualhormone das Kampfverhalten bei Tieren insofern beeinflussen, als dass sie körperliches Wachstum und Muskelentwicklung stimulieren. Viele Frauen leiden unter dem prämenstruellen Spannungssyndrom, welches sich nach außen hin vor allem durch Reizbarkeit bemerkbar macht. In den fünfziger Jahren wurde ein direkter Zusammenhang zwischen Gewaltverbrechen und Menstruationszyklus aufgezeigt[3]. Frauen mit diesen Beschwerden konnten mit Progesteron erfolgreich behandelt werden[4].

Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass Männer und Jungen sich häufiger aggressiv verhalten als Frauen, weil es gesellschaftlich eher gebilligt wird. Aggressives Verhalten passt nicht in das Bild einer Frau, weshalb schon bei der Erziehung von Mädchen auf nicht-aggressive Handlungsmöglichkeiten Wert gelegt wird. Jungen dagegen dürfen raufen, die Eltern sehen dies als „typisch“ und „normal“ an für Jungen.

2.1.3 Körperliche Ursachen und Krankheiten

Aggressive und autoaggressive Verhaltensweisen treten gehäuft bei geistig behinderten Kindern[1] auf, obwohl keine einheitlichen Verhaltensweisen zu beobachten sind. Da diese Kinder einer normalen Erziehung oder Ansprache oftmals nicht zugänglich sind, sind aggressive Verhaltensweisen manchmal nur schwer zu beherrschen. Kinder, die nur leicht behindert sind, nehmen ihre eigenen Defizite oft selbst wahr. Durch ständige Frustrationen, z.B. bei einer Lese- und Rechtschreibschwäche, reagieren betroffene Kinder häufig aggressiv. Eine Verringerung der aggressiven Verhaltensauffälligkeiten kann erreicht werden, indem man dem Kind Hilfe anbietet und es als vollwertig betrachtet.

Verantwortlich für aggressives Verhalten können in seltenen Fällen auch Verletzungen bestimmter Hirnregionen, oder seltene Stoffwechselstörungen sein. Auch Psychosen können zu gesteigerter Aggressivität führen, ebenso vorübergehende Vergiftungen durch Alkohol[2].

2.2 Soziologische Erklärungen

Die Ursachen für Gewalt und Aggression sind aus soziologischer Sicht in den gesellschaftlichen und sozialen Strukturen und deren Veränderung zu sehen. Dabei spielt hauptsächlich der Verfall gängiger Wert- und Normvorstellungen eine große Rolle, ebenso wie die Schwierigkeit, den Zielvorstellungen der Gesellschaft zu entsprechen. Moderne Industriegesellschaften sind durch Individualisierung gekennzeichnet, die stetig zunimmt. Damit ist gemeint, dass eine Person unter anderem durch zunehmende soziale und räumliche Mobilität immer mehr Möglichkeiten z.B. im beruflichen Bereich wahrnehmen kann[3]. Faktoren wie Geschlecht oder soziale Herkunft spielen eine weniger große Rolle.

„Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, dass die Biographie des Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das individuelle Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab, und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographien nehmen zu[4].“

Jugendliche haben so die Möglichkeit, sich aus der sozialen Kontrolle zu lösen und ihren eigenen Lebensweg zu gehen. Dies hat allerdings auch negative Seiten: der Jugendliche ist verpflichtet, selbst Wert- und Normvorstellungen zu entwickeln und soziale Kontakte aktiv zu suchen. Es bestehen kaum noch vorgegebene, feste Orientierungsmuster, die in früherer Zeit eine gewisse Sicherheit boten. Dadurch wird der Sozialisationsprozess komplizierter, denn er umfasst die Anforderungen, selbst soziale Beziehungen herzustellen und zu festigen, einen gewissen Status zu erwerben, Handlungskompetenzen und emotionale Sicherheit zu erlangen und eigene Konzepte zur Lebensplanung zu entwickeln[13].

Doch trotz der Individualisierungsprozesse sind soziale Ungleichheiten nicht aufgehoben. Viele Jugendliche müssen feststellen, dass die angepriesene Möglichkeitsvielfalt nicht den wirklichen Chancen entspricht. Es besteht die Gefahr, dass Menschen z.B. durch Arbeitslosigkeit aus ihren sozialen und institutionellen Bezügen herausfallen. Dadurch stellt sich ein Gefühl der Desintegration und damit der Verunsicherung ein. Ferner können diese Unsicherheiten zu einer gestörten Entwicklung der eigenen Identität führen. Auf der anderen Seite kann ein gewisser Grad an Verunsicherung auch zu einer Erhöhung der Kompetenz einer Person führen[14]. Als Beispiel könnte man einen Hilfsarbeiter anführen, der nach seiner Entlassung aus dem Betrieb entschließt, wieder auf die Schule zu gehen, um seinen Abschluss nachzuholen.

Eine dritte, weitere Möglichkeit ist die Rückbesinnung auf eindeutige Wertsysteme, wie sie z.B. in Religionen oder Cliquen zu finden sind. Diese Wertsysteme geben die verlorene Sicherheit wieder zurück und schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine besondere Form der Verarbeitung von Verunsicherung zeigt sich in Aggression und Gewalt. Gerade in unserer individualisierten Gesellschaft sind Durchsetzungsfähigkeit und Konkurrenzdenken zu Tugenden geworden. Aggressive Verhaltensweisen erscheinen vor allem dann attraktiv, wenn sie:

a) Eindeutigkeit in unklaren Situationen schaffen.
b) Fremdwahrnehmung garantieren und somit die Selbstwirksamkeit steigern.
c) zumindest kurzzeitig Solidarität in der Gruppe schaffen.
d) körperliche Sinnlichkeit erfahrbar machen, als Gegensatz zu einer Umgebung, in der rational, verbal vermittelte Kompetenzbeweise zählen[15].

Mit den soziologischen Ansätzen ist die Bedeutung von Bedingungsfaktoren verknüpft. Dabei werden die Einflüsse von Schullage, -größe, -form, sowie von Familiensituation und Status der Familie[16] auf aggressives Verhalten überprüft.

Abgeleitet von Heitmeyer, nennt Tillmann (1995, S.95-97) drei Entwicklungstendenzen der Gesellschaft, die aggressives Schülerverhalten unterstützen können:

- Es werden Chancen suggeriert, die die Jungendlichen real nicht haben.
- Der Leistungsdruck in Schule und Beruf, und damit auch die Erwartungen der Eltern, steigen stetig an.
- Die Jugendlichen erfahren immer weniger Schutz und Sicherheit, durch einen Zerfall sozialer Beziehungen und steigende Mobilität.

Aus dieser Perspektive heraus betrachtet sind aggressive Schüler meistens „strukturelle Verlierer der Wettbewerbsgesellschaft“ (Hurrelmann, 1996, S. 14). Durch Anwendung von Gewalt versuchen sie, Probleme in der Entwicklung ihrer Identität zu auszugleichen.

2.3 Psychologische Erklärungen

2.3.1 Psychoanalytische Ansätze

Einer der wichtigsten Vertreter der Psychoanalyse ist Sigmund Freud[17]. In seiner triebtheoretischen Position geht er von einer „angeborenen Neigung des Menschen zum Bösen, zur Aggression, Destruktion und damit zur Grausamkeit“ aus. Zuvor hielt Freud Aggression für eine elementare Reaktion auf alle Frustrationen der sexuellen und lebenserhaltenden Bedürfnisse. Wahrscheinlich waren erst Freuds Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und seine Beschäftigung mit Sadismus und Masochismus ausschlaggebend dafür, dass er Aggression auf einen selbständigen Grundtrieb zurückführte[18]. Diesen Grundtrieb kann man als eine Art Impuls verstehen. Erich Fromm[19] fasst Freuds Auffassung in folgende Worte: „Der Mensch wird beherrscht von einem Impuls, entweder sich selbst oder andere zu zerstören, und er kann dieser tragischen Alternative kaum entrinnen. Aus dieser Annahme des Todestriebes folgt, dass die Aggression ihrem Wesen nach keine Reaktion auf Reize ist, sondern ein ständig fließender Impuls, der in der Konstitution des menschlichen Organismus wurzelt.“

Im Grundkonzept Freuds stehen sich zwei Triebe gegenüber: Der Eros, der lebende Substanz erhalten und zusammenführen will und der Todestrieb, der diese Einheiten auflösen und zurück in anorganischen Zustand bringen will. Freud sieht im Ziel des Todestriebes die Selbstvernichtung, die in extremen Ausnahmefällen zu Selbstmord führt. Im Normalfall aber wirkt der Todestrieb im Zusammenspiel mit dem Eros. Dieser lebenserhaltende Trieb führt den Todestrieb nach außen, wo er sich als Aggressions- und Destruktionstrieb äußert. Wird diese Aggression nicht nach außen abgeführt, richtet sie sich gegen die Person selbst: „Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend“[20]. Dies kann z.B. zu einem strengen Gewissen sich selbst gegenüber führen[21].

Die jüngeren Triebkonzepte betreffend, kann man im wesentlichen drei Positionen[22] unterscheiden: Menninger, Klein und eingeschränkt auch Mitscherlich schlossen sich Freuds Theorie vom Todestrieb an, während eine größere Gruppe (z.B. Hacker, Hartmann, Spitz, Kris & Löwenstein) den Todestrieb zwar annimmt, ihn aber nicht als Abkömmling des Todestriebes sieht. Die Vertreter der dritten Gruppe sehen Aggression als reaktives soziales Phänomen (z.B. Fromm, Horney, Fenichel) und nicht als Ausdruck eines spontanen Triebes. Vor allem Alexander Mitscherlich ist im deutschen Raum bekannt geworden. Dabei folgt er Freuds dualistischer Theorie, nach der sich die zwei Triebenergien gegenüberstehen. Normales zivilisiertes Verhalten entsteht, wenn bei der Triebmischung der libidinöse Anteil überwiegt[23]. Er nennt solche Aktivitäten „gekonnte Aggression“. Fällt eine Person durch destruktives Verhalten auf, so ist dies die Folge einer „Triebentmischung“. Daneben misst Mitscherlich sozialen Faktoren eine Bedeutung zu.

Friedrich Hacker[1] zeigt sich im Gegensatz zu Mitscherlich offener gegenüber Forschungen anderer Richtungen[2]. Er behält zwar das Triebmodell bei, versucht aber insbesondere die verdeckten Formen der Aggression aufzudecken, wie etwa Herrschaft oder Pflicht. Nach seiner Theorie vom „Kreislauf der Aggression“ verfügt der Mensch über aggressive Energien, die sich in verschiedenen Erscheinungsformen äußern: „Freie Aggression, die nackt und ungezügelt sich als Gewalt ausdrückt, wird in inneren Instanzen (Gewissen, Charakter) und äußeren Institutionen (Spielen, Regeln, Normen, Gruppen, Organisationen) gebunden und damit entschärft, kontrolliert und gelenkt. Sie verwandelt sich in schlummernde, unsichtbare, oft unbewußte Aggression, die nur unter ganz besonderen Bedingungen mobilisiert und damit offensichtlich wird. Unter den Etiketten Notwendigkeit, Pflicht und Selbstverteidigung kann Aggression im Namen des sie legitimierenden größeren Ganzen in Erscheinung treten.[3]

Neben der Psychoanalyse sind auch in der Ethologie Vertreter der Triebtheorie[4] zu finden (siehe 2.1. Biologische Faktoren).

2.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie

Neben der Triebtheorie hat vor allem die Frustrations-Aggressions-Theorie großen Anklang gefunden. Fünf Wissenschaftler[24] der Yale-Universität veröffentlichten im Jahre 1939 das Buch „Frustration und Aggression“. Die Autoren definieren darin Frustration als Störung einer zielgerichteten Aktivität. Unter „Aggression“ wird eine Verhaltenssequenz verstanden, die die Verletzung einer Person anstrebt. Zwei Hauptthesen des Buches beruhen auf der Annahme, dass:

- Aggression immer eine Folge von Frustration ist.
- Frustration immer zu Aggression führt.

Für die Ausführung aggressiven Verhaltens ist die Erreichbarkeit des Zieles und dessen Bedeutung ein wichtiger Faktor. Wird aggressives Verhalten ausgeführt, können frustrationsbedingte Aggressionen abgebaut werden. Trotzdem können sich verschiedene Frustrationen summieren, da der Abbau nicht immer erfolgreich ist. Daraus resultiert ein Aggressionsstau, wie ihn auch Lorenz beschrieben hat, wobei dieser ihn auf einen inneren Antrieb zurückführte. Bereits zwei Jahre später wurde die Theorie modifiziert[25]. Diese Modifikationen betrafen hauptsächlich zwei Aspekte:

- Frustration muss nicht unbedingt zu Aggression führen, sondern kann viele verschiedenen Verhaltensweisen nach sich ziehen, wie z.B. Resignation. Meistens ist jedoch Aggression die dominierende Reaktion.
- Außer der Blockade von Zielerreichungen, können viele andere Bedingungen zu aggressivem Verhalten führen. Dazu gehören unter anderem absichtliche Störungen, Provokationen oder Enttäuschungen.

Leonard Berkowitz (1962) entwickelte die Frustrations-Aggressions-Theorie weiter und ergänzte sie. Er stellte „anger“, also Ärger, als Bindeglied zwischen Frustration und Aggression:

Frustration à Ärger à Aggression[26]

Berkowitz geht davon aus, dass die Verknüpfung von Ärger-Emotionen und aggressivem Verhalten genetisch bedingt ist. Er bezieht seine Theorie außerdem nur auf impulsive aggressive Reaktionen. Aus diesem Ansatz heraus entwickelte Berkowitz (1989,1993) ein differenziertes Modell der Aktualgenese von Ärger-Aggressionen (siehe 3. Modell aggressiven Schülerverhaltens)

Nolting[27] unterscheidet verschiedene Typen von Frustration: Hindernisfrustration, Provokation und physische Stressoren. Dabei ist zu differenzieren zwischen der aktuellen Reaktion in einer Frustrationssituation und der langfristigen Wirkung von Frustrationen.

- Hindernisfrustrationen

Nach Nolting entsteht diese Art der Frustration, wenn „eine zielbezogene Aktivität durch eine „Barriere“ gestört wird. Wichtig dabei ist, dass es sich tatsächlich um eine Aktivität handelt und nicht etwa um nur einen Wunsch. Nach mehreren Experimenten (unter anderem von Dembo, 1931; Buss, 1963; Geen & Berkowitz 1967; Doob & Gross, 1968 etc.)[28] stellte sich heraus, dass keine einheitlichen Ergebnisse zu erwarten sind. In einigen Untersuchungen konnte tatsächlich aggressives Verhalten beobachtet werden, in anderen ließ sich keine solche Wirkung feststellen. Daraus kann man schließen, dass die Wirkung von Zusatzbedingungen abhängt, wie z.B. Stress. Hinzu kommt, dass bei den Experimenten, bei denen aggressive Verhaltensweisen auftauchten, die Frustration über die bloße Hindernisfrustration hinaus ging und etwas Provokation enthielt. Nolting fasst zusammen: „Insgesamt spricht wenig dafür, dass das bloße Scheitern an einer Barriere, der bloße Fehlschlag, ein durchschlagender Aggressionsfaktor ist“ (1998, S.71).

Da aggressives Verhalten nur eine der Frustrationsfolgen ist, führt Nolting noch weitere auf. Diese sind u.a.: vermehrte Anstrengung zur konstruktiven Lösung, Selbstbetäubung durch Drogen, Resignation, Aufgabe, voraggressive Äußerungen oder auch Humor zur Entschärfung der Situation.

- Provokationen

Zu den Provokationen zählt Nolting vor allem körperliche und verbale Angriffe, Drohungen, Beleidigungen oder andere unangenehmen Behandlungen durch andere Menschen. Auf die Alltagserfahrung bezogen wird deutlich, dass Menschen auf Provokationen relativ schnell und häufig aggressiv reagieren. Als nicht-aggressive Reaktionen sind unter anderem folgende möglich: Ignorieren, entschärfende Bewertung der Situation, Mitteilen eigener Gefühle, Akzeptieren der Provokation und Rückzug.

- Physische Stressoren

Hierzu zählen Lärm, Hitze, schlechte Luft, Menschenmassen usw. Nach einer Analyse von Anderson (1989) entstehen in heißeren Regionen und in heißeren Jahresabschnitten mehr Gewalttätigkeiten als in kühleren. Trotzdem werden die meisten Menschen versuchen, der unangenehmen Situation zu entgehen, indem sie z.B. die Lärmquelle abstellen.

2.3.3 Lerntheorien

Aus lerntheoretischer Sichtweise lässt sich Aggression nicht auf eine angeborene Disposition zurückführen. Aggressives Verhalten wird als erlernt betrachtet. Diese dritte grundlegende Position ist neben der Trieb- und der Frustrations-Aggressions-Theorie eine der bekanntesten. Albert Bandura entwickelte als Vertreter dieser Richtung die „sozial-kognitive“ Lerntheorie[29].

Nolting[30] unterteilt verschiedene Arten des Lernens: Lernen am Modell, Lernen am Effekt, Kognitives Lernen und Signallernen.

- Lernen am Modell

In einem Experiment von Bandura und Ross&Ross (1961) mit Kindergartenkindern stellte sich heraus, dass diese wesentlich häufiger aggressive Verhaltensweisen zeigten, wenn man ihnen zuvor ein aggressives „Modell“ gezeigt hatte. Es ist Tatsache, dass durch Beobachtung sehr schnell Verhaltensweisen gelernt werden können. Offensichtlich ist die „ansteckende Wirkung innerhalb von Gruppen“[31] oder die Reaktion einer Person, wenn diese beschimpft wird. Daraus ergibt sich: Jede Aggression erhöht die Wahrscheinlichkeit weiterer Aggression[32]. Gerade Kinder orientieren sich stark an Erwachsenen und vor allem an ihren Eltern und übernehmen häufig beobachtete Verhaltensweisen. Gerade Eltern und Lehrer sind für Kinder Personen mit hohem Status und Macht. Bandura & Walters (1959) zufolge zeigen Kinder von aggressiven Vätern zwar nicht zu Hause, aber gegenüber anderen Kindern erhöhte Aggressivität. Eine Studie von Olweus (1980) bestätigt dieses Ergebnis. Die Kinder von Eltern mit einem harten und aggressiven Erziehungsstil wurden von ihren Mitschülern ebenfalls als besonders aggressiv bezeichnet.

Die meisten Eltern sind sich nicht darüber im Klaren, dass Prügel oder Schreien ihrem Kind als Modell dient. Kinder, die misshandelt werden, unterliegen dem erhöhten Risiko, im Erwachsenenalter ebenfalls Gewalt auszuüben (vgl. Engfer1986, Widom 1989, Schneider 1993). Ausschlaggebend dafür ist nicht nur der Erziehungsstil der Eltern, sondern auch der Umgang der Eltern untereinander. Einer repräsentativen Umfrage in der amerikanischen Bevölkerung zufolge[33] schlugen besonders oft diejenigen Männer ihre Frauen, die dies bereits in ihrer Kindheit bei ihren Eltern beobachteten. Gleichermaßen duldeten die Frauen Schläge ihres Ehemannes, wenn sie dieses Verhalten im Elternhaus erlebt hatten.

Darüber hinaus, ist vor allem der Einfluss von Altersgenossen der Kinder von Bedeutung. Gerade bei Jungen die zu antisozialem Verhalten neigen, konnte beobachtet werden, dass diese Zuflucht in ebenfalls antisozial geprägten Gruppen suchten[2]. Durch das Nachahmen gruppentypischer Verhaltensweisen werden diese rasch weitergegeben und mit Anerkennung belohnt.

In Bezug auf den Einfluss der Medien sind hauptsächlich Film und Fernsehen zum zentralen Punkt der Diskussionen geworden. Gerade Erwachsene sind oftmals schockiert über Gewaltdarstellungen am Nachmittag oder sogar in Kinderprogrammen. Der Spiegel (Nr.38, 1975) berichtete von zwei Mädchen, die einen siebenjährigen Jungen erstickten. Sie hatten den Mord zuvor in einem Film gesehen und geplant, wie sie diese Tat selbst ausführen wollten. Es stellt sich die Frage, ob Gewaltdarstellung im Fernsehen grundsätzlich zu aggressiverem Verhalten führt oder etwa nur unter bestimmten Bedingungen. Den meisten Untersuchungen zufolge besteht tatsächlich ein statistischer Zusammenhang zwischen der persönlichen Aggressivität und dem Konsum von Gewaltdarstellungen[3]. In welcher Weise sich diese beiden Punkte gegenseitig beeinflussen, ist noch nicht klar. Sieht ein Mensch mit stärkerer Aggressionsneigung besonders häufig Gewaltdarstellungen im Fernsehen an, oder macht der Konsum gewaltgeladener Filme den Menschen aggressiver? Vermutlich ist die Beziehung wechselseitig: „Der Fernsehkonsum fördert ein wenig die Aggressivität und umgekehrt[4].“

Wesentlich wichtiger als die Frage, ob Gewaltdarstellungen im Fernsehen die Aggressivität fördern, ist die Frage, bei wem und unter welchen Umständen sie die Gewaltbereitschaft fördern. Sicherlich wird nicht jedes Kind zum Verbrecher, wenn es sich von Zeit zu Zeit einen Krimi ansieht. Das Fernsehen ist vor allem ein Risikofaktor für Kinder, die die Darstellungen nicht reflektieren und ohne „Selbstzensur“ verarbeiten. Ferner sind solche Kinder gefährdet, die aufgrund ihrer Lebenserfahrung (hauptsächlich im familiären Bereich) ohnehin schon zu aggressivem Verhalten neigen. In der Regel nimmt der Konsument eines Filmes, egal ob Kind oder Erwachsener, einen gesunden Abstand von den Gewaltdarstellungen ein. Das Fernsehen sollte keinesfalls als Sündenbock dienen, denn im Wesentlichen sind es das Elternhaus und die Erziehung, welche nach wie vor den stärksten Einfluß auf Kinder haben.

Was das Modell betrifft, macht es wohl keinen grundlegenden Unterschied, ob es real gezeigt wird oder nicht. Sogar Geschichten oder Zeichentrickfilme können aggressionssteigernde Wirkung haben[1].

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Konsequenz der Aggression. Beobachtet eine Person ein Modell, das erfolgreich ist, so wird es dieses mit höherer Wahrscheinlichkeit nachahmen, als wenn es negative Folgen zu befürchten sind[2]. Neben erfolgreichen Handlungen begünstigen auch erfolgreich wirkende Personen die Nachahmung. Daraus ergibt sich, dass Personen mit Macht und Prestige häufiger imitiert werden als andere[3]. Des Weiteren wird eine Tat eher nachgeahmt, wenn sie als gerechtfertigt erscheint, z.B. als gerechte Strafe.

[...]


[1] In: Nolting, 1998, S.22

[2] In: Busch, 1998, S.5

[3] In: Nolting, 1998, S.24

[4] In: Nolting, 1998, S.24

[5] Nolting, 1998, S.151

[6] Nolting, 1998, S.166

[7] nach Tillmann in: Gewaltlösungen, 1995

[8] nach Tillmann in: Gewaltlösungen, 1995

[9] Susman, Douglas, Grager, Murowchick, Ponirakis & Worral, 1996, in: Busch, 1998

[10] z.B. Coccaro, 1996, in: Busch, 1998

[11] Raine, 1996, in: Busch, 1998

[12] Fromm, 1973, S.34

[1] Busch, 1998, S. 55

[2] Nolting,1998, S.133

[3] Moyer, 1969 in Kornadt, 1981, S. 392, in: Busch, 1998

[4] Dalton, 1964; Greene & Dalton, 1953, in: Busch, 1998

[1] Schulte-Markwort, 1994, S. 138

[2] Schulte-Markwort, 1994, S. 141f

[3] Heitmeyer, 1995

[4] Beck, 1983, S.58 f.

[13] Heitmeyer, 1995, S.51

[14] Busch, 1998, S. 14

3Heitmeyer, 1995, S.73

[16] Funk, 1995; Fuchs, Lamnek & Luedtke, 1996; Niebel, Hanewinkel & Ferstl, 1993, in: Busch, 1998

[17] Freud, 1930, S. 479, in: Busch ,1998

[18] Nolting, 1998, S. 53

[19] Fromm, 1977, S.31

[20] Freud, 1938, S.72; in: Busch, 1998

[21] Selg, 1974, S.26

3Nolting, 1998, S.55

[23] Mitscherlich, 1969a, S.92

[1] Hacker, 1971, 1973

[2] Nolting, 1998, S. 56

[3] Hacker, 1971, S.89

[4] Lorenz, 1963; aus Busch, 1998: Eibl-Eibesfeldt 1970, 1973

[24] Dollard, Doob, Miller, Mowrer & Sears, 1939, deutsch: 1971

[25] Miller, 1941, in: Busch, 1998

[26] Nolting, 1998, S.77

[27] Nolting, 1998, S.69

[28] in: Nolting, 1998, S.71

[29] Bandura, 1979,1986

[30] Nolting, 1998, S. 98-128

[31] Nolting, 1998, S.100

[32] Berkowitz, 1970, in: Nolting, 1998

[33] Kalmuss, 1984; in: Nolting, 1998

[2] Nolting, 1998, S.102

[3] vgl. Auswertungen von Kuncik 1975, Freedman 1984, Kleiter 1993

[4] Nolting, 1998, S.104 ; vgl. Eron 1982, Kleiter 1994

[1] Mussen & Rutherford 1961, Bandura , Ross & Ross 1963a, in: Nolting, 1998

[2] Bandura, Ross & Ross 1963b, Bandura 1965, Hicks 1968 u.a., in: Nolting, 1998

[3] Bandura, Ross & Ross 1963c, Mischel & Grusec 1966, in: Nolting, 1998

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Aggression in der Grundschule - Erklärungsmöglichkeiten, Auftretensformen, Handlungschancen
Hochschule
Pädagogische Hochschule Weingarten  (Päd. Psychologie)
Note
1,5
Jahr
2000
Seiten
87
Katalognummer
V16736
ISBN (eBook)
9783638214872
ISBN (Buch)
9783656240280
Dateigröße
2233 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Namen von Personen und Orten wurden vor der Veröffentlichung geändert.
Schlagworte
Aggression in der Grundschule, Aggressionen, Pädagogische Psychologie, Gewalt, Gewaltprävention
Arbeit zitieren
Anonym, 2000, Aggression in der Grundschule - Erklärungsmöglichkeiten, Auftretensformen, Handlungschancen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16736

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