Analyse von Franz Kafkas "In der Strafkolonie"

Schrift und Schrifttechnik in und von der "Strafkolonie"


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2009

12 Seiten


Leseprobe


1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll das Dispositiv der Schrift und Schrifttechnik In der Strafkolonie erörtert werden. Dies bedeutet zum einen, sich mit dem narrativen Verfahren des 1919 veröffentlichten Textes auseinanderzusetzen. Zum anderen soll die Schrifttechnik, die in der Erzählung in Form einer überdimensionierten Schreibmaschine, einem Hinrichtungsapparat, explizit als Motiv thematisiert ist, analysiert werden. Da es für das Kafkasche Schreiben konstitutiv ist, dass er „alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen“ (Benjamin 1991: S. 422) hat, werden hier insbesondere die textimmanenten Konstellationen der Figuren, Begriffe, Sprachen und Schrifterzeugnisse herausgearbeitet und befragt, die wie „Ketten […], in welche die kleinen Ketten ausliefen, […] auch untereinander durch Verbindungsketten zusammenh[ä]ngen.“1 Dieser metatextuelle Hinweis deutet die verwebte Struktur des Textes an, so dass die „zweideutige[n] Äußerungen“2 ein „vollständig[es] [M]issverstehen“3 stets einschließen. Ebenso rhizomatisch wie die Textur des Textes ist die Grundsituation verschachtelt, deren Haupthandlung in einer bevorstehenden brutalen Hinrichtung besteht. Zu diesem Verfahren ist eigens ein europäischer Forschungsreisender in die militärisch organisierte Strafkolonie geladen, der sich ein Urteil über Gericht und Rechtssystem der exotischen Insel, der Strafkolonie, bilden soll, der jedoch paradoxerweise „kein Kenner der gerichtlichen Verfahren“ ist.4

Die Auseinandersetzung zwischen dem Reisenden und dem Offizier, ob dieses Verfahren ein menschliches oder unmenschliches darstellt, erscheint zunächst wie eine bipolare Konfrontation zwischen archaisch anmutendem Folter- und Tötungsverfahren und modernem, aufgeklärten Rechtsverständnis. Im Verlauf des Geschehens zeigt sich aber, dass Kafkas Erzählung keinesfalls nur eine politisch aktuelle und lineare Dimension innewohnt (z.B. als kritische Allegorie auf die technisierten Tötungsmaschinen des 1. Weltkriegs oder des Kolonialsystems, wie ausführlich von A. Honold analysiert), sondern dass das ästhetische Verfahren eine intertextuelle Verschmelzung der verschiedensten okzidentalen Texte und Traditionen darstellt, so dass eine binäre Einteilung in gut und böse, alt und neu, menschlich- unmenschlich nicht mehr gewährleistet ist.

Als abendländische Geistesgeschichte en miniature oszilliert, Benjamin zufolge, Kafkas Schreibstrategie zwischen Amnesie und Prophezeiung. Da Kafka die Paradigmenwechsel der Kulturgeschichte so intensiv miteinander verzahnt, wird sowohl eine Chronologie der Ereignisse als auch eine Teleologie problematisch. Dies wird zu zeigen sein.

2. Erzählstruktur: Titel, Ort, Hauptmotiv: Der Apparat

Der Titel In der Strafkolonie figuriert bereits den Ort der Handlung. Es handelt sich um eine Kolonie, ein abgeschlossener Ort, an dem gestraft wird, wobei der Zusatz ‚In der’ auf eine immanente Situation verweist. Im Verlauf des Textes wird dieser Ort als tropische Insel noch weiter spezifiziert und zeigt als kleinste Einheit ein fest umschlossenes Ganzes auf. Die Grundkonstellation dieses exterritorialen, verkapselten Ortes wird zunächst verdoppelt, da der Schauplatz des Geschehens ein tiefes, sandiges, von kahlen Abhängen rings umschlossenes kleines Tal ist5 und verdreifacht durch die Grube,6 in welcher der „eigentümliche Apparat“7 steht und über dem eine sengende Sonne strahlt, die das Denken und die Urteilsbildung des Reisenden erschwert.8

Die in der Personalperspektive gestaltete Erzählung, deren interner Fokus dem Forschungsreisenden zugeordnet ist, wirkt, mittels ihrer sachlichen, pathosfreien Schilderung, provozierend, da sie etwas inhaltlich so Furchtbares und Unglaubliches, formal realistisch berichtet. Gleichwohl erscheint die Debatte zwischen dem Reisenden und dem Offizier wie ein dramatischer Dialog, bzw. versucht Letztgenannter Ersteren von seinem Strafverfahren und der dazugehörenden Technik zu überzeugen, während Ersterer versucht, sich ein ausgewogenes, durchdachtes Urteil zu bilden. Gut ein Drittel des Textes gilt der bewundernden Beschreibung der Strafmaschine, die zum eigentlichen Protagonisten des Textes stilisiert wird.

Das dramatische Moment des Textes entsteht nicht nur durch die o.g. Einheit und Abgeschlossenheit des Ortes und dem antagonistischen Redeverlauf, sondern besonders die hohe Visualität, die sich durch das genaue Indizieren der Gesten teilweise bis ins Mikroskopische steigert, erzeugt eine Genrehybridisierung, die einem ausformulierten kinematographischen Drehbuch schon sehr nahe kommt. Die auffällige Betonung der Blicke und Augen sowie die detaillierten Beschreibungen des Minenspiels, anhand dessen die Emotionen und Denkvorgänge der Figuren lesbar werden, unterstreicht diese These. So versucht auch der Offizier dem „Gesicht [des Reisenden] den Eindruck abzulesen“.9 Hinzu kommt die metatextuelle Lesart der Strafprozedur, welche sich, genau kalkuliert, auf 12 Stunden beläuft, wobei nach der sechsten Stunde ein Wendepunkt erwartet wird. Schon die aristotelische Poetik hat für die Tragödie nicht nur die Peripetie anempfohlen, sondern auch den Handlungsablauf auf einen Tag zu beschränken.

Die Erzählung gliedert sich in drei Haupteile, denen ein knapper Epilog folgt und eine Exposition vorgeschaltet ist, die Ort und Protagonisten einführt. Der erste Abschnitt gilt den ausführlichen Beschreibungen der Apparatur, welcher, da man sich aufgrund des kreischenden Zahnrades während der Demonstration nur schwer verständigen kann, zunächst theoretisch erläutert und dann praktisch vorgeführt wird.

Der zweite Teil erörtert in einer Art Schlagabtausch zwischen dem Offizier und dem Reisenden die Zulässigkeit des Verfahrens. Dieser Abschnitt endet mit dem Wendepunkt, der durch den Reisenden ausgelöst wird, da er als Gewinner aus der Debatte hervorgeht, so dass die Ausgangssituation im dritten Teil komplett verkehrt wird und der Offizier automatisch die Konsequenz zieht, sich selbst unter den Apparat zu legen.

Der geradlinige Erzählverlauf ist dabei sowohl von den in der Narratologie bekannten Analepsen als auch von Prolepsen (Vgl. Genette 1998: S. 25) gespickt. Während die Retrospektionen insbesondere die Geschichte der Maschine und das Vergehen des Verurteilten erwähnen, widmet sich die Vorschau speziell einem möglichen Ablauf einer Begegnung zwischen Reisendem und neuem Kommandanten sowie dem Plan des Offiziers.

[...]


1 Kafka, Franz: In der Strafkolonie. In. Ders.: Sämtliche Erzählungen. Fischer 1970, S. 100 - 123, hier S. 100.

2 Ebd. S. 111.

3 Ebd. S. 115.

4 Ebd. S. 113.

5 Vgl. Ebd. S. 100.

6 Vgl. Ebd. S. 101.

7 Ebd. S. 100.

8 Vgl.: Ebd. S. 101.

9 Ebd. S. 109.

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Analyse von Franz Kafkas "In der Strafkolonie"
Untertitel
Schrift und Schrifttechnik in und von der "Strafkolonie"
Hochschule
Technische Universität Berlin
Autor
Jahr
2009
Seiten
12
Katalognummer
V167131
ISBN (eBook)
9783640835171
ISBN (Buch)
9783640835201
Dateigröße
395 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
strafkolonie, schrift, schrifttechnik, Kafka
Arbeit zitieren
M.A. Hoelenn Maoût (Autor:in), 2009, Analyse von Franz Kafkas "In der Strafkolonie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167131

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