Michel und Lafcadio - Protagonisten André Gides im Vergleich


Seminararbeit, 1999

26 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Die ethische Grundkonzeption als Bindeglied

3 Ausgangspositionen der Protagonisten
3.1 Michel – Sproß und Vertreter des Bürgertums
3.2 Lafcadio – Bastard ohne einheitliche, stringente Prägung

4 Michel – Prozeß der Bewußtwerdung und „Auferstehung“
4.1 Sprengen der bürgerlichen Schale
4.2 Erster Aufenthalt in „La Morinière“ –retardierendes Moment?

5 Lafcadio – Die Funktion des „acte gratuit“ und seine Konsequenzen
5.1 Der „acte gratuit“ als Gipfelpunkt eines ethischen Extrems
5.2 Desillusionierung und existenzielle Krise

6 Michel – Vollstreckung des geistigen Wandels
6.1 Meister und Schüler
6.2 Das „crime“ Michels - Ausdruck eines ethischen Missverständnisses?

7 Das Figurenquartett Michel – Ménalque – Lafcadio – Julius

8 Schluß

1 Einleitung

Kunstwerke fungieren als Spiegel: Spiegel einer Persönlichkeit, ihres Grundanliegens, ihres Weltverständnisses. In gleichem Maße sollen auch literarische Werke ein breites Publikum erreichen, Ideen und Überzeugungen vermitteln, die sich – einmal zu Papier gebracht – langlebiger und „zäher“ erweisen als manches gesprochene Wort. So blitzt in jedem Baustein des äußerst farbenprächtigen literarischen Mosaiks André Gides das Bekenntnis zum Individuum sowie die bewußte Abkehr vom gesellschaftlichen Konformismus auf.

Beredtes Zeugnis hiervon vermögen Les nourritures terrestres, L’immoraliste und Les caves du Vatican abzulegen. Zuweilen stark autobiographisch orientiert, warnen jedoch der Immoraliste wie auch die Caves ausdrücklich vor einer übersteigerten Erhöhung des Individuums und den Folgen der absoluten Freiheit, der Freiheit von allem. Die beiden Protagonisten, Michel im Immoraliste, Lafcadio in den Caves, werden fast zu Opfern ihres übertriebenen Strebens nach Freiheit und Bindungslosigkeit. Aus vollkommen unterschiedlichen Positionen heraus beschreiten Michel und Lafcadio zwei voneinander getrennte Wege, die letzten Endes doch in ein und dasselbe Ziel münden. Handelt es sich demnach bei den beiden Hauptakteuren um „Brüder im Geiste“? In stetigem Rückgriff auf diesen Leitfaden versucht nachfolgende Arbeit, Entwicklungsschübe und -tendenzen beider Romanhelden zu skizzieren, wobei oben genanntes Bekenntnis André Gides als Basis gelten muß.

2 Die ethische Grundkonzeption als Bindeglied

So unterschiedlich Gide die zu betrachtenden Werke auch angelegt haben mag – den

Immoraliste bezeichnet er selbst als „récit“, die Caves als „sotie“ – hat er doch beide in gewisser Weise geeint, ihre Botschaften locker verknüpft. Auf das wohlanständige Bürgertum und seine Moralvorstellungen läßt Gide den Gegenpol prallen, mit einer Wucht, die erstere ins Wanken bringt. Indirekt entlarven Immoraliste wie auch Caves demnach Unvollkommenheit und Schwäche bürgerlicher Ethik, beklagen ihre Entartung und Konsequenzen: Individuen existieren innerhalb der bürgerlichen Konzeption nicht, sie werden ersetzt durch den angepaßten, wertkonformen Massenmensch, dessen Bestreben sich auf gesellschaftliche Anerkennung und Aufstieg richtet.

Diese Position erfordert nach Ansicht Gides ein – in Form, Art und Deutung freilich ebenso radikales – Gegengewicht. Anarchismus und Individualismus bilden die Stützpfeiler seiner „Contra-Ethik“, die Inspiration liefern ihm eigene schmerzvolle Erfahrungen und Erkenntnisse. In den Nourritures terrestres zeichnet sich die Radikalität der frühen gidschen Konzeption deutlich ab, stellen sie doch einen einzigartigen Lobpreis auf ein von Instinkten geführtes, von Verlangen durchdrungenes Leben dar. Obgleich der Autor die Kenntnis Nietzsches zu diesem Zeitpunkt leugnet, manifestiert sich dahingehend eine klare Tendenz, gesteigert schließlich noch im Nachfolgewerk, dem Immoraliste. Besonders hinsichtlich der Beurteilung von

Wertvorstellungen und -maßstäben des Christentums stimmen Nietzsche und Gide überein: Die christliche Moral entstand ihrer Ansicht nach aus dem Wunsch Schwacher und Kranker, starke und lebensfähige Individuen zu beherrschen.[1]

Es bleibt allerdings anzumerken, daß Gide den Immoraliste vor einem gänzlich anderen Erfahrungshorizont verfaßte als die Nourritures. Während sein Frühwerk die absolute Hingabe an Triebe und Verlangen preist, warnt der Immoraliste vor eventuellen Folgen gerade dieser Zügellosigkeit; ähnlich verhält es sich im übrigen auch mit den noch später konzipierten

Caves. Jedes Individuum hat ein Recht auf Opposition, sofern es auch über die nötige Einsicht und Kraft verfügt, seinen eigenen Weg zu bahnen und einzuschlagen; in seiner Eigenschaft als Mensch unter Menschen bleibt ihm eine völlige Ablösung freilich verwehrt.

An genau diesem Punkt setzt Gides „Contra-Ethik“ an, die unbedingt als extremer Kontrast zur christlich-bürgerlichen Moral begriffen werden muß: Erstere propagiert die Abgrenzung gegen Gesellschaft wie allgemeingültiges Weltbild – als Konsequenz eines elitär-arroganten Selbstverständnisses. Unberührt vom Urteil der Mitmenschen, bedient sich das Individuum lediglich des „Korrektivs“ der Innenschau, überzeugt von den universellen Möglichkeiten des eigenen Ich. Aus eben dieser Vielfalt resultiert der es quälende Zwang: Jede Situation erfordert Entscheidungen, die es sich aber zu treffen weigert – aus Angst vor Einschränkungen. Sein Ziel besteht darin, alles auszukosten, Triebe, Verlangen, Gefühle. Demnach wird jegliche Determination geleugnet, die Vergangenheit als machtlos, die Gegenwart jedoch als macht- und bedeutungsvoll angesehen. Erinnerungen werden ausgelöscht, auf daß gegenwärtiges Erleben nicht durch Vergangenes gehemmt oder verhindert wird.

André Gides Figuren bewegen sich sowohl im Immoraliste als auch in den Caves im Spannungsfeld bürgerlicher und individualistisch-anarchistischer Ethik. Zuweilen agieren sie nach ersterer, zuweilen nach letzterer und tragen aus diesem Grund oft ambivalente Züge.

Untersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit bilden deshalb die ethische Ver- bzw. Entwurzelung der handelnden Personen. Das Hauptaugenmerk richtet sich hierbei bewußt auf Michel und Lafcadio als Protagonisten, läßt allerdings auch Schlüsselfiguren wie Ménalque, Julius und Protos nicht außer acht.

3 Ausgangspositionen der Protagonisten

3.1 Michel – Sproß und Vertreter des Bürgertums

In festgefügten Bahnen, ruhig und ereignislos, verlaufen Kindheit und Jugend dieser ersten Hauptfigur. Nichts deutet auf die Ereignisse hin, die Michels Existenz schrittweise, doch mit gnadenloser Konsequenz wandeln werden und ihn schließlich hilflos, verzweifelt bei seinen Freunden Rat suchen lassen.

Aus wohlanständiger, gutsituierter Familie stammend, steht Michel bis zum Alter von 15 Jahren unter Obhut seiner Mutter, deren Erziehungsstil durch Sittenstrenge und Prinzipientreue gekennzeichnet ist. Nach ihrem Tode nimmt sich der Vater, ein allseits geschätzter Historiker, des Jungen an, richtet sein Augenmerk jedoch vornehmlich auf dessen geistige Formung und Bildung. Schon in jungen Jahren kann Michel beträchtliche wissenschaftliche Kompetenz und Erfolge vorweisen – auf Kosten aller anderen Lebensbereiche; er entwickelt sich zum weltfremden Gelehrten ohne Lebenserfahrung: „Ainsi j’atteignis vingt-cinq ans, n’ayant presque rien regardé que des ruines ou des livres, et ne connaissant rien de la vie; j’usais dans le travail une ferveur singulière.“[2]

Ein ausgeprägter asketischer Hang, absolutes Desinteresse am häuslichen Vermögensstand sowie völlige Unkenntnis der körperlichen Leistungsfähigkeit komplettieren dies so überzeugende Porträt eines Mannes, der, obgleich in der Blüte seiner Jugend stehend, das Leben eines abgeklärten Greises zu führen scheint. Zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Individuum in die sinnliche Erlebniswelt vorstoßen, die Fähigkeit zu wahren, tiefen Gefühlen in sich entdecken sollte, vergräbt sich Michel voll Eifer hinter seinen Büchern; rückblickend läßt Gide seinen Helden urteilen: „J’aimais quelques amis […], mais plutôt l’amitié qu’eux mêmes, mon dévouement pour eux était grand, mais c’était besoin de noblesse; je chérissais en moi chaque beau sentiment.“[3]

Weder stellt sich Michel die Sinnfrage, noch denkt er an eine andere Lebensform; anhand der tristen Gleichförmigkeit dieser Biographie suggeriert Gide seinen Lesern die Notwendigkeit eines äußeren Vorfalles, der den Protagonisten aus der Bahn und auf sich selbst zurückwerfen wird, zugleich übt er an dieser Stelle bereits Kritik am bürgerlichen Wertesystem, das er für die Verkümmerung und Verarmung der menschlichen Existenz verantwortlich macht.

Der Kindespflicht gehorchend, ehelicht der junge Mann seine Jugendgefährtin Marceline, für die er freilich keine Liebe, sondern lediglich Achtung und auch ein wenig Mitleid empfindet. Bei Antritt seiner Hochzeitsreise deutet nichts auf kommende große Ereignisse hin, und doch erweist sich die kommende Zeit als schicksalhaft für Michels weiteres Leben.

3.2 Lafcadio – Bastard ohne einheitliche, stringente Prägung

In krassem Gegensatz zur Lage Michels stehend, bilden Lebenslauf und persönliches Schicksal des Kindes nahezu eine Analogie zur Situation vieler Heranwachsender unserer Zeit: Von seiner ledigen Mutter über die Person des Vaters in Unkenntnis gelassen und mit stets wechselnden Bezugspersonen konfrontiert, kann Lafcadio sich nicht anhand eines einheitlichen Leitstranges entwickeln. Seine Erziehung obliegt zwar größtenteils der Mutter, wird aber zu einem Gutteil auch von deren häufig wechselnden Partnern, seinen „Onkeln“, bestimmt. Aus diesem Konglomerat prägender Einflüsse und Tendenzen entwirft André Gide eine überzeugende Kulisse für den weiteren Ablauf der Geschehnisse. Lafcadios Entwicklung wirkt auf den Leser als beinahe logische Konsequenz seiner bewegten Kindheit und Jugend, die er seinem Halbbruder, Julius de Baraglioul, im Laufe ihres zweiten Zusammentreffens schildert. Jeder Partnerwechsel der Mutter zieht weitreichende Veränderungen in Lebens- und Erziehungsstil nach sich, der junge Lafcadio gerät von einem Extrem ins andere: „Cet homme bizarre [ Lafcadios zweiter „Onkel“, Prinz Wladimir Bielkowski] transforma du jour au lendemain notre existence un peu rassise en une sorte de fête éperdue. Non, il ne suffit pas de dire qu’il s’abandonnait à sa pente: il s’y précipitait, s’y ruait; il apportait à son plaisir une espèce de frénésie.“[4]

Exzentriker folgt auf Exzentriker, jede Kontaktperson berührt und formt einen anderen Teil der jungen Persönlichkeit, vermittelt ihr diverse Neigungen: Bielkowski den Hang, ganz nach Lust und Laune, nach „plaisir“, zu handeln; Baldi die buchstäbliche Neugier auf „Wunder“ und Tricks; Faby den Geschmack an Ungebundenheit und Freiheit; und schließlich de Gesvres die Neigung zu Extravaganz und Sorglosigkeit. Mit dieser Rückblende auf Lafcadios Jugendzeit errichtet Gide ein tragfähiges Fundament für Wesenszüge und Charakter seines Helden; der in der Erziehung angelegte, eklatante Gegensatz zu bürgerlichen Wertvorstellungen und Idealen zieht sich im folgenden als roter Faden durch das Leben des jungen Mannes.

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Ausgangspositionen beider Helden einander diametral gegenüberstehen: Während Gide seine erste Figur zunächst konsequent in die Rolle eines Bourgeois zwingt und ihr nur die Möglichkeit zur Assimilation offeriert, verwehrt er Lafcadio ebenso konsequent jegliche gesellschaftliche Verwurzelung und erlegt ihm die Rolle eines Rebellen auf.

4 Michel – Prozeß der Bewußtwerdung und „Auferstehung“

4.1 Sprengen der bürgerlichen Schale

Völlig unbedarft tritt der junge Mann in den Stand der Ehe ein, ohne spezifische Vorstellungen von seiner Partnerin bzw. ihrer gemeinsamen Zukunft. Außerstande, Marceline tiefere Gefühle entgegenzubringen, realisiert er erst im Verlauf ihrer Hochzeitsreise die weitreichende Bedeutung dieses Bundes: „J’avais vécu pour moi ou du moins selon moi jusqu’alors; je m’étais marié sans imaginer en ma femme autre chose qu’une camarade, sans songer bien précisément que, de notre union, ma vie pourrait être changée. Je venais de comprendre enfin que là cessait le monologue.“ [5] Michel, dieser ausgesprochene Egozentriker, wendet für kurze Zeit den Blick von seiner Person, um ihn auf ein anderes Wesen zu richten; erstaunt entdeckt er den Mikrokosmos einer anderen Persönlichkeit. Marceline avanciert in seiner Vorstellung von einer „Ausschneidepuppe“ zu einem Menschen mit eigener Existenz.

Dieser einschneidenden Erkenntnis folgt eine Entdeckung anderer Art, jedoch nicht minder schwerwiegend, auf dem Fuße: Infolge einer gravierenden Verschlechterung seines Gesundheitszustandes wird sich Michel erstmals seiner physischen Existenz bewußt. Sein Körper rebelliert, als wolle er sich für jahrelange Vernachlässigung, ja Nichtbeachtung, rächen; eine schwere Lungentuberkulose – in Verbindung mit Erschöpfungsanfällen und blutigem Auswurf – zwingt Michel auf das Krankenbett. Marceline, ganz liebende Gattin, pflegt ihren Mann und geleitet ihn nach Biskra, Ort eines langwierigen, von Rückschlägen unterbrochenen Genesungsprozesses.

„Elle ne pouvait faire, hélas!“, so Michel rückblickend , „que ce voyage fût moins atroce. Je crus plusieurs fois devoir m’arrêter et finir. […] A la fin du troisième jour, j’arrivai à Biskra comme mort.“ [6]

[...]


[1] Vgl. Chevallier, Claude-Alain, L’immoraliste d’André Gide, Paris 1996, S. 83f.

[2] Gide, André, L’immoraliste, 1994, S. 20.

[3] Ebd., S. 20.

[4] Gide, André, Les caves du Vatican, 1997, S. 84.

[5] Gide, Immoraliste, S. 23.

[6] Ebd., S. 30.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Michel und Lafcadio - Protagonisten André Gides im Vergleich
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl für französische Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
PS André Gide
Note
1,3
Autor
Jahr
1999
Seiten
26
Katalognummer
V16648
ISBN (eBook)
9783638214322
Dateigröße
600 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit behandelt vorrangig die "Caves du Vatican" und den "Immoraliste" von André Gide.
Schlagworte
Michel, Lafcadio, Protagonisten, André, Gides, Vergleich, André, Gide
Arbeit zitieren
Anne-Bärbel Kirchmair (Autor:in), 1999, Michel und Lafcadio - Protagonisten André Gides im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16648

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