Von der Entmündigung zur persönlichen Betreuung

Politische Geschichte - Sachstand - Perspektiven


Diplomarbeit, 1997

64 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einleitung

2 Politische Geschichte
2.1 Historische Vorbemerkungen
2.1.1 Altertum und Mittelalter
2.1.2 Zeit der Aufklärung
2.1.3 Rechtslage nach dem BGB ab dem 1. 1. 1900
2.1.3.1 Vormundschaft und Entmündigung
2.1.3.2 Gebrechlichkeitspflegschaft
2.1.3.3 Daten zur Vormundschafts- und Pflegschaftspraxis
2.1.3.4 Der Vormund / Pfleger
2.2 Werdegang der Reform
2.2.1 Die Psychiatrie - Enquete
2.2.2 Kritik der alten Rechtslage
2.2.3 Reformziele
2.2.4 Vorbild Österreich
2.2.5 Das Gestzgebungverfahren
2.2.6 Übergangsvorschriften

3 Sachstand
3.1 Kernpunkte des Betreuungsrechts
3.2 Das Verfahren zur Betreuerbestellung, dargestellt anhand eines Bei­spielfalles
3.2.1 Vorgeschichte
3.2.2 Der Antrag zur Betreuerbestellung
3.2.3 Der Erforderlichkeitsgrundsatz
3.2.4 Anhörung des Betroffenen
3.2.5 Das Sachverständigengutachten
3.2.6 Der Verfahrenspfleger
3.2.7 Die Betreuungsbehörde
3.2.7.1 Der Sozialbericht der Betreuungsstelle
3.2.7.2 Auswahl des Betreuers
3.3 Die Betreuerarten
3.3.1 Einzelbetreuer
3.3.1.1 Ehrenamtlicher Betreuer
3.3.1.2 Berufsbetreuer
3.3.1.3 Vereinsbetreuer
3.3.1.4 Behördenbetreuer
3.3.2 Institutionen als Betreuer
3.3.2.1 Betreuungsverein
3.3.2.2 Betreuungsbehörde (Betreuungsstelle)
3.4 Gesetzliche Vertretung durch den Betreuer
3.4.1 Personensorge
3.4.1.1 Aufenthaltsbestimmung
3.4.1.2 Ärztliche Maßnahmen
3.4.1.3 Sterilisation
3.4.1.4 Unterbringung
3.4.1.5 Wohnungsauflösung
3.4.2 Vermögenssorge
3.4.3 Der Einwilligungsvorbehalt
3.5 Aufsicht durch das Gericht
3.6 Ende der Betreuung
3.6.1 Betreuerwechsel
3.6.2 Wegfall der Voraussetzungen
3.6.3 Tod des Betreuten

4 Perspektiven
4.1 Zunahme der Betreuerbestellungen
4.2 Finanzieller Aspekt
4.3 Probleme in der Betreuungspraxis
4.3.1 Bürokratisierung
4.3.2 Vergütung für Berufsbetreuer
4.3.2.1 Abrechnungsbestimmungen .
4.3.2.2 Mittellosigkeit
4.3.3 Mangelhafte Unterstützung der Betreuungsvereine
4.3.4 Zwangsmaßnahmen gegen den Betreuten
4.4 Ausblick und Schlußbemerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Durch meine Bekanntschaft mit einem katholischen Diakon wurde ich vor nunmehr über zwei­einhalb Jahren zum ehrenamtlichen Betreuer fur einen schwer alkoholkranken Mann bestellt. Mein Bekannter, der Diakon, schilderte mir telefonisch den Sachverhalt und fragte mich, ob ich bereit wäre, diese Aufgabe zu übernehmen. Als er mir zusicherte, er werde mich unterstützen und mir zur Seite stehen, habe ich mehr aus Neugier denn aus Überzeugung zugestimmt. Da der Fall eilig war und offensichtlich sonst niemand bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen, wurde ich, merkwürdigerweise ohne vorher gehört worden zu sein, also nur aufgrund der Empfehlung des Diakons, zum Betreuer bestellt. Meine ersten, im Rahmen dieser Betreuung erworbenen persönlichen Erfahrungen waren dann nicht nur der Ausgangspunkt für die Ent­scheidung, im Rahmen einer Berufsausübung mehrere Betreuungen zu übernehmen, sondern auch für ein weitergehendes theoretisches Interesse an diesem Arbeitsfeld, aus dem die vorlie­gende Arbeit entstand.

1 Einleitung

Die Zahl der älteren Menschen in unserer Gesellschaft nimmt stetig zu. Der Anteil der über 65­jährigen an der Gesamtbevölkerung wird voraussichtlich von zur Zeit ca. 15% auf etwa 22% im Jahr 2025 ansteigen. Jeder vierte der über 65-jährigen leidet an psychischen Störungen, und jeder vierte der 85-jährigen ist mit dem Risiko einer Altersdemenz belastet. Die Zahl der psy­chischen Erkrankungen und der Suchtkrankheiten nimmt ständig zu. Diese Zahlen verleihen dem am 1. Januar 1992 nach langer Reformdiskussion inkraftgetretenen Betreuungsgesetz mehr Aktualität denn je.

Mit der vorliegenden Arbeit soll der komplexe und aufgrund einer wenig ruhmreichen Vergan­genheit zugleich sehr sensible Bereich der Betreuungstätigkeit für psychisch kranke, körperlich, geistig oder seelisch behinderte Mitmenschen sowohl in seinen theoretischen Voraussetzungen als auch in seiner praktischen Handhabung vor dem Hintergrund seiner politischen Entwick­lungsgeschichte dargestellt werden:

Das früher geltende Entmündigungs-, Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht brachte für die betroffenen Menschen weitreichende Folgen der Entrechtung und Bevormundung mit sich. Durch Amtsvormünder/-pfleger und Berufsvormünder/-pfleger wurden die Betroffenen zudem in den meisten Fällen nur anonym verwaltet. Mit einem Sachverständigenbericht über die „Lage der Psychiatrie in Deutschland“ wurde Anfang der 70er Jahre erstmals eine breite Öf­fentlichkeit auf diese Mißstände aufmerksam. Dennoch dauerte es fast zwanzig Jahre, bis schließlich eine Reform der alten Rechtslage durchgesetzt werden konnte.

Das neue Betreuungsgesetz wurde in der Fachwelt mit einer großen Erwartungshaltung aufge­nommen. Es stärkt deutlich die Rechte des Betroffenen im Verfahren und zudem wird eine Betreuung nur in den Bereichen eingerichtet, wo eine Hilfe notwendig ist. Der Betreute soll soweit wie möglich sein Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Anders als zu Beginn befurchtet, konnte das Betreuungsgesetz in der Praxis gut umgesetzt werden.

Durch Betreuervergütungen, hohe Verfahrenskosten und einer rapiden Zunahme der Betreuer­bestellungen entstehen dem Steuerzahler immense Kosten. Es entsteht die Gefahr, daß die Um­setzung des Betreuungsgesetzes nicht mehr zu finanzieren ist. Erste Einschnitte sind vom Ge­setzgeber bereits geplant.

Abschließend soll die Entwicklung des Betreuungsgesetzes einer kritischen Betrachtung un­terworfen werden. Es sollen Probleme in der Betreuungsarbeit, Änderungsmöglichkeiten und zu erwartende Entwicklungen für die nähere Zukunft aufgezeigt werden.

2 Politische Geschichte

2.1 Historische Vorbemerkungen

Regeln für den Umgang mit hilflosen Menschen sind wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Es spricht vieles dafür, daß die zentrale Problematik dieses Rechtsgebietes, nämlich das Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Entrechtung, genauso alt ist. Religiöse, kulturelle und soziale Wertvorstellungen, die einem ständigen Wandel unterliegen, bestimmen maßgeblich politische Entscheidungen, welche letztlich das mitmenschliche Verhalten vorschreiben. Die politische Gesellschaftsordnung bestimmt aber nicht nur die Regeln im Umgang mit kranken und hilfsbedürftigen Menschen, sondern sie definiert in entscheidendem Ausmaß auch, wer oder was als krank oder normal zu gelten hat. So gibt es noch heute viele Länder auf der Erde, in denen zahllose politisch andersdenkende Menschen in Gefängnisse oder psychiatrische Kli­niken gesperrt werden. Erinnert sei auch an das finstere Kapitel des Nationalsozialismus, in dem der Gedanke des Sozialdarwinismus und der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zu Zwangssterilisationen und massenhafter Tötung von kranken und behinderten Menschen führ­te. Wie sich die Regeln und rechtlichen Bestimmungen für hilflose Menschen im Laufe der Ge­schichte entwickelt haben, soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.

2.1.1 Altertum und Mittelalter

Die alten Römer kannten in ihrem Zwölftafelgesetz zwei Arten der Fürsorge für erwachsene Menschen. Die Sorge für psychisch Kranke (curia fimosi) und die Sorge for Verschwender (curia prodigi). Die „curia furiosi“ trat dabei mit Beginn der Krankheit von selbst in Kraft und erlosch bei Heilung ebenso wieder von selbst. Sie fiel in der Regel dem nächsten männlichen

Verwandten zu und umfaßte während der Dauer der Krankheit die Sorge um die Person und um das Vermögen.

Während die „curia furiosi“ ohne formalen Akt von selbst in Kraft trat, setzte die „curia prodi­gi“ ein Verfahren voraus, in dem der Magistrat ein Verfügungsverbot aussprach. Der Betroffe­ne konnte damit nur noch Geschäfte vornehmen, die ihm einen unmittelbaren Vermögensvor­teil brachten. Die „curia prodigi“ hatte somit stark rechtsbeschränkenden Charakter und galt auf Dauer. Sie sollte das Familienvermögen schützen und eine Verarmung der Nachkommen verhindern.

Auch die Germanen kannten die „Munt“ als Schutz und Fürsorge für Hausgemeinschaft und Sippe. Wer sich nicht selbst verteidigen konnte, hatte Anspruch auf Schutz seiner Person und seines Vermögens durch ein anderes Mitglied der Sippe. Wer keinem Muntverband angehörte, hatte Anspruch auf Schutz durch den König.

Daraus entwickelte sich später eine hoheitliche Aufgabe der Landesherm, die diese von den Gerichten übertragen bekamen und danach weiter delegieren konnten. Diese erste Art der Vormundschaft war noch ohne feste Formen, aber der Gedanke von der Vormundschaft als öffentliches Amt begann sich durchzusetzen.

Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Reichspolizeiordnungen von 1548 und 1577. Der Vormund wurde behördlich bestellt und hatte die Sorge für Person und Vermögen des Betroffenen.

2.1.2 Zeit der Aufklärung

Sehr ausführliche gesetzliche Regelungen finden sich erstmals im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794. Darin war eine Vormundschaft für Blödsinnige, Rasende, Wahnsinnige, Taube, Stumme und Verschwender vorgesehen. Die Einrichtung einer Vormundschaft wurde unter Hinzuziehung von Ärzten gerichtlich entschieden. Die Gerichtsentscheidung wurde öf­fentlich bekannt gemacht. Der Betroffene verlor die Fähigkeit, rechtsgeschäftlich zu handeln. Der Vormund handelte unentgeldlich als Bevollmächtigter des Staates und wurde gerichtlich überwacht.

Der Code civil von 1803 setzte vor jede Vormundschaft die Entmündigung, die wegen fort­währender Verstandesschwäche, Wahnsinn oder Raserei erfolgen konnte. Folge der Entmün­digung war die Geschäftsunfähigkeit, jedoch war ein Rechtsgeschäft des Betroffenen erst durch eine Nichtigkeitsklage durch den Vormund hinfällig. Leichtere Fälle von Geistesschwä­che oder Verschwendung wurden nicht entmündigt, sondern erhielten einen Pfleger. Dies hatte zur Folge, daß der Betroffene nur mit Übereinstimmung des Pflegers rechtsgeschäftlich tätig werden konnte. Die Aufsicht führte der Familienrat oder ein Gegenvormund.

Die preußische Vormundschaftsordnung von 1875 führte die Unterscheidung zwischen dem Vormund als einem umfassenden Vertreter für alle Angelegenheiten und dem Pfleger als einer Vertretung für einzelne oder einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten ein.

1877 wurde die reichseinheitliche Zivilprozeßordnung verkündet. Diese regelte in den §§ 593 bis 627 das Entmündigungsverfahren für Geisteskranke und Verschwender. Diese Vorschriften sind im wesentlichen bis 31.12.1991 unverändert geblieben.

2.1.3 Rechtslage nach dem BGB ab dem 1.1. 1900

das Bürgerliche Gesetzbuch wurde am 18. 8. 1896 verabschiedet und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. Es sah für den Schutz von kranken und hilflosen Menschen zwei rechtliche Instrumente vor. Die Vormundschaft, der ein Entmündigungsverfahren vorausgehen mußte, einerseits und die Gebrechlichkeitspflegschaft andererseits. „Für die Unterstützung von Personen, die ihre Angelegenheiten nicht oder weitgehend nicht oder in bestimmten Bereichen nicht allein wahr­nehmen oder wahmehmen lassen können, stellt das BGB zwei Grundtypen für eine ergänzende oder ersetzende Fürsorge zur Verfügung: die Vormundschaft als relativ umfassende Fürsorge und die Pflegschaft als - relativ - ergänzende und mehr punktuell wirkende Maßnahme der Für­sorge und Unterstützung.“[1]

Diese Bestimmungen über Schutz- und Hilfsmaßnahmen der Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft blieben seitdem praktisch unverändert. Lediglich die mit Freihheitsentziehung verbundene Unterbringung wurde 1961 dahingehend geändert, daß das Vormundschaftsgericht vor einer solchen Maßnahme den Mündel hören und die Unterbringung genehmigen mußte.

Vormundschaft und Entmündigung

Voraussetzung für die Bestellung eines Vormundes war die Entmündigung nach § 1896 BGB a. F..

Nach § 6 BGB a.F. konnte entmündigt werden , wer

- infolge von Geistesschwäche oder von Geisteskrankheit seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag,
- durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt,
- infolge von Trunksucht oder Rauschgiftsucht (seit 1974; Anm. des Verf.) seine Angelegen heiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet.

Das Entmündigungsverfahren konnte nur auf Antrag eines dazu Berechtigten (§ 645 ZPO), zu denen der Betroffene selbst nicht gehörte, eingeleitet werden. Eine Entmündigung hatte für den Betreffenden weitreichende Folgen. Sie führte im Falle von Geisteskrankheit zur allgemeinen Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Abs. 3 BGB a.F.) und bei Entmündigung wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht zur beschränkten Geschäftsfähigkeit (§ 114 BGB a. F ). Die Entmündigung hatte Auswirkungen auf die Ehefähigkeit, die Testierfähigkeit und das Wahl­recht. Wer wegen Geisteskrankheit entmündigt war, konnte die Ehe nicht mehr eingehen. La­gen andere Entmündigungsgründe vor, mußte der Vormund seine Einwilligung zur Eheschlie­ßung geben. Der Betroffene war aber unabhängig vom Entmündigungsgrund testierunfahig und verlor das Wahlrecht. „Der Entmündigte erhält also die rechtliche Handlungsfähigkeit entwe­der eines Kindes unter oder eines Kindes über sieben Jahren. Einem Entmündigten wird ein Vormund bestellt (§ 1896 BGB a. F.).“[2] Die Entmündigung wurde im Bundeszentralregister eingetragen und in das Führungszeugnis aufgenommen.

Nach § 6 Abs. 2 BGB a. F. war die Entmündigung wieder aufzuheben, wenn der Grund der Entmündigung wegfiel. Eine Wiederbemündigung erfolgte nur auf Antrag, wobei der Entmün­digte selbst, sein Vormund und der Staatsanwalt antragsberechtigt waren. Eine Wiederbemün­digung von Amts wegen, oder eine Überprüfüng des Fortbestehens der Entmündigungsvoraus­setzungen durch das Vormundschaftsgericht war nicht vorgesehen. Dies bedeutete in der Pra­xis, daß zahlreiche Entmündigungen ein Leben lang andauerten, ohne auch nur einmal über­ prüft worden zu sein. Prof. Dr. Mende[3] [4] berichtete von einer internen Statistik des Amtsgerich­tes München aus den Jahren 1972 -1978, aus der hervorgeht, daß in diesem Zeitraum auf 1150 Entmündigungen 185 Wiederbemündigungen fielen.

2.1.3.2 Gebrechlichkeitspflegschaft

Die Anordnung einer Gebrechlichkeitspflegschaft war grundsätzlich von der Einwilligung des Betreffenden abhängig, es sei denn, daß eine Verständigung nicht möglich war. Die Gebrech­lichkeitspflegschaft wirkte sich nicht auf die Geschäftsfähigkeit, die Ehe- und Testierfähigkeit aus. Allerdings war der Pflegling in der Regel vom aktiven und passiven Wahlrecht ausge­schlossen, es sei denn, die Pflegschaft wurde nur aufgrund körperlicher Gebrechen angeordnet, oder er konnte durch eine Bescheinigung nachweisen, daß die Pflegschaft aufgrund seiner Einwilligung angeordnet wurde. Eine Eintragung in das Bundeszentralregister erfolgte indes nicht. Einen Gebrechlichkeitspfleger konnte ein Volljähriger erhalten (§ 1910 BGB a. F ), wenn er

- nicht unter Vormundschaft steht,
- infolge körperlicher Gebrechen, insbesondere weil er taub, blind oder stumm ist, seine Ange­legenheiten nicht zu besorgen vermag,
- infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu besorgen vermag.

Das Verfahren zur Einrichtung einer Gebrechlichkeitspflegschaft war im Gesetz zur freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) geregelt. Eine Anregung zur Einleitung eines solchen Verfahrens konnte von jedem erfolgen. Durch den Bereich der Gebrechlichkeitspflegschaft wurde die Entmündigung und Vormundschaft für Volljährige zurückgedrängt und spielte zahlenmäßig nur noch eine untergeordnete Rolle Es wurde unterschieden zwischen der Totalpflegschaft für einen körperlich Gebrechlichen, die die gesamte Personen- und Vermögenssorge umfassen konnte, und der sogenannten Teilpflegschaft, die nur für die Besorgung bestimmter Angele­genheiten vorgesehen war. Nach § 1910 Abs. 2 BGB a. F. kam für einen geistig Gebrechlichen nur eine Teilpflegschaft in Frage. Hiergegen wurde in der Praxis aber oft verstoßen: ,Дп der Praxis wird es allerdings vielfach für zulässig gehalten, auch den Pfleger für einen geistig Ge­brechlichen mit der gesamten Vermögenssorge, der Aufenthaltsbestimmung und der Heilbe­handlung zu betreuen, so daß die Unterscheidung keine große praktische Bedeutung besitzt.“4 Auch wurden in der Praxis meist Pflegschaften gemäß § 1910 Abs. 3 BGB a. F. ohne Einwilli­gung des Betroffenen (Zwangspflegschaften) angeordnet, so daß der Unterschied zur Ent­mündigung eigentlich nur auf dem Papier Bestand hatte. „Die Gebrechlichkeitspflegschaft hat vor allem in der Form der sogenannten Zwangspflegschaft weitgehend den Platz der Entmün­digung und der Vormundschaft für Volljährige eingenommen.“[5]

Eine Gebrechlichkeitspflegschaft war nach § 1919 BGB a. F. wieder aufzuheben, wenn der Grund für die Anordnung der Pflegschaft weggefallen war. Dies mußte das Vormundschafts­gericht aber erfahren, was in der Regel nicht der Fall war. Es galt deshalb ähnliches wie für die Entmündigung, bei der es im Normalfall zu keiner Überprüfüng des Wegfalls der Vorausset­zungen und damit auch zu keiner Aufhebung kam.

2,1.3.3 Daten zur Vormundschafts- und Pflegschaftspraxis

Die Justizstatistiken wiesen seit 1975 einen kontinuierlichen Rückgang der Gesamtzahl der ausgesprochenen Entmündigungen aus, was wohl auf die sich intensivierende Reformdiskus­sion zurückzuführen war. Die Entmündigungszahlen entwickelten sich wie folgt:[6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Gesamtzahl der Vormundschaften wurde dabei für Ende 1988 auf über 63 000, die Ge­samtzahl der Gebrechlichkeitspflegschaften auf fast 190.000 geschätzt. Es wurden also für das Ende des Jahres 1988 über 250.000 Vormund- und Pflegschaften angenommen. Allerdings gab es auch Schätzungen, die die Gesamtzahl aller Vormundschaften und Pflegschaften um ca. 100.000 höher ansetzten.

In den einzelnen Bundesländern betrug die Zahl der Entmündigungen je 100.000 Einwohner:[7]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Zahlen zeigen, daß es in der Handhabung der Entmündigung große Unterschiede in den einzelnen Bundesländern gab, so wurde z.B. in Schleswig-Holstein oder Hamburg acht- bis zehnmal häufiger entmündigt als in Hessen oder Bayern. In der Summe der Vormundschaften und Pflegschaften je 100.000 Einwohner war dieser Unterschied aber weitaus geringer Dies bedeutet, daß beispielsweise in Bayern häufiger eine Pflegschaft angeordnet wurde, als etwa in Schleswig-Holstein, wo eher ein Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde. Wie oben schon erwähnt, dürfte diese Tatsache für den Betroffenen ohne besondere Bedeutung gewesen sein, da durch die sogenannte Zwangspflegschaft der Unterschied zur Entmündigung eigentlich nicht vorhanden war.

Die Entmündigungsgründe verteilten sich wie folgt:[8]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Oberloskamp[9] veröffentlichte 1992 in einer Untersuchung, die 1989 mit Hilfe einer Aktenana­lyse durchgefiihrt wurde, folgende faktische Gründe für die Anordnung einer Pflegschaft oder Vormundschaft:

- 25 % wegen körperlicher/geistiger Behinderung
- 23 % wegen Psychose/Schizophrenie
- 22 % wegen geistiger Behinderung
- 19 % wegen sozialer Auffälligkeit
- 17 % wegen seniler Demenz
- 11 % wegen Alkoholabusus
- 9 % wegen Minderbegabung
- 6 % wegen Anfallsleiden
- 7 % sonstiges

2.1.3.4 Der V ormund / Pfleger

Grundsätzlich ging der Gesetzgeber nach §§ 1793 ff. BGB a. F. davon aus, daß eine Einzelper­son Vormund oder Pfleger wird. Erst wenn keine geeignete Einzelperson gefunden wurde, konnte ein Verein oder das Jugendamt zum Vormund oder Pfleger bestellt werden (§§ 1791a, 1791b BGB a. F ). Auch bei der Vereins- und Amtsvormundschaft, bzw. -Pflegschaft mußte eine natürliche Person mit der Wahrnehmung der Aufgabe betraut werden. Nach den Zahlen des statistischen Bundesamtes von 1981 verteilten sich die Vormundschaften und Pflegschaften wie folgt:

- 78 % Einzelvormundschaften / -Pflegschaften
- 5 % Vereinsvormundschaften / -Pflegschaften
- 17 % Amtsvormundschaften / -Pflegschaften

Riedl[10] berichtet, daß in München schätzungsweise 15-30 % der Einzelbetreuungen von Be­rufsvormündern geführt wurden. Der Berufsvormund war in den meisten Fällen ein Rechtsan­walt, der eine Vielzahl von Vormundschaften und Pflegschaften führte und damit den Hauptteil seines Einkommens erzielte. Manche Berufsvormünder führten dabei mehrere hundert Vor­mundschaften und Pflegschaften, welche sie in den meisten Fällen gar nicht persönlich kannten, sondern lediglich verwalteten. „Besonders bedrückend ist es, daß die Betroffenen oft nicht persönlich betreut, sondern nur durch Berufsvormünder oder Berufspfleger, denen weit mehr als hundert Fälle übertragen sind, anonym verwaltet werden. Persönliche Kontakte, insbeson­dere persönliche Gespräche, finden in solchen Fällen nicht statt; ein Vertrauensverhältnis kann sich nicht bilden. Oft kennt der Mündel / Pflegling seinen Vormund / Pfleger nicht einmal per­sönlich.“[11]

Darüber hinaus wurde aber auch die Schwierigkeit beklagt, geeignete Vormünder bzw. Pfleger zu finden. „Neben dem offenkundigen quantitativen Mangel ist aber auch eine häufig unzurei­chende Qualifikation der Vormünder / Pfleger zu beklagen, so daß in der Regel eine sachge­rechte Begleitung der Mündel / Pfleglinge nicht gewährleistet ist.“[12].

2.2 Werdegang der Reform

2.2.1 Die Psychiatrie - Enquete

Am 23. Juli 1971 beschloß der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung mit der Erstellung einer „Enquete über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“, der Psychia­trie - Enquete, zu beauftragen. Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hatte daraufhin eine unabhängige Sachverständigenkommission berufen, die die Enquete erarbeiten sollte. Nach mehljähriger Arbeit legte die Kommission am 25. November 1975 dem Bundes­minister für Jugend, Familie und Gesundheit einen umfangreichen, 426 Seiten umfassenden, Bericht vor.

Es wurden dabei insbesondere folgende Mängel beklagt:

- Uneinheitlichkeit und Schwerfälligkeit des Verfahrens,
- zu hohe Entmündigungsrate,
- Überlastung von Vormündern und Pflegern durch eine zu große Zahl von zu betreuenden Mündeln oder Pfleglingen,
- mangelhafte Information von Ärzten und Vormündern über die rechtlichen und sozialen Folgen der Entmündigung,
- überholte Terminologie mit der Folge eines zu großen Interpretationsspielraums.[13] Als wichtige Reformziele wurden genannt:
- Entwicklung eines abgestuften Systems von Betreuungsmaßnahmen anstelle und in Ergän­zung der bisherigen Vormundschaft und Pflegschaft unter Einbeziehung der fürsorglichen Unterbringung,
- Ersatz der Entmündigung durch die Feststellung von „Betreuungsbedürftigkeit“ und gleich­zeitige Bestellung eines „Betreuers“ mit Regelung seines Aufgabenkreises,
- Klärung der Notwendigkeit einer obligatorischen Verknüpfung der Geschäftsfähigkeitsffage mit der Anordnung bestimmter Betreuungsmaßnahmen,
- einheitliche und auf das individuelle Betreuungsbedürfnis abgestellte Verfahrensregelung,
- interdisziplinär orientierte Aus-, Weiter- und Fortbildung aller Verfahrensbeteiligten.

Spätestens seit der Veröffentlichung der Psychiatrie-Enquete hatte sich die Diskussion um eine Reform des Vormundschaft- und Pflegschaftsrechts verschärft. „ In grundsätzlicher Überein­stimmung mit den Empfehlungen der Psychiatrie-Enquete zum Vormundschafts- und Pfleg­schaftsrechts, die bereits 1975 deutlich formuliert worden sind, geht der Deutsche Verein da­von aus, daß Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige als rechtliche und soziale Institu­tionen dringend reformbedürftig sind. (...) Eine allerseits als notwendig erkannte Reform ist seit mindestens zehn Jahren überfällig.“[14] Es gab aber bereits viel früher deutliche Kritik am Entmündigungsrecht: „Die Entmündigung einer Person setzt ein im öffentlichen Interesse an­geordnetes, nach den Vorschriften der ZPO, auf Antrag eingeleitetes und demnächst durchge­führtes Offizialverfahren voraus.

Sie hat zur Folge, daß der Entmündigte seine persönliche, wirtschaftliche und politische Frei­heit, sein ganzes sittliches Dasein einbüßt, daß somit sein ganzes ethisches, geistiges und mate­rielles Leben vernichtet wird. Sie bedeutet den Untergang der Persönlichkeit, den Verlust des Rechts, für sich zu denken und zu handeln, für sich und andere zu erwerben und zu veräußern, für sich zu streben und zu kämpfen, kurz den geistigen Tod des Entmündigten. (Cohn, 1925)“[15]

[...]


[1] Bienwald, Werner: Zu Notwendigkeit und Umfang einer Reform des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts. FamRZ 1987, S 534

[2] Jürgens/Kröger/Marschner/Winterstein: Das neue Betreuungsrecht, München 1994, S. 3

[3] Prof. Dr. Mende. Psychiatrische Implikationen, in: Bundesminister der Justiz (Hrsg ): Gutachten zu einer Neuordnung des Entmündigungs-, des Vormundschafts- und des Pflegschaftsrechts. Bundes­ anzeiger. Köln 1985. S. 17

[4] BT-Drucksache 11 /4528. 1989. S. 39 "

[5] Jürgens/Kröger/Marschner/Winterstein: a.a.O.. S. 5

[6] Deinert, Horst: Handbuch der Betreuungsbehörde. 2. Auflage. Carl Heymanns Verlag KG. Köln. Berlin. Bonn. München. 1994. S.491

[7] Jürgens/Kröger/Marschner/Winterstein; a.a.O. S. 5

[8] ebenda. S. 4

[9] Oberloskamp / Schmidt-Koddenberg. Zieris: Hauptamtliche Betreuer und Sachverständige; Ausbildungs- bzvv. Anforderungsprofil im neuen Betreuungsrecht. Bundesanzeiger. Köln 1992, S. 44

[10] Riedl. Gerhard: Die Vormundschaft zwischen Privatrech und öffentlicher Fürsorge unter besonderer Berück sichtigung der Berufsvormundschaften. Verlag V. Florentz. München 1988. S. 34

[11] BT-Drucksache 11 / 4528. S. 50

[12] Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge: Stellungnahme des Deutschen Vereins zur Weiter­ entwicklung des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts für Volljähri-ge. NDV. Frankfurt am Main 1986. S. 225

[13] BT-Drucksache 7 / 4200. S.: 375

[14] Deutscher Verein fur öffentliche und private Fürsorge: a. a. O.. S. 225

[15] Kewitz / Joester: Entmündigung: Rechtlicher Anspruch und seine Verwirklichung, in: Karl-Emst Brill (Hrsg.): Zum Wohle des Betreuten, Psychiatrie-Verlag. Bonn 1990. S. 13

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Von der Entmündigung zur persönlichen Betreuung
Untertitel
Politische Geschichte - Sachstand - Perspektiven
Hochschule
Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg  (Fachbereich Sozialwesen)
Note
2
Autor
Jahr
1997
Seiten
64
Katalognummer
V166298
ISBN (eBook)
9783640819997
ISBN (Buch)
9783640822829
Dateigröße
12021 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
der Text wurde eingescannt und unterstützt als E-Book daher nicht die Such- und Kopiermöglichkeiten.
Schlagworte
Betreuungsrecht, Entmündigung, Betreuer, gesetzliche Vertretung, Betreuungsbehörde, Verfahrenspfleger, Berufsbetreuer, Vereinsbetreuer, Behördenbetreuer, ehrenamtlicher Betreuer, Betreuungsstelle
Arbeit zitieren
Klaus Fenn (Autor:in), 1997, Von der Entmündigung zur persönlichen Betreuung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166298

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