Gefangensein und Befreiung - Die Frau im dramatischen Werk Michel Tremblay


Examensarbeit, 2010

70 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Soziokultureller Hintergrund
1.2 Die Rolle der Frau in Tremblays Werk

2. Ursachen des Gefangenseins
2.1 Familie
2.1.1 Geschlechterrollen
2.1.1 Ehe
2.1.2 Kinder
2.1.3 Liebe
2.2 Kirche
2.2.1 Sexualmoral
2.2.2 Armut
2.3 Sprache
2.3.1 Joual
2.3.2 Kommunikationsprobleme

3. Folgen des Gefangenseins
3.1 Unbewusste Auswirkungen
3.1.1 Individuelle Entfremdung
3.1.2 Gesellschaftliche Entfremdung
3.2 Reaktionen der Frauen
3.2.1 Resignation / Kompensation
3.2.1.1 Resignation
3.2.1.2 Ausgleichshandlungen
3.2.1.3 Abhängigkeiten
3.2.2 Märtyrertum
3.2.2.1 Marie-Louise
3.2.2.2 Manon
3.2.3 Rebellion
3.2.3.1 Pierrette
3.2.3.2 Albertine
3.2.4 Befreiung
3.2.4.1 Carmen

4. Schluss

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Michel Tremblay wird 1942 in Montréal geboren. Er wächst in der ‚rue Fabre’ im Arbeiterviertel des ‚Plateau Mont-Royal’ auf. Gleich drei Familien teilen sich eine Wohnung und so wird Michel quasi von sechs Frauen aufgezogen: „Ce cocon féminin a influencé son enfance, son tempérament et son œuvre littéraire.“[1] Natürlich ist seine Mutter Rhéauna dabei die wichtigste weibliche Bezugsperson. Mit ihr an seiner Seite hätte er gern sein gesamtes Leben verbracht, schreibt er später.[2] Aufgrund ihres starken Übergewichts hat sie jedoch mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Ihren Sohn nimmt das sehr mit:

J’ai l’impression qu’elle se dessouffle, qu’elle perd son énergie d’un seul coup, qu’elle vient de faire un autre petit pas vers la mort, et les larmes me montent aux yeux sans que je puisse les retenir. Elle s’en rend compte, soupire. ‘Tu te mettras pas à brailler pour une petite faiblesse!’ Avant sa maladie, nos discussion pouvaient durer des heures; nous prenions tous les deux un malin plaisir à trouver le bon argument qui assassinerait ceux de l’autre, nous ressortions notre bonne vieille mauvaise fois quand la bonne foi et la sincérité s’avéraient sans effet, nos chicanes avaient du souffle, de la grandeur, nos engueulades, en un mot, étaient belles.[3]

Diese tiefgreifende Erfahrung seine Mutter langsam schwächer und schließlich sterbend zu sehen, bringt Tremblay auch dazu, in die Fußstapfen des Vaters zu treten und in einer Druckerei zu arbeiten. Indem er einen ‚vernünftigen’ Beruf ergreift, möchte er seine Mutter beruhigen. Doch bereits kurz nach seinem Eintritt in die ‚Imprimerie Judiciaire’ verstirbt Rhéauna. Die Erinnerung an sie und seine Kindheit pflegt Michel Tremblay bis heute[4] in seinen literarischen Werken. Er ist aufmerksamer Beobachter und Zuhörer familiärer Gespräche und nutzt dies als Quelle vor allem für seine frühen Stücke und Erzählungen. Die Arbeit als Drucker lässt er schon bald hinter sich und widmet sich ausschließlich der Literatur. Seine erste Veröffentlichung wird das Drama „Le train“ (1959), das ihm einen von Radio-Canada verliehenen Preis einbringt. Der große Durchbruch lässt zunächst auf sich warten. Das spätere Erfolgsstück „Les Belles-Sœurs“ stößt beim ’Dominion drama festival’ 1966 auf Ablehnung, bevor es zwei Jahre darauf dank der Unterstützung vieler Künstlerfreunde doch noch die Theaterbühne erobert:

Pièce sans intrigue, sans homme, presque sans dialogue, fondée sur les monologues parallèles et le chœur, ‘Les Belles-Sœurs’ est une comédie absurde, tragique. Quinze femmes s’entredéchirent en collant un million de timbres-primes.[5]

Der Fokus der ‚Tragik-Komödie’ liegt also nicht auf der Handlung. Vielmehr porträtiert Tremblay Leben und Geisteshaltung der Frauen des montrealer Arbeitermilieus im Quebec der 60er Jahre. Besonders aufsehenerregend ist dabei die Verwendung einer verschriftlichten Form des so genannten Joual. Auf die Charakteristika dieses Soziolekts gehe ich im Verlauf der Arbeit unter Punkt 2 ein. In den folgenden Stücken greift Tremblay immer wieder Figuren der ihm vertrauten Umgebung auf. Im Jahr 1974 zieht er innerhalb Montreals um, und zwar ins frankophone Nobelviertel Outremont. Auch dort übt er sich in scharfsichtiger Beobachtung. Sechs Jahre später erscheint das Ergebnis davon in „L’impromptu d’Outremont“. Darin kritisiert und verurteilt er die Arroganz der Bourgeoisie.[6]

Nach zahlreichen dramatischen Werken widmet sich Tremblay seit Ende der 70er Jahre vermehrt dem Roman. Mit den beiden Serien „Chroniques du Plateau Mont-Royal“ und „Le Gay savoir“ kann er an seine Erfolge als Bühnenautor anknüpfen. Daneben ruht aber die Theaterproduktion nicht. Für meine Arbeit relevant ist vor allem „Albertine en cinq temps“ (1984), da die Titelheldin bereits in seinem Frühwerk „En pièces détachées“[7] auftaucht und sich so ein vollständigeres Bild der Persönlichkeit erschließen lässt. Gleiches gilt für die weibliche Hauptfigur aus „Le vrai monde?“, Madeleine, die in „Albertine en cinq temps“ als Schwester von Albertine präsentiert wird.

Wie die Theatertitel und Tremblays eigene Biographie vermuten lassen, beschäftigt sich der Autor literarisch primär mit dem weiblichen Geschlecht. Von Kindesbeinen an erlebt er Frauen, die über Männer, Probleme und die Gesellschaft diskutieren, und für jene möchte er Sprachrohr sein.[8] Viele Faktoren führen dazu, dass sie ihr Leben als determiniert empfinden. Gefangen in einem eng umrissenen Rollenbild, resignieren sie darüber oder versuchen sich zu befreien. Einleitend werde ich auf die Merkmale der quebecer Gesellschaft, so wie sie sich zur Mitte des vorigen Jahrhunderts darstellt, eingehen. Es folgt ein Abschnitt, in dem ich ausführlicher auf die Rolle in Tremblays dramatischem Werk zu sprechen komme. Unter Punkt 2 untersuche ich dann die komplexen Ursachen des Gefangenseins. Die Folgen dieses beklemmenden Gefühls schlagen sich auf verschiedenen Ebenen nieder. Daher unterteile ich den dritten Punkt in unbewusste Entwicklungen, die aus der sozialen Enge resultieren, und direkte Reaktionen. Auch letztere sind den Figuren nur mehr oder minder bewusst, doch stehen sie in unmittelbarerem Zusammenhang zum „glass cage“[9]. Der überwiegende Teil der Tremblay’schen Frauen verzweifelt daran und entwickelt teilweise sogar krankhafte Störungen wie Alkoholsucht. Einige lehnen sich gegen die starren Strukturen auf, doch nur den Wenigsten ist wahre Freiheit vergönnt. Diese erfordert einen harten Kampf mit sich und der Umwelt.

Zur Untersuchung von Gefangensein und Befreiung der Frau in Tremblays Werk ziehe ich sieben Stücke des ‚Belles-Sœurs’- Zyklus[10] sowie „L’Impromptu d’Outremont“, „Albertine en cinq temps“ und „Le vrai monde?“ heran.

1.1 Soziokultureller Hintergrund

Die frankokanadische Provinz trägt seit 1759 eine Last, die die Mentalität der Bewohner nachhaltig geprägt hat. Die Eroberung Quebecs durch die Briten und die folgende anglophone Vormachtstellung haben eine Art Minderwertigkeitskomplex hervorgerufen. Bis ins 20. Jahrhundert entwickelte sich der französischsprachige Teil Kanadas immer langsamer als die übrigen Provinzen. Auch die katholische Kirche, die von den Quebecern als identitätsstiftend angesehen wurde, verherrlichte das Bauernleben und verhinderte Modernisierungsprozesse. Der patriarchalisch regierende Premierminister Maurice Duplessis, der zwischen 1936 und 1959 mit nur fünf Jahren Unterbrechung als Oberhaupt der Provinz fungierte, verstärkte die Rückständigkeit. Als ‚Grande Noirceur’ geht die Epoche unter seiner Führung in die Geschichtsbücher ein. Wenn diese Titulierung auch plakativ und undifferenziert ist, so unterstreicht sie doch den von Duplessis vertretenen Traditionalismus und Nationalismus. Besonders mit seinen Bestrebungen für ein eigenständiges Quebec bereitet er der ‚Révolution tranquille’ den Weg. Doch tut er dies auch im negativen Sinn, indem er vor allem das Bildungswesen vernachlässigt und so die sozialen Probleme bestehen bleiben: „[L]es Canadiens-français représentent encore des citoyens de seconde zone sur leur propre territoire […].“[11] Zwar wandern sie zunehmend vom Land in die Stadt, aber aufgrund ihres niedrigen Ausbildungsstands übernehmen sie einfache Arbeiterjobs. Zudem beherrschen sie nicht die Sprache der wirtschaftlichen Oberschicht, nämlich Englisch. Daher werden die frankophonen Quebecer, überspitzt formuliert, als weiße Neger bezeichnet.[12]

In der Ära nach Duplessis findet mehr und mehr ein Umdenken statt. Symbolisiert wird dies vor allem durch den ‚Refus global’. Dieses Manifest vom Künstler Borduas prägt das Quebec der 50er Jahre ungemein. Darin lehnt sich Borduas, und mit ihm die gesamte Gruppe der ‚Automatistes’ gegen das verknöcherte System der Provinz auf:

Rejetons de modestes familles canadiennes-françaises, ouvrières ou petites bourgeoises, de l'arrivée du pays à nos jours restées françaises et catholiques par résistance au vainqueur, par attachement, arbitraire au passé, par plaisir et orgueil sentimental et autres nécessités.[13]

So beginnt die programmatische Schrift. Im Verlauf betitelt Borduas die Quebecer immer wieder als „petit peuple“[14], das seinen Minderwertigkeitskomplex überwinden und endlich Verantwortung übernehmen muss.[15] Ab 1960 dann finden die Erneuerungsbestrebungen in der so genannten Stillen Revolution ihren Niederschlag. Das bedeutet, dass die Umwälzungen vielschichtig und grundlegend sind, jedoch unblutig verlaufen. Sie betreffen „la modernisation des grands secteurs de la vie publique: économie, éducation, culture, services sociaux […].“[16] Insbesondere die Säkularisierung und Industrialisierung der Provinz bilden das erklärte Ziel der neuen liberalen Regierung unter Jean Lesage. Außerdem wird der Ruf nach Autonomie immer lauter. Die Frankokanadier besinnen sich auf ihre kulturelle Identität und die Beziehungen zum ehemaligen Mutterland Frankreich verbessern sich. Charles de Gaulle hat das Seinige dazu beigetragen, als er 1967 anlässlich des montrealer Expobesuchs verkündete: „Vive le Québec libre!“. Das Bemühen um Unabhängigkeiten mündet in zwei Referenden, in denen sich die Bevölkerung 1980 und 1995 knapp dagegen ausspricht. Es entwickelt sich zudem die terroristische Gruppe FLQ[17], die bis 1970 mehrere anglophone Politiker und Diplomaten tötet.

Tremblays erste literarische Veröffentlichungen fallen in die Zeit der Stillen Revolution. Sein Werk repräsentiert das damalige Quebec. Das so positiv gezeichnete Bild von der neuen Epoche beäugt er allerdings kritisch. Seine Figuren entstammen fast ausnahmslos[18] dem Arbeitermilieu und können kaum an den gesellschaftlichen Veränderungen partizipieren. Die traditionellen Strukturen sind nach wie vor in ihren Köpfen; allein eine Revolution richtet dagegen nichts aus. Gerade das Schicksal der Frauen rückt ins Zentrum des Interesses Michel Tremblays. Ihnen möchte er eine Stimme geben.

1.2 Die Rolle der Frau in Tremblays Werk

Michel Tremblay räumt dem weiblichen Geschlecht die zentrale Stellung in seinem Werk ein. Es ist sein Anliegen, den bestehenden Mangel an Protagonistinnen in der quebecer Literatur auszugleichen.[19] Abgesehen von Marcel Dubé (*1930), der in „Florence“ eine Frau und deren Streben nach Emanzipation in den Mittelpunkt rückt, beherrscht die männliche Sicht das literarische Schaffen der meisten Autoren. Dabei, so wird stets konstatiert, glänzen die Männer der Provinz eher mit Abwesenheit.[20] Die Arbeit beansprucht sie tagsüber und abends treffen sie sich gern auf ein paar Bier mit Freunden. Ihre Frauen kümmern sich derweil um Haushalt und Kinder. Erwartet der Leser nun, dass Tremblay seine Heldinnen als liebevolle und fürsorgliche Mütter darstellt, wird er enttäuscht: [L]es femmes […] ne sont ni charitables, ni, pour la plupart, aimables.“[21] Das beste Beispiel dafür sind die ‚Belles-Soeurs’. Die Frauen des gleichnamigen Theaterstücks veranschaulichen des damals in Quebec vorherrschenden Typus; unterprivilegiert und ohne Berufsausbildung fristen sie ihr Dasein im streng umgrenzten Lebensbereich ihrer vier Wände. Diese physische Enge reflektiert das innere Befinden:

As these fifteen women were confined - - intellectually, emotionally, and sexually - - Quebec too was confined, subject to bondage which had developed and been internalized as generations of individuals abandoned personal freedom.[22]

Das Schicksal der Frauen kann also als exemplarisch für die gesamte Provinz gedeutet werden. Die Unterdrückung, die Quebec durch die anglophone Mehrheit auf dem Kontinent und die strenge Führung der katholischen Kirche erfahren musste, hat seine Einwohner geformt, wenngleich auch einzuschränken ist, dass es sich bei Tremblays Werken natürlich um literarische Fiktion und nicht um getreue Abbildung Wirklichkeit handelt. Tremblay strebt nicht nach naturalistischer Wiedergabe: „[W]hat matters for him is the re-creation of brute reality, its transposition into art.“[23] Die schonungslose Darstellung soll den Zuschauern die Augen öffnen und erklärt die wenig sympathischen Frauengestalten. Diese sind keineswegs Zeichen der Tremblay zum Teil unterstellten Misogynie. Vielmehr möchte der Autor die Ursachen und Zusammenhänge herausstellen, die für die Frustration und Missgunst der Frauen verantwortlich sind. Mehr oder weniger deutlich empfinden sie alle eine innere Leere; sie sind einsam und zutiefst unglücklich. Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung werden durch gesellschaftliche Faktoren begrenzt. Das daraus entstehende Gefühl des Gefangenseins möchte ich nun näher untersuchen und die genauen Gründe dafür ausmachen.

2. Ursachen des Gefangenseins

Der Nährboden der weiblichen Unterdrückung liegt in den Grundfesten dessen, was die quebecer Gesellschaft ausmacht. Die drei Eckpfeiler der frankophonen Provinz bilden Familie, Religion und Sprache. Das herausragende Verdienst dieser drei besteht darin, dass sie das Überleben der aus Frankreich kommenden Minderheit auf dem nordamerikanischen Kontinent sicherstellten. Dank des extrem starken Kinderreichtums[24], der identitätsstiftenden und normierenden katholische Kirche sowie des distinktiven Elements schlechthin, nämlich der französischen Sprache, scheiterten sämtliche Assimilationsbestrebungen der britischen Krone. Tremblay gesteht diesen Grundwerten zwar ihre kapitale Bedeutung zu, doch entlarvt er ebenfalls ihren Anteil am Gefühl des Gefangenseins, das insbesondere die Frauen prägt. Sie haben nicht nur leitende Funktion, sondern zwängen die Menschen durch vorgegebene soziale Rollenmuster auch ein.[25]

2.1 Familie

Viele der Stücke Tremblays kreisen hauptsächlich um das Thema Familie.[26] Innerhalb dieses umgrenzten Kosmos werden grundsätzliche soziale Entwicklungen in Quebec erkennbar. Die Allgemeingültigkeit des Schicksals der Familie für die gesamte Gesellschaft manifestiert sich in dem berühmten Stück „Les Belles-Soeurs“: die 15 Frauen sind bis auf wenige Ausnahmen nicht verwandtschaftlich verbunden sondern Schicksalsgenossinnen. Familie im weiteren Sinne steht also dafür, dasselbe Los zu teilen.

In den Augen Michel Tremblays ist die Familie von all dem beraubt, das sie eigentlich ausmacht. Es besteht nahezu keine emotionale Bindung zwischen den einzelnen Mitgliedern; die Strukturen der Großfamilie sind zerfallen. Den Mythos vom idyllischen Familienleben, das es in der Realität längst nicht mehr gibt, möchte Tremblay auch literarisch zerstören: „My own intention was to put a bomb in the Quebec family, to fill it full of explosives and blow it to bits […].[27] Für Tremblay ähnelt die Familie mehr einer Gefängniszelle und dieser Gedanke findet sich literarisch umgesetzt im Munde einer seiner bekanntesten Frauenfiguren, Marie-Louise:

Nous autres, quand on se marie, c’est pour être tu-seul ensemble. Toé, t’es tu-seule, ton mari à côté est tu-seul, pis tes enfants sont tu-seuls de leur bord…Pis tout le monde se regarde comme chien et chat…Une gang de tu-seuls ensemble, c’est ça qu’on est![28]

Leere Blicke werden ausgetauscht; jeder lebt sein Leben für sich, ohne Anteil an dem des anderen zu nehmen. Es besteht lediglich räumliche Nähe zwischen den einzelnen Familienmitgliedern. Dies zeigt sich auch im Bühnenbild. Die Küche, der traditionelle Familientreffpunkt, wird zu einer „cellule restreinte et opprimante“[29]. In den „Belles-Sœurs“ zwängen sich die eingeladenen Frauen in die enge Küche Germaines und es spielen sich Szenen ab, die von Neid, Hass und Ignoranz durchsetzt sind.[30] Ebenso wird das Wohnzimmer seiner heimeligen Atmosphäre beraubt und fungiert stattdessen als Raum, in dem jeder vor dem Fernseher vor sich hin vegetiert. Anstelle eines ruhigen und entspannten Miteinanders finden im Wohnzimmer Streitgespräche statt, so beispielsweise in „En pièces détachées“. Die so genannten ‚chicanes’ sind beinahe der einzige Austausch. Jeder kämpft gegen den anderen, um die eigene Schwäche zu verschleiern. Im Sinne von ‚Angriff ist die beste Verteidigung’ gehen sie aufeinander los. In „Bonjour, là, bonjour“ wird dies besonders deutlich. Gilberte beschwert sich über Charlotte: „Chus pus capable de l’endurer, elle. […] À prend toute la place dans le litte, pis à ronfle comme un troupeau de bœufs, pis à tousse toute la nuitte, pis à se lève cinquante fois pour aller pisser, pis à crache pendant des heures.”[31] Darauf kontert Charlotte sogleich:“À l’appelle tout le monde dans’ famille pour se plaindre de moé. […] [C]’est moé qui donne le plus d’argent, ben qu’y m’endurent!”[32] In der Familie, so wie sie Tremblay sieht, dienen die jeweils anderen schlicht dazu, als Sündebock herzuhalten. So pervertiert stellt die Familie ein Hindernis für die persönliche Freiheit eines jeden da. Sollte sie Kraft und Halt geben, bringt sie in dieser Form nur Leid und Kummer.

Auch der Alltag des Familienlebens wird von den Figuren als unerträglich wahrgenommen. Jedoch weniger aufgrund der vielen Streitereien, sondern vielmehr wegen seiner Eintönigkeit und Härte. Das ‚maudite vie plate’ läuft, wie folgt, ab:

J’me lève, pis j’prépare le déjeuner. Toujours la même maudite affaire! Des toasts, du café, des œufs, du bacon […] J’travaille, j’travaille, j’travaille. Midi arrive sans que je le voye venir pis les enfants sont en maudit parce que j’ai rien préparé pour le dîner. […] J’travaille toute l’après-midi, le souper arrive, on se chicane. Pis le soir, on regarde la télévision! […] Pis le jeudi pis le vendredi, c’est la même chose! […] Le samedi, j’ai les enfants par-dessus le marché! Pis le soir, on regarde la télévision! […] Chus tannée de mener une maudite vie plate![33]

Zwar ist diese Äußerung in der Ich-Form verfasst, jedoch reden hier fünf Frauen gleichzeitig. Dieser Chor von Frauen benennt das, was die Realität vieler Mütter in Quebec ist. Die Monotonie wird durch die zahlreichen Wiederholungen hervorgehoben.

In dem Zitat sticht außerdem hervor, wie wenig sich die Frauen mit ihrem Tun identifizieren, wie wenig Sinn sie in allem sehen. Man kann eher davon sprechen, dass sie aus einem gesellschaftlichen Zwang heraus agieren. Dieser bringt sie dazu, genau die Strukturen zu unterstützen, die ihnen eigentlich so verhasst sind.[34] Sie machen, was von ihnen erwartet wird, beschweren sich über dieses Joch, doch denken nicht an Verweigerung oder Ausbruch. Letztlich entspricht ihr Leben ja äußerlich betrachtet dem „traditional ideal of the family, which supposes a woman’s devotion to her sacred duties as wife and mother.“[35] Das heißt, aus der Perspektive eines anderen Schriftstellers könnte der Alltag der ‘Belles-Sœurs’ als kleines Paradies geschildert werden.[36] Diese Auffassung erinnert an Madeleine, die Schwester Albertines. In „Albertine en cinq temps“ bekundet sie Zufriedenheit über ihr Leben, das von ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter bestimmt ist:

Mon bonheur est peut-être un ben p’tit bonheur, ben insignifiant, ben plate, mais…(Silence). C’est drôle, hein, j’veux pas le savoir. J’pense…que j’aime mieux un p’tit bonheur médiocre qu’un grand malheur tragique.[37]

Einige Punkte sind zu diesem Zitat anzumerken. Erstens muss hinterfragt werden, wie aufrichtig die Aussage von Madeleine ist beziehungsweise ob ihr ‚bonheur médiocre’ nur Fassade ist. Das würde bedeuten, dass sich bei Tremblay keine Frauenfigur der ’Belles-Sœurs’-Generation auftaucht, der Glücklichkeit beschieden ist. Zweitens bleibt festzuhalten, dass trotz Madeleines vermeintlicher Zufriedenheit der Großteil der Tremblay’schen Frauen über ihr Schicksal klagen. Das kann mit dem klassischen Rollenbild zusammenhängen, mit dem sie sich nicht identifizieren, dem sie aber aus Gründen der gesellschaftlichen Akzeptanz zu entsprechen suchen. Aus diesem Grund möchte ich einen Überblick über das damalige Rollenverständnis in Quebec geben und an Beispielen aus Tremblays Werk verdeutlichen. Die Kenntnis der sozialen Rolle von Mann und Frau dient als Basis für das Begreifen der Mechanismen innerhalb der Familie.

2.1.1 Geschlechterrollen

Bezüglich der sozialen Rolle der Frau in Quebec zitiere ich einleitend eine Aussage Henri Bourassas (1868-1952), quebecer Politiker und Journalist, zum Thema Frauenwahlrecht. Er warnt vor der „femme-électeur, qui engendrera bientôt la femme-cabaleur[…], enfin, pour tout dire en un mot : la femme-homme, le monstre hybride et répugnant qui tuera la femme-mère et la femme-femme.[38] Bourassa schreibt dies 1918 in der Zeitung ‘Le devoir’. Während er hier noch zwei Frauentypen für wünschenswert hält, nämlich die ‚femme-femme’ sowie die ‚femme-mère’, wird er zwei Tage später in einem weiteren Artikel deutlicher: „La principale fonction de la femme est et restera — quoi que disent et quoi que fassent, ou ne fassent pas, les suffragettes — la maternité, la sainte et féconde maternité […].”[39] Damit spricht er aus, was bereits seit über 200 Jahren in der frankokanadischen Provinz Realität ist: die Frau ist in erster Linie Mutter. Eine besondere Bedeutung erhält diese Rolle in Quebec, da nur so die so genannte ‚survivance’ gelingen konnte.

Between 1750 and 1950, when the population in Europe quadrupled, the population in Quebec increased by a factor of eighty, giving French Canadians the votes needed to help balance the influx of English-speaking immigrants in Canada.[40]

Diese erfolgreiche Taktik ging als ‚Revanche des berceaux’ in die Geschichte ein. Daraus erklärt sich auch Bourassas Einsatz gegen ein Wahlrecht für Frauen. Nur wenn die Frau in ihrer traditionellen Rolle verhaftet bleibt, wird es die frankokanadische Großfamilie weiterhin geben. Auf diese Weise sind das Bestehen und das politische Gewicht der ‚Québécois’ gesichert. Es verwundert daher nicht, dass sich noch bis in die 50er des 20. Jahrhunderts an der Situation der Frau kaum etwas verändert. Dem Mann untergeordnet, hat sie sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. Erst im Zuge der Stillen Revolution setzt ein Umdenken ein. Die Gleichstellung der Frau schreitet voran, indem beispielsweise mehr und mehr Frauen arbeiten oder sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, das ihnen offiziell schon seit 1940 zusteht, etc.

Die Abhängigkeit der Frau bedeutet auf der anderen Seite die Dominanz des Mannes. Vor allem während der Duplessis-Ära ist dies zu beobachten. Politik und Kirche sind eng miteinander verwoben und zudem reine Männerdomänen: „Le mâle est donc tout puissant.“[41] Somit stellt sich Quebec als eine klar patriarchalisch organisierte Gesellschaft dar, die das so genannte klassische Rollenmodell favorisiert.

Soweit zum historischen Hintergrund. Doch wie sieht und gestaltet Tremblay die Rolle von Mann und Frau in seinen Stücken? Nehmen wir Marie-Louise. Sie entstammt einer Familie mit 14 Kindern, wie es damals typisch war. Sie selbst hat ‚nur’ zwei Kinder, wie auch Albertine; Germaine und einige andere ‚Belles-Sœurs’ haben sogar nur eins. Dennoch sind sie alle weiterhin Hausfrau und Mutter. Lediglich Albertine arbeitet später, was jedoch einhergeht mit der Aufgabe ihrer Familie. Kinder und Beruf bleiben für diese Generation folglich unvereinbar. Gefesselt an Haus und Mutterrolle, drehen sich die Gespräche der Frauen auch nur um das Leben zwischen Küche und Kinderzimmer. Germaine ist euphorisiert beim Gedanken an die Neuausstattung ihres Hauses, die mit den Prämienpunkten möglich wird: „J’vas toute meubler ma maison en neuf! Attendez…Où c’est que j’ai mis le cataloye… […] j’vas toute avoir c’qu’y’a d’dans!”[42] Das Haus ist ihr kleiner Kosmos und so wird die Aussicht auf neue Möbel zum höchsten Glück. Tremblay überspitzt die Situation noch, als er Germaine von der Notwendigkeit eines größeren Hauses sprechen lässt, um alle gewonnenen Möbel unterbringen zu können.[43] Die Begeisterungsstürme der Hausherrin werden ins Lächerliche gezogen. Es tritt klar hervor, dass physische Enge, in Form der Beschränkung auf das Eigenheim, geistige Enge nach sich zieht.

Ein weiterer Aspekt, der die soziale Rolle der Frau ausmacht, liegt in der Abhängigkeit vom Mann. Das gilt zum einen in wirtschaftlicher Hinsicht, da die Frau kein eigenes Geld verdient, zum anderen aber auch in Hinblick auf die gesellschaftliche Akzeptanz. Dennis beschreibt Quebec dies betreffend als „a society where unmarried women over thirty do not exist.”[44] Pierrette ist ein Beispiel für eine Frau, die nicht den von der Gesellschaft vorgezeichneten Weg eingeschlagen hat, und nun selbst von ihrer eigenen Familie nicht mehr akzeptiert wird. Sie ist unverheiratet, kinderlos, lebt und arbeitet auf der ‚Main’. Laut Simone de Beauvoir wird dieser Lebenswandel in Nordamerika besonders kritisch gesehen: „Une femme seule, en Amérique plus encore qu’en France, est un être socialement incomplet, même si elle gagne sa vie; il faut une alliance à son doigt pour qu’elle conquière l’intégrale dignité d’une personne […]."[45] Ebenso abschätzig reden die ‚Belles-Sœurs’ über junge Mütter. Die Tochter einer Nachbarin ist schwanger. Rose hat kein Verständnis dafür und findet, das Mädchen hätte es darauf angelegt: „J’sais pas si vous vous rappelez de ses shorts rouges…y’étaient short all right! […] Ça l’a le yable au corps, c’te fille-là!“[46] Selbst die jüngeren anwesenden Frauen, Linda und Lise, sind sich bewusst darüber, welches Verhalten von ihnen gefordert wird. Deshalb sieht Linda zunächst eine Heirat als mögliche Lösung für das Problem von Lise, die ungewollt schwanger ist.[47] Die beiden Mädchen wissen um die Schwierigkeiten, allein ein Kind großzuziehen, so wie eine gewisse Manon Bélair zum Beispiel: „Astheur est pris avec un p’tit sur les bras pis a’n’arrache sans bon sens!“[48], stellt Lise fest. Noch zu Zeiten der Stillen Revolution kennt die Quebecer Gesellschaft nur eine erstrebenswerte Rolle für das weibliche Geschlecht, und zwar die der verheirateten Frau mit Kindern. Als nicht weniger streng definiert erweist sich die Rolle des Mannes.

Wie die Frau in erster Linie als Mutter fungiert, tut es der Mann als Vater. Das bedeutet für ihn zunächst, sich um das materielle Wohl der Familie kümmern zu müssen. Dieser Verantwortung ist sich Léopold, der Mann von Marie-Louise, wohl bewusst: „Tu le sais combien que je fais par semaine à suer comme une crisse en croix en arrière de ma crisse de machine pour vous faire vivre!"[49] Léopold beschreibt seine Arbeit als schwer (‚suer’) und ihm zutiefst verhasst (‚crisse de machine’). Ihm fehlt der Bezug zu dem, was er tut. Damit greift Tremblay ein klassisches Dilemma auf, nämlich das der Entfremdung von der Arbeit durch Maschinen. Léopold formuliert dies so: „Dans vingt ans, mon p’tit gars, c’est pas toé, c’est ta machine qui va prendre sa retraite! Chus spécialisé!"[50] Hinzu kommt, dass er sich auch mit seiner Familie nicht identifiziert (‘vous’ im vorletzten Zitat). Er hat vielmehr das Gefühl, dass sein Beitrag für die Familie nicht von ihr anerkannt würde. Ganz im Gegenteil: „Cinq minutes pis y te reste pus une crisse de cenne noire dans tes poches […].“[51] Léopold fühlt sich ausgenutzt und obendrein noch beschimpft.[52] Die harte Arbeit hat also nicht einmal einen Sinn bzw. keinen, der für Léopold persönlich bedeutsam wäre. Er versucht lediglich dem zu entsprechen, was seine Rolle ihm vorgibt. Um die Situation aushalten zu können, flieht er sich in eine Bar zu seinen Freunden. Doch auch diese ‚Freude’ ist getrübt: „J’en n’ai pas, de chums…J’m’assis toujours tu-seul dans mon coin…à une table vide…"[53] Erniedrigt von Arbeit und Familie, flüchtet sich Léopold in den Alkohol. In all diesen Aspekten steht Léopold exemplarisch für den quebecer Mann, der seine Familie ernährt, doch schon lang nicht mehr deren Oberhaupt ist: „[L]e concept d’un père de famille viril […] disparait […].“[54] Das sichtbarste Zeichen für den Verlust der Rolle ‚Familienvater’ ist die Abwesenheit der Männer bei Tremblay: „Y’a pas d’hommes au Québec.“[55] Die Männer sind arbeiten oder in der Kneipe, jedoch kaum zu Hause. Dies ist zumindest für Michel Tremblay eine klare Tatsache. Aus diesem Grund tritt beispielsweise in „Les Belles-Sœurs“ kein einziger Mann auf.

Als Verbindung zwischen Mann und Frau bleibt nur noch das gemeinsame Los, und zwar das von „prisonniers d’une société qui les enferme dans des rôles traditionnels.“[56] Im Weiteren konzentriere ich mich wieder auf die Analyse des weiblichen Schicksals. Die beschriebene Rolle der Frau wirkt sich besonders stark auf die Bereiche ‚Ehe’ und ‚Kinder’ aus, auf die ich nun näher eingehen möchte.

2.1.2 Ehe

Simone de Beauvoir beschreibt den Stellenwert, den die Ehe für die Frau hat, sehr treffend: „[P]our les jeunes filles le mariage est le seul moyen d’être intégrées à la collectivité […].“[57] Nur leicht muss diese Aussage in Bezug auf Tremblays Darstellung abgeschwächt werden. Rhéauna Bibeau und Angéline Sauvé können als Beispiele von Frauen herangezogen werden, die auch ledig von der Gemeinschaft Akzeptanz finden. Wirkliches Ansehen genießen hingegen andere. Eine Heirat gehört nicht nur zum guten Ton, nein, für viele der Frauenfiguren stellt sie der einzige Hoffnungsschimmer auf sozialen Aufstieg dar. Marie-Louise spricht dies frei aus: „Pis tu rêves de t’en sortir, quand t’es jeune, pour pouvoir respirer ailleurs…“[58] Dabei ist ‘s’en sortir’ der Schlüsselbegriff, welcher immer ein Herauskommen aus der Armut und der damit verbundenen Enge meint. Die Frauen denken dabei nicht an die Erweiterung des geistigen Horizonts. Dass sie sich davon nicht befreien kann, stellt Marie-Louise im Laufe des Stückes zur Genüge unter Beweis.[59]

Mit ihren Erwartungen an die Ehe steht Marie-Louise nicht allein da. Hervorgehoben wird dieser Umstand in Form des Sprechens in der zweiten Person im Gegensatz zum personengebundenen ‚ich’: „[T]u rêves de t’en sortir, quand t’es jeune, pour pouvoir aller respirer ailleurs…Esprit! Pis tu pars…pis tu fondes une nouvelle cellule de tu-seuls…“[60] Immer wieder bekräftigte auch Tremblay selbst, dass er Prototypen der quebecer Gesellschaft in „À toi, pour toujours, ta Marie-Lou“ geschaffen hat.[61] Die an Léopold gestellten Forderungen scheinen zwar überspitzt, dennoch sind sie üblich zu jeder Zeit. Da es sich für die Frau nicht schickt, zu arbeiten, kann sie ihre materiellen Bedürfnisse nur an ihren Ehemann knüpfen. Was jedoch die Situation in Quebec betrifft, die hier portraitiert wird, so ist sie dergestalt, dass die Erwartungen nur enttäuscht werden können. Zum einen erreicht kaum ein Frankokanadier damals finanziellen Wohlstand aufgrund der starken Einkommensbenachteiligung gegenüber den anglophonen Arbeitern.[62] Zum anderen erfahren auch die Charaktere Tremblays, dass Geld allein nicht glücklich macht. Aber in einer Epoche, in der Institutionen wie die Kirche keine glaubhaften Wertmaßstäbe mehr vorgeben, entsteht das Bedürfnis nach einfachen, glückbringenden Formeln. Bitter enttäuscht werden demnach auch all jene, die eine so genannte gute Partie gemacht haben. Lucienne ist das beste Beispiel dafür. Sie plant ihr Leben minutiös. An erster Stelle steht dabei eine vorteilhafte Heirat, und die selbstredend mit einem Anglokanadier und nicht „avec un p’tit crotté de Canadien français qui [lui] donnerait des enfants complexés […].“[63] Neben dem finanziellen Wohlstand geht es Lucienne also auch darum, dem Minderwertigkeitskomplex zu entkommen, der die Frankokanadier seit der ‚Conquête’ begleitet. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sie ihren jetzigen Mann jahrelang während dessen Medizinstudiums ausgehalten, denn sie wusste, dass sich ihr „investissement“[64] lohnen würde. Einzig die Natur ließ sich nicht planen und so bekam sie drei, statt der geplante zwei Kinder.[65] Nicht zuletzt hier wird die Absurdität ihrer Lebensplanung offenbar. Lucienne meint also, dass sich mit einem reichen Mann und drei Kindern ihr Traum erfüllt hätte. Ihr ist nicht bewusst, dass sie damit nur ihrer sozialen Rolle entspricht. Zwar gelang ihr die Flucht aus der Armut, doch geistig blieb sie den Traditionen verhaftet. Sie glaubte nur selbstbestimmt zu handeln, indem sie ihr Leben plante. Daraus resultiert, dass sie genauso unglücklich ist, wie die anderen Frauenfiguren. Das, was vermeintlich als „reáliser ses rêves“[66] gilt, entspricht gar nicht dem, was sie will. So stellt sie erschüttert fest: „Ça m’intéresse pas, les enfants. Ça m’a jamais intéressé."[67]

Das Problem zieht sich durch alle Schichten. Die Frauen aus der Bourgeoisie, die Tremblay in „L’impromptu d’Outremont“ portraitiert, leben mit dem gleichen Gefühl des Gefangenseins wie die ‚Belles-Soeurs’. Im Gegensatz zu diesen, haben die Schwestern aus dem besseren Stadtteil Montreals, Outremont, Bildung genossen, letztlich sollten sie aber auch nur ein gute Partie machen. Fernande hat zwar standesgemäß geheiratet, doch klagt auch sie über ihren Mann, der zwar kein „écœurant“[68] ist, wie Marie-Louise ihren Mann gern bezeichnet, doch aber „bonasse et quelconque“[69]. Bemerkenswert ist, dass keine der Frauen eine Scheidung in Betracht zieht. Auch in diesem Punkt denken die Frauen ganz und gar traditionell: „[Elles] ne peuvent concevoir de se priver de la protection de leurs maris ou de s’émanciper de leur tutelle."[70] Madelaine gibt zu, dass sie mangels Alternativen bei Alex bleibt:

Oùsque j’irais, un coup divorcée? M’ennuyer ailleurs? Dans un appart miteux pour les pauvres folles comme moé qui auraient pas eu l’intelligence de se taire? Me trouver une job? J’sais rien faire d’autre que le ménage pis à manger![71]

Aus der Sicht von Madelaine wäre es also dumm, sich scheiden zu lassen. Sie wurde dazu erzogen, ihre Rolle als Hausfrau und Mutter auszufüllen. Und das ist alles, was sie kann. Da sie keinen Beruf erlernt hat, bedeutete die Trennung von Alex ein Leben in Armut.

Allein in der Fiktion besteht die Möglichkeit der Scheidung. Claude fingiert diese für seine Mutter, Madelaine II. Tremblay dokumentiert auf diese Weise wie starr die damaligen Gesellschaftsstrukturen noch sind, in denen eine geschiedene Frau praktisch nicht lebensfähig ist. Ein solches Lebensmodell existiert lediglich auf dem Papier.

Die Ehe, so wie sie Tremblay darstellt, lässt sich als reine Zweckgemeinschaft auffassen. Die Beziehung der beiden Ehepartner ist meist von Hass, genährt durch die enttäuschten Erwartungen, oder doch zumindest von Gleichgültigkeit geprägt. Wie es die Konventionen verlangen, entstehen Kinder aus diesen Verbindungen, auf die das Verhältnis starken Einfluss ausübt. Dieser soll im Folgenden eingehend betrachtet werden.

2.1.3 Kinder

Mangelnde Harmonie und Zuneigung kennzeichnete bereits die Beziehung der Eheleute und nicht anders verhält es sich in Bezug auf die eigenen Kinder. Ein eklatantes Beispiel dafür ist das Mutter-Tochter-Verhältnis zwischen Albertine und Thérèse. Unglücklich mit ihrem Leben und zur Alkoholikerin geworden, klagt Thérèse ihre Mutter an, sie nicht beschützt zu haben. Es war ein Fehler, ihren Mann Gérard zu heiraten, und Albertine hätte sie davor bewahren sollen:

Que c’est que t’as faite pour m’empêcher de marier c’te nouille-là? Rien! […] C’est de ta faute si on est toutes malheureux dans la famille. Si tu nous avais élevés comme du monde, j’aurais marié quelqu’un qui avait du bon sens […].[72]

Thérèse weist jede Schuld von sich und macht stattdessen ihre Mutter für die Lage der gesamten Familie verantwortlich. Ohne jeden Respekt betitelt sie Albertine als „bête“, „vulgaire“, „niaiseuse“ und „pas endurable“.[73] Diese reagiert ebenso schroff und gefühlskalt. Sie beschimpft ihre Tochter solange, bis diese aufgibt und unterwürfig meint: „J’méritais que tu me battes, que [Gérard] me batte, maman!“[74] Ihre Beziehung hat krankhafte und sadomasochistische Züge. Alle Familienmitglieder sind am Ende; keiner vermag den Teufelskreis zu durchbrechen. Thérèse wurde erst von ihrer Mutter geschlagen, nun von ihrem Mann und wird dies an ihre Tochter weitergeben. Tremblay illustriert hier das Problem des Erbes. Zwar gehört Thérèse nicht mehr der ‚Belles-Sœurs’- Generation an, wurde aber im Geiste dieser erzogen. Für die Frauen der Arbeiterklasse ist die Stille Revolution weit weg. Sie hat kaum Einfluss auf ihr Leben. So wirken sich auch die viel beschworene Freiheit und das Aufbrechen überkommener Strukturen nicht auf sie aus.

Welche Relevanz das Verhalten der Eltern für die Kinder hat, stellt auch Manon unter Beweis. Sie hat ihre Mutter zum Vorbild und will genauso unglücklich wie diese werden.[75] Dennis erklärt dieses Nacheifern mit dem Bedürfnis nach mütterlicher Liebe: „The evidence thus suggests that from childhood, Manon was unsure of her mother’s love, and conscious of the antagonism between her parents, she feared that her resemblance to Léopold would reduce Marie-Louise’s love for her.”[76] Hinzu kommt, dass Manon oft die Streitereien ihrer Eltern hört, in denen Marie-Louise ihrem Ehemann die Schuld für das Unglück der gesamten Familie gibt. Selbst zehn Jahre später kann sich Manon von den Geistern ihrer Kindheit nicht befreien und ist zum Abziehbild der verstorbenen Mutter geworden. Noch immer gibt sie überzeugt von sich: „J’avais réalisé qu’y nous rendait toutes malheureuses pis je l’haïssais…“[77] Manon übernimmt die Einstellung ihrer Mutter gegenüber Männern, ebenso deren Ängste und Komplexe: sie hasst Männer, hat ein gestörtes Verhältnis zu Sexualität und steigert sich in eine Religiosität ohne jeden Glauben. Das Gefängnis, aus dem Marie-Louise nicht ausbrechen konnte, ist nun auch das zu Hause ihrer Tochter. Dieser Kerker konkretisiert sich physisch im Haus der Eltern, das Manon zeitlebens nie verlassen wird. Und so konstatiert Carmen scharfsichtig: „Tu restes assis icitte, dans’cuisine, comme une prisonnière, pis tu penses à eux autres!"[78]

[...]


[1] Boulanger, Luc: Pièces à conviction. Entretiens avec Michel Tremblay. Montréal: Leméac 2001, S. 8.

[2] Vgl. Tremblay, Michel: Un ange cornu avec des ailes de tôle. Récits. Montréal: Leméac 1994, S. 107.

[3] Tremblay, Michel: Douze coups de théâtre. Récits. Montréal: Leméac 1993, S. 217f.

[4] 2006 beginnt Tremblay eine Romanreihe, in der er Herkunft und Kindheit seiner Mutter, einer geborenen Desrosiers, ergründen will.

[5] Mailhot, Laurent: La littérature québécoise. 2. édition revue. Paris: PUF 1975. (Que sais-je?. 1579.), S. 113.

[6] Vgl. Turbide, Roch: Michel Tremblay. Du texte à la représentation. Entretien. In: Michel Tremblay. Délégués du Panthéon au plateau Mont-Royal. Sillery: Les Presses de l'Université du Québec 1982, S. 224.

[7] In der von mir benutzten Ausgabe haben die Figuren noch andere Namen als in der aktuellen von 1994. Tremblay änderte über mehrere Ausgaben hinweg die Namen, einerseits um den Bezug zu eigenen Familienmitgliedern zu verwischen, andererseits aus Gründen der Übereinstimmung mit Charakteren der „Chronqies du Plateau Mont-Royal“. Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich ausschließlich die Namen, so wie sie in der Ausgabe von 1994 vorliegen.

[8] Vgl. Smith, Donald: Voices of deliverance. Interviews with Quebec & Acadian writers. Toronto: Anansi 1986, S. 207.

[9] Ebd. S. 227.

[10] „Les Belles-Sœurs“, „En pièces détachées“, „A toi, pour toujours, ta Marie-Lou“, „Trois petits tours“, „Bonjour, là, bonjour“, „Sainte Carmen de la Main“, „Damnée Manon, sacrée Sandra“

[11] Arino, Marc: L’apocalypse selon Michel Tremblay. Pessac: Presses universitaires de Bordeaux 2007, S. 169.

[12] Vgl. Kempf, Udo (Hrsg.): Quebec. Wirtschaft-Gesellschaft-Politik. 2., erweiterte Auflage. Hagen: ISL-Verlag 1999. (Kanada-Studien. 15.), S. 19.

[13] Borduas, Paul-Émile: Le refus global. 1948, S. 1.

[14] Ebd.

[15] Vgl. ebd. S. 10.

[16] Vigeant, Louise: Une étude de ‘À toi, pour toujours, ta Marie-Lou’ de Michel Tremblay. Montréal: Boréal 1998, S. 19.

[17] Front de libération du Québec

[18] Erst 1980 holt er in „L’Impromptu d’Outremont“ Figuren aus der Bourgeoisie auf die Bühne.

[19] Vgl. Boulanger, Luc: Pièces à conviction. Entretiens avec Michel Tremblay. Montréal: Leméac 2001, S. 23f. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Boulanger, S. X).

[20] Vgl. Michel Bélair: Michel Tremblay. Québec: Les Presses de l’Université du Québec 1972, S. 17.

[21] Edwards, Allen: L'univers des femmes dans les pièces de Michel Tremblay. Thèse. Ottawa: Bibliothèque nationale du Canada 1989, S. 50.

[22] Dennis, Katharine M.: The problem of freedom in the theatre of Michel Tremblay. Ann Arbor: University .Microfilms International 1990, S. 46.

[23] Cardy, Michael: Tremblay. ‘Les belles-sœurs’ and ‘A toi, pour toujours, ta Marie-Lou’. London: Grant & Cutler 2004, S. 78.

[24] Bis zu 14 Kinder pro Familie waren keine Seltenheit.

[25] Vgl. Vigeant, Louise: Une étude de ‘À toi, pour toujours, ta Marie-Lou’ de Michel Tremblay. Montréal: Boréal 1998, S. 15. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Vigeant, S. X).

[26] Zum Beispiel „A toi, pour toujours, ta Marie-Lou“, „Bonjour, là, bonjour“ oder „Le vrai monde?“

[27] Smith, Donald: Voices of deliverance. Interviews with Quebec & Acadian writers. Toronto: Anansi 1986, S. 219. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Smith, S. X).

[28] Tremblay, Michel: À toi, pour toujours, ta Marie-Lou. Montréal: Leméac 1971, S. 90.

[29] Edwards, Allen: L'univers des femmes dans les pièces de Michel Tremblay. Thèse. Ottawa: Bibliothèque nationale du Canada 1989, S. 15. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Edwards, S. X).

[30] Vgl. ebd.

[31] Tremblay, Michel: Bonjour, là, bonjour. Montréal: Leméac 1974, S. 52f.

[32] Ebd, S. 53.

[33] Tremblay, Michel: Les Belles-Sœurs. Montréal: Leméac 1972, S. 24.

[34] Vgl. Jubinville, Yves: Une étude de ‘Les belles-sœurs’ de Michel Tremblay. Montréal: Boréal 1998, S. 78.

[35] Usmiani, Renate: Michel Tremblay. Vancouver: Douglas & McIntyre 1982. (Studies in Canadian Literature. 15.), S. 41.

[36] Vgl. ebd.

[37] Tremblay, Michel: Albertine, en cinq temps. Montréal: Leméac 1984, S. 85f.

[38] Henri, Bourassa: Le suffrage féminin. 1918, S. 1.

[39] Ebd. S. 2.

[40] Dennis, Katharine M.: The problem of freedom in the theatre of Michel Tremblay. Ann Arbor: University Microfilms International 1990, S. 16. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Dennis, S. X).

[41] Edwards, S. 69.

[42] Tremblay, Michel: Les Belles-Sœurs. Montréal: Leméac 1972, S. 41. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (BS, S. X).

[43] Ebd. S. 47.

[44] Dennis, S. 44.

[45] Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe. Paris: Gallimard 1977. (Collection idées. 153.), S. 17.

[46] BS, S. 99.

[47] Vgl. ebd. S. 90.

[48] Ebd. S. 90.

[49] Tremblay, Michel: À toi, pour toujours, ta Marie-Lou. Montréal: Leméac 1971, S. 47. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Marie-Lou, S. X).

[50] Ebd. S. 64.

[51] Ebd.

[52] Vgl. ebd.

[53] Ebd. S. 72.

[54] Konrady, Ludmila: Lecture de la voix et du corps féminins dans l'œuvre théâtrale de Michel Tremblay. Thèse. Ann Arbor: University Microfilms International 1995, S. 6.

[55] Bélair, Michel: Michel Tremblay. Québec: Les Presses de l’Université du Québec 1972, S. 17. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Bélair I, S. X).

[56] Chamney, Wayne: Révolte et libération dans les œuvres publiées de Françoise Loranger et de Michel Tremblay. Thèse. Saskatoon: University of Saskatchewan 1974, S. 17.

[57] Beauvoir, Simone de: Le deuxième sexe. Paris: Gallimard 1977. (Collection idées. 153.), S. 12. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Beauvoir, S. X).

[58] Marie-Lou, S. 90.

[59] siehe Punkt 3.2.2.1

[60] Marie-Lou, S. 90.

[61] Vgl. Bélair, S. 78.

[62] Vgl. Vigeant, S. 54.

[63] Tremblay, Michel: Bonjour, là, bonjour. Montréal: Leméac 1974, S. 43. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Bonjour, S. X).

[64] Barrette, Jean-Marc: L'univers de Michel Tremblay. Dictionnaire des personnages. Montréal: Les Presses de l'Université de Montréal 1996, S. 119.

[65] Vgl. Bonjour, S. 43.

[66] Bonjour, S. 44.

[67] Ebd.

[68] Marie-Lou, S. 52.

[69] Tremblay, Michel: L’Impromptu d’Outremont. Montréal: Leméac 1980, S. 69.

[70] Arino, Marc: L’apocalypse selon Michel Tremblay. Pessac: Presses universitaires de Bordeaux 2007, S. 245. Im Folgenden belege ich Zitate aus diesem Buch im laufenden Text mit nachstehender Sigle: (Arino, S. X).

[71] Tremblay, Michel: Le vrai monde? Montréal: Leméac 1987, S. 37.

[72] Tremblay Michel: En pièces détachées. Montréal: Leméac 1970, S. 39.

[73] Ebd.

[74] Ebd. S. 42.

[75] Vgl. Marie-Lou, S. 65.

[76] Dennis, S. 124.

[77] Marie-Lou, S. 54.

[78] Ebd. S. 40.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Gefangensein und Befreiung - Die Frau im dramatischen Werk Michel Tremblay
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Anglistik, Amerikanistik und Romanistik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
70
Katalognummer
V165771
ISBN (eBook)
9783640817115
ISBN (Buch)
9783640820733
Dateigröße
670 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gefangensein, befreiung, frau, werk, michel, tremblay
Arbeit zitieren
Janine Kapol (Autor:in), 2010, Gefangensein und Befreiung - Die Frau im dramatischen Werk Michel Tremblay, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165771

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