Die chinesische Hochschulpolitik seit 1985

Elitäre Massenbildung?


Magisterarbeit, 2010

96 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung
1 Relevanz des Themas
2 Forschungsfrage
3 Methodik

II Definitionen und Vorüberlegungen
1 Hochschulbildung und Hochschule
2 Elite und Masse
3 Untersuchter Zeitraum seit 1985

III Theorie der Hochschulsysteme nach Martin Trow
1 Wandel nach Martin Trow
2 Übertragbarkeit der Theorie auf China?

IV Das chinesische Hochschulsystem vor 1978
V Reformschritte in der Bildungspolitik seit den 1980er Jahren
1 Die Ära Deng Xiaopings: Reform und Öffnung
2 Jiang Zemin und Hu Jintao: Innovation im Fokus
3 Studiendauer und Abschlüsse

VI Trends im chinesischen Hochschulsystem seit 1980
1 Expansion und Massenbildung?
1.1 Expansion der Studierendenzahlen
1.1.1 Zahlenmäßige Zunahme
1.1.2 Zunahme der Anzahl an Hochschulinstitutionen
1.1.3 Folgen für Studierende und Hochschullehrer
1.1.4 Gründe für die Expansion
1.1.5 Ort der Expansion
1.1.6 Neue Politik seit 2005: Entschleunigung der Expansion
1.1.7 Zusammenfassung: Expansion und Massenhochschulbildung
1.2 Erhöhung der Finanzierung im Bildungssektor
1.3 Dezentralisierung und Diversifizierung
1.3.1 Fragmentierung trotz Zentralisierung vor 1993
1.3.2 Reformen ab 1993: Kompetenzverschiebung auf die Provinzen
1.3.3 Diversifizierung
1.3.4 Dezentralisierung und die Kategorien Elite und Masse
1.4 Marktwirtschaftliche Elemente
1.4.1 Formelle Unterstützung von Regierungsseite
1.4.2 Private Hochschulen
1.4.3 Auslagerung von Hochschuldienstleistungen und -logistik
1.4.4 Einführung von Studiengebühren
1.4.5 Massencharakter der Marktelemente
1.5 Curriculum
1.5.1 Überspezialisierung vor 1985
1.5.2 Reformen seit den 80er Jahren: Vorbild Harvard
1.5.3 Kritik an der Umsetzung
1.5.4 Entwicklung zum Curriculum des Massensystems
2 Elitäre Überreste und Planung?
2.1 Zugang durch Gaokao
2.1.1 Geschichte und Reform der Gaokao
2.1.2 Experimente in Richtung Pluralisierung
2.1.3 Ursprung in der traditionellen Beamtenprüfung
2.1.4 Kritik an der Gaokao
2.1.5 Elitärer Charakter des Hochschulzugangs
2.2 Elitestellung einzelner Hochschulen: Die Projekte 211 und 985
2.2.1 Spitzenqualität durch Fusionen und zentrale Förderung
2.2.2 Die chinesische Definition der Weltklasse-Universität
2.2.3 Prinzipien der Spitzenförderung
2.2.4 Folge der Förderung: Zweiteilung des Hochschulsystems
2.2.5 Bewusste Schaffung von Elite

VII Fazit: Elite innerhalb der Masse

VIII Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Glossar chinesischer Schriftzeichen

I Einleitung

1 Relevanz des Themas

Chinas Hochschulpolitik ist ein aktuelles Thema, welches es wert ist, einmal genauer betrachtet zu werden. Untersuchungen westlicher Autoren zur Reform- und Öff- nungspolitik befassen sich zumeist mit rein wirtschaftlichen Aspekten von der Priva- tisierung der Staatsunternehmen über die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen bis hin zum Wirtschaftswachstum in den Küstenprovinzen. Ein Thema, das allerdings eher vernachlässigt wird, ist die Bildungspolitik des Landes. Auch sie wurde zu ei- nem großen Teil im Zuge der Öffnung stark verändert und dabei auch an westliche Vorbilder angepasst. Häufig wird von westlichen Autoren festgestellt, dass sich die Wirtschaftsreformen sehr schnell in China durchsetzten und sich dem Modell der freien Marktwirtschaft mittlerweile annähern. Auf der anderen Seite steht das politi- sche System, was auch weiterhin von nur einer Partei kontrolliert wird und das keine freien Wahlen auf nationaler Ebene zulässt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes lässt sich die chinesische Hochschulpolitik nach ihrer Reform seit Mitte der 80er Jahre auf der Seite der Wirtschaftsreformen verorten. Trends wie immer größer werdende Stu- dierendenzahlen, Dezentralisierung der Hochschuladministration oder die Kommer- zialisierung in Form von privaten Hochschulen zeigen, wie offen das Hochschulsys- tem (HSS) seit der Reform- und Öffnungsperiode geworden ist.

Die starke Expansion der Studierendenzahlen in China hat allerdings auch zu Proble- men geführt, die schon seit Jahren breit in Bevölkerung, Wissenschaft und unter Poli- tikern in China diskutiert werden. Diese Probleme rühren her von nicht ausreichen- den Ressourcen und mangelnder Infrastruktur des Systems, um die wachsenden Stu- dierendenzahlen noch zu bewältigen. Dieses Thema ist in der chinesischen Wissen- schaft heiß diskutiert. Zwischen 1999 und 2001 wurden beispielsweise allein zum Thema Hochschulexpansion mindestens 300 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht. Meistens ging es darin um die richtigen Strategien, wie man zum System der Mas- senhochschulbildung nach Martin Trow (siehe Kapitel III ) kommen könne und um die Probleme, welche aus der Expansion entstanden sind (Vgl. Chen 2004: 23).

Daneben ist vor allem das große Problem der Absolventenarbeitslosigkeit gerade in den letzten Jahren offenkundig geworden. Die große Zahl an Hochschulabsolventen, die seit der Jahrtausendwende auf den Arbeitsmarkt kamen, können von diesem nicht mehr vollständig aufgenommen werden. Momentan gilt ca. ein Drittel der Absolven- ten nach einer Untersuchung der OECD als arbeitslos (Vgl. OECD 2009: 30). Das Problem wird dadurch verschärft, dass ein Hochschulstudium traditionell als Mög- lichkeit zum sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg verstanden wird. Die Absolven- ten haben immer noch recht hohe Anforderungen an ihren zukünftigen Arbeitsplatz. Durch die wachsende Zahl an Studierten sinken allerdings die Löhne für Akademi- ker-Positionen und die Hoffnungen von Studierenden und deren Eltern auf eine bes- sere Zukunft durch ein Studium werden so teilweise nicht erfüllt.

Die Frage nach dem richtigen Hochschulsystem stellt sich in der chinesischen Bevöl- kerung und Wissenschaft. Wie kann bei Expansion der Studierendenzahlen weiterhin die bisherige Qualität des Studiums in China aufrecht erhalten oder sogar verbessert werden?

Die Frage nach der Qualität chinesischer Hochschulbildung kehrt dabei an verschiedenen Stellen wieder. Sowohl chinesische Wissenschaftler als auch westliche Beobachter stellen dabei eine sinkende Leistung des chinesischen Hochschulsystems fest (Vgl. Tang 2007: 44; Farrell/Grant 2005: 71).

Hochschulpolitik ist darüber hinaus ein wichtiges Element des nationalen Innovati- onssystems Chinas. Innovation und Kreativität wurden in den letzten Jahren immer wieder von offizieller Seite stark betont. China ist bereits sowohl in die Märkte für IT- und Computertechnik als auch in die Produktion von Automobilen eingetreten, doch die dafür notwendigen Innovationen für diese hochwertigen Produkte entstehen immer noch hauptsächlich innerhalb ausländischer Unternehmen, die sich in China angesiedelt haben. Die Volksrepublik hat allerdings den politischen Willen gezeigt, eine eigene selbstständige Innovationspolitik aufzubauen, um letztendlich unabhän- giger von ausländischer Technologie zu werden (Vgl. Willmann 2006: 6). Die chine- sische Führung hat diese Ziele bereits im Jahr 2005 im aktuellen Elften Fünfjahres- plan bekannt gegeben (Vgl. Zentralregierung 2006). Später wurde durch den Staats- rat zusätzlich ein Strategiepapier mit dem Namen „ Nationales Langzeit-Programm zur wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung “ veröffentlicht, das die Ent- wicklungsstrategie hin zu einem indigenen Innovationssystem bis zum Jahr 2020 ge- nauer umschreibt.

Die Hochschulpolitik ist dabei ein grundlegender Faktor, denn die Universitäten stellen das nötige „Humankapital“, um innovative Erfindungen, Produkte und Prozesse zu entwickeln. Dabei ist eine reine Konzentration auf Unternehmen, die diese Aufgaben erfüllen, auf lange Sicht nicht nachhaltig. Unternehmen können zwar Innovationen im Anwendungsbereich schaffen, aber die Grundlagenforschung wird auch weiterhin eine wichtige Aufgabe der Universitäten bleiben. Egal, an welchem Ort aber diese Innovationen letztendlich entstehen, sie alle brauchen hoch qualifizierte Kräfte, um überhaupt erst einmal geschaffen zu werden.

Eine Analyse der derzeitigen Situation des chinesischen Hochschulsystems und der Politik, die dahinter steht, kann sehr gewinnbringend sein, um einen besseren Ein- blick in Ursachen und Auswirkungen der aktuellen Probleme zu bekommen. Das HSS Chinas aus westlicher Perspektive betrachtet macht außerdem einen „Blick über den Tellerrand“ möglich und kann so auch neue Erkenntnisse zum eigenen Bil- dungssystem zum Vorschein bringen, wie es bereits in anderen Arbeiten geschehen ist (siehe Brandenburg/Zhu 2007).

2 Forschungsfrage

Um allerdings die oben erwähnten Aspekte des Systems weiter untersuchen zu können, kann es zunächst hilfreich sein, eine allgemeine Charakterisierung des Systems vorliegen zu haben. Martin Trows Theorie zur Kategorisierung von Hochschulsystemen in „Elite-“, „Masse-“ und „Universalsysteme“ bietet sich dabei an. Diese Theorie soll in Kapitel III genauer erläutert werden.

Daran anschließend stellt sich für die vorliegende Arbeit die Frage: Welche Überreste des elitären chinesischen Hochschulsystems bestehen auch nach der starken Expansi- on der Studentenzahlen seit Ende der 90er Jahre und der Entwicklung hin zu einem Massenhochschulsystem nach der Theorie Martin Trows weiter? Als Hypothese wird vom Autor angenommen, dass trotz des Bestrebens der Regie- rung, ein Hochschulsystem für die breite Masse der Bevölkerung zu etablieren, Reste eines elitären Systems erhalten bleiben. Das System befindet sich in einer Phase zwi- schen den beiden Idealtypen des Elite- und Massenhochschulsystems nach Trow, be- wegt sich allerdings in Richtung Masse.

3 Methodik

Basis für die Analyse des HSS soll Martin Trows Theorie zur Beschreibung von Hochschulsystemen sein. Diese wird in Kapitel III näher erklärt. Diese Theorie gibt der Analyse die zwingend notwendigen Begriffe „Elite“ und „Masse“, nach denen das HSS eingeordnet werden kann. Allerdings ist hierbei eine allzu grobe Einord- nung nicht zielführend. Vielmehr sollen die in Kapitel VI herausgearbeiteten Trends im chinesischen HSS jeweils in die beiden Kategorien „Masse“ und „Elite“ eingeord- net werden. Im darauf folgenden Kapitel VII werden die Ergebnisse für jeden einzel- nen Trend dann zusammengefasst.

Um die unterschiedlichen Trends des HSS seit den 80ern zu erarbeiten, werde ich Primär- und Sekundärliteratur zur chinesischen Hochschulpolitik sowohl in deutscher, als auch in englischer und chinesischer Sprache verarbeiten. Unter der Primärliteratur finden sich Daten des chinesischen Statistikamtes, Gesetzestexte, wie z.B. das Bildungs- und das Hochschulgesetz, die Fünf-Jahres-Pläne und Aussagen chinesischer Politiker zur Hochschulpolitik. Die Zahlen und Daten stammen dabei zu einem großen Teil vom chinesischen Amt für Statistik. Schon im Vorfeld muss hier klargestellt werden, dass diese Daten nicht unabhängig sind.

Die chinesischsprachige Sekundärliteratur zum Thema Hochschulsystem und -politik ist äußerst umfangreich und wurde in dieser Arbeit zumindest zum Teil verarbeitet.

II Definitionen und Vorüberlegungen

1 Hochschulbildung und Hochschule

Die United Nations Educational Scientific and Cultural Organization (UNESCO) klassifizierte die Bildungsgrade im Jahr 1997 neu und legte dabei die „International Standard Classification of Education“ (ISCED) fest. Dieser Standard soll einen inter- national gültigen Rahmen für Bildungssysteme in unterschiedlichen Ländern bieten. Die ISCED klassifiziert die Hierarchie eines nationalen Bildungssystems dabei nach sechs Stufen (Vgl. ISCED 1997). Unter diesem sind die Stufen fünf bis sechs Stufen der tertiären Bildung. Stufe fünf ist unterteilt in die beiden Unterstufen 5A und 5B, wobei Letztere eher ein praxisbezogenes Studium z.B. an Berufsakademien ein- schließt, während die Stufe 5A die übrige Hochschulbildung umfasst. Stufe sechs schließlich beschreibt das Level der tertiären Bildung, das zu einer fortgeschrittenen Forschungsqualifikation führt. Damit sind vor allem Master- und Promotionsstudien- gänge gemeint.

Die in der ISCED als Stufen fünf und sechs beschriebenen Levels sollen in dieser Arbeit dem Begriff „Hochschulbildung“ entsprechen und im Fokus der Betrachtung stehen. Hochschulen sind die staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen, in denen Hochschulbildung vermittelt wird.

2 Elite und Masse

Die Begriffe Elite und Masse und deren Dichotomie bezeichnen zumeist soziologi- sche Kategorien, die sich auf Personengruppen beziehen. Der Terminus Elite versteht demnach eine

qualitative - zahlenm äß ig kleine, qualitativ - wertend herausragende und privilegierte Minderheit einer Gesamtheit [...] die jene Personen umfasst, die in einzelnen Bereichen [...] eine herausragende Stellung einnehmen [...] (Reinhold 1999: 128).

Diese Definition ist in dieser Arbeit allerdings nicht vollständig passend, weil hier ein Hochschulsystem untersucht wird, was mithilfe der Theorie zum Wandel solcher Systeme von Martin Trow durchgeführt werden soll. Elite und Masse sind deshalb streng im Sinne dieser Theorie zu verstehen und beziehen sich dabei auf die Funktio- nen und die Struktur des Hochschulsystems, nicht aber auf bestimmte elitäre Perso- nen oder Gruppen. Trotzdem kann der erste Teil der obigen Definition sehr wohl auch für die Analyse von Hochschulsystemen auf Elitencharakter gelten: Elite ist die qualitative - zahlenmäßig kleine, qualitativ - wertend herausragende und privilegier- te Minderheit einer Gesamtheit. In Bezug auf Hochschulsysteme geht es aber hier nicht um privilegierte Personen oder Personengruppen sondern um privilegierte Hochschulen selbst.

Masse bezieht sich in dieser Arbeit ebenfalls ausschließlich und wertfrei auf den Begriff des Massenhochschulsystems nach Trow.

3 Untersuchter Zeitraum seit 1985

Der untersuchte Zeitraum wurde in dieser Arbeit auf die Zeit seit den 80er Jahren festgelegt, wobei 1985 als Ausgangspunkt dient. In diesem Jahr starteten die Reformen des Bildungssystems auf Initiative des Zentralkomitees offiziell mit der „ Ent scheidung zur Reform des Bildungssystems “.

Einwenden lässt sich, dass Chinas Bildungstradition deutlich weiter in die Vergan- genheit zurückreicht und dabei unterschiedliche geisteswissenschaftliche Strömun- gen bis heute direkt und indirekt Einfluss auf die Vorstellung von Bildung und den Charakter der chinesischen Universitäten haben. Im Rahmen dieser Arbeit muss aber dem Umfang genüge getan werden. Gehen wir von der Reform- und Öffnungsperi- ode als Beginn der Untersuchung aus, so bietet sich hier tatsächlich das Jahr 1985 als spezieller Ausgangspunkt an. Zwar begann die Öffnung schon neun Jahre vorher, aber das Bildungssystem hat sich in der Phase von 1976 bis '85 kaum verändert. Erst mit der erwähnten Entscheidung des Zentralkomitees wurde hier eine völlig neue Phase eingeleitet. Die 1985er-Reformen sind im Prinzip die neun Jahre nach hinten verschobene Öffnung des Bildungssystems. Zum ersten Mal seit der Gründung der Volksrepublik wurde dabei das Hochschulsystem nach Prinzipien der Dezentralisie- rung und Autonomievergabe an die Universitäten selbst verändert.

1985 stellt somit einen Wendepunkt in der chinesischen Bildungspolitik dar und soll deshalb auch als Ausgangspunkt der Untersuchung der Hochschulpolitik dienen. Al- lerdings ergibt es bei der Frage nach einem Eliten- oder Massencharakter des Sys- tems durchaus Sinn, einen Blick in die Zeit vorher zu werfen. Daher soll in Kapitel IV der Arbeit ein kurzer Überblick über die tertiäre Bildung vor den Reformen als Einleitung gegeben werden.

III Theorie der Hochschulsysteme nach Martin Trow

1 Wandel nach Martin Trow

Martin Trows Theorie vom Wandel der Hochschulsysteme, die er 1974 in seinem Aufsatz im Rahmen der „ Konferenz für zukünftige Strukturen post-sekund ä rer Bil- dung “ der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) ver- öffentlichte, ist in dieser Arbeit eine wichtige Grundlage für die Charakterisierung des chinesischen HSS. Trows theoretisches Konzept kann dabei helfen, sowohl die nötigen Begriffe „Elite“ und „Masse“ in Bezug auf Hochschulsysteme zu definieren, als auch einen Rahmen für den Prozess des Wandels von einem, in das jeweils andere System zu geben.

Nach Trows Theorie können Hochschulsysteme grundsätzlich in drei unterschiedliche Arten eingeteilt werden. In

- Elitensysteme
- Massensysteme
- Universalsysteme

Maßgeblich dafür, welcher Art nun ein bestimmtes Hochschulsystem zugehörig ist, bestimmt der Anteil an Hochschulstudierenden pro Jahrgang. Trow legt für die drei Arten von Systemen jeweils Anteile von

- weniger als 15% für Elitensysteme
- ab 15% für Massensysteme
- mehr als 50% für Universalsysteme

fest. Das bedeutet also, wenn dieser Anteil der Studierenden an Hochschulen eines Landes auf einen Wert von über 15% ansteigt, haben wir es idealtypisch nach Trow mit einem Wechsel vom Eliten- hin zum Massensystem zu tun. Wenn wiederum der Anteil an Studierenden eines Jahrgangs später auf über 50% ansteigt, spricht man von einem Wandel vom Massen- zum Universalsystem.

Diese rein definitorische Dreiteilung ist allerdings inhaltlich nicht besonders weit führend, sondern bestimmt zunächst einmal nur die Begriffe, mit denen sich nach Trow Hochschulsysteme einordnen lassen. HSS lassen sich damit also erst einmal quantitativ unterscheiden. Ein verhältnismäßig großer Anteil an Studierenden in einem Land von z.B. knapp 42%, wie in Deutschland, weist auf ein Massenhochschulsystem hin; ein System, wie das von Indien mit gerade mal 11% in 2008, gehört in die Kategorie „Elite“ (Vgl. Zeenews 2008).

Wichtiger ist dabei, dass sich die drei so definierten Systeme nicht nur quantitativ von dem Anteil an Studierenden innerhalb des jeweiligen Systems unterscheiden, sondern auch qualitativ. Der Unterschied betrifft Merkmale, Strukturen und Funktionen der Systeme. Trow differenziert dabei unterschiedliche Faktoren, oder wie er es nennt: „ Aspects of transition “.

Zusammenfassen lassen diese sich in sieben inhaltliche Kategorien, die innerhalb der drei Systemtypen variieren. Diese sind in Tabelle 1 dargestellt. Grundlegende Unterschiede lassen sich erkennen beim Objekt der Bildung (d.h., wer Hochschulbildung erhält), beim Zugang zum Studium, bei der Struktur der unterrichteten Fächer sowie bei der Hochschule selbst und der Art ihrer Administration.

Bedeutend nach Trow ist neben der reinen Zahl an Studierenden auch, welche gesell- schaftliche Gruppe Hochschulbildung genießen kann. Die gesellschaftliche Stellung der Studierenden gibt Auskunft über die Art des HSS. So sind die weniger als 15% eines Jahrgangs im Elite-System nicht nur in ihren absoluten und relativen Zahlen deutlich weniger als in den anderen beiden Arten, sondern gehören im Vergleich zum nicht-studierenden Teil der Gesellschaft auch vielmehr zu einer führenden Klasse bzw. werden durch die Hochschulbildung zu einer solchen gemacht. Der Zugang zur Universität ist für sie ein Schritt, um später hohe Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einzunehmen.

Nach Trow ändert sich diese Situation nun im Massensystem. Zwar wird hier weiterhin eine führende Gruppe ausgebildet, die auch später wahrscheinlich verhältnismäßig hohe Positionen und Gehälter bekommen wird, allerdings ist diese Gruppe schon deutlich breiter gestreut. Die „Eliten“, die aus diesem Hochschulsystem hervorgehen, können auch in wesentlich zahlreicheren Bereichen zu einer Elite gehören. Ein universitär ausgebildeter Informatiker beispielsweise gehört innerhalb seines Bereichs der Informationstechnik zur Elite, muss aber nicht unbedingt deshalb auch eine höhere Position in Politik und Wirtschaft einnehmen. Die führende Gruppe, die aus dem Massensystem hervorgeht, ist also deutlich breiter.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Eliten-, Massen- und Universalhochschulsysteme nach Trow

Das Universalsystem mit seinem über die Hälfte ausmachenden Anteil an Studierenden hat die Funktion der Bildung der gesamten Bevölkerung. Hier kann nun keineswegs mehr von Elite gesprochen werden. Hochschulbildung wird bei diesen großen Zahlen nunmehr zum Standard.

Eng damit verbunden ist auch der Grund, warum überhaupt ein Hochschulzugang aus Sicht der Bevölkerung in Erwägung gezogen wird. Im Elitensystem ist universi- täre Bildung ein Privileg. Nur wenige haben die Möglichkeit, tertiäre Bildung zu ge- nießen. Diese Wenigen schätzen sich glücklich darüber wobei die Übrigen kein zwingendes Bedürfnis empfinden, zur Universität zu gehen. Im Massenhochschul- system ist die Situation wiederum anders. Trow erläutert, dass der Zugang dort nicht mehr als Privileg, sondern als Recht angesehen wird. Wer die notwendigen Qualifi- kationen zum Studium mitbringt, kann dieses auch einfordern. In Deutschland wäre diese Qualifikation z.B. das Abitur. Im universellen System schließlich wird der Zu- gang als eine Pflicht betrachtet. Da mehr als 50% der Jahrgänge nach der Sekundär- bildung anschließend noch studieren, gehört es schlichtweg dazu, zur Universität zu gehen.

Trow fragt darüber hinaus auch noch, wie der Zugang zur Hochschule möglich ist, und unterscheidet auch hier drei Arten. Im Elitensystem entscheidet eine Prüfung am Ende der Mittelschule, also während der Sekundärbildung, über den Zugang zu einer Universität oder anderen Art von Hochschule. Die Abiturprüfung für das deutsche System ist hier eine klassische Variante einer solchen Abschlussprüfung. Ab 15% Hochschulstudierenden pro Jahrgang und dem Übergang zum Massensystem erwei- tert sich diese Art des Zugangs. Die Abschlussprüfung fällt zwar nicht einfach weg und wird komplett durch etwas anderes ersetzt, sondern wird ergänzt durch weitere Möglichkeiten, eine Hochschule zu besuchen. Im Falle Deutschlands kann dafür ein Fachabitur mit folgender Berufsausbildung und der anschließenden Möglichkeit zum Studium an einer Fachhochschule genannt werden. Innerhalb des Universalsystems gibt es keine Prüfung mehr. Das System ist so offen, dass jeder, der Interesse daran hat, auch tertiäre Bildung erhalten kann. Dabei ist dann idealtypisch egal, welche Qualifikationen er vorher erworben hat. Dieses System verkörpert sich in der Idee des lebenslangen Lernens.

Einen weiteren Aspekt, den Trow hervorhebt, ist das Curriculum an Hochschulen. Die Fächer in einem elitären System sind hochstrukturiert und spezialisiert. Da die Studierendenzahlen überschaubar sind, ist eine klare Abgrenzung von Fächern un- problematisch. Der Unterricht kann noch sehr strukturiert nach einem festen Ablauf- plan und klar begrenzten Kursen in kleinen Klassen ablaufen, denn nur wenige Stu- dierende müssen von den Professoren betreut werden. Wenn der Anteil an Studieren- den steigt und das System Massencharakter annimmt, ist eine solche Struktur nicht mehr aufrecht zu erhalten. Durch die immer größer werdenden Klassen wäre dieses Vorgehen ineffektiv. Es kommt zu Reformen, die aus der elitären Curriculum-Struk- tur schließlich einen modularen und flexibleren Unterricht machen. Zwar gibt es im- mer noch eine verhältnismäßig grobe Strukturierung, die abgearbeitet werden muss, jedoch kann innerhalb dieser einigermaßen frei gewählt werden. In Deutschland fällt sowohl das alte Diplom/Magister-Studium als auch das Studium nach Bachelor und Master in diese Kategorie. In Ersterem gab es ein modulares System, bei dem ver- schiedene Kurse belegt werden mussten, die allerdings relativ frei kombiniert werden konnten. Auch beim neuen System herrscht Modularität vor.

Ansatzpunkt für diese Arbeit ist nun Trows Einwand, dass die Übergänge von einem System in das jeweils andere nicht plötzlich vonstattengehen also sich sämtliche Merkmale sofort bei einem Studierendenanteil pro Jahrgang von ca. 15% zu einem Massencharakter hin ändern. Stattdessen sind die Veränderungen fließend. Die ein- zelnen qualitativen Merkmale ändern sich nach und nach. Außerdem bleiben selbst nach einem Übergang vom einen System ins nächste immer noch „Überreste“ aus dem Vorherigen. In einer Neuauflage seines damaligen Aufsatzes erklärt Trow so:

And as we observe the system of mass higher education in the United States, and the patterns of growth toward mass higher education else- where, we see that they involve the creation and extension of functions and activities and institutions rather than the disappearance of the old (Trow 2005: 30).

Die hier vorliegende Analyse will nun an diesem Punkt ansetzen und sowohl die ak- tuelle Situation anhand der Trends in der chinesischen Hochschulpolitik seit den 80ern herausarbeiten, als auch auf Überreste eines vorher bestandenen Systems hin- weisen.

2 übertragbarkeit der Theorie auf China?

Martin Trow formulierte seine Theorie im Jahr 1976 erstmals und nahm später 1998 einige Veränderungen daran vor. Zwar hat seine Theorie zum Wandel der Hochschul- systeme keine Eingrenzung auf eine bestimmte Kultur eine Region oder ein be- stimmtes Land, aber er selbst ist hauptsächlich Hochschulforscher für den amerikani- schen und europäischen Raum. Ein Großteil seiner Forschung basiert also auf dem westlichen Kulturkreis. Eine simple Übertragung der Theorie auf ein asiatisches Land wie China, mit seinen völlig anderen kulturellen und gesellschaftlichen Tradi- tionen, ist möglicherweise nicht machbar.

Die Diskussionen zur Übertragung der Theorie auf China sind innerhalb der chinesischen Forschung äußerst mannigfaltig. Fakt ist dass sich viele chinesische Hochschul- und Bildungsforscher auf Martin Trows Theorie beziehen, wenn sie das chinesische HSS beschreiben (Vgl. Wang/Wang 2005: 112). Der Autor Trow und seine Theorie werden an vielen Stellen genannt und es verwundert, dass immer wieder auf einen westlichen Autor verwiesen wird, statt den Versuch zu unternehmen, eine origi - när chinesische Theorie zum Hochschulsystem zu formulieren.

Andererseits sind auch Arbeiten zu finden, die die Verwendung der Theorie in Bezug auf China scharf kritisieren. Grundlegender Tenor ist dabei, dass Chinas traditionelle, geschichtliche und auch aktuell wirtschaftliche Situation anders sei als die der westlichen Industrieländer.

Zhang Denghua versucht z.B., die Entwicklung des chinesischen Systems vom amerikanischen abzugrenzen:

Die momentane Massifizierung der chinesischen Hochschulbildung kommt nicht vom amerikanischen Modell eines „ erwachenden Bewusst seins von Demokratisierung der Bildung “ her, sondern aus den Eigen heiten der chinesischen Wirtschafts- und Kulturtradition als doppeltem Antrieb des Ideals einer elit ä ren Bildung (Zhang 2007a: 8). 1

Andere Einwände beziehen sich auf den Status Chinas als größtem Entwicklungs- land. Zheng Mi und Ren Rui geben zu bedenken, dass China die Industrialisierung noch nicht verwirklicht habe und daher auch die Bildungssituation des Landes in be- sonderer Weise zu bewerten sei. Die Autoren geben aber zu, dass China bereits viele Merkmale des Massenhochschulsystems nach Trow habe (Vgl. Zheng/Ren 2008: 1). Autoren wie Su und Jiang argumentieren, dass sich Chinas Hochschulsystem zwar rein quantitativ mit über 15% an Studierenden pro Jahrgang in der Phase des Mas- sencharakters befinde, aber es dem System an den wichtigen inhaltlichen Verände- rungen noch fehle (Vgl. Su/Jiang 2007: 5). In einer etwas früheren Arbeit bezeichnet Pan Maoyuan die Situation des chinesischen Hochschulsystems weder als elitär noch als massenhaft nach Trow, sondern in einer Übergangsphase zwischen beidem (Vgl. Pan 2001: 2).

Viele chinesische Autoren argumentieren normativ und nutzen die Theorie, um sich für die Aufrechterhaltung eines elitären Systems innerhalb des Massen-HSS auszusprechen. So bemerkt Wu Daguang:

Die Massifizierung der Hochschulbildung sollte nicht ohne Elitenbildung auskommen, sondern muss diese sogar umso mehr schützen. Die Regie- rung hat die Entwicklung der Elitenbildung zu bewahren und zu unter- stützen. Dies ist ihre und die Aufgabe der gesamten Gesellschaft (Vgl. Wu 2003: 8). 2

Fast schon polemisch ergänzt Zhang Denghua, dass die Elitenbildung selbst dann noch weiter innerhalb des Systems bestehen bleiben solle, wenn der Anteil an Hochschulstudierenden des Jahrgangs bei 100% läge (Vgl. Zhang 2007a: 8). Diese Ansätze sind in ihrem normativen Stil zwar für diese Untersuchung nicht zielführend, zeigen aber deutlich, wie sich auch die chinesische Seite stark mit der Theorie Trows beschäftigt. Sowohl Begriffe als auch der Wandlungprozess den das Konzept beschreibt, kommen trotz Kritik daran vielfach vor.

Die Kritik an der inhaltlichen Interpretation der Theorie von chinesischer Seite her ist die dritte Richtung, in die chinesische Autoren gehen. Verschiedene Forscher argu- mentieren, dass sowohl Wissenschaft als auch Politik die Ideen Trows als „Zieltheo- rie“ fehlinterpretiert haben. So wurde von politischer Seite beispielsweise im Bil- dungsplan-Entwurf von 1999 direkt auf die Studierendenanteile pro Jahrgang von 15% bis zum Jahr 2010 als Zielsetzung hingewiesen. Ihr eigentlicher Charakter aber sei der einer „warnenden Theorie“. Trow nutzt diesen Begriff selbst in einem Inter- view mit Wu Daguang und ergänzt, dass seine Theorie vielmehr ein Signal sei, das Veränderung zeige und darüber hinaus warnend dafür steht, die entsprechenden Vor- bereitungen für diese Veränderungen des HSS zu treffen. Außerdem wundere er sich selbst darüber, warum China so stark an den reinen Zahlenwerten interessiert sei, die er aufgestellt hat (Vgl. Wu 2003: 7). Trow habe die Werte 15, und 50% zwar nicht willkürlich, aber genauso wenig aufgrund von empirischen Ergebnissen festgelegt. Viel wichtiger bei der Theorie seien die inhaltlichen Unterschiede zwischen den drei Phasen der Hochschulsysteme (Vgl. Su/Jiang 2007: 4).

Zusammengefasst gibt es deutliche Kritik an der Übertragung der Theorie auf das chinesische HSS, vor allem was die Kompatibilität mit der chinesischen Tradition und dem Entwicklungsstand des Landes im Vergleich zu den westlichen Industrielän- dern angeht. Der Kritik wird aber kein Gegenentwurf für eine „chinesische“ Variante des Hochschulwandels gegenübergestellt. Martin Trow selbst schränkt die Anwen- dung darüber hinaus auch nicht explizit auf andere Länder außerhalb Amerikas und Europas ein.

Um das chinesische Hochschulsystem zu untersuchen, möchte ich mich nicht einzig auf Martin Trows Theorie beziehen. Diese kann zwar sehr gut erklären, wann elitäre, Massen- oder Universalsysteme vorliegen, sofern es um die Expansion der Studie- rendenzahlen, Zugangsmöglichkeiten zur Hochschulbildung, Lehre und interne Ad- ministration einer Hochschule geht. Allerdings ist sie unzureichend bei der Beschrei- bung von externen Trends auf makropolitischer Ebene, wie Dezentralisierung oder der Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen in die Hochschulpolitik. Diese Elemente werden hier ebenfalls behandelt denn sie sind ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Hochschulpolitik seit 1985. Diese im Sinne der Theorie völlig aus- zublenden, wäre nicht sinnvoll, denn sie begleiten die Expansion direkt. Ob sie aller- dings auch in das Schema von Elite, Masse oder Universal passen, ist zu untersu- chen.

IV Das chinesische Hochschulsystem vor 1978

Nach der Abschaffung des traditionellen Prüfungssystems im Jahr 1905 wurde der Versuch unternommen moderne Universitäten nach dem Vorbild Japans in China aufzubauen (Vgl. Finnish National Board of Education 2007: 3). Diese waren wie- derum in Japan kurz vorher nach dem Modell westlicher Hochschulen aufgebaut worden. So entstanden in China von 1895 bis '98 die drei Universitäten Beiyang, die heute den Namen „Universität Tianjin“ trägt, die Nanyang Gongxue (heute Jiaotong- Universität in Shanghai) und die Jingshi Daxue, die der heutigen Beijing Daxue (Bei- da) entspricht. Die Entwicklung dieser nach westlichem Vorbild geschaffenen natio- nalen Universitäten stagnierte allerdings wegen knapper finanzieller Mittel zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts und ihre Zahl vergrößerte sich daraufhin nicht maßgeblich. Die von westlichen Missionsgesellschaften und ausländischen Stiftungen gegründe- ten über ein Dutzend privaten Hochschulen müssen allerdings zu diesen staatlichen Einrichtungen für die damalige Zeit noch hinzugerechnet werden. Reformen an der Universität von Peking unter der Leitung Cai Yuanpeis waren später ein großer Schritt hin zu einem europäischen Universitätsmodell in der Republik China. Cai ließ viele seiner eigenen Erfahrungen an europäischen Universitäten in seine Reformen einfließen. Besonders beeinflusst wurde er dabei von den Vorstellungen der akademi- schen Freiheit und der Hochschulautonomie aus Deutschland (Vgl. Otsuka 2003: 311).

Der Zweite Weltkrieg und die Besetzung großer Teile Chinas durch Japan von 1937 bis 1945 stoppten die Entwicklung der Hochschulen schnell. Die meisten Universitä- ten wurden von der Ostküste ins westliche Hinterland in Städte wie Chengdu, Chongqing, Kunming oder Guiyang verschoben. Yan'an wurde in dieser Zeit ein wei- teres Zentrum für höhere Bildung. Unter kommunistischer Verwaltung entstanden dort die Anti-japanische Militärhochschule, die Universität Yan'an und die Lu-Xun- Akademie der Künste. Diese Institutionen wurden primär zur Ausbildung von Ka- dern für die Partei genutzt.

Im Jahr der Gründung der Volksrepublik China 1949 existierten 205 tertiäre Bil- dungseinrichtungen wovon 49 als Universität galten. Die Studierendenzahl belief sich auf knapp 110.000 (Vgl. Otsuka 2003: 311). Mit einer Bevölkerung von knapp 550 Mio. im Jahr 1949 macht der Studierendenanteil an der Gesamtbevölkerung ge- rade mal 0,2 Promille aus. Eine Reform in den 50er Jahren gestaltete das chinesische Hochschulsystem nach dem Vorbild der Sowjetunion (SU) um. Bei der internen Struktur der Hochschulen wurden die Fakultäten abgeschafft und die Abteilungen zur grundlegenden Verwaltungseinheit gemacht. Diese wurden wiederum in Fächer un- terteilt. Die Umstrukturierung führte später zu einer Verringerung der Anzahl an Uni- versitäten bei gleichzeitiger Steigerung der Zahl an Fachhochschulen. Diese Reform sollte dem Plan genüge tun, den Fokus der tertiären Bildung stärker auf den tech- nisch-naturwissenschaftlichen Bereich zu lenken. Geistes- und Sozialwissenschaften verloren ihre Bedeutung. Im Zuge dieser sozialistischen Umstrukturierung verwun- dert es darüber hinaus nicht, dass natürlich auch alle vorher bestehenden privaten Hochschulen abgeschafft wurden.

Nach der Einführung des sowjetischen Modells „ machte die chinesische Hochschul- bildung viele Irrwege und Fehlentwicklungen durch entsprechend den [sic] politi- schen und ö konomischen Ver ä nderungen. “ (Otsuka 2003: 311). Die Zahl der Hoch- schulen wurde während des „Großen Sprungs nach vorn“(Dayue Jin) stark gestei- gert, indem so genannte „Halb-Arbeit-halb-Studium-Universitäten“ eingerichtet wur- den. Diese fokussierten vor allem auf die Erwachsenenbildung für bereits Berufstäti- ge und waren viel stärker dezentral organisiert als die Hochschulen nach sowjeti- schem Modell. Die Anzahl der Hochschulen steigerte sich dabei von 229 im Jahr 1957 auf 1289 im Jahr 1960, also eine Verfünffachung in nur drei Jahren (Vgl. Min 2004: 61). Die Studierendenzahl verdoppelte sich dabei von knapp 440.000 auf ca. 960.000. Problematisch war vor allem, dass die Qualität mit der rapiden Zunahme an Bildungseinrichtungen nicht mithalten konnte. Diese waren klein ineffektiv und wurden in zu kurzer Zeit aufgebaut. Nach dem Ende des Großen Sprungs wurde die gescheiterte Reform fast vollständig rückgängig gemacht und dabei die meisten der neuen Bildungsinstitutionen wieder geschlossen.

Die Hochschulpolitik machte aufgrund der stetig schlechter werdenden Beziehung zur Sowjetunion eine 180-Grad-Wendung in Abkehr zum früheren Modell und konzentrierte sich nun auf die Einrichtung von „Schwerpunktuniversitäten“(Zhongdian Daxue). Diese erhielten die meisten finanziellen Mittel und die beste Ausstattung. Sie fallen in die Kategorie der Eliteuniversitäten.

Diese Wendung wurde wiederum drastisch durch die Entwicklungen in der Kulturre- volution beendet. Eine stark anti-elitäre Ideologie führte zu einer kompletten Ab- schaffung des vorher bestehenden Hochschulaufnahme-Prüfungssystems. Dieses wurde durch ein Empfehlungssystem ersetzt. Potenzielle Studierende konnten erst dann an einer Hochschule aufgenommen werden, wenn sie vorher bereits gearbeitet hatten und danach für ein Studium empfohlen wurden. Die Studienzeit wurde auf drei Jahre verkürzt und sogenannte Revolutionskomitees übernahmen die Kontrolle der Universitäten. Diese veränderten die Lehrpläne dahingehend, dass ideologische Erziehung und Erziehung zu körperlicher Arbeit in den Vordergrund rückten. Die Studierendenzahl nahm in der Kulturrevolution stark ab von 674.000 im Jahr 1965 auf nur noch 48.000 in 1970. Li Wang fasst die Meinungen zu den langfristigen Fol- gen der Kulturrevolution im Bildungssektor zusammen als:

According to most Western observers and followers of Deng Xiaoping, this led to almost a generation of know nothings; nearly a generation of China's scientists and other useful intellectuals were missing. (Wang 2005: 52)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Hochschulstudierende in China (1949-1970)

Als Fazit lässt sich herauskristallisieren, dass die Entwicklungen des chinesischen HSS vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Reform- und Öffnungsperiode von ex- tremen Wandlungen bestimmt gewesen sind. Es gab sowohl eine Phase der Verwest- lichung des Hochschulsystems nach der Niederlage im Sino-Japanischen Krieg von 1894/95 als auch eine solche, die stark vom Einfluss der Sowjetunion bestimmt war. Der dritte Zeitraum während der Kulturrevolution wies dagegen chinesische Eigenar- ten auf. Diese Phasen untereinander waren nochmals sowohl durch Zentralisierung und Dezentralisierung bestimmt; es gab enorme Expansion und wiederum starke Schrumpfungsprozesse des Systems bis hin zum Stillstand während der Kulturrevo- lution. Diese extremen Veränderungen im Hochschulsystem Chinas richteten sich durchgehend nach der jeweiligen politischen Linie. Liberale Reformen nach der Re- volution von 1911, Expansion während des Großen Sprungs nach vorn, Abwendung vom sowjetischen Modell in den 60er Jahren, Kontrolle durch Revolutionskomitees in der Kulturrevolution - Das Hochschulsystem ist offensichtlich eng an die Politik des Landes gekoppelt.

Die Größe des Hochschulsystems zu den jeweiligen Zeitpunkten ist jedoch trotz der großen politischen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen in Bezug auf die Gesamtbevölkerung durchgängig klein geblieben. Selbst nach der enormen Expansi- on der Studierendenzahlen während des Großen Sprungs nach vorn wurde nur ein Verhältnis von Studierenden zur Gesamtbevölkerung von einem Promille erreicht. Zum Vergleich gab es im Jahr 2005 in China bei einer Bevölkerung von 1,3 Mrd. ca.

16 Mio. Studierende, was immerhin einen Anteil von etwa 1,2% ausmacht. Hayhoe spricht von einem Elitensystem über ein ganzes Jahrhundert hinweg (Vgl. Hayhoe 1996: 251). Selbst nach den Reformen der 1980er Jahre konnte dieses nur Studierendenanteile von 2% des jeweiligen Jahrgangs ausmachen.

V Reformschritte in der Bildungspolitik seit den 1980er Jahren

1 Die Ära Deng Xiaopings: Reform und Öffnung

Welche Reformschritte waren nun ab den 1980er Jahren bedeutend für die Entwicklung des chinesischen Hochschulsystems bis heute? Yin und White sprechen von hauptsächlich drei Meilensteinen seit 1978 (Vgl. Yin/White 1994: 218).

- Das 3. Plenum des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im Jahr 1978 und die dabei getroffene Richtungsentscheidung zu den „Vier Moderni- sierungen“
- Die Entscheidung des Zentralkomitees von 1985 zur Reform des Bildungs- systems
- Deng Xiaopings Südreise im Jahr 1992

Alle drei Politiken stehen für die Öffnung des Landes und deren Bestätigung von 1992. Für eine Umsetzung der Vier Modernisierungen, wovon eine die der Wissen- schaft und Technik ist, brauchte es die nötigen ausgebildeten Kräfte, die nunmehr mithilfe einer Bildungsreform beschafft werden sollten.3 Diese drei Schritte hin zur Öffnung des Landes sind zwar auch für die Bildungspolitik von enormer Bedeutung, allerdings lohnt es sich, genauer zu untersuchen, welche konkreten Politiken in Be- zug auf Bildung gemacht wurden. Außerdem waren die Schritte nach 1992 gerade für die später in Kapitel VI 1.1 ausführlich behandelte Expansion des Hochschulsektors von Bedeutung. Dengs Südreise kann dafür höchstens ein Hintergrund sein, ist aber keineswegs als Erklärung hinreichend.

Deng Xiaoping äußerte sich viel direkter zur Bildungsfrage und Hochschulpolitik. Im Jahre 1983, erst kurz nach Beginn der Reformen, verfasste Deng für die Jingshan Schule in Beijing eine Widmung mit dem Wortlaut „ Bildung muss ausgerichtet sein auf die Modernisierung, die Welt und die Zukunft “ (Fan 2004). 4 Xu und Mei interpre- tieren diese Ideen als „ banner and soul of the Chinese educational reform and deve- lopment “ (Xu/Mei 2009: 3). Deng verkündete damit, dass nun nicht mehr nur Wirt- schafts-, sondern auch Bildungspolitik Teil der Reform und Öffnung sei.

Vier Jahre später äußerte sich Deng abermals direkt zu diesem Thema, als er mit dem südkoreanischen Ministerpräsidenten Li Genom zusammentraf. Deng propagierte Bildung in Anbetracht einer immer größer werdenden Konkurrenz in der Welt im fol- genden Jahrhundert als Basis für die Zukunft (Vgl. Xu/Mei 2009: 4). Im Jahr 1985 gab schließlich das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) die „ Entscheidung zur Reform des Bildungssystems “ heraus. Diese Reform ist ein riesiger Schritt hin zu einem völlig neuen Bildungssystem in China, denn hier wird erstmals die Dezentralisierung des Systems gefordert. Weg vom Zen- tralismus erhalten nunmehr die Provinzen Kompetenzen in der Bildungspolitik. Und dies gilt sowohl für die neunjährige Grundbildung als auch für Sekundar- und Terti- ärbildung. Spezifisch zu Hochschulen wird unter Punkt vier der Reform genannt, dass diese in Zukunft eine größere Autonomie genießen können5 (Vgl. BMVRC 1983). Die Hochschulen sollen von da an in einem Drei-Stufen-System verwaltet werden: Zentrale - Provinz - Stadt. Der interne Gewinn an Autonomie bezieht sich vor allem auf die eigenständige Einrichtung von Fächern und deren Inhalten sowie Be- und Abberufung der Hochschulleitung.

Bei den Reformen von 1985 setzte die Regierung zwar eine Mehrebenen-Verwaltung innerhalb der Bildungspolitik um, diese blieb aber weiterhin zunächst nur in staatli- cher Hand. Das ZK konnte sich noch nicht dazu entscheiden, auch private Akteure zu akzeptieren. Einzig im Bereich der Berufsausbildung wurden Unternehmen und Pri- vatpersonen ermuntert, auch Bildungseinrichtungen mit aufzubauen. Erst 1993 wur- de das Dokument „ Provisorische Regulierungen für den Aufbau von privaten Hoch- schulen “ veröffentlicht. Dieses Provisorium bestand bis 2002 und wurde dann durch das „ Gesetz zur F ö rderung von privaten Bildungseinrichtungen “ 6 ersetzt. Dieses um- schreibt nunmehr die gesamte Sphäre der privaten Bildung und nicht mehr nur die der Hochschulen. Han dazu:

The Promotion Law and the Implementation Regulations improved the legal position and environment of NGPS (Non-government/Private schools). In addition, the Promotion Law is China ’ s first education law with “ promotion ” in its name. This shows that the positive value orienta- tion of the government for enthusiastically encouraging and fully suppor- ting NGPS (Han 2004: 7).

[...]


1 当下中国高等教育大众化的到来 ,并非源自美国式的“ 教育民主化意识的觉醒 ”,而是中国 现时经济特性和文化传统或曰精英教育理想的双重驱动。

2 大众化高等教育的发展不是不要精英教育而是要更加保护精英教育,政府必须支持,保护 发展精英教育,这是政府和全社会的责任。

3 Modernisiert werden sollten neben Wissenschaft und Technik des Weiteren Industrie, Landwirt- schaft sowie Verteidigung (für weitere Informationen dazu, siehe Spence 2001: 767-773).

4 教育要面向现代化,面向世界,面向未来 [...]。

5 改革高等学校的招生计划和毕业生分配制度,扩大高等学校办学自主权。

6 民办教育促进法

Ende der Leseprobe aus 96 Seiten

Details

Titel
Die chinesische Hochschulpolitik seit 1985
Untertitel
Elitäre Massenbildung?
Hochschule
Universität Trier
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
96
Katalognummer
V165266
ISBN (eBook)
9783640816576
ISBN (Buch)
9783640816620
Dateigröße
1574 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
China, Hochschulpolitik, Bildungspolitik, Universität, Trow
Arbeit zitieren
Matthias Schmidt (Autor:in), 2010, Die chinesische Hochschulpolitik seit 1985, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165266

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