Effekt, Angst und Grausamkeit in den Kurzgeschichten Edgar A. Poes

„Der dunkle Grund, der nach Befriedigung verlangt“


Masterarbeit, 2010

81 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Eine Einführung in die Konstruktion der Angst: Das stärkste aller Gefühle? - H. P. Lovecrafts Supernatural Horror in Literature

2. Effekt, Angst und Grausamkeit in der Theorie
2.1 Edgar A. Poe - The Philosophy of Composition, The Poetic Principle und The Imp of the Perverse
2.2 Sigmund Freud - Der Dichter und das Phantasieren und Das Unheimliche
2.3 Philip P. Hallie - Grausamkeit

3. Effekt, Angst und Grausamkeit in Poes Kurzgeschichten
3.1 The Tell-Tale Heart
3.2 The Black Cat
3.3 The Masque of the Red Death
3.4 The Cask of Amontillado

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Unheimliche Geschichten beschäftigen die Menschheit schon seit geraumer Zeit. Die besten Erzählungen verfügen über die Fähigkeit, in ihren Lesern und Zuhörern wohliges Unbehagen, gespannte Erwartungen sowie vor allem Ängste hervorzurufen und sie damit für die Zeit des Erlebens an sich zu fesseln. Die Rolle und Bedeutung des Inhaltes einer Geschichte mag uns dabei recht schnell deutlich werden, doch wie sieht es mit der Art und Weise aus, wie ein Autor seinen Text kreiert, um ihn möglichst eingehend auf den Rezipienten wirken zu lassen? Auf welche Mittel muss ein Autor zurückgreifen, damit eine Erzeugung von Angst, Schauder oder Beklemmung im Leser zustande kommt? Gibt es unterschiedliche Methoden und Aspekte, die zur Erzeugung des Beängstigenden beitragen und wenn dem so ist, wie sehen diese im Detail aus?

Ein bedeutender Vertreter der Literatur der Angst war und ist Edgar Allan Poe. Er schuf für das Genre im Speziellen und für die Prosaliteratur im Allgemeinen Grundlagen und Techniken, auf die nachfolgende Autoren, wie beispielsweise der in dieser Arbeit ebenfalls erwähnte H. P. Lovecraft, aufbauten. Die vorliegende Masterarbeit1 beschäftigt sich mit den Methoden und Vorgehensweisen, welche von Poe in seinen Kurzgeschichten angewandt werden, um auf literarischer Ebene den Effekt des Schauderns zu erzeugen.

Das erste Kapitel soll dem Leser eine knappe Einführung in die Literatur der Angst zur Verfügung stellen und orientiert sich hierfür an der theoretischen Arbeit Supernatural Horror in Literature von H. P. Lovecraft.

Kapitel Zwei setzt sich mit den Theorien ausgewählter Autoren zum Arbeitsthema auseinander. Genauer werden einige Theorien Poes zur Anfertigung einer guten Geschichte eingehend betrachtet, was unter Zuhilfenahme der Theorietexte The Philosophy of Composition, The Poetic Principle sowie der Kurzgeschichte The Imp of the Perverse erfolgen soll. Die Methoden samt einer Darstellung von möglichen Personen, Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen, die das Gefühl des Unheimlichen wecken können, werden durch die Texte Der Dichter und das Phantasieren und Das Unheimliche von Sigmund Freud in den Blick genommen. Mithilfe des Werks Grausamkeit von Philip P. Hallie wird schließlich die Funktion und Faszination der Grausamkeit in der Kunst sowie ihre Bedeutsamkeit für die Erzeugung von Horror innerhalb der Literatur, speziell in der Gothic Novel, verdeutlicht.

Die Ergebnisse, welche der theoretische Abschnitt der Arbeit bietet, sollen im dritten Kapitel praktisch überprüft werden, indem sie, bezogen auf vier ausgewählte Kurzgeschichten von Poe, zur Anwendung kommen. Die vier Erzählungen The Tell-Tale Heart, The Black Cat, The Masque of the Red Death und The Cask of Amontillado sollen der Gegenstand dieses Hauptteils der Arbeit sein. Ein die einzelnen Punkte zusammenführendes und persönliche Eindrücke widerspiegelndes Fazit beschließt die Arbeit.

1. Eine Einführung in die Konstruktion der Angst: Das stärkste aller Gefühle? - H. P.

Lovecrafts Supernatural Horror in Literature

Der amerikanische Autor Howard Philipps Lovecraft gilt als einer der bedeutendsten Autoren der fantastischen Literatur. Seine traditionellen Schauererzählungen, Traumgeschichten, Gedichte und nicht zuletzt die Texte über den von ihm geschaffenen Cthulhu-Mythos sind großartige Beispiele für das, was die Literatur der Angst ihrem Leser auf höchstem Niveau zu bieten hat.

Lovecraft schrieb jedoch nicht nur Geschichten, die das Unheimliche zum Thema hatten, sondern beschäftigte sich auch theoretisch mit dieser Sparte der Literatur. Sein Werk Supernatural Horror in Literature soll für die vorgelegte Masterarbeit als eine Art Einstieg dienen, da sich Lovecraft darin nicht nur mit wichtigen Autoren des Genres beschäftigt, sondern auch zur Erzeugung von Angst einige interessante Thesen vorbringt. Zudem widmet er Edgar Poe, mit dessen Kurzgeschichten und Methoden sich auch die vorliegende Arbeit beschäftigt, ein eigenes Kapitel, in welchem er dessen literarische Praktiken aus der Sicht eines kritischen Nachfolgers in den Blick nimmt. Diese Zusammenstellung der Ansichten zum Genre der unheimlichen Literatur von einem direkt darin verankerten Autor bietet einen interessanten Aufhänger und soll deshalb im Folgenden beschrieben werden.2

Lovecraft beginnt seinen Text mit der Feststellung, dass die Angst „the oldest and strongest emotion of mankind“3 ist. Die Angst vor dem Unbekannten ist ferner die intensivste Form dieser Emotion. Allein auf diesen nach Lovecraft unbestreitbaren Fakten begründet sich die Bedeutsamkeit der „weirdly horrible tales“4. Diese haben die Zeit überdauert und sind immer noch gefragt, obwohl Horrorgeschichten zuweilen als schwer verdauliche Kost gelten mögen. Der Wirkungskreis dieser Art von Literatur mag zwar nicht sonderlich groß sein, doch resultiert dieser Punkt nach Lovecraft aus dem Umstand, dass die schaurige Geschichte einen angemessene Leser benötigt, welcher über ein Mindestmaß an Fantasie wie auch über die Fähigkeit verfügen muss, den Alltag abzustreifen und sich auf das Übernatürliche eines Textes einzulassen. Die Möglichkeit zu beidem ist Lovecraft zufolge bereits seit Urzeiten in der menschlichen Spezies verankert. Schon die primitiven Vorfahren unserer Art hatten damit zu kämpfen das es Dinge in der Welt gab, die sie nicht begreifen konnten.5 Dieses Unerklärliche wiederum war damals und ist heute noch zu fürchten, da der Mensch es weder erfassen noch in irgendeiner Form einschätzen kann und Unbegreifliches der Erfahrung gemäß oft mit Gefahr gleichzusetzen ist. In modernen Zeiten und Zivilisationen gibt es natürlich Mittel und Wege, um sich Unbekanntes zu erschließen, doch ist das bis an Angst grenzende Unbehagen gegenüber Fremdem immer noch im Menschen verwurzelt. Seltsam erscheinende Phänomene, Dinge und Menschen lassen uns auch heute noch vorsichtig ihnen gegenüber sein, zumindest so lange, bis der Betroffene meint, sich ein ausreichendes Bild vom Gegenstand seiner Betrachtung gemacht zu haben.

Das Phänomen des Träumens trug einen weiteren Teil dazu bei, vom Unbekannten als Inbegriff des Unnatürlichen und Irrealen zu denken, das Unverständliche wurde zumeist mit dem Bösen assoziiert.6 Wenn sich zur Emotion der Angst auch noch die Neugier sowie die Faszination an Wundern hinzukommt, so entsteht eine Körperschaft an Emotionen, der aufgrund seiner Intensität so lang bestehen muss wie die Menschheit selbst.

„Children will always be afraid of the dark, and men with minds sensitive to hereditary impulse will always tremble at the thought of the hidden and fathomless worlds of strange life which may pulsate in the gulfs beyond the stars, or press hideously upon our own globe in unholy dimensions which only the dead and the moonstruck can glimpse.“7

Zudem bleiben unheimliche oder dunkle Dinge nach Lovecraft in der Regel länger in unserer Erinnerung erhalten als Freuden und sind deshalb so oft in Mythen und Folklore anzutreffen, deshalb existiert so etwas wie „a literature of cosmic fear“8. Für den Dichter selbst scheint die Literatur des Unheimlichen, so Lovecraft, eine Art Ventil zu sein, um den „phantasmal shapes“9 Raum zu geben, die ihn ansonsten heimsuchen würden. Deswegen scheint es nicht verwunderlich, dass auch Autoren mit ansonsten anders geartetem Repertoire sich an dieser Gattung versuchen,10 die es zufolge der vorangegangenen Ausführungen immer schon gab und immer geben wird, wenn man Lovecraft Glauben schenken darf.

Für eine solch schaurige Erzählung ist in jedem Fall wichtig, dass eine dem Thema angemessene Atmosphäre erzeugt und die Geschichte über durchgehalten wird, „a malign and particular suspension or defeat of those fixed laws of Nature which are our only safeguard against the assaults of chaos and the daemons of unplumbed space“11. Diese Regel soll für alle unheimlichen Geschichten gelten, unerheblich ob ihr Verfasser nun den Anspruch erhebt, sie beispielsweise der Gattung der Gothic Novel zuzuordnen oder keine solche Kategorisierung vornimmt. Je dichter die Atmosphäre des Textes ist, desto besser ist nach Lovecraft das künstlerische Werk.12

Horrorgeschichten sind, so Lovecraft weiter, so alt wie die Gedanken und Worte der Menschheit selbst und kommen außerdem bei allen Völkern der Welt vor. So alt sie auch sind, so wirkungsmächtig können sie sein - im alten Ägypten sind Fragmente des Terrors beispielsweise bedeutsam für zeremonielle magische Rituale gewesen und das Mittelalter gab enorme Impulse für Legenden und Geschichten des Grauens als Ausdrucksform.13 Als Beispiel für ein derartig machtvolles Werk führt Lovecraft unter anderem das Buch Enoch an, welches die „power of the weird“14 über den Geist des Menschen illustriert. Der Horror als auszudrückendes Moment durchläuft alle Formen der erzählerischen Entwicklung und ist Gegenstand von Sagen, Legenden, Balladen usw. sowie schließlich auch der literarischen Erzählung.15 Das Interesse am Übernatürlichen geht aus der Verbindung von dunklen Mächten und der Erzählung auch in die Wissenschaften des Mittelalters über, wofür das Aufkommen von Disziplinen wie Astrologie, Magie und Alchemie ein deutlicher Beleg ist.16

Auf dem künstlerischen Sektor findet das Schaurige in Mittelalter und Renaissance seinen Zugang zur Literatur über den Ausdruck in der Poesie17 und geht danach erst allgemein in die Prosa ein. Im elisabethanischen Zeitalter spiegelt sich die alltägliche Angst vor Hexen, Dämonen und Geistern im Drama.18 Analog dazu entstehen Abhandlungen über Hexerei und ähnliches mehr, welche deutlichen Einfluss auf den Alltag der Menschen nehmen. Die Zeit der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert lässt den Glauben an Übernatürliches wieder in den Hintergrund treten, danach folgen die Ära des wieder erwachenden Romantischen sowie die Geburt der Gothic Tale als neue Schule des Schreibens.19 Nach Lovecraft ist es bemerkenswert, dass es so lange gedauert hat, bis sich die unheimliche Erzählung als literarisch und akademisch beachtetes Genre entwickelt hat, obwohl deren Impulse und ihre Atmosphäre so alt sind die die Spezies Mensch.

Die Ansichten Lovecrafts zu der ersten, als solche deklarierten Gothic Novel fallen recht negativ aus, hält er doch die dem Genre erste Formen gebende Geschichte The Castle of Otranto von Horace Walpole für nicht sonderlich gelungen: „This is the tale; flat stilted, and altogether devoid of the true cosmic horror which makes real literature.“20 Lovecraft ist ferner der Ansicht, dass das Verlangen der Leserschaft nach im Castle of Otranto angesprochenen „touches of strangeness“21 dafür sorgte, dass diese eher flache Erzählung so angesehen war. Walpole lieferte seiner Meinung nach immerhin die für die Etablierung des Genres notwendigen Ansätze,22 welche seine späteren Nachahmer ausbauen konnten. In diesem Zusammenhang entwickelten sich für die Gothic Novel klassische Settings, Figuren, Konstellationen und ähnliches mehr23 als Kern für die Erzeugung von ungewisser Spannung. Durch Erzählungen wie jene von Anne Radcliffe kamen Terror und Suspense in Mode und setzten gleichsam höhere Standards für die gesetzte literarische Domäne des Makaberen wie auch für die Erzeugung der Angst einflößenden Atmosphäre.24 Radcliffe fügte, so Lovecraft, zu Szenerie und Begebenheit für die Gothic Novel das unirdische Element hinzu, sodass auch kleine Details wie Blutspuren auf Treppenstufen innerhalb einer Geschichte große Wirkung erzielen.25 The Mysteries of Udolpho erwarb sich durch die geschickte Anwendung aller Teile zur Erzeugung des Horrors das Recht auf seinen Status als Klassiker des Genres und ist nach Lovecraft ein Beispiel dafür, wie das Unerklärliche, so lange es nicht erklärt wird, der Schauergeschichte ihre ängstigende Vitalität verleiht.26

Das so etablierte Set zur Konstruktion von Horror innerhalb einer Geschichte findet, wohl größtenteils ob seiner Erprobtheit, bis zu Zeiten Lovecrafts und auch heute noch Verwendung,27 was der letztgenannte an weiteren guten und schlechten Beispielen aus der Feder seiner frühen Kollegen verdeutlicht. Es kommen während der Weiterentwicklung der Gothic Novel auch immer wieder neue Einflüsse hinzu, zum Beispiel die „ghoulishness“28, jedoch versinkt das Genre nach Lovecraft dabei immer weiter in Absurditäten. Dem gegenüber treiben Erzählungen wie Melmoth the Wanderer die Horrorgeschichte in ihrer Entwicklung voran, da die Angst aus dem Bereich des Konventionellen genommen und weniger rational zu greifen ist, sondern mehr wie eine „hideous cloud over mankind's very destiny“29 hängt. Zu den klassischen Traditionen des Unheimlichen in der Gothic Novel nach der Grundlage Walpoles gesellen sich - an dieser Stelle von Lovecrafts Text vor allem an Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgemacht - neue, das Genre bereichernde Aspekte wie humoristische Komponenten30 oder auch ein aufkommendes Interesse am Spirituellen, exotischen Religionen oder den Wissenschaften31 hinzu. Ferner entsteht aufgrund von Einflüssen aus der Romantik eine „romantic, semi-Gothic, quasi-moral tradition“32, die sich als einer der vielen Schulen innerhalb des Genres auch bis in Lovecrafts Zeit hinein erhält. Die Gothic Novel findet zudem auch auf dem europäischen Kontinent Anklang und bringt ihre eigenen großen Autoren hervor, von denen Lovecraft einige genauer betrachtet.33 Nach diesem Überblick über die Entwicklung der Literatur der Angst widmet er der Betrachtung von Edgar Poe ein ganzes Kapitel, denn, so Lovecraft, „to him we owe the modern horror-story in its final and perfected state“34. Der letztgenannte stellt, bezogen auf die Gothic Novel, eine Art Vorreiterfigur für Lovecraft dar, da durch Poes Werke sehr deutlich wird, dass kreative Fiktion zum Ausdruck sowie zur Interpretation von Begebenheiten und Gefühlen da ist. Alle Phasen des Lebens und der Gedankenwelt können, dem Autor nach Lovecraft als Objekt für seine Geschichten dienen. In Poes Fall bezog sich diese Interpretation besonders auf starke Empfindungen bzw. Ereignisse, die mit Schmerz, Verfall und Terror verbunden sind und welche der Mensch im Alltag eher fern von sich sehen will.35 Der Verfasser eines Textes wird jedoch nicht als die mahnende Lehrerfigur verstanden, sondern als eine Form des Chronisten, der besondere Geschehnisse möglichst frei von moralisch erzieherischen Wertungen wiedergibt.

An den Erzählungen Poes ist nach Lovecraft besonders, dass deren „spectres acquired a convincing malignity possessed by none of their predecessors, and established a new standard of realism in the annals of literary horror. The important and artistic intent [...] was aided by a scientific attitude not often found before; whereby Poe studied the human mind rather than the usages of Gothic fiction, and worked with an analytical knowledge of terror's true sources which doubled the force of his narratives and emancipated him from all the absurdities inherent in merely conventional shudder- coining“36.

Poe versucht in seinen Texten eine einzige Stimmung einzufangen oder sich auf ein einzelnes, herausragendes Ereignis zu beziehen, auf welche er dann den Rest der Geschichte ausrichtet. Hierzu greift er alltägliche Szenerien der menschlichen Existenz auf und führt den Horror ein, indem die Normalität davon erschüttert wird.37 Der Mensch ist in diesem Zusammenhang als insignifikanter Teil des Kosmos zu verstehen, welcher die sich um ihn herum zutragenden, unheimlichen Begebenheiten nicht begreifen kann und darauf mit Schrecken reagiert.38 Dieser Umstand zeigt sich, so Lovecraft weiter, auch darin, dass Poe die narrativen Effekte wichtiger gewesen zu sein scheinen als die Charakterzeichnung, denn die Akteure in seinen Geschichten sind sich oft recht ähnlich. Sein „typical protagonist is generall a dark, handsome, proud, melancholy, intellectual, highly sensitive [...] and sometimes slightly mad gentleman“39 und hat grundlegend nur noch wenig von den frühen Figuren der Gothic Novel wie bei Walpole oder auch bei Radcliffe. Vielmehr finden sich in der typischen Figur Poes Verbindungen von düsteren, strebsamen und anti-sozialen Qualitäten zu einem Ganzen zusammen und erinnern eher an den Byronschen Helden.40 Durch Poes Arbeit wurden Themen wie Verfall, Krankheit und Perversität zu artistisch ausdrückbaren Termini erhoben.41

Dass es zu Zeiten Poes auch andere interessante Autoren wie beispielsweise Nathaniel Hawthorne gab, bespricht Lovecraft in den nächsten beiden Kapiteln, die sich jeweils mit der amerikanischen und mit der britischen Tradition der Schauergeschichte beschäftigen. Die Tradition des amerikanischen Horrors beinhaltet nach Lovecrafts Ansicht eine besondere Komponente. Sie kann auf einen speziellen Schatz des Unheimlichen zurückgreifen, denn in Amerika verband sich die europäische Tradition der ersten christlichen Kolonialisten mit dem Schauer, welchen die unerforschten Gebiete des neuen Landes und dessen heidnisch-wilde Ureinwohner in den Köpfen der Einwanderer erzeugten.42 Von diesem Schatz konnten Poe und sein nicht minder berühmter Kollege Hawthorne sowie auch andere amerikanische Autoren zehren. Hawthorne und die meisten anderen Produzenten von gruseligen Geschichten, welche Lovecraft in diesem Kapitel vergleichend bespricht, entsprachen den Erwartungen und Umständen ihrer Zeit und büßten später einen Großteil ihrer Popularität ein.

Poes Erzählungen hingegen passten nach Lovecraft nicht in die Zeit, in welcher er lebte und gelangten erst in den Generationen, welche nach ihm kamen, zu wahrem Ruhm.43

Die britische Tradition der Horrorgeschichte verfügt nicht über einen besonderen Schatz wie jene der Amerikaner, hat abseits der Autoren ihrer Hauptströmungen jedoch die Keltische Renaissance der irischen Literatur vorzuweisen, in welche das in Irland allezeit prominente Sagengut bezüglich Geistern und Feen eingebracht wurde.44

Im abschließenden Kapitel seines Werkes beschäftigt sich Lovecraft mit den Nachwirkungen der Gothic Novel bei den für ihn zeitgenössischen Autoren bzw. deren Literatur. Er ist der Ansicht, dass die besten Stücke der Literatur der Angst aus seiner Zeit sich mit den Erzählungen vergangener Tage messen können oder gar besser sind.

„Technique, craftsmanship, experience, and psychological knowledge have advanced tremendously with the passing years, so that much of the older work seems naive and artificial; redeemed, when redeemed at all, only by a genius which conquers heavy limitations.“45

Um diese Aussage zu untermauern führt Lovecraft einige Beispiele an, hält sich aber auch in der Kritik bezüglich schlechterer Werke von Kollegen oder hinsichtlich seltsamer GenreAuswüchse nicht zurück. Die Zukunft des Genres bewertet er gegen Ende seines Textes positiv, ist die Literatur der Angst doch, wie er in Supernatural Horror in Literature gezeigt hat, „a narrow though essential branch of human expression, and will chiefly appeal as always to a limited audience with keen special sensibilities“46

2. Effekt, Angst und Grausamkeit in der Theorie

2.1 Edgar Allan Poe -The Philosophy of Composition, The Poetic Principle und The Imp of the Perverse

Die vorliegende Arbeit soll sich mit ausgewählten Kurzgeschichten von Edgar A. Poe beschäftigen, respektive den Kunstgriffen nachspüren, welche Poe benutzt, um Angst beim Leser zu erzeugen. Um besagtes Vorhaben möglichst eingehend verfolgen zu können erscheint es notwendig, sich auch mit den literarischen Theorien zu beschäftigen, welche Poe selbst verfasste. Lässt sich anhand einer Analyse der jeweiligen Kurzgeschichte ausmachen, ob und in welcher Weise Poe seine eigenen Angaben zum Verfassen von Dichtung im Allgemeinen und Kurzgeschichten im Besonderen befolgt hat?

Um der Arbeit eine angemessene, theoretische Grundlage zu verschaffen - und um die vorangegangene Frage eventuell beantworten zu können - sollen also im Folgenden Poes Theorietexte The Philosophy of Composition, The Poetic Principle sowie kürzere Essays und Briefe, die als solche kenntlich gemacht werden, eingehender betrachtet werden. Außerdem hat Poe mit der Kurzgeschichte The Imp of the Perverse einen Text vorgelegt, dem für diese Arbeit eventuell bedeutsame Aussagen zu dem im Titel derselben benannten dunklen Grund im Menschen entnommen werden können. Deshalb soll auch die besagte Erzählung an diesem Punkt der Arbeit einbezogen werden.

Poe geht in seinem 1846 veröffentlichten Essay The Philosophy of Composition zunächst davon aus, dass eine gelungene Geschichte auf den Komponenten Länge, Effekt und logische Methode47 beruht. Andere Angaben für die Vorgehensweise zur Kreation einer gelungenen Erzählung sind Poe zufolge skeptisch zu betrachten; ihm selbst erscheinen sie offenbar als suspekt. Dies heißt genauer, dass Poe die Überlegung anstellt, die verbreitete Form der Erarbeitung einer Geschichte beruhe darauf, dass der Autor seine Schauplätze, Dialoge und Figuren um ein einziges besonderes Ereignis herum gruppiert, welches ihm entweder selbst eingefallen oder durch seine Umwelt an ihn herangetragen worden ist. Auf diese Weise stopft der Schreiber nach Poe durch die Anfügung einzelner Komponenten an die Grundidee jedoch nur Löcher im Konstrukt der zu gestaltenden Erzählung.48 Ferner glaubt Poe, dass viele Autoren es vorziehen, wenn das Publikum nicht hinter die technische Fassade der konstruierten Geschichte schaut, sondern viel eher so etwas annimmt wie die Überlegung, dass der Schreibende sein Werk nicht durch harte und wohl überlegte Arbeit, sondern aufgrund von genialen Einfällen geschaffen hat, die für den Außenstehenden nicht nachvollziehbar sind.49 Poe ist zudem bewusst wie schwierig es oft ist, den Prozess der Konstruktion einer Geschichte überhaupt zu erklären, vor allem dann, wenn die Ideen für solche aus einem größeren Block an kreativen Gedanken herausfallen und dann entweder nur auf eine gleichsam ungeordnete Weise verfolgt oder aber wieder vergessen werden.50 Aus diesem Grund scheint es ihm wichtig zu sein, eine anschauliche Methodik vorzustellen, aufgrund derer der Prozess des kreativen Schreibens nachvollzogen werden kann.

Der Effekt - oder auch die emotionale Reaktion, welche beim Leser hervorgerufen werden soll - hat seiner Meinung nach am Anfang der Kreation einer guten Geschichte zu stehen. Ein fiktionaler Text soll erst dann geschrieben werden, wenn der Autor entschieden hat, welchen Effekt er genau erzielen und bis zum Ausgang der Geschichte verfolgen möchte.51 Wenn dieser gewünschte Effekt bestimmt worden ist, kann der Autor (dem Effekt entsprechend) entscheiden, welche anderen Gegenstände er verwenden will und diese zur Entstehung der Geschichte um den gewünschten Effekt herum konstruieren.52 Das bedeutet, dass der Autor sich dem gewünschten Effekt entsprechend Gedanken darüber zu machen hat, wie der Ton und das Thema der Geschichte sein sollen, welches Setting und welche Charaktere gewählt werden, was für ein Konflikt in der Geschichte aufkommen wird und wie genau der Plot - insbesondere auf den Ausgang der Geschichte bezogen - aufgebaut ist.

Eine angemessene Länge heißt für Poe, dass es eine gute Geschichte nicht zu lang sein sollte: Er legt als zeitliche Begrenzung “a single sitting”53 fest, was bedeutet, dass man eine gelungene Geschichte nicht aufgrund ihrer Länge zwischen den einzelnen Zeitspannen, die man für seine persönliche Textlektüre veranschlagt, aus der Hand legen sollte. Durch die Unterbrechungen des Alltags geht nach Poes Ansicht viel von der Wirkung eines fiktionalen Textes auf den Leser verloren; eventuell aufgebaute Spannung wird durch die Unterbrechung einer Geschichte zunichte gemacht oder zumindest deutlich geschmälert:

„If any literary work is too long to be read at one sitting, we must be content to dispense with the immensely important effect derivable from unity of impression - for, if two sittings be required, the affairs of the world interfere, and every thing like totality is at once destroyed.“54 Ferner hält Poe es für wichtig, dass nichts an der betreffenden Geschichte überflüssiger Zierrat ist. Jeder Part des Erzählten muss seinen Teil zur Erzielung des gewünschten Effekts beitragen und für die Geschlossenheit der Handlung von Bedeutung sein, sodass dem Leser eine stimmige, anhaltende „unity of effect“55 vermittelt werden kann. Dieser Punkt kann sicherlich auch im Zusammenhang mit einer angemessenen Länge gesehen werden, vor allem wenn man bedenkt, dass mit unwichtigem Schmuck oder mit allzu vielen Wiederholungen überladene Texte rasch drohen, langweilig zu werden.

Dass eine Geschichte außerdem von der logischen Methode abhängt56 bedeutet nach Poe, dass das Schreiben methodisch und analytisch sein soll und man nicht einfach unstrukturiert anfangen kann zu schreiben (auch wenn das nach seiner Aussage wohl kaum ein Dichter vor ihm freiwillig zugegeben hat oder haben soll).57 Eine Geschichte hat von Anfang bis Ende wohl überlegt und logisch strukturiert zu sein, wozu ihr Verfasser vom gewünschten Effekt auszugehen hat und diesen beim Schreiben immer im Blick haben muss. Geschichten müssen nach Poe ähnlich logisch durchkomponiert sein wie mathematische Gleichungen58: Für das Gelingen eines fiktionalen Textes soll nichts dem Zufall überlassen werden.

Ferner hält Poe in dem 1850 veröffentlichten Essay The Poetic Principle fest, dass das ultimative Ziel des Künstlers die Erzeugung von Ästhetischem ist.59 Es grenzt also an Häresie60 von einem Gedicht (oder auch von einer Geschichte) zu verlangen, es bzw. sie solle dazu dienen, den Leser moralisch zu erziehen. Diese Position vertritt er auch in seinen Briefen, wenn es z.B. in seinem „Letter to B-“ heißt:

„A poem, in my opinion, is opposed to a work of science by having, for its immediate object, pleasure, not truth; to romance, by having for its object an indefinite instead of a definite pleasure, being a poem only so far as this object is attained; [...]“61

Ein poetisches Kunstwerk soll nach Poe also weder moralischen Anforderungen entsprechen noch moralische Werte vermitteln.

Da er sich in diesem theoretischen Text hauptsächlich mit der Gattung des Gedichtes befasst, definiert er die künstlerischen Prinzipien anhand dieses kurz zu haltenden Mediums: Das Gedicht soll um des Gedichtes Willen62 geschrieben werden, da es, so Poe, die ultimative schriftliche, rhythmische Ausdrucksform der Schönheit sein kann: „I would define, in brief, the Poetry of words as The Rhythmical Creation of Beauty.“63

An solch ein Konstrukt, welches rein sich selbst dienen und um der Schönheit Willen geschaffen sein soll, kann man nur ästhetische, nicht aber moralische Ansprüche stellen. Ziel eines fiktionalen Textes darf es nicht sein, der Wahrheitsvermittlung zu dienen, da nach Poes Ansicht Wahrheit und Schönheit nicht zusammenstehen können, denn zur Abfassung eines ,wahren‘ Textes dürfte man sich nicht von der Leidenschaft des Künstlers leiten lassen, sondern müsse der Logik den Vorzug geben - ein Umstand, der demjenigen, der zur Schaffung von Schönheit benötigt wird, widerstrebt.64 Um Schönheit zu schaffen muss sich der Künstler also der von ihm zu erzielen gewünschten Affekte bedienen und nicht versuchen, die „oils and waters of Poetry and Truth“65 in einem schriftlichen Kunstwerk miteinander zu verbinden. Zwischen diesen Extremen steht nach Poe der Geschmack. Dieser kann in die eine wie in die andere Richtung tendieren, ist aber nach Poe dem Schönen näher, da der Geschmack dafür sorgt, dass der Mensch das Schöne als solches erkennt.66 Der Seele des Menschen, so Poe weiter, wohnt ein „thirst unquenchable“67 nach dem Schönen „above“68 inne, sodass er durch das Schaffen von Schönem beständig versucht, dem Paradies näher zu kommen:

„And thus when by Poetry [...] we find ourselves melted into tears [...] through a certain, petulant, impatient sorrow at our inability to grasp now, wholly, here on earth, [...] those divine and rapturous joys, of which through the poem, or through the music, we attain to but brief and indeterminate glimpses.”69

In diesem Zusammenhang bespricht Poe einige Gedichte der Autoren seiner Zeit und zieht sie als Beispiele heran, um das - seiner Meinung nach jeweils mehr oder weniger gelungene - Zusammenspiel von Ton, Rhythmus und Effekt zu verdeutlichen. All diese Kunstgriffe und Überlegungen des Künstlers zielen ferner darauf ab, im Rezipienten durch das Kunstwerk „ an elevating excitement of the Soul70 zu erzeugen. An dieser Stelle betont Poe noch einmal die „harmony“71 des schriftlichen Kunstwerkes, welche dafür verantwortlich ist, dass das Gedicht oder auch die Geschichte - ihren Effekt vollends entfalten kann. Die Geschichte kann den Eindruck von Schönheit jedoch nicht zum Hauptziel haben, da sie nicht über die Möglichkeiten des Gedichts verfügt, sondern soll den vom Autor für sie gewählten Effekt im Leser erzeugen.

Ein von Poe offensichtlich häufig von seinen Kurzgeschichten gewünschter Effekt ist der Schauder. Um diesen zu erzeugen spielt Poe nicht selten mit der Psyche seiner Protagonisten und erforscht dabei die Abgründe der menschlichen Seele. Er scheint bei der Konstruktion seiner Bösewichte der Frage nachzugehen, wie und warum ein Mensch auf die Idee kommen könnte, einem oder mehreren anderen Lebewesen Gewalt anzutun. Außerdem scheint Poe sehr an den seelischen und gedanklichen Vorgängen im Täter interessiert zu sein, lässt er diese im Verlauf seiner Texte doch häufig offen über ihre Taten und die damit verbundenen, von ihnen als solche angesehenen Gründe und Empfindungen nachdenken. Somit erhält auch der Leser die Möglichkeit, die Motivation des Täters nachzuvollziehen und einen Einblick in dessen Psyche zu bekommen.

In diesem Zusammenhang und für ein besseres Verständnis scheint es sinnvoll, die erste Hälfte der Erzählung The Imp of the Perverse zu Rate ziehen. Durch sie lässt sich vermutlich jenen Vorstellungen nachspüren, welche Poe gehabt haben könnte, als er mögliche Gründe für das Begehen von grausamen Taten ausgemacht hat: Zu Beginn von The Imp of the Perverse meint der Erzähler, dass „in the consideration of the faculties and impulses - of the prima mobilia of the human soul, the phrenologists have failed to make room for a propensity which, although obviously existing as a radical, primitive, irreducible sentiment, has been equally overlooked by all moralists who have preceded them.“72

Besagtes Gefühl ist nicht von der Wissenschaft beachtet worden, da man den Ausführungen des Erzählenden zufolge angenommen hat, Gott hätte alle Facetten des Menschen sinnvoll an ihm hinzugefügt. Dies sei jedoch der falsche Ausgangspunkt, um die Gefühlsregungen und Antriebe des Menschen zu verstehen:

„It would have been wiser, it would have been safer, to classify [...] upon the basis of what man usually or occasionally did, and was occasionally doing, rather than upon the basis of what we took it for granted the Deity intended him to do.“73

Der Mensch hätte an seinen Taten festgemacht werden sollen, damit die Wissenschaft schon eher auf „an innate and primive principle of human action“74 hätte aufmerksam werden können, welches grundlegend der These zu widersprechen scheint, dass alle menschlichen Aktionen der Vernunft und einem Zweck entsprechend getätigt werden. Es wäre aufgefallen, dass Menschen ab und zu tatsächlich Dinge tun, gerade weil sie keinem offensichtlichen Zweck dienen und das dann auch oft, gerade weil besagte Dinge unvernünftig sind.

„In theory, no reason can be more unreasonable; but, in fact, there is no more strong. [...] the assurance of the wrong or error of any action is often the one unconquerable force which impels us, and alone impels us to its prosecution [...] It is a radical, a primitive impulse - elementary.“75

Die Vermutung, dass dieser in jedem Menschen76 angelegte Trieb zum Perversen ein Auswuchs der „combativeness of phrenology“77 sei verneint Poe durch den Erzähler seiner Geschichte. Der von ihm vorgestellte Trieb dient nicht wie die Kampfeslust der Selbsterhaltung, sondern lediglich sich selbst und handelt der Erhaltung des persönlichen Wohlbefindens vielmehr entgegengesetzt: Der Geist der Perversheit scheint einfach existent zu sein und nicht darauf ausgelegt dem Menschen, in welchem er zutage tritt, in irgendeiner Form Gutes zu bringen.

Der besagte Trieb ist ferner nur schwerlich zu kontrollieren und übernimmt viel öfter seinen Träger, als dass er sich von diesem wieder rasch in vernünftige Bahnen lenken lässt. Dem ist offenbar vor allem so, weil sich die beschriebene Perversion erst nur kurz und leise im Betroffenen regt und zunächst kontrollierbar scheint, nur um dann plötzlich mit aller Härte im Inneren des Individuums zu wüten, bis das Verlangen nach der offensichtlich falschen Tat gestillt wird:

„The Impulse increases to a wish, the wish to a desire, thee desire to an uncontrollable longing, and the longing (to the deep regret and mortification of the speaker, and in defiance of all consequences) is indulged.“78

Ein derartiges Verlangen kann nicht nur durch eine Aktion, sondern auch durch die Unterlassung einer solchen befriedigt werden. In Poes Erzählung wird zur Verdeutlichung dieser Idee das Beispiel angeführt, dass man die Arbeit in einer wichtigen Angelegenheit unterlässt obwohl man weiß, dass sie erledigt werden muss. Die Aufgabe wird wider besseren Wissens hinausgeschoben, so lange bis es (fast) zu spät ist.79

„We stand upon the brink of a precipice. We peer into the abyss - we grow sick and dizzy. [...] It is merely the idea of what would be our sensations during the sweeping precipitancy of a fall from such a height. [...] And because our reason violently deters us from the brink, therefore do we the most impetuously approach it. There is no passion in nature so demoniacally impatient, as that of him who, shuddering upon the edge of a precipice, thus meditates a plunge.“80

Es ist in Anbetracht dieses zuletzt gezeichneten Bildes der Versuchung unerheblich, ob der Mensch in einen wirklichen Abgrund oder in metaphorische Untiefen wie die Dunkelheit seiner Seele hinab starrt. Der genaue Ort für die Begegnung mit dem beschriebenen Trieb spielt keine große Rolle. Viel wichtiger scheint zu sein, dass die Perversheit jeden Menschen betrifft und jeden überkommen kann. Dass die Vernunft außerdem kein ausreichendes Gegenmittel sein dürfte, wenn die dämonisch erscheinende Macht der Perversheit den Geist der betreffenden Person erst einmal für sich eingenommen hat, lässt dieses Ideenkonstrukt weitaus bedrohlicher erscheinen. Mit diesem abscheulich wirkenden Konstrukt ist eine wichtige Grundlage für den Schauder gelegt, denn die Vorstellung, etwas in sich nicht beherrschen oder kontrollieren zu können, bewirkt im Leser unheimliche Gefühle.

Wenn man sich die unterschiedlichen Charaktere aus der Feder Poes genauer ansieht scheinen die Annahmen, welche zu Beginn der Erzählung The Imp of the Perverse dargelegt werden, als solche durchaus berechtigt und nicht nur eine interessante Einführung in eine Story zu sein, denn die schurkischen Erzähler, welche Poe dem Leser in Geschichten wie The Black Cat, The Tell-Tale Heart oder The Cask of Amontillado vorstellt, scheinen allesamt von diesem üblem Geist befallen zu sein und ihm, aus ihrer jeweiligen Sicht mehr oder weniger freiwillig, durch die Ausführung ihrer spezifischen Untaten zu dienen.

Da die Grausamkeit in den untersuchten Erzählungen oft mit der beschriebenen Perversität einhergeht und zwar nicht ,schön‘ aber ästhetisch so wertvoll zu sein scheint, dass Poe sich durch seine Charaktere immer wieder mit ihr befasst, soll auch sie Berücksichtigung in der genaueren Betrachtung der ausgewählten Werke erfahren. Ob und in wie weit sich Poe an die von ihm aufgestellten und hier dargelegten theoretischen Vorgaben hält, wird ebenfalls zu betrachten sein.

2.2 Sigmund Freud - Der Dichter und das Phantasieren und Das Unheimliche

Sigmund Freud, oft auch als Vater der Psychoanalyse bezeichnet, hat in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen und Essays weit mehr Bereiche als die Untersuchung der menschlichen Sexualität, aufgrund derer der Laie ihn heutzutage hauptsächlich wahrnimmt, abgedeckt. In ausgewählten Stücken befasst er sich beispielsweise mit der Deutung unserer Träume, mit der Wirkung des Witzes und ähnlichem mehr. Für diese Arbeit sollen Freuds Essays zum Unheimlichen und zum Phantasieren des Dichters betrachtet und nutzbar gemacht werden.

Die Erkenntnisse, welche sich auf Freuds 1908 erschienenem Essay Der Dichter und das Phantasieren ergeben, bereichern das Handwerkszeug, welches zur Untersuchung von Poes Kurzgeschichten gebraucht werden wird, um einige interessante Aspekte: Freud glaubt, dass „die ersten Spuren dichterischer Betätigung“81 schon im Kindesalter zu finden sind. In jedem spielenden Kind steckt, nach Freud, schon eine Art des Dichters, wenn sich das Kind seine imaginäre Spielwelt schafft.82 Der Dichter versetzt „die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung“83. Ein Unterschied zwischen Spielen und Phantasieren besteht darin, dass die Spielwelt sich in der Regel an die Realität anlehnt, die Phantasiewelt hingegen ist in der Lage, von der Realität abgegrenzt zu sein - zumindest dann, wenn der Dichter dies wünscht.84

Freud führt den Sprachgebrauch als Indiz für die Ähnlichkeit von Spiel und literarischem Werk an: Er bezieht sich damit auf Kompositionen wie Lustspiel, Trauerspiel, Schauspiel usw. für die Belegung seiner These.85

Durch das Heranwachsen kommt es beim Kind, nach Freud, zum scheinbaren Verzicht auf den Lustgewinn, den es aus dem Spiel bezog: Es verzichtet auf die realen Gegenstände des Spiels und bedient sich eher seiner Phantasien und Tagträume.86 Dies gehört zur normalen Entwicklung eines Menschen, vor allem wenn man bedenkt, dass man sich im Erwachsenenalter seiner Phantasien eher schämt und diese für sich behält, weil andere Menschen diese z.B. als albern oder unbedeutend ansehen könnten.87

Freud nimmt deswegen auch an, dass allein der unglückliche Mensch damit beginnt, aufgrund der für ihn unbefriedigenden Wirklichkeit zu phantasieren. Phantasie ist Wunscherfüllung, sie korrigiert also die für den Unglücklichen unzureichende Realität - zumindest - auf dessen gedanklicher Ebene.88

[...]


1 Das Zitat, welches im Titel enthalten ist, ist dem ersten Band des Werkes Die schwarze Romantik entlehnt und bringt, so dessen Autor Praz, Künstler wie Flaubert und Delacroix mit dieser düsteren Seite der Literatur in Verbindung. Vgl. Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. Band 1. dtv, München 1970. S. 161.

2 Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass weder Lovecraft noch das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit einen Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich einer Geschichte der Literatur der Angst erheben. Die Auswahl des Buches von Lovecraft als Hinführung erfolgte aufgrund der Überlegung, dass der besagte Autor über ein signifikantes Wissen bezüglich des Genres sowie der Verfertigung von Angst einflößender Literatur verfügte und mit dieser stets kritisch umgegangen ist.

3 Lovecraft, H. P.: Supernatural Horror in Literature. Dover Publications, Inc., New York 1973. S. 12.

4 Ebd.

5 Vgl. Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 13.

6 Vgl. ebd.

7 Ebd., S. 14.

8 Vgl. ebd., S. 14f.

9 Ebd., S. 15.

10 Vgl. ebd.

11 Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 15.

12 Vgl. ebd., S. 16.

13 Vgl. ebd., S. 17.

14 Ebd.

15 Vgl. ebd., S. 17f.

16 Vgl. ebd., S. 19.

17 Vgl. ebd., S. 20.

18 Vgl. ebd.

19 Vgl. ebd., S. 21.

20 Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 25.

21 Ebd.

22 Vgl. ebd.

23 Vgl. ebd, S. 25f.

24 Vgl. ebd., S. 27.

25 Vgl. ebd.

26 Vgl. ebd., S. 28f.

27 Vgl. ebd., S. 26.

28 Vgl. ebd., S. 30.

29 Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 32.

30 Vgl. ebd., S. 37.

31 Vgl. ebd., S. 41.

32 Ebd., S. 43.

33 Vgl. ebd., S. 45ff.

34 Ebd., S. 53.

35 Vgl. ebd., S. 53.

36 Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 53f.

37 Vgl. ebd., S. 54f.

38 Vgl. ebd., S. 55.

39 Ebd., S. 59.

40 Vgl. ebd.

41 Vgl. ebd., S. 54.

42 Vgl. ebd., S. 60.

43 Vgl. Lovecraft, Supernatural Horror in Literature, S. 66.

44 Vgl. ebd., S. 85f.

45 Ebd., S. 87.

46 Ebd., S. 106.

47 Vgl. Poe, Edgar A.: The Philosophy of Composition. In: James A. Harrison (Hrsg.): The Complete Works of Edgar Allan Poe. Volume XIV. Essays And Miscellanies. AMS Press Inc., New York 1965. S. 193.

48 Vgl. ebd., S 193f.

49 Vgl. Poe, The Philosophy of Composition, S. 194f.

50 Vgl. ebd., S. 195.

51 Vgl. ebd. S. 193.

52 Vgl. ebd., S. 194.

53 Ebd., S. 196.

54 Ebd.

55 Poe, The Philosophy of Composition, S. 196.

56 Vgl. ebd., S. 195.

57 Vgl. ebd., S. 194f.

58 Vgl. ebd., S. 195.

59 Vgl. Poe, Edgar A: The Poetic Principle. In: James A. Harrison (Hrsg.): The Complete Works of Edgar Allan Poe. Volume XIV. Essays And Miscellanies. AMS Press Inc., New York 1965. S. 275.

60 Vgl. ebd., S. 271.

61 Poe, Edgar A.: Letter to B-. Southern Literary Messenger, July 1836, S. 503. Vgl. http://www.eapoe.org/works/essays/bletterb.htm (Stand: 23.01.2010).

62 Vgl. Poe, The Poetic Principle, S. 271f.

63 Vgl. ebd., S. 275.

64 Vgl. ebd., S. 272.

65 Ebd.

66 Vgl. ebd., S. 273.

67 Ebd., S. 273.

68 Ebd.

69 Ebd., S. 274.

70 Ebd., S. 290.

71 Ebd.

72 Poe, Edgar A.: The Imp of the Perverse. In: Poe, Edgar A.: Complete Stories and Poems of Edgar Allan Poe. Reissue. Doubleday, New York 1991. S. 271.

73 Ebd., S. 272.

74 Poe, The Imp of the Perverse, S. 272.

75 Ebd.

76 Ebd.

77 Ebd.

78 Ebd., S. 273.

79 Vgl. ebd.

80 Poe, The Imp of the Perverse, S. 273f.

81 Freud, Sigmund: Der Dichter und das Phantasieren. In: Mitscherlich, A./ Richards, A./ Strachey, J. (Hrsg.). Sigmund Freud. Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. 6., korrig. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main 1969. S. 171.

82 Vgl. ebd.

83 Vgl. ebd.

84 Vgl. ebd., S. 172.

85 Vgl. ebd.

86 Vgl. ebd.

87 Vgl. ebd., S. 173.

88 Vgl. Freud, Der Dichter und das Phantasieren, S. 173f.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Effekt, Angst und Grausamkeit in den Kurzgeschichten Edgar A. Poes
Untertitel
„Der dunkle Grund, der nach Befriedigung verlangt“
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,8
Autor
Jahr
2010
Seiten
81
Katalognummer
V165094
ISBN (eBook)
9783640808250
ISBN (Buch)
9783640808021
Dateigröße
833 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
effekt, angst, grausamkeit, kurzgeschichten, edgar, poes, grund, befriedigung
Arbeit zitieren
Jennifer Knieper (Autor:in), 2010, Effekt, Angst und Grausamkeit in den Kurzgeschichten Edgar A. Poes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165094

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