Geschichte zum Anfassen und Sehen – Eine Stadtrallye am Beispiel der absolutistischen Bauwerke Erfurts


Magisterarbeit, 2009

77 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS:

Einleitung

1. Erfurts absolutistische Bauwerke und ihr historischer Kontext
1.1 Die Stützen des Absolutismus - Militär, Finanzen und Verwaltung
1.2 Erfurt vor der Reduktion von 1664
1.3 Bau der Zitadelle Petersberg zur Sicherung der Mainzer Herrschaft
1.4 Philipp Wilhelm von Boineburgs Statthalterschaft
1.4.1 Der Versuch der Wiederbelebung der Erfurter Wirtschaft und die Errichtung des Packhofs
1.4.2 Die Beseitigung der Missstände in der Verwaltung und der Neubau der Statthalterei

2. Didaktische Konzipierung für die Klassenstufen 7/8 - Eine Stadtrallye
2.1 Die Stadtrallye als Beispiel für außerschulisches Lernen
2.2 Zum Begriff des „historischen Ortes“ und den gegenständlichen Quellen
2.3 Einflüsse seitens der Schüler auf die Planungsarbeit
2.4 Vor- und Nachteile des außerschulischen Lernens der absolutistischen Bauwerke Erfurts
2.5.1 Die Vorbereitung
2.5.2 Die Durchführung
2.5.3 Die Nachbereitung

Schlussbetrachtung

Anhang

Abbildungen

Arbeitsmaterialien

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

EINLEITUNG

Egal ob 13. August, 11. September oder 9. November - derartige Tagesdaten dürften in vielen Deutschen auch ohne Jahreszahl sofort eine Assoziation auslösen, wenn sie diese sehen oder hören. Allesamt sind geschichtlich bedeutende Ereignisse, die von den Men- schen mitunter ganz unterschiedlich positiv oder negativ wahrgenommen werden. Zu einer derartigen Divergenz kann es auf zweierlei Wegen kommen: So können zum einen ungleiche Positionen zum jeweiligen Ereignis vorhanden oder zum anderen bei identi- scher Haltung die Wahrnehmungen abweichend sein. Auch wenn der Titel der Arbeit eigentlich nach Daten aus der absolutistischen Zeit verlangt, so kann damit jedoch der angesprochene Sachverhalt nicht dargelegt werden. Deshalb - und auch aufgrund der besseren Nachvollziehbarkeit für den Leser - sei er am Beispiel des 13. August 1961 verdeutlicht. Für die Führung der DDR war es sicherlich ein recht positives Ereignis, da das wirtschaftliche Ausbluten gestoppt wurde. Aus der Sicht vieler Menschen in beiden deutschen Staaten manifestierte sich damit hingegen immer mehr die Teilung, was diesen Tag für sie negativ konnotierte. Dieses Empfinden war jedoch sicherlich zwischen einem Berliner, der den Mauerbau hautnah mit eigenen Augen sah, und einem Dresdner, der das Geschehen am Fernseher verfolgte, voneinander abweichend.

Dieses Phänomen findet sich auch bei der Auseinandersetzung mit und dem Lernen von Geschichte im Unterricht wieder. Einen Gegenstand auf einem Bild im Lehrbuch zu betrachten oder real erleben zu können, ist grundsätzlich verschieden. Bereits 1978 hielt HEY dazu fest:

„Die Signalwirkung des originalen historischen Zeugnisses, das in seiner unver- wechselbaren Einmaligkeit noch die Aura des Historischen besitzt, das anschaulich ist und exemplarisch beziehungsweise repräsentativ einen geschichtlichen Sach- verhalt erschließt, für Motivation und Interesse der Schüler ist weitaus größer als der seines papierenen Abklatsches in Schulbuch, Bild und Karte. Dies ist nicht gleichbedeutend mit einem leichteren Zugang zur Geschichte, eher im Gegenteil: Die originale Sachquelle kann durch ihr fremdartiges Aussehen, durch Unvoll- ständigkeit oder Unübersichtlichkeit zunächst schwerer zu entziffern, zu interpre- tieren und einzuordnen sein. Eben die Schwierigkeiten bei der Erschließung der historischen Aussage aber können auch wieder die Lust, sich näher damit zu befas sen, erregen. Verwunderung, Erstaunen und Neugier finden hier eher […] Ansatz punkte als bei der geläufig servierten Schrift- oder Bildquelle im Schulbuch.“1

Die Schüler können mit dem angesprochenen „historischen Zeugnis“ inner- oder auch außerhalb der Schule konfrontiert werden. Im Klassenraum werden geschichtliche Sachquellen aus noch darzulegenden Gründen in heutiger Zeit leider kaum verwendet.2 Hingegen kam es, initiiert durch HEY, in den letzten Jahrzehnten zu einer verstärkten Orientierung auf die „Geschichte vor Ort“.3

Die vorliegende Arbeit erörtert am Beispiel der absolutistischen Bauwerke Erfurts, wie ein derartiges außerschulisches Lernen am „historischen Ort“ ablaufen kann. Dafür ist es nötig, im ersten Teil zunächst den historischen Kontext darzulegen, der sich in vier Unterpunkte gliedert. Zwingend ist eine Auseinandersetzung mit dem Terminus „Absolu- tismus“ und seinen drei Stützen, dem Militär, den Finanzen und der Verwaltung. Berück- sichtigung findet dabei die aktuelle Forschungsdebatte, die den Begriff teils sehr kontro- vers diskutiert. Danach geht es im Speziellen um die absolutistische Entwicklung in Er- furt. Dafür ist ein kurzer Abriss der besonderen und über Jahrhunderte andauernden Ver- bindung zum Mainzer Erz- beziehungsweise Kurfürstentum nötig. Denn ohne diese Zu- sammengehörigkeit wäre die Stadt an der Gera wohl nie von dieser frühneuzeitlichen Herrschaftsform und den mit ihr einhergehenden Auswirkungen erfasst worden. Entspre- chend setzte der damalige Erzbischof Johann Philipp von Schönborn seine Oberhoheit über Erfurt nach 1664 zügig um. Im genannten Jahr konnte Mainz die thüringische Stadt vollkommen unterwerfen und ihren Autonomiebestrebungen ein Ende setzen. Was den militärischen Bereich anging, wurde auf dem Petersberg eine mächtige Festung errichtet, um das Aufflammen möglicher Revolten zu unterdrücken. Für die absolutistische Zeit üblich verschlangen derartigen Unternehmungen Unsummen an Geld. Der erhöhte Be- darf erzwang einen Ausbau des Fiskalsystems im Erfurter Raum. Zu diesem Zweck er- folgte die Errichtung einer neuen Waage, genauer gesagt eines Packhofs, der die finan- ziellen Einnahmen steigern sollte. In einem dritten Schritt kam es dann zum Bau eines repräsentativen Regierungssitzes, der Statthalterei. Die letzten beiden Maßnahmen er folgten unter Philipp Wilhelm von Boineburg, dem wegen seines besonderen Verdienstes in jener Epoche ein kurzes Kapitel gewidmet wird.

Der zweite große Abschnitt dieser Ausarbeitung konzentriert sich dann auf die di- daktische Umsetzung der gerade kurz ausgeführten geschichtlichen Thematik im Unter- richt. Zur Vermittlung wurde ein außerschulisches Lernen mittels einer Stadtrallye ge- wählt. Leider ist die Literaturlage dürftig bis schlecht, weshalb es sich schwierig gestal- ten wird, diese Methode einwandfrei zu charakterisieren. Hinsichtlich des Wissenser- werbs außerhalb der Schule geht im Fach Geschichte der bereits erwähnte Begriff des „historischen Ortes“ einher, den es zu erklären gilt. Ebenso auch ein Exkurs zu den ge- genständlichen Quellen, zu denen solche Lernorte zu zählen sind. Dabei werden zahlrei- che Vorteile angeführt, die das außerschulische Lernen als „Instrument“ eines progressi- ven Geschichtsunterrichts unerlässlich erscheinen lassen. An Letzteren werden in heuti- ger Zeit immer höhere Anforderungen gestellt, die hinreichende Bewältigung finden soll- ten.4 Das Lernen am Objekt birgt aber bereits an sich einige grundsätzliche Vorteile, un- abhängig davon in welchem Fach es dazu kommt. Dem gegenüber stehen jedoch auch einige Nachteile, die es hinsichtlich des Wertes außerschulischen Lernens zu untersuchen gilt. Überwiegen also die Vorzüge die Schwächen oder umgekehrt? In diesem Kontext spielt die „Einflusskomponente“ Schüler eine erhebliche Rolle.

Zentraler Bestandteil des didaktischen Passus ist die Abhandlung des so genannten methodischen Dreischritts am Beispiel der Stadtrallye entlang der absolutistischen Bau- werke Erfurts. Besonders aufwendig wird sich hierbei die Vorbereitung gestalten, zu der auch die Ausarbeitung eines Fragenkatalogs gehört, der für die Stadtrallye konstitutiv ist. Erschwerend wirkt sich dabei aus, dass die Planung rein fiktiv geschieht, also nicht be- zogen auf eine bekannte Klasse vorgenommen werden kann. Durchführung und Nachbe- reitung gestalten sich ungleich einfacher und weitaus kürzer. Letztlich zeigt sich an die- sem Dreischritt, was viele Lehrkräfte hindern dürfte, außerschulisches Lernen zu prakti- zieren: Es ist sehr zeit- und arbeitsintensiv, was sich mit dem enormen Umfang der Vor- arbeit begründet. Dennoch soll die vorgelegte Arbeit ein Plädoyer für diese Art des Wis- senserwerbs abgeben.

1. ERFURTS ABSOLUTISTISCHE BAUWERKE UND IHR HISTORISCHER KONTEXT

1.1 DIE STÜTZEN DES ABSOLUTISMUS - MILITÄR, FINANZEN UND VERWALTUNG

Der Titel der vorliegenden Arbeit macht es zwingend erforderlich, sich eingangs mit dem Begriff des „Absolutismus“ auseinanderzusetzen. Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, dass einige Wissenschaftler, darunter HENSHELL5, in diesem Zusammenhang gar von einem „Mythos“ sprechen, was diese Ausarbeitung zumindest terminologisch ad absurdum führen würde.

Die Bezeichnung „Absolutismus“ war keineswegs zeitgenössischen Ursprungs, sondern kam erst ab dem 19. Jahrhundert zur Anwendung. Im heutigen Verständnis steht sie zum einen für eine Regierungsform, die durch die uneingeschränkte, sprich absolute Souveränität des Monarchen gekennzeichnet ist, und zum anderen für eine Epoche in der europäischen Geschichte.6 Damit scheint der Terminus klar definiert, doch in der aktuel- len Forschung wird er kontrovers diskutiert. Ging es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- derts vorrangig um Versuche der Typisierung, wobei unter anderem der „bürokratische“ oder „germanische“ Absolutismus entwickelt wurden, so rückte in den letzten Jahren die „inhaltliche Qualität“ in den Fokus.7 Am Anfang dieser Entwicklung stand die Erkennt- nis, dass das 1874 von ROSCHER erarbeitete Drei-Stufen-Modell nicht haltbar war. Es stand für die starre Abfolge von konfessionellem, klassisch-höfischem und aufgeklärtem Absolutismus.8

DUCHHARDT spricht von einem Revisionismus des Absolutismusbegriffs in der gegenwärtigen Historiographie, der am ausgeprägtesten bei HENSHELL festzustellen ist.9 Letzter greift jedoch nur einen Aspekt der vielseitigen Kritik auf:

„So geht es zum einen um eine kritische Gegenüberstellung absolutistischer Herr- schaftsform, wie sie sich in der politischen Theorie, im Selbstverständnis eines Herrschers, im Herrschaftsaufbau und schließlich in der Gesetzgebung widerspie- gelt, und der Herrschaftspraxis, die konkret nach der Reichweite absolutistischer Herrschaft […] fragt. Zum anderen geht es um die Tragfähigkeit des Absolutis musbegriffs als Epochenbegriff.“10

HENSHALL setzt mit seiner Kritik an der Übereinstimmung zwischen Herrschaftsform und Herrschaftspraxis an. Aber seine These vom „Mythos“ lässt sich, ohne dies hier wei- ter auszuführen, letztlich nicht aufrechtzuerhalten, wenngleich moderatere Kritik durch- aus berechtigt ist. Die gilt auch für den zweiten Aspekt. Vor allem die fehlende einheitli- che Periodisierung macht den Epochenbegriff „Absolutismus“, der zeitlich meist von 1648 bis 1789 gefasst ist, stark hinterfragbar. Hinzu kommt, dass Europa nie komplett mit absolutistischen Staaten überzogen war. Am triftigsten erscheint jedoch das Fehlen eines reinen Absolutismus in der Praxis. Die Befürworter halten kritische Äußerungen für legitim, aber nicht ausreichend, um die epochalbegriffliche Bedeutung des Terminus „Absolutismus“ zu kippen, zumal keine Alternative vorhanden wäre.11

Somit scheint der aktuelle Forschungsstand umrissen, verbunden mit der Erkennt- nis, dass der Absolutismus als existent angesehen werden muss, also kein „Mythos“ war. Daraus ergibt sich die unbedingte Pflicht, den Entstehungskontext und die Eigenarten dieser frühneuzeitlichen Regierungsform in Grundzügen auszuführen. Den konfessionel- len Absolutismus ausgenommen, lagen ihre Anfänge in der ersten Hälfte des 17. Jahr- hunderts, was die Ursachenforschung unweigerlich auf die krisenhafte Entwicklung12 im Zuge und in der Folge des Dreißigjährigen Krieges lenkte. Dabei lag der Schluss nahe, die absolutistische Herrschaft - mit dem ihr innewohnenden Stabilisierungseffekt - wäre in den entsprechenden „Ländern“ allein die logische Folge dieser schwierigen Situation gewesen. Dies erwies sich jedoch als Fehlurteil, wie VOGLER überzeugend darlegen konnte. Vielmehr lagen die Ursprünge schon früher, nur kam es durch den Dreißigjähri- gen Krieg zu einer Beschleunigung dieser Entwicklung.13

Vordergründig war die absolutistische Herrschaft mit einer Ausdehnung der staatli- chen Aktivitäten und mit einem „Wandel von einer patriarchalisch aufgebauten Struktur der mittelalterlichen fürstlichen oder hochadligen Herrschaft“ hin „zu der sukzessiven Anonymisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung der Herrschaft im entstehenden Territorialstaat“ verbunden.14 Diese Umstände machten unweigerlich neue Herrschafts praktiken erforderlich:

„Die absolute Monarchie mit ihrem ausgeklügelten System von Etikette und geziel- ter Patronagepolitik, vor allem aber einer aufwendigen Repräsentation von Herr- schaft, diente nicht nur der Stabilisierung von Macht, sondern vor allem der Legi- timation einer Herrschaftsform, die sich […] Instrumentarien entwickeln musste, die die Abwesenheit des Herrschers […] rechtfertigen und diese […] zugleich durch die […] Allgegenwart des Herrschers als Zeichen seiner Macht überspiel- ten.“15

Zu den unerlässlichen Instrumentarien im absolutistischen Staat wurden das Militär so- wie der Finanz- und der Verwaltungsapparat. Bestanden die Streitmächte bis dato rein aus Söldnern, so erfolgte im Verlauf des 17. Jahrhunderts der Übergang zum Aufbau von stehenden Heeren. Dies erwies sich zum einen im Hinblick auf die leeren Kassen als deutlich günstiger und zum anderen dürfte es die Treue der Soldaten zu ihrem Herrscher intensiviert haben. Trotz allem stiegen in der Folgezeit die Militärausgaben, denn es wurden immer mehr Männer rekrutiert. Beispielsweise wies Brandenburg-Preußen um 1780 - also in Friedenszeiten - ein stehendes Heer von 30.000 Mann auf. Nicht nur für ihre Truppen, sondern auch zum Unterhalt von militärischen und vor allem repräsentati- ven Einrichtungen, mussten die absolutistischen Staaten ihr Fiskalsystem ausbauen. Ein- nahmen aus Zöllen und ähnlichen „traditionellen“ Geldquellen reichten nicht mehr aus, um den finanziellen Bedarf zu decken, sodass besonders die Besteuerung der Untertanen in den Fokus rückte. Daneben sollten die wirtschaftlichen Ressourcen vollkommen aus- geschöpft werden. Die Historiographie prägte später für die diversen wirtschaftspoliti- schen Ideen jener Zeit den Begriff „Merkantilismus“. Der verstärkte Aufbau des Militärs und die Erweiterung des Finanzwesens machten einen Ausbau der Verwaltungsstruktu- ren zwingend erforderlich. „Es entstand eine Bürokratie, die hierarchisch gegliedert war“ und die für die Zentralisierung der politischen Macht überlebenswichtig wurde.16

Wie zu sehen sein wird, nahm die „absolutistische Entwicklung“ in Erfurt durch den Bau der Zitadelle Petersberg ebenso ihren Anfang im militärischen Sektor, bevor das Finanzwesen und die Verwaltung ausgebaut wurden, was sich im Bau des Packhofs und der Statthalterei widerspiegelte. Doch wie kam es dazu?

1.2 ERFURT VOR DER REDUKTION VON 1664

Die so genannte Reduktion von 1664, das heißt die Unterwerfung Erfurts unter Kur- mainz, war das wohl einschneidenste Ereignis in der von 742 bis 1802 andauernden ge- meinsamen Geschichte beider Territorien. Schon im achten Jahrhundert gründete Bonifa- tius das Bistum Erphesfurt, wobei es recht schnell zur Vereinigung mit dem Mainzer Bistum kam.17 Damit konnte aber „lediglich“ die geistliche Oberhoheit gesichert werden. Erst im zehnten Jahrhundert, als Erfurt durch eine Schenkung an Mainz kam, war auch die weltliche Macht begründet.18

Der gewonnene Einfluss wurde zügig ausgebaut und Erfurt „die treue Tochter der Mainzer Kirche“. Der Stadtrat anerkannte die uneingeschränkte Herrschaft der Mainzer Bischöfe. Letzteren ging diese Macht aber Mitte des 13. Jahrhundert allmählich verloren, unter anderem auch, weil sie ihren Streubesitz nur schwerlich zusammenhalten und kon- trollieren konnten. Es gelang der Stadt an der Gera, ihre Stellung gegenüber Mainz kon- tinuierlich zu verbessern:

„In langjährigen Auseinandersetzungen mit ihrem Stadtherren erreichten Rat und Bürgerschaft von Erfurt weitreichende kommunale Autonomie, politische und wirtschaftliche Selbstständigkeit. Zwar blieben die Erzbischöfe nominell die Stadtherren von Erfurt, […] jedoch immer ihre verlorene Machtposition einfordernd […]. Staatsrechtlich war Erfurt eine bischöfliche Freistadt mit reichsunmittelbarem Besitz, sie betrieb eine strikte Neutralitätspolitik, lavierte geschickt zwischen den Feudalmächten, begriff sich selbst als Freie Reichsstadt.“19

Hätte Erfurt den letztgenannten Status auch rechtlich erreicht, wäre es wohl am Ziel sei- ner Träume gewesen. So bestanden jedoch die Mainzer Anrechte fort und es schwebte ein Damoklesschwert - die Einforderung dieser Ansprüche mittels militärischer Gewalt - über der Stadt. Mit den Verträgen von Amorbach 1483 und Hammelburg 1530 konnte Erfurt seine Position vermeintlich stärken. Zwar wurden die Abhängigkeit von Mainz und der Erzbischof als Landesherr anerkannt, dafür aber Privilegien und Glaubensfreiheit konzediert. Im Zuge der Reformation und des Bauernkrieges wäre sogar fast die Befrei- ung von der ungeliebten Herrschaft gelungen. Dies geschah jedoch erst gut Hundert Jah re später, als Schweden 1631 die Mainzer Oberhoheit über das inzwischen bikonfessio nell gewordene Erfurt ablöste.20 König Gustav Adolf versprach der Stadt, sich im Westfälischen Frieden für ihre „Reichsfreiheit“ einzusetzen, was er jedoch durch den Widerstand zweier Reichsglieder nicht erreichen konnte.21 Neben Kurmainz meldete auch Kursachsen alte Ansprüche an Erfurt an, weshalb sich beide gegen das Bestreben des Schwedenkönigs stellten. Letztlich sollten aber allein „die latenten mainzischen Ansprüche die eigentliche Schicksalsfrage“ werden.22

An der Spitze des Erzbistums am Rhein stand seit 1647 Johann Philipp von Schön- born, der es verstand, seine zahlreichen Besitzungen23 vertraglich eng an das Erzbistum zu binden. Sein politisches Geschick stellte er besonders ein Jahr später durch großes Engagement bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück unter Beweis. Er konnte nicht nur die schwedischen Ambitionen abschmettern, sondern hatte auch maß- geblichen Anteil am positiven Ausgang des Friedensschlusses, wobei ihm sicherlich auch seine exponierte Stellung als Erzkanzler des Reiches hilfreich war.24 Aber auch entspre- chende finanzielle Mittel waren für den Kurfürst zur Erreichung seiner Ziele vonnöten, denn was beispielsweise Erfurt betraf, so musste er sich der Korruption bedienen.25 Dies machte deutlich, dass die Durchsetzung der Mainzer Ansprüche in der thüringischen Stadt kein „Selbstläufer“ war.

Erzbischof Johann Philipp spielte ein wesentlicher Umstand in die Hände, den er in der Folge geschickt auszunutzen verstand: Die „Selbstzerfleischung“ der Erfurter Bür- gerschaft, wie es BRODBECK formulierte.26 Nach der Enttäuschung von 1648 entbrannte zwischen dem Rat und der Bürgerschaft der Stadt eine Auseinandersetzung, die gar zu anarchischen Zuständen führte. Zur Schlichtung erschien im September 1649 eine erste Kaiserliche Kommission, der Mainz eine zusätzliche eigene Gesandtschaft folgen lies. Im Ergebnis konnten die Streitigkeiten beseitigt werden, was Erfurt jedoch teuer bezahlen musste. Der Stadtrat anerkannte - unter zugesprochener Garantie der Religionsfreiheit und der Sicherung von Privilegien - die Landeshoheit des Mainzer Erzbischofs. Über das Anheizen verwaltungspolitischer Fragen erzwang Letzterer das Entsenden dreier weiterer Kaiserlicher Kommissionen. Dies führte soweit, dass im September 1663 durch Kaiser Ferdinand III. die Reichsacht über Erfurt verhängt wurde. Ihre „Real-Exekution“, sprich militärische Unterwerfung, sollte durch Johann Philipp von Schönborn ausgeführt wer- den.27 Kursachsen, an das sich die Erfurter zwischenzeitlich flehend gewendet hatten, hielt sich zwar zurück, gab letztlich aber seine Zustimmung zur Belagerung der Stadt. Als Bedingung stellten die Wettiner die Gewährleistung der Religionsfreiheit für das fast vollkommen protestantische Erfurt.28 Nach 36 Tagen kapitulierte es am 15. Oktober 1664 vor dem Mainzer Kurfürsten, dem dabei französische Truppen unter General de Pradel zur Verfügung standen.29 Dieses Ereignis ging als Reduktion in die Geschichte ein. In der Kapitulationsurkunde heißt es wie folgt:

„Hochermelter Herr General de Pradel und Herr zu Reiffenberg30 geben auch hiermit im Rahmen höchstermelter Ihrer Churfürstl: Gnaden vor itzt und zu allen künfftigen Zeiten vollkommentliche Versicherung des Gewissens- und Religions Freyheit […] Damit […] die Einwohner der Stadt und umbliegende Landschaft ohngehindert ihre Geschäfte, Bestellungen und Reisen frey sicher verrichten mö- gen; Will der Herr de Pradel durch die gantze Armee scharffen Anstalt machen lassen / auf das alle […] unter seinem Commando […] niemanden an Handel und Wandel […] hindern mögen.“31

War die Religionsfreiheit auf der einen Seite ein Zugeständnis an Kursachsen, erschien sie auf der anderen doch unerlässlich, die Okkupation für die Erfurter ertragbar zu ma- chen und damit die Gefahr etwaiger zukünftiger Feindseligkeiten abzumindern. Darüber hinaus war die Garantie des freien Handels reines Kalkül, um größtmögliche finanzielle Einnahmen abzuschöpfen. Mainz hatte somit Erfurt ohne widerwillige Zugeständnisse „zurückgeführt“. Am 12. Oktober hielt der Kürfürst feierlich Einzug in der Stadt32, die ihm 16 Tage später auf dem Domplatz huldigte und den Treueid schwor.33

Spätestens 1777 hatten die Erfurter die Mainzer Herrschaft vollends akzeptiert - mehr noch, sie schienen damit glücklich. Als der Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Er- thal am 17. Mai der Stadt einen Besuch abstattete, kam es nur aufgrund eines Erlasses seinerseits nicht zu pompösen Feierlichkeiten. Während seines sechswöchigen Aufent- haltes suchte der Erzbischof auch die Annäherung an die Prostanten, indem er unter an- derem evangelische Geistliche mit zu Tisch bat. Wenig später errichteten ihm die Erfur- ter auf dem Domplatz ein Denkmal, einen steinernen Obelisk, der auch seither den Na- men des Mainzers trägt.34

1.3 BAU DER ZITADELLE PETERSBERG ZUR SICHERUNG DER MAINZER HERRSCHAFT

Nachdem der Mainzer Erzbischof bereits Würzburg (1651-1657) und Mainz (1659-1670) mit mächtigen Festungsbauten gesichert hatte, begann er 1665 auch in Erfurt seine Macht durch den Bau der Zitadelle auf dem Petersberg entsprechend zu protegieren.35 Schon im Frühmittelalter muss die strategische Bedeutung dieser Erhebung bekannt gewesen sein. Denn bevor die Franken nach der Eroberung Thüringens 531 eine Königspfalz errichte- ten, befand sich dort eine Burganlage. Gut 200 Jahre später musste Bonifatius bei seiner beabsichtigten Bistumsgründung auf den unteren Hügel, den heutigen Domberg, auswei- chen. Bezeichnend für den Stellenwert des Petersberges war ferner, dass König Heinrich

I. hier 932 eine Synode und 936 einen Reichstag abhielt.36

Nachdem das Erzbistum in den Besitz Erfurts gekommen war, beseitigte Erzbischof Siegfried I. das auf dem Petersberg befindliche Kollegiatstift mit all seinen Kanonikern. Stattdessen ließ er Benediktiner aus Hirsau im Schwarzwald ansiedeln, die im Verlauf des 12. Jahrhunderts ein Konventsgebäude und die Klosterkirche Sankt Peter erbauten. Dies erwies sich als „der Höhepunkt in der Ablösung der königlichen Herrschaft in Erfurt durch die Mainzer Erzbischöfe“.37

Als König Gustav Adolf von Schweden 1631 im Zuge des Dreißigjährigen Krieges die Stadt besetzte, richtete er - in (Er-)Kenntnis der militärischen Bedeutung - seine La- ger auf dem Petersberg ein. Wenig überraschend erscheint daher sein Entschluss, diesen zusammen mit dem Stadtgebiet zu einem massiven Stützpunkt auszubauen. Der mit dem Schwedenkönig in die Stadt eingezogene Herzog Wilhelm von Weimar riet, „auf dem Petersberg ein sonderlich Kastell anzulegen“, das mit einer entsprechenden Garnison besetzt werden sollte. Wie eilig es Gustav Adolf damit hatte, zeigt, dass 600 Männer täg- lich mit dem Bau beschäftigt waren. Das Kloster wurde zunächst vorübergehend geräumt und fiel, nachdem der König im Krieg gefallen war, der Säkularisation zum Opfer. Das Intermezzo der schwedischen Herrschaft hielt nur gut 20 Jahre an.38 Die darauf folgenden „Querelen“ der Stadt mit dem Mainzer Kurfürst wurden bereits dargelegt.

Unmittelbar nach der Unterwerfung im Oktober 1664 strukturierte Erzbischof Jo- hann Philipp den Petersberg um. Es kam zum Abriss mehrerer Häuser, zur Umwandlung der Leonhardtskirche in ein Zeughaus und nach der Lese zur Rodung der Weinberge.

Alles lief auf die Errichtung einer Zitadelle hinaus, „um etwaigen Freiheitsgelüsten der Erfurter Bürgerschaft wirksam begegnen zu können“.39 Der Erzbischof war sich zudem bewusst, dass „sicherlich gegen unsere rebellion zeitlich ergebene Stadt Uns keiner Si- cherheit zu erfreuen“.40 Im Grunde diente der Bau offenkundig wohl mehr der dauernden Befriedung der Stadt Erfurt und weniger der Sicherung einer militärstrategischen Positi- on im östlichen Reich. Wenngleich dieser zweite Aspekt die Stadt an der Gera für Mainz noch wertvoller machte. Bezeichnend für die Gesamtsituation war jedoch der Umstand, dass Johann Philipp den Petersberg armieren ließ, um einer möglichen „Überrumpelung“ entgegenzuwirken. Dafür wurden unter anderem Geschütze aus Würzburg herbeigeholt.41 Im Leipziger Rezess von 1665 sicherte der Kurfürst zunächst die Landeshoheit über „sei- nen“ Kurfürstlich-Mainzischen Erfurter Staat gegenüber seinem sächsischen Pendant vertraglich ab. Dieser trat gegen Geld das Geleitsregal und sein Schutzrecht an Mainz ab.42 Nun stand dem Bau der Zitadelle, die bald 15 Hektar umfassen und von rund zwei Kilometern Festungsmauern umgeben sein sollte, nichts mehr im Weg.43

Am 1. Juni 1665 erfolgte die offizielle Grundsteinlegung der Festungsanlage, die den symbolträchtigen Namen „Johann Philippsburg“ tragen sollte - ein Charakteristikum des absolutistischen Zeitalters. Denn allein dem Erzbischof und seiner geschickten Poli- tik war es zu verdanken, dass sich Mainz erneut die Herrschaft über Erfurt sichern konn- te. Die Fortifikationsbehörde des Erzbistums musste dem Bau aber mit Sorge entgegen- sehen. Aus finanziellen Gründen sollten ursprünglich die bereits vorhandenen Wehranla- gen erhalten beziehungsweise restauriert werden. Kurze Zeit später fiel jedoch die Ent- scheidung, auch Teile des Klosterkomplexes abzutragen.44 Die Zitadelle erhielt „einen tenaillierten Grundriss, das heißt ein Zangenwerk der Verschanzungen“45. Es entstanden Gräben sowie „Umwallungen, Kasernen, Pulvertürme, Wachtürme, das Kommandanten- haus und das Peterstor“. Weiterhin wurden vier Kriegsbrunnen angelegt. Der Hauptein- gang zur Zitadelle, das Peterstor, bezeugt bis heute wohl am ehesten den Entstehungs zeitraum der gesamten Festungsanlage. Der barocke Bau, dessen Errichtung bis 1673 unter der Leitung des italienischen Architekten Antonio Petrini erfolgte, trägt seither sinnbildlich das Wappen Johann Philipps.46

Die Arbeiten schritten nur sehr langsam voran, da chronische Geldknappheit herrschte und der Bau Unsummen verschlang, zwischen 1665 und 1673 bereits rund 200.000 Taler.47 Allein 1666 betrugen die Kosten für Arbeiter und Material exakt 22.217 Taler.48 So wurden beispielsweise Maurer aus Italien herbeigeholt, was sich nicht gerade mildernd auf die Ausgabenseite auswirkte.49 Ferner stationierte der Kurfürst binnen kür- zester Zeit rund 450 Soldaten, die nach und nach in den drei neu errichteten Kasernen untergebracht wurden.50 Ein weiterer voluminöser Kostenfaktor.51 Der Ausbau des Pe- tersberges sorgte aber auch dafür, dass die Arbeitskräfte, die die Erfurter Bevölkerung stellen konnte, nicht ausreichten und sogar ein Mangel eintrat.52 Der Gesamtsituation geschuldet, warf das in besonderem Maße für die Bevölkerung kostspielige absolutisti- sche Fiskalsystem seinen Schatten voraus - wohl schneller als es zu erwarten war.

Bis dato mussten die Dorfbewohner der umliegenden Ortschaften Frondienste leisten, wie etwa beim Ausbau des Grabens am Petersberg, sowie Naturalabgaben entrichten.53 Die Bürger der Stadt verrichteten nicht nur Wachdienste an den Toren.54 Sie kamen vor allem für die Einquartierung der Soldaten in ihren Häusern auf. Schnell erfolgte eine Lastenumverteilung, wie das folgende Beispiel einer Verordnung vom 10. Januar 1666 zeigt, die sich jedoch allein auf den Bürger Caspar Burkardt bezog:

„DIeweil für das würkliche Quartier und Servis, denen allhier liegenden Officirern und Soldaten ein gewisses am Gelde zureichen / dahingegen dieselbige aus den Bürgerlichen Häussern uff den Petersberg zuverlegen für gut befunden worden; Darzu alle Einwohner ihre Gebühr beyzutragen schuldig: Und dann auff Caspar Burkardt iede zehen Tage _ Th. _ Gr. 2 Pf. kömt: Als wird demselben hiermit auf ferleget / alle termine solches dem Pfarrhauptmä[nn] ohnfehlbar abzugeben / und sich hierauff quitiren zulassen / damit in Verbleibung dessen / der rückstand nicht an die Soldaten gewiesen werden dörffe.“55

Damit wurden die Stadtbewohner zwar von der Logisleistung für die Soldaten befreit, dafür aber mit einer Abgabe beladen. Ob dies nun eine Erleichterung oder eine zusätzlich Belastung war, sei dahingestellt. Deutlich wird damit auf jeden Fall, dass der Erzbischof dringend auf die materielle und finanzielle Unterstützung durch seine Untertanen im ge- samten Erfurter Gebiet angewiesen war. Wie eine weitere, durch das im Zuge der Reduk- tion eingeführte Vizedom-Amt56 erlassene Verordnung vom 1. November 1669 zeigt, griff Kurmainz situativ lieber auf außerplanmäßige finanzielle Abgaben zurück, als auf Frondienste. So umging man die Gefahr, die entsprechenden und oft auch wichtigen Ar- beiten nachbessern lassen zu müssen:

„DEmnach so wohl die hießigen Bürger als Unterthanen auf dem Lande so Pferde halten / diß Jahr zu dem Stadt- und Vestungs-Bau unterschiedene Dienst und Frohnfuhren verrichtet / und die Nothdurfft erfordert / ein und andere verschläm- mere Stadtgräben ausführen zulassen / darzu dann die übrigen Bürger und Un- terthanen die Hände anzulegen schuldig sind; Das Churfl. Mäyntzische Löbl. Vice- dom-Ambt aber am thunlichsten befunden / solche Arbeit gewissen Leuten verdin- gen / und zu deren Bezahlung eine leidliche Anlage / nemlich dass ieder Bürger und Unterthaner / auch vermögende Wittiben / 2 gr. ohnvermögende 1 gr. dißmahl geben solle / machen zu lassen: Als wird solches Männiglich hiermit zuwissen ge- fügt / und darben gebotten / daß ein ieder solch weniges Frohngeld innerhalb 8. Tagen von dato an zurechnen / denen Collectoribus ohnfehlbar abstatten / und sich hierauff quitiren lassen solle; Wer sich aber darinn ungehorsamb erweisen wird / der soll diß Frohngeld doppelt zu erlegen angehalten werden.“57

Wie der letzte Punkt zeigt, setzte das Vizedom-Amt auch eher auf Geld- als auf andere Strafen. Dies verdeutlicht nochmals, wie groß der Finanzbedarf jener Zeit war und dass die absolutistischen Herrscher jede sich ergebende Möglichkeit nutzten, um dessen De ckung zu erreichen.58 Für die Landbewohner des Erfurter Gebiets waren die Frondienste im Laufe der Zeit nicht mehr zu stemmen, sodass sich die einzelnen Orte nach und nach davon befreien konnten. Kurmainz belegte sie dafür - wie kaum anders zu erwarten - mit einer jährlichen Abgabe.59

Nach dem Tod Johann Philipps 1673 schlief der Festungsbau richtiggehend ein. Erst sein fünfter Nachfolger und Neffe Lothar Franz von Schönborn ging dem Ausbau der Zitadelle ab 1695 wieder verstärkt nach. Darin begründet endeten die 1664 begonnen Arbeiten auf dem Petersberg, und damit auch die erste Bauphase, erst 1704.60 Drei Jahre später betraute der Mainzer Erzbischof den Festungsbaumeister Maximilian von Welsch mit der Aufgabe, „die Festung in guten defensionsstand zu bringen“.61 Dafür verlangte er aber etwa 20.000 Taler als jährliches Budget. Dies konnte der Kurfürst unmöglich zusa- gen, sodass zwischen 1707 und 1726, nur 8.000 Taler pro Jahr zur Verfügung standen, was für den Zustand der Zitadelle mit Sicherheit nicht förderlich war.62 Die Gelder flos- sen zunächst vorrangig in die Armierung des Petersberges und den Bau von Palisaden.63 Erst später folgte der Aus- und Aufbau der eigentlichen Festungsanlage, wobei zum Bei- spiel die Kasernen erweitert wurden. 1737 endete die zweite Bauphase, die Von Welsch lediglich bis 1726 begleitet hatte.64

Doch bereits 1736 konstatierte ein kaiserliches Gutachten den durchweg schlechten Zustand der Zitadelle, der sich während des zweiten Bauabschnitts manifestiert hatte. Der Mainzer Erzbischof Philipp Karl von Eltz steckte zu diesem Zeitpunkt alle vorhandenen Mittel in den Ausbau „seiner“ Mainzer Festung, sodass für die andere großen Wehranla- gen in seinem Territorium kein Geld übrig blieb. In den 1780er Jahren stand der Peters- berg kurz davor geschliffen zu werden65, wovon das Kurfürstentum aber letztlich doch absah66. Die dringend erforderlichen Sanierungsarbeiten blieben natürlich trotzdem aus.

Die Festung wurde nur notdürftig in Stand gehalten.67

HUTH stellt zu Recht die Frage, was Mainz mit dem Festungsbau erreicht hatte. So wurden gut acht Jahrzehnte Arbeit und ungeheuere Summen an Geld investiert, um am Ende die Herrschaft über „ein militärisches Machtmittel fast ohne Bedeutung“ zu haben. Denn ihrer eigentlichen Bestimmung beziehungsweise Legitimation, die Erfurter Bürger- schaft zu beherrschen, war sie beraubt, da Mainz von ihr keine Gefahr mehr ausgehen sah.68

Durch die Auswirkungen der Französischen Revolution kam Erfurt 1802 im Frie- den von Lunéville an Preußen. Der Hohenzollernstaat verfügte recht umgehend die Säku- larisation des Klosters auf dem Petersberg. Weiterhin erfolgte die Instandsetzung der heruntergekommenen Kasernen. Fortan durfte kein Bürger ohne Genehmigung den Pe- tersberg betreten.69 Bereits 1806 endete die preußische Herrschaft, denn nach der Nieder- lage bei Jena und Auerstedt kam Erfurt an Frankreich. Napoleon Bonaparte war sich der strategisch bedeutsamen Lage der Zitadelle vollkommen bewusst. Aber auch seine Herr- schaft über den Petersberg dauerte nicht lange. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig kam es zur Belagerung Erfurts durch ein Gemeinschaftsheer von Preußen, Österreichern und Russen. Es begann erneut die preußische Oberhoheit, wobei die Zitadelle nun in der drit- ten Bauphase zwischen 1815 und 1836 zur „Festung ersten Ranges“ ausgebaut wurde - aus heutiger Sicht wohl ein sehr glücklicher Umstand. 1873 kam es zur Aufhebung der „Festungseigenschaft“ und in der Folge unter anderem zum Abbruch weiter Teile des Petersberges.70 Trotzdem prägt die Zitadelle Petersberg das Stadtbild Erfurts bis heute entscheidend mit.71

[...]


1 HEY, BERND: Die historische Exkursion. Zur Didaktik und Methodik des Besuchs historischer Stätten, Museen und Archive (Anmerkungen und Argumente zur historischen und politischen Bildung 19, Stuttgart 1978), S. 71.

2 Vgl. SCHNEIDER, GERHARD: Sachüberreste und gegenständliche Unterrichtsmedien, in: MAYER, ULRICH / PANDEL, HANS-JÜRGEN / SCHNEIDER, GERHARD (HG.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht (2., überarbeitete Auflage, Schwalbach 2007), S. 188-207, hier S. 189.

3 Vgl. MAYER, ULRICH: Historische Orte als Lernorte, in: MAYER, ULRICH / PANDEL, HANS-JÜRGEN / SCHNEIDER, GERHARD (HG.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht (2., überarbeitete Auflage, Schwalbach 2007), S. 389-407, hier S. 389.

4 SAUER führt viele Aufgaben und Ziele des Faches Geschichte an. Hierzu zählen, ohne genauer darauf einzugehen, unter anderem die „historische Orientierung“, das „historische Denken“, der Umgang mit Kategorien und „fachspezifische Arbeitsweisen“. (Siehe vertiefend dazu: SAUER, MICHAEL: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik (7., aktualisierte und erweiterte Auflage, Seel- ze-Velber 2008), S. 18-21.

5 HENSHALL vertritt die Meinung, dass grundlegende Wesenszüge des Absolutismus, wie beispielsweise das „Gewaltmonopol der Fürsten“ und die „Unabhängigkeit von den intermediären Kräften“, in ihrer Ma- nifestation durch die internationale Historiographie deutlich stärker beurteilt wurden und werden, als es in der Tat der Fall war. Als Beispiel nennt er Frankreich, wo zur Durchsetzung der königlichen Politik die alten Eliten und die vorhandenen Klientelstrukturen unerlässlich waren. (Vgl. DUCHHARDT, HEINZ: Das Zeitalter des Absolutismus (3., überarbeitete Auflage, München 1998), S. 160; siehe vertiefend dazu: HENSHALL, NICHOLAS: The Myth of Absolutism. Change and Continuity in Early Modern European Mon- archy (London / New York 1992)).

6 Vgl. FREIST, DAGMAR: Absolutismus (Kontroversen um die Geschichte, Darmstadt 2008), S. 9.

7 Vgl. DUCHHARDT: Zeitalter, S. 159.

8 Vgl. FREIST: Absolutismus, S. 10.

9 Vgl. DUCHHARDT: Zeitalter, S. 160.

10 FREIST: Absolutismus, S. 32.

11 Vgl. EBD., S. 34.

12 So indiskutabel diese Feststellung scheint, in den 1950er Jahren entbrannte eine bis heute anhaltende Debatte um die Ausprägung dieser Notsituation. War es eine partielle, einzelne gesellschaftliche Bereiche betreffende, oder allumfassende Krise? Diese Diskussion lieferte in der Folge mehrere Ansätze zur Lösung der wie auch immer gearteten Misere des 17. Jahrhunderts. (Vgl. VOGLER, GÜNTER: Absolutistische Herr- schaft und ständische Gesellschaft. Reich und Territorien von 1648 bis 1790 (Stuttgart 1996), S. 21ff).

13 VOGLER führt als Beispiele Spanien, England und Frankreich an, wo schon weit früher absolutistische Tendenzen erkennbar waren. (Vgl. EBD., S. 23ff).

14 Vgl. FREIST: Absolutismus, S. 7.

15 EBD., S. 7.

16 Vgl. VOGLER: Gesellschaft, S. 68-71.

17 Vgl. DEHIO, GEORG: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Thüringen. Neubearbeitung besorgt durch die Dehio-Vereinigung (München / Berlin 1998), S. 286.

18 Vgl. BRODBECK, CHRISTIAN: Philipp Wilhelm Reichsgraf zu Boineburg kurmainzischer Statthalter zu Erfurt (1656 - 1717). Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Erfurt (Jena 1929), S. 46.

19 BLAHA, WALTER: Vom Bürgerhaus zum Kaiserpalast. Die Kurmainzische Statthalterei in Erfurt (München 1992), S. 12.

20 Vgl. BLAHA: Bürgerhaus, S. 10-15.

21 Vgl. BEYER, CARL: Geschichte der Stadt Erfurt von der ältesten bis auf die neueste Zeit. Fortgesetzt von Johannes Biereye (Erfurt 1900-1931), S. 575.

22 Vgl. BRODBECK: Reichsgraf, S. 47.

23 Sein territorialer Besitz, den schätzungsweise über 600.000 Menschen bewohnten, belief sich auf etwa 222 Quadratmeilen, also rund 12.200 Quadratkilometer. Hierzu gehörten auch die Bistümer Würzburg und Worms. (Vgl. BLAHA, WALTER: Erzbischof Johann Philipp von Schönborn, in: STRAUBEL, ROLF / WEIß, ULMAN (HG.): Kaiser - König -Kardinal. Deutsche Fürsten 1500-1800 (Leipzig / Jena / Berlin 1991), S. 180-187, hier S. 181).

24 Vgl. EBD., S. 181f.

25 Vgl. BEYER: Geschichte, S. 578.

26 BRODBECK: Reichsgraf, S. 47.

27 Beyer beschreibt in seiner Stadtgeschichte die Entwicklung nach 1648 sehr detailliert und zugegebenermaßen etwas dramaturgisch. In der Kürze der vorliegenden Arbeit konnten nur die wichtigsten Ereignisse angeführt werden. (Siehe vertiefend dazu: BEYER: Geschichte, S. 578-606).

28 Vgl. OVERMANN, ALFRED: Erfurt in zwölf Jahrhunderten. Eine Stadtgeschichte in Bildern (Reprint der Ausgabe von 1929, Erfurt 1992), S. 250.

29 Vgl. BRODBECK: Reichsgraf, S. 48.

30 Philipp Ludwig von Reiffenberg war der Domherr Erfurts jener Zeit, der nach der Reduktion das Amt des Statthalters übernahm.

31 STADTARCHIV ERFURT: 0-1 / I. 83a.

32 Diese Szene ist auf einem der zahlreichen Bilder im Erfurter Rathaus am Fischmarkt festgehalten. (Siehe dazu: Abbildung 1, S. 51). Illustriert und kommentiert sind alle Darstellungen bei WIEGAND. (Siehe vertiefend dazu: WIEGAND, FRITZ: Die Wandgemälde im Rathaus zu Erfurt: Gang durch die Geschichte und Sage der Stadt (Erfurt 1966)).

33 Vgl. BLAHA, WALTER: Kurmainzische absolutistische Herrschaft, in: GUTSCHE, WILLIBALD (HG.): Geschichte der Stadt Erfurt (2., bearbeitete Auflage, Weimar 1986), S. 145-180, hier S. 145.

34 Vgl. BEYER, CONSTANTIN (HG.): Neue Chronik von Erfurt oder Erzählungen alles dessen, was sich vom Jahr 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denkwürdiges ereignete (Reprint der Ausgabe 1821-1823, Band 1, Bad Langensalza 1999), S. 179-184. Der genaue Wortlaut der Inschrift ist wie folgt: „Dem besten Vater des Landes Friedrich Carl Joseph des Heiligen Stuhles zu Mainz Erzbischof des Heil[igen] Röm[ischen] R[eiches] durch Ger[manien] Erzkanzler und Churfürst auch Fürst und Bischoff zu Worms etc. etc. geboren den 3. Januarii 1719. Erwählt den 18. Juli 1774 in höchst eigner Person gegenwärtig in Erfurt den 17. Mai 1777. Dieses Denkmal haben zu ewiger Gedächtnis aus tiefst gebührender Dankbarkeit der höchst gnädigen huldreichsten Gegenwart seiner Churfürstlichen Gnaden errichtet die treuen Untertanen hiesiger Stadt Erfurt.“ Siehe dazu: Abbildung 2, S. 52.

35 Vgl. BLAHA: Erzbischof, S. 184.

36 Vgl. KÜRSTEN, O.: Der Petersberg. Die Akropolis von Erfurt (Gotha 1943), S. 8-11.

37 BLAHA, WALTER: Von der Fliehburg zur Festung. Zur Geschichte des Petersberges in Erfurt, in: SCHMIDTCHEN, VOLKER: Festungsforschung International (DGF-Jahrbuch 1997/98, Frankfurt am Main 1998), S. 23-37, hier S. 24.

38 Vgl. KÜRSTEN: Petersberg, S. 27ff.

39 HUTH, ROBERT: Die Citadelle Petersberg zu Erfurt (Reprintauflage von 1908, Bad Langensalza 2009), S. 4f.

Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten bereits 600 Männer am Umbau des Petersberges. Bei der Rodung fielen rund 16.000 Stämme an, die umgehend zu Palisaden verbaut wurden. Zudem erfolgte rings um den Berg die Aushebung von Gräben. (Vgl. MORITZ, HORST: Die Festung Petersberg unter Kurmainz 1664-1802 (Erfurt 2001), S. 11).

40 BLAHA: Fliehburg, S. 29.

41 Vgl. HUTH: Citadelle, S. 7.

42 Vgl. BLAHA: Fliehburg, S. 28f.

43 Vgl. FREUNDE DER CITADELLE PETERSBERG ZU ERFURT E.V. (HG.): Die Festung Petersberg im Überblick: 1664 - 2000 (Erfurt 2004), S. 3.

44 Vgl. HUTH: Citadelle, S. 5f.

45 Siehe dazu: Abbildung 3, S. 53.

46 Vgl. MORITZ: Festung, S. 11.

47 Vgl. MORITZ, HORST: Leben und Sterben unter Kurmainz (1664-1802) (Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt, Bd. 63, Erfurt 2002), S. 105-136, hier S. 112.

48 Vgl. MORITZ: Festung, S. 13.

49 Vgl. HUTH: Citadelle, S. 7.

50 Die Kaserne A wurde erst 1675 vollendet, gefolgt von Kaserne B 1690. Die Errichtung des dritten Gebäudes dieser Art erfolgt gar erst 1697. (Vgl. FREUNDE: Überblick, S. 3f).

51 Im Jahr 1673 belief sich der Monatssold für das Heer mit seinen unterschiedlichen Dienstgraden wie folgt: Artillerist drei Taler und 16 Groschen, Gefreiter zwei Taler und 16 Groschen, gemeiner Soldat zwei Taler. Hochgerechnet auf das Jahr waren das in der vorhergehenden Staffelung 44 Taler, 32 Taler und 24 Taler. Der Kommandant erhielt pro Jahr 1000 Taler als Vergütung. Bei der Annahme, dass das 450 Mann starke Regiment auf dem Petersberg nur aus einfachen Soldaten zuzüglich eines Festungskommandantes bestand, beliefen sich die Kosten auf 11.800 Taler jährlich. Unter Garantie waren sie tatsächlich noch hö- her. (Vgl. MORITZ: Festung, S. 33).

52 Vgl. MORITZ: Leben, S.112.

53 Vgl. HUTH: Citadelle, S. 7.

54 Vgl. MORITZ: Leben, S. 125.

55 STADTARCHIV ERFURT: 1-1 / XI A, 11A, Nr. 20.

56 Der geläufigere Begriff hierfür ist das Statthalter-Amt, mit dem sich später in dieser Arbeit noch explizit auseinandergesetzt werden wird.

57 STADTARCHIV ERFURT: 1-1 / XI A, 11A, Nr. 28.

58 HUTH spricht in diesem Zusammenhang an, dass sogar eine Mainzer Bank bezüglich einer Kreditauf- nahme kontaktiert wurde. Leider versäumt er auszuführen, ob es tatsächlich dazu kam. (Vgl. HUTH: Cita- delle, S. 11).

59 Vgl. EBD., S. 14f.

60 Vgl. FREUNDE: Überblick, S. 3.

61 Von Welsch, „dessen Name mit der Residenz Würzburg und anderen Schlössern, Parkanlagen und Festungsbauten in Franken und am Rhein aufs engste verbunden ist“, hatte - wie noch zu sehen sein wird - maßgeblichen Anteil an der Errichtung der absolutistischen Bauwerke in Erfurt. (BLAHA: Fliehburg, S. 29). Siehe dazu: Abbildung 4, S. 54.

62 Vgl. MORITZ: Festung, S. 16.

63 Vgl. HUTH: Citadelle, S. 18.

64 MORITZ schildert die einzelnen Arbeiten sehr detailliert in chronologischer Abfolge. (Siehe vertiefend dazu: MORITZ: Festung, S. 16).

65 Hierfür gab es zahlreiche Gründe. Am triftigsten erschien wohl die wegfallende finanzielle Belastung. (Siehe vertiefend dazu: HUTH: Citadelle, S. 20f). Aber auch militärisch hatte der Petersberg einen gewich- tigen Nachteil, er konnte von den umliegenden Erhebungen eingesehen werden. (Vgl. BLAHA: Fliehburg, S. 29).

66 Am 4. März 1785 erging folgender Erlass des Kurfürsten:

„Die Festung Petersberg ist infolge der in Aussicht stehenden politischen Wirren beizubehalten nebst äußern und innern Werken, damit die Reparaturkosten bei einem ausbrechenden Kriege sich nicht vergrößern, was mancher vorher hat ersparen wollen.“ (HUTH: Citadelle, S. 22).

67 Vgl. FREUNDE: Überblick, S. 6.

68 HUTH: Citadelle, S. 18f.

69 Vgl. EBD., S. 25.

70 Vgl. BLAHA: Fliehburg, S. 35.

71 Siehe dazu: Abbildung 5, S. 55.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Geschichte zum Anfassen und Sehen – Eine Stadtrallye am Beispiel der absolutistischen Bauwerke Erfurts
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
77
Katalognummer
V165082
ISBN (eBook)
9783640808243
ISBN (Buch)
9783640808014
Dateigröße
8193 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erfurt, Absolutismus, Mainz, Stadtrallye, Geschichtsdidaktik, Außerschulischer Lernort
Arbeit zitieren
Florian Heunemann (Autor:in), 2009, Geschichte zum Anfassen und Sehen – Eine Stadtrallye am Beispiel der absolutistischen Bauwerke Erfurts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165082

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