Dionysos, Gott der Frauen

Eine mythologische Spurensuche


Fachbuch, 2011

76 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Einleitung
Mythen von Dionysos’ Geburt, Tod und Wiederbelebung
Varianten von Dionysos’ Herkunft
Dionysos, Sohn der Erdgöttin
Mythen von Dionysos’ Kindheit und Jugend
Geburtsort und Name
Ino, Io, Leukothea
Dionysos als Mädchen verkleidet
Dionysos und Lykurgos
Die erste sexuelle Erfahrung des Dionysos – Ampelos oder eine Nymphe?
Göttlicher Wahnsinn, Erfolg einer Frauenreligion
Hera straft Dionysos mit Wahnsinn, Kybele heilt ihn
Dionysos und Aphrodite
Das Dionysosbild bei Bachofen
Widerstände gegen die Dionysosreligion
Dionysos und König Pentheus
Orpheus
Der Fuchs von Teumessos
Die Töchter des Minyas, Proitos und Pandareos
Dionysos und die Piraten
Dionysos und Ariadne
Mythen vom Weggang des Dionysos
a) Dionysos’ Flucht zu den Musen
b) Dionysos’ Versinken im See Lerna
c) Perseus stürzt Dionysos in den See Lerna
d) Dionysos ruht zwei Jahre lang in der Unterwelt bei Persephone

Zusammenfassung

Literatur

Abkürzungen

Bildnachweis

Einleitung

Eine Arbeit über Dionysos zu verfassen ist eine besondere Herausforderung an jeden Autor religionswissenschaftlicher Texte. Wir haben hier eine Gottheit vor uns, die sozusagen wie einer der Blitze seines Vaters Zeus ins Pantheon der griechischen Götter einschlug und nicht nur die Göttlichen Ordnungen dort, sondern auch unten auf der Erde gründlich durcheinander wirbelte. Der griechischen Mythologie und Literatur zufolge ist er ein Gott, der durch einen der zahlreichen Fehltritte von Zeus mit einer irdischen Frau gezeugt wurde. Hierdurch war er natürlich von vornherein unbequem – insbesondere der Göttin Hera, des Zeus’ eifersüchtiger Gattin, die mit allen Mitteln versucht haben soll, den Sterblichen ums Leben zu bringen – so jedenfalls berichten es die griechischen Autoren. Der Aspekt der Untreue ihres Gatten und die damit verbundene Angst vor Machtverlust Heras reicht aber bei weitem nicht aus als Begründung dafür, warum sie gerade auf das Leben dieses Dionysos so erpicht war. Im Verlauf dieser Arbeit wird sich noch herausstellen, was tatsächlich dahintersteckt. Eine Andeutung davon liegt in der Sterblichkeit des Dionysos, und genau hierin finden wir auch den Schlüssel zu seinem Mysterium. Denn Dionysos ist der einzige griechische Gott, der starb und wiederauferstand, oder besser gesagt wieder neubelebt und auferweckt wurde, und seine Sterblichkeit ist untrennbar verknüpft mit der Rückkehr ins Leben, die ihm, den meisten Überlieferungen zufolge, seine angebliche Großmutter Rhea, die Mutter des Zeus, ermöglicht haben soll. Dionysos’ Verbindung zu dieser Göttin – wie auch zu vielen anderen Göttinnen und anderen weiblichen Wesen aus der Mythologie, mit denen er zu tun hat – ist verknüpft mit offenbar sehr archaischen Glaubensvorstellungen aus der Zeit vor und außerhalb des griechischen Pantheons. Diese Glaubensvorstellungen wurden vor allem bestimmt durch ein zyklisches Denken, dass dem Griechen aus der Zeit des ersten Jahrtausends fremd scheint oder zumindest nur in vager Erinnerung vorhanden war. Diese Erinnerung schien aber bei den Frauen ausgeprägter vorhanden zu sein als bei den Männern, denn wie sonst könnte man das Schwärmen der Mänaden beim Erscheinen des mannweiblichen Jünglingsgottes, der alle Frauen in seinen Bann zog, sonst erklären – stellt dieser Kult doch offenbar nichts anderes als eine Rückkehr zu einer alten und gleichzeitig die Neuentstehung einer Religion der Frauen dar.

Tod und Sterben, Gang in die Unterwelt und Rückkehr von dort als eine Auferstehung vom Tode kannten die griechischen Götter bislang in diesem Sinne nicht, zumindest was die Götter angeht, daran ändern auch die Mythen von Persephone, Demeter und Kore nichts – wohl aber die Ägypter, von denen uns in Gestalt der Erzählung von Isis und Osiris eine in ihrem Kern nahezu gleiche Überlieferung vorliegt wie die von Rhea und Dionysos. Hier wie dort wird ein Gott von seinen Feinden zerrissen und von einer Göttin, die in Ägypten seine Schwestergemahlin ist, wiederbelebt durch Zusammenfügung seiner Glieder, wobei ebenfalls besonders sein Phallus eine wichtige Rolle als Schlüssel zu neuem Leben innehat. Aus dem, was einstmals der Gang in die Unterwelt und die darauf folgende Wiederbelebung war, mag der griechische Mythos das martialische Bild vom Tod und Verschlungenwerden durch die Titanen im Auftrag Heras sowie die Wiederbelebung durch die Göttermutter Rhea geformt haben. Womöglich ist es auch der ägyptische Mythos, der dafür verantwortlich zeichnet, dass das Element der Kuh, das heißt die Darstellung der Isis mit Kuhhörnern, beziehungsweise des Stiers, dem Sinnbild für Dionysos, Eingang in die wahrscheinlich kretische Religion fand, welche den Grundstock dafür legte, dass der griechische Mythos den Dionysos später als Gehörnten geboren werden lässt.[1] Denn es ist gerade Kreta, wo wir einen ausgeprägten Stierkult in Kult und Bild antreffen, dessen Spuren, wie Kerényi wunderbar herausgearbeitet hat, zu den Gottheiten führen, die wir gleichsam als die Vorfahren des Dionysos bezeichnen dürfen. Zudem finden wir im dortigen König Minos des Minoerreichs eine Verknüpfung mit dem Minotaurus und dessen Tötung. Auf derselben Insel finden wir auch die archaische Muttergöttin, die später in Griechenland Rhea, woanders Kybele oder Hipta (Hippa) genannt wurde, und im Zusammenhang damit auch den Mythos vom Ursprung des Weines, gemeinsam mit Stier und Efeu das wohl wichtigste Symbol des Dionysos.

Die vorliegende Arbeit wird wichtige Kriterien dafür anführen, dass Rhea-Kybele später gewissermaßen zu Demeter, diese zu Semele, und aus Aphrodite die „Herrin des Labyrinthos“ in gleichzeitiger Verknüpfung mit Persephone Ariadne wurde. Die Degradierungen dieser und anderen Göttinnen, die wir antreffen werden, zu Menschenfrauen oder auch Nymphen und Musen, erfolgten vor allem im Übergang der vorgriechischen zur griechischen Religion.

Hintergrund für die Verehrung des Dionysos bei den Mänaden, Bakchen, Bacchantinnen, Bassariden und wie sonst noch bezeichnet werden mochten, bildete eine alte Religion der Frauen, die schon in griechischer Vorzeit im Land der Hellenen existiert haben muss, und die durch das Auftreten des Dionysos in fulminanter Weise zu neuem Leben erweckt wurde, was später als Wahnsinn oder Mania diffamiert wurde oder nicht mehr anders erklärt werden konnte. Für die Verdrängung einer alten Frauenreligion, was sich im Kult und Religionsleben aber nur bedingt erfolgreich zeigte, sprechen auch solche mythischen Elemente wie des Dionysos’ Geburt aus dem Schenkel des Zeus, ein erbärmlicher Versuch, einen patriarchalischen Gott seinen Sohn gebären und dadurch die wahre Muttergöttin von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Es wäre indes zu weit gegriffen, von einem Matriarchat oder auch nur mutterrechtlicher oder matrilinearer Gesellschaftsordnung in Kreta, Thrakien oder dem vorpatriarchalischen Griechenland zu sprechen; allerdings muss es im Mittelmeerraum und angrenzenden Gebieten eine ausgeprägte Religion der Großen Göttin gegeben haben, zu der Dionysos, anfangs vielleicht unter dem Namen Iakchos, Oinops oder Sabazios, in starker Relation stand. Er ist der Heros per excellence, der Gott des Winters, der zu Anfang dieser Jahreszeit in die Unterwelt geht und im Frühling wiederkehrt, was Kerényi zum Urbild des Lebens umdeutete und ihn als Sinnbild desselben sowie der davon hervorgebrachten Wirkung betrachtete. Trotz seiner großartigen Arbeit schenkte er dabei derjenigen zuwenig Beachtung, die dieses Leben, ihren Sohn und Geliebten immer wieder aufs Neue hervorbringt – der Großen Mutter, die hinter Dionysos steht und ohne die, jedenfalls was die Frauen als seine Verehrerinnen angeht, ein Erfolg des Dionysoskults kaum möglich gewesen wäre.

Mythen von Dionysos’ Geburt, Tod und Wiederbelebung

Varianten von Dionysos’ Herkunft

Bevor man auf die verschiedenen Mythen eingeht, sollte man vor allem zwei Dinge vorausschicken:

1) Der Dionysoskult ist den Griechen nachweislich etwa seit 1.200 v. Z. bekannt und stammt demnach aus mykenischer Zeit.[2] Der Mythos des Dionysos Zagreus – also die Erzählung von seiner frühesten Kindheit, die Variante von der irdischen Mutter Semele, seiner Zerreißung durch die Titanen und der Wiederbelebung durch Athena enthaltend – wurde in Griechenland frühestens im 6. Jahrhundert v. Z. durch Onomakritos eingeführt (Pausanias VIII, 37.5).[3] Aus den vorhandenen älteren Varianten darf man schließen, dass ursprünglich ein anderer Mythos vorhanden gewesen sein muss, bevor dieser durch die neue Version des Zagreus-Mythos eine ganz erhebliche Veränderung erfuhr, für die in erster Linie die Orphiker verantwortlich zeichnen. Es sind die orphischen Hymnen, besonders die 46., die betonen, dass Dionysos nach seinem Tod von Zeus zu Persephone gebracht wird und diese ihn dann zu einem unsterblichen Gott macht.[4] Die Absicht der Orphiker lag darin, den Willen des Zeus zu betonen, doch Dionysos gelangte dadurch, ohne dass sie es beabsichtigt hätten, zu seiner wahren Mutter zurück (denn ihnen zufolge ist dies ja die irdische Frau Semele). Die Einführung einer irdischen statt einer Göttlichen Mutter und der Tod, von dem der Gott wiederbelebt wird, kann zum einen nur den Grund gehabt haben, eine unbequeme Göttin herabzusetzen: nämlich die einst Große Göttin Demeter-Persephone zur bloßen Getreide- beziehungsweise Unterweltsgöttin zu degradieren; zum anderen muss der Kult so stark gewesen sein, dass man sich genötigt sah, den Dionysos nach seinem Tod wieder auferstehen zu lassen, womit man eher zähneknirschend ein Element zyklischen Denkens, das noch aus mutterrechtlicher Zeit stammt, in die Erzählung einfließen lassen musste. Derartiges hatte das griechische Pantheon in allen seinen Mythen noch nie gesehen: Ein Gott, der kommt, stirbt und wieder neubelebt wird – ein absolutes Novum! Dahinter konnte nur etwas stecken, was diesen Gott auch dazu befähigte. Wir werden noch sehen, dass die Begründung in seinem Charakter und Wesen einerseits, sowie in den matriarchalischen Hintergründen andererseits zu finden ist.

2) Der Weinbau, auf den sich so viele Autoren stützen, dürfte erheblich älter sein, als man es dem Dionysos als Kulturbringer zuschreibt. Behnk zufolge wurden im Iran tönerne Trinkgefäße gefunden, die auf 3.500 bis 2.900 v. Z. datiert werden und deren Analyse auf den Genuss von Wein hinweist.[5] Es muss wichtige Gründe gegeben haben, den Dionysos als Weingott in Griechenland einzuführen – offenbar war dies eine wichtige Voraussetzung für seinen Erfolg in Griechenland. Es kommt nicht so sehr darauf an, wie alt der Weinbau tatsächlich ist, sondern warum man Dionysos mit der Rolle als Weingott in Verbindung brachte. Wein symbolisiert nichts anderes als den Lebenssaft Blut, und das führt uns zu dem Tabu des weiblichen Zyklus, der Menstruation. Dies dürfte der wahre Grund sein, warum Dionysos so stark mit der Großen Mutter und den Frauen überhaupt verbunden ist.

Über Dionysos’ Abstammung gibt es eine ganze Reihe Mythen und verschiedene Varianten. Als wichtigste Kombinationen des möglichen Elternpaares werden genannt:[6]

– Zeus und Persephone (Diodor III, 63),
– Hades und Persephone,
– Zeus und Semele (Diodor IV, 2),
– Zeus und Selene (Luna),
– Kabirus und unbekannte Mutter,
– Nil und unbekannte Mutter,
– Nysus und Thyone, weshalb er Thyoneus genannt wurde (Ovid, Metamorph. IV, 3, Cicero d. N. D. III, 58),
– in Phrygien Sohn des Kroniden Sabazios und aufgenährt von Hippa (Orpheus Hymn, 48. 49),
– in Afrika Ammon und Amaltheia (Diodor III, 67).

Bezüglich der Vaterschaft herrscht im Wesentlichen Klarheit, da auch zumindest Sabazios und Ammon als Formen des Zeus gelten, und die einzige Variante, die den Hades als Alternative nennt, aus späterer Zeit stammt und somit sekundär ist. Was indes die Mutterschaft angeht, so ist diese ungeklärt und wirft einige Fragen auf. Die bedeutendste davon muss in aller Deutlichkeit gestellt werden: War die Mutter des Dionysos eine Göttin oder eine sterbliche Frau, die später zu den Göttern erhoben wurde? Die Beschäftigung mit den wichtigsten Fassungen des Mythos und seiner religionsgeschichtlichen Hintergründe wird uns eine relativ klare Antwort darauf liefern.

In der Erzählung, die laut Diodors ausdrücklicher Betonung die kretische Version war,[7] nahm der Göttervater Zeus einstmals die Gestalt einer Schlange an und näherte sich so der Göttin Persephone, der Tochter Demeters. Er verführte sie und zeugte mit ihr den Sohn, der Zagreus – der „große Jäger“ – genannt wird. Zagreus heißt wörtlich „Wildfänger“,[8] der Jäger, der lebendige Tiere fängt.[9] Er soll die Fähigkeit besessen haben, sich jederzeit in ein beliebiges Tier verwandeln zu können. Zagreus ist ein Beiname, den auch Zeus selbst als Gott der Unterwelt innehat. In dem Epos Alkmeonis aus dem 6. Jahrhundert v. Z. lautet eine Zeile:

„Herrin Erde und Zagreus, der du über allen Göttern stehst!“

Es ist eine Anrufung, die diesen Wildfänger, den Gott Zagreus, mit der Erdmutter Gaia verbindet und bedeutet nichts Geringeres, als dass der höchste der Götter hier mit der höchsten Mutter, der Mutter Erde, als eine Art Gegenpol, nämlich als Zeus der Unterwelt, verknüpft ist.[10] Der Name Dionysos, griech. Διόνυσος, rührt ja unzweifelhaft von seinem Erzeuger her, die Variante Bakchos (lat. Bacchus) mit großer Wahrscheinlichkeit von Iakchos, wie er auch in den Mysterien genannt wird.[11] Als weitere Bezeichnung ist Chthonios, „Unterirdischer“ bekannt, die sich auf seine Mutter Persephone bezieht,[12] also ein weiteres Indiz für die Königin der Unterwelt als Göttliche Mutter des Dionysos.

Als die eifersüchtige Hera, die Herrin des Olymps, von dem Abenteuer ihres Gatten mit Persephone erfährt, versucht sie, die daraus entsprungene Frucht ums Leben zu bringen. Man mag dies besser verstehen, wenn man weiß, dass Hera, wie schon ihr Name nahelegt, ebenso wie Persephone oder Demeter ursprünglich eine Erdgöttin war.[13] Denn ihr früherer Name war Era, was bekanntermaßen nichts anderes heißt als Erde. Hera ist auch in einer anderen Version einer Herkunftslegende involviert: Zeus hatte einst ein Verhältnis mit einer irdischen Frau namens Semele, welche die „Lockenmaid“ genannt wurde.[14] Dies wird nicht immer explizit erwähnt, geht aber daraus hervor, dass diese Semele ein Kind von ihm in ihrem Leib trägt. Da begab sich Hera, die wiederum von dem Verhältnis erfahren hatte, in Verkleidung einer alten Frau zu der Erdenfrau Semele und bat diese, sie möge sich von Zeus erbitten, dass er sich ihr ebenso zeige, wie er es sonst nur gegenüber Hera tue. Hera ist als Aspekt der Großen, dreifaltigen Göttin die ursprüngliche Erd- und Todesgöttin, wofür auch spricht, dass sie sich in ein altes Weib verwandelte, als sie Semele besuchte.[15] Eine andere Variante schreibt Semele den Wunsch zu, den Vater ihres Kindes in seinem übermenschlichen Glanz und ewigen Ruhm zu erblicken zu wollen, und deshalb sollte Zeus ihr in seiner himmlischen Pracht, als Herr der Welt, erscheinen. Diese Gestalt aber besteht hier wie dort aus Blitz und Feuer – zu gewaltig für die schwache Erdenfrau. Vom Blitz getroffen, zerfällt sie zu Staub und Asche, noch bevor sie ihr Kind zur Welt bringen kann. Die Frucht ihres Leibes jedoch wird dennoch ausgetragen und geboren, und davon gibt es wiederum eine Reihe von unterschiedlichen Fassungen: Rhea, die Tochter der Mutter Erde, Gaia, und des Uranos sowie die Mutter von Hestia, Demeter, Hera, Hades, Poseidon und Zeus, habe Semeles brennenden Leib mit Efeu bedeckt und so den Knaben im Mutterleib gerettet. Danach habe Zeus es in seinen Oberschenkel eingenäht und drei Monate später selbst daraus zur Welt gebracht, weshalb Dionysos auch „der Zwei Mal-Geborene“ oder „Zweimütterliche“ genannt wird. Das Pikante nun ist, dass Rhea selbst zum Geschlecht der Titanen zählt – also den Riesen, die im Auftrag Heras den noch kleinen Dionysos töten: In seiner Kindheit überraschen sie ihn beim Spielen oder locken ihn mit Hilfe eines Spiegels aus einer Höhle, zerreißen ihn und bringen ihn so ums Leben. In sieben Stücke zerteilt, braten sie ihn am Spieß und verschlingen ihn. Dabei werden auch die Hörner des Kindes erwähnt, die freilich in Wahrheit nur symbolischer Art sind. Denn sie erinnern vor allem an das Opfer eines Kälbchens oder Zickleins – zwei Symboltiere des Dionysos, für die seine Person hier stellvertretend steht. Dafür spricht auch, dass die Leiden dieser Tiere dem des jungen Gottes in diesem Fall ziemlich genau entsprachen. Der wütende Zeus, der seinen Sohn liebt, bestraft die Titanen und tötet sie mit dem Blitz. Den Orphikern zufolge sei aus ihrer Asche das Menschengeschlecht entstanden. Auch in einer Version, in der Persephone als Mutter des Dionysos genannt wird, greift die Titanin Rhea ein: Sie fügt die sieben Glieder des Dionysos wieder zusammen, erweckt ihn zu neuem Leben und gibt ihn danach Persephone zurück. An der Stelle, wo dies geschehen sein soll, entspross später der erste Weinstock. Laut der bekanntesten Version ist es Athena, die Göttin der Weisheit, der Künste und des Kampfes, Namensgeberin der Stadt Athen, die Dionysos’ Herz bewahrt und Zeus überbringt. Dieser gibt es dann Semele zu essen oder in einem Trank, sodass die Mutter ihn erneut empfangen kann. Weitere Varianten berichten, dass es nicht das Herz, sondern der Phallus gewesen sei. Zur Göttin Rhea führt auch der Weg, den Kerényi in seinen Forschungen beschritt, und dieser hängt mit dem wohl wichtigsten Symbol des Dionysos zusammen, dem Wein. Ein von Nonnos (Dionysiaka XII, 293-632, übersetzt von Thassilo von Scheffer) überlieferter Mythos berichtet dezidiert von der Erschaffung des Weins durch Dionysos:[16] Es ist eine Schlange, die Dionysos zu dem Genuss der Trauben bringt und er daraufhin den Wein erfindet:

Näher zur Rebenranke der Zweige duftende Nadeln.

Rings um sie geschmiegt das schiefgewundene Rückgrat,

Schlürfte den köstlichen Nektar der träufenden Lese ein Drache;

Und wie den bakchischen Trank er schleckte mit schrecklichen Kiefern,

Rann ihm aus dem Maul der weingewordenen Traube

Saft und rötete ihm den Bart mit purpurnen Tropfen.

Und mit Erstaunen gewahrte der bergdurchschweifende Bakchos,

Wie ein roter Saft gleich Wein den Rachen der Schlange

Färbte. Und da das bunte Gewürm den Euïos schaute,

Wälzte es fort den Leib mit seinen gesprenkelten Schuppen,

Und es tauchte hinab in ein nahes, höhliges Felsloch.

Bakchos, die Traube schwanger von rötlichem Safte gewahrend,

Dachte an alle Orakel, die früher Rheia gekündet.[17]

Diese Passage enthält eine ganze Reihe wichtiger mythologischer Elemente, die für das Verständnis der Dionysosmythen unerlässlich sind. Kerényi betont, dass die minoische Berggöttin keine andere als Rhea (oder Rheia) war, und dass es sich bei der Schlange, die den in der Sphäre der Göttin weilenden Dionysos zum Genuss der Trauben führte, um eine mythische Schlange handelte, die von den Mänaden im Dionysoskult späterer Zeit verwendet wurde.[18] Auf zwei Fayencestatuetten, die im Besitz des Archäologischen Museums von Heraklion auf Kreta sind, wird jeweils eine barbusige Göttin mit Schlangen in der Hand abgebildet. Die eine hat je einen Arm mit einer Schlange umwunden,[19] die andere hält in je einer Hand eine Schlange empor.[20] Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass es sich bei beiden Darstellungen um die minoische Große Göttin handelt, die später im griechischen Pantheon, wo sie als Tochter von Gaia und Uranos zur Mutter des Zeus und Mutter der Götter avancierte, den Namen Rhea tragen sollte. Ihr Gatte war dort der Gott Kronos, der Anführer der Titanen, welche Dionysos zerrissen. In Kreta war sie zugleich eine Berggöttin, und es sind die Berge, in den Bakchos-Dionysos umherwandert. Der Drache beziehungsweise die Schlange ist nichts weiter als ein Sinnbild für diese Göttin selbst: Die „schrecklichen Kiefer“ weisen auf ihren fürchterlichen Aspekt als Todesbringerin hin, und wenn der rote Wein den Rachen der Schlange färbt, so mag man an das fließende Blut beim Tode des Weingottes denken. Dies wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass Dionysos, der durch sie zur Erfindung der Weinkultur gelangt, den Traubensaft in einem „höhligen Felsloch“ reifen lässt, also gleichsam im Bereich der Unterwelt. Dionysos, der als einziger griechischer Gott stirbt, in die Gefilde des Unterirdischen gelangt und von dort wieder aufsteigt, vermag dies nur, weil eine mit ihm in ganz besonderer Weise in Verbindung stehende Göttin seine zerrissenen Glieder wieder zusammenfügt und wiederbelebt: Rhea! Mit seiner Wiederbelebung kann auch sein vergossenes Blut zum roten Traubensaft, zum Wein werden.

Aus all diesen Dingen geht hervor, dass Rhea, Schlange, Dionysos, Titanen, Wein, Blut, Tod und Wiederbelebung in einem mythischen Zusammenhang stehen müssen, der auf Grund seiner Herkunft aus Kreta, dem Zentrum einer matriarchalischen Kultur, von sehr archaischer Natur sein muss. Es wäre wahrlich keine Überraschung, wenn ein einstiges Opferritual die Basis für all diese Verbindungen sein würde! Und angesichts der teilweise sehr martialischen und vollkommen unnatürlichen Vorgänge, die in diesen Mythen, gleich welcher Version, beschrieben werden, sollte jedem klar sein, dass wir es hier auf jeden Fall mit einer Symbolsprache zu tun haben, auf die ich am Ende dieser Arbeit eingehen werde. Schon jetzt darf aber konstatiert werden, dass diese in aller Regel dazu dient, Dinge hinter einem Sinnbild oder einer Allegorie zu verbergen, die man sich nicht direkt auszusprechen oder niederzuschreiben getrauen durfte. So musste Zeus zur Schlange werden, dem einstigen Tier der Großen Mutter auf Kreta, und dergestalt zur Unterweltskönigin Persephone schleichen, um seinen Sohn mit ihr zeugen zu können. Dieser Übergang der Schlange vom Tier des Göttlich-Weiblichen zum Göttlich-Männlichen steht symbolisch für den Machtwechsel im himmlischen Pantheon, das ab diesem Zeitpunkt von Zeus als Göttervater unter patriarchalischen Voraussetzungen dominiert wurde. Als Zeuge für den matriarchalischen Ursprung dient eine Erzählung, in der berichtet wird, dass Zeus einst Hochzeit mit Rhea halten wollte, seine Mutter das aber verbot – ein klarer Hinweis auf eine mutterrechtliche Kultur. Rhea verwandelte sich eine Schlange, und nachdem er dasselbe getan hatte, vereinigte er sich mit ihr, sie als so genannter Herakleotischer Knoten umschlingend.[21] In der Person von Dionysos wird Zeus selbst wiedergeboren und somit zum Sohn-Geliebten der Großen Mutter, die hier als Rhea und, wie wir noch sehen werden, später auch als Ariadne und Aphrodite erscheinen kann.

Dionysos, Sohn der Erdgöttin

Einer der großen Erforscher des Mutterrechts und ihrer religiösen Grundlagen, Johann Jakob Bachofen, schrieb einst, dass Dionysos sehnsüchtig dem Monde nachwandele und von seiner Mutter Luna Beistand und Sieg erflehe. Denn seine Mutter wird auch Semele-Luna, die eigebärende Allmutter der himmlischen Erde, genannt.[22] Es ist der Mond, dem in der matriarchalischen Ära stets der Vorzug vor der Sonne gegeben wurde, denn wie wir wissen, orientierte sich die Vorstellung von der dreigestaltigen Göttin oft an den Mondphasen. Heide Göttner-Abendroth, die große Matriarchatsforscherin unserer Zeit, lässt in ihrer Darstellung „Die Göttin und ihr Heros“ keinen Zweifel mehr daran. Indem Dionysos dem Mond nachwandelt, entpuppt er sich hierdurch selbstverständlich als Heros der dreigestaltigen Göttin, die er in allen drei Aspekten verehrt.

Mindestens genau so viel, ja fast noch mehr Beachtung wie Selene-Luna sollten wir aber auch Demeter schenken, denn:

„Die, die früher Rhea war, nachdem sie die Mutter des Zeus wurde,

Wurde zu Demeter...“[23]

Demeter galt als die Burggöttin Thebens,[24] und das wird verständlich, wenn man weiß, dass sie laut Euripides (Phoen. 694. Schol.) gemeinsam mit ihrer Tochter Kore die mythische Gründerin der Stadt ist.[25] Damit später Kadmos die Stadt gründen konnte, musste er den vom Kriegsgott Ares mit der Erinnys Tilphosa – also der in Tilphosa verehrten Demeter – gezeugten Drachen töten.[26] Demeter beziehungsweise die Frucht ihres Leibes, der Drache, wurde hier also dämonisiert. Die Dämonisierung bedeutet in diesem Fall die Entstehung der Rachegöttin Erinnys, aus der später die drei Erinnyen wurden, und der Drache ist Ausdruck des Zorns einer dunklen Naturgewalt, da Demeter zu diesem Zeitpunkt der thebanischen Mythologie bereits Erynnis ist.[27] Der Grund, warum wir sie selbst später als Menschenfrau Semele wiederfinden, dürfte in dem Tabu bestehen, dass sie einst gleichzeitig die Mutter und Geliebte des Dionysos war. Es muss Gründe gegeben haben, die Erinnerung von Demeter vor allem in ihrer Eigenschaft als Mutter des Dionysos zu verdrängen, und da eine weitere Herabstufung der großen Demeter zur Menschenfrau unter diesem Namen unvorstellbar war, entstand der Name Semele.

Im Chor der Helena lässt Euripides der Demeter alle Attribute der Rhea zukommen und verschmilzt auf diese Weise beide Göttinnen zu einer.[28] Wie konnte es dazu kommen? Demeter, die wie Dionysos eine Gottheit der Fruchtbarkeit ist,[29] ergab sich einst auf Kreta in den Furchen eines drei Mal gepflügten Ackers einem Jäger namens Iasion oder Iasios, und Kerényi betont, dass zu den kretischen Jägern als der größte derjenige zu rechnen ist, der der Zagreus hieß, da der Wildfang als sein Kennzeichen galt.[30] Auch Strabon zufolge gehört Iakchos zu Demeter, allerdings macht er den Fehler, ihn von Bakchos-Dionysos abzugrenzen (Strabon 10, 3, 10).[31] In einer anderen Überlieferung heißt es von Demeter, dass sie sich auf der Suche nach der von Hades geraubten Tochter Persephone für lange Zeit in eine Menschenfrau verwandelt habe.[32] Dies könnte mit relevant für die These sein, dass Semele, die irdische Mutter von Dionysos, in Wahrheit niemand anderes als Demeter ist! In Thrakien wurde Semele als Göttin verehrt und Nilsson zufolge ist, wie er aus phrygischen Grabinschriften schließt, Semele eine thrakisch-phrygische Erdgöttin. Aus diesem Grund ist ihm zufolge der Dionysoskult thrakischen Ursprungs.[33] Immerhin schreibt Plutarch in der Alexander-Vita, dass die makedonischen Frauen von alters her in die dionysischen und orphischen Hymnen eingeweiht waren (Plutarch, Alexander Vita, 3).[34] Welcker, demzufolge Theben unzweifelhaft der Ort der Hellenisierung des Dionysos ist (wobei er im Gegensatz zu Kerényi davon ausgeht, dass sein Ursprungsland Thrakien ist), hätte dort „Semele zur Mutter erhalten, die zuerst als Göttin gedacht die Veste, den Erdboden bedeutete“. Da Dionysos in Thrakien ein Sonnengott gewesen sei, konnte er in Theben nicht als solcher aus Semele, sondern nur als ihre Wirkung, die Triebkraft der Natur hervorgehen.[35] Welckers Ansicht nach hätte die griechische Theologie sich den Dionysos als Gott des Wachstums und des Weines in ihrer eigentümlichen Art und Weise angeeignet, indem sie ihm eine Mutter gab.[36] Diese Mutter sollte der Kore sehr ähnlich sein, doch da alle allgemein gebräuchlichen Namen für Erde bereits Anwendung in verschiedenen Kulten gefunden hatten, musste eine andere Lösung gefunden werden, denn der Zusammenhang von Dionysos mit der Erde war bereits ins Land eingedrungen und entwickelt.[37] Mit der Zeit jedoch sei Semele durch den politischen und mythologischen Zusammenhang der griechischen Religionen ins Reich der Sterblichen abgesunken, wie auch andere Göttinnen, darunter ihre Schwester Ino, von der später noch ausführlicher die Rede sein wird.[38]

Barth liefert zwei andere Hinweise für die göttliche Herkunft Semeles: Nach Macrobius Saturnal I, 12 soll sie eine Tochter Fauns, die Opis gewesen sein,[39] und nach der von Pausanias X, 5.12 überlieferten, geläufigeren Kadmos-Sage ist sie in ihrem Ursprung zumindest halbgöttlich: der aus Ägypten oder Phönizien stammende Kadmos, der Gründer Thebens, habe sie mit Harmoneia, einer Tochter des Mars und der Venus, gezeugt.[40] Demeter war vor allem eine Erdgöttin,[41] aus deren Leib, der Erde, in jedem Frühjahr die Frucht des Getreides hervorspross als Geschenk der Großen Göttin und Gerstenmutter, wie sie im Volksmund genannt wurde. Der Name des Sabazios, der phrygisch-kleinasiatischen Variante des Dionyos, bedeutet „Gerstenbier“,[42] was natürlich vorzüglich zur Gerstenmutter passt. Der Name Demeter-Semele aber nach ihrer Vergöttlichung durch Dionysos lautete Thyone, ursprünglich ein uralter Name der Erde und Beiname von Demeter;[43] Semele und Demeter Thyone hießen Erde in slawischer und persischer Sprache.[44] Diese zuerst durch Pindar (Pyth. 3,99) bezeugte Gleichsetzung[45] finden wir auch am Hymnenschluss eines Dionysoshymnus, der von Diodor überliefert, von ihm als homerisch bezeichnet und von einem Leidensis (M) erhalten ist.[46] Laut Diodorus Siculus III, 61.63 war Dionysos oder Bakchos der Sohn von Demeter und Dios (Zeus),[47] und es hieß auch, dass sie es gewesen sei, die seine Glieder zusammengesucht habe.[48] Dionysos war Demeters mitwaltender Begleiter, Paredros, und nach Strabon X, 3. §. 10 ihr Dämon.[49] Dass die Herleitung des Namens Semele aus der rekonstruierten phrygischen Lautform zemelos mit der Bedeutung „Erdenbewohner“, „Mensch“ heute als widerlegt gelten mag, kann an den besagten Zusammenhängen nichts ändern, ebensowenig die verschiedenen Kultformen, die Otto in Bezug auf die irdische Semele anführt.[50] Gewiss wurde auch die Erdenfrau Semele als Mutter von Dionysos verehrt, wie eine Inschrift im Schatzhaus der Thebaner zu Delphi nahelegt, doch was kann das beweisen? Lediglich, dass es Menschen gab, die im Prinzip derselben Glaubensverirrung unterlagen, wie Jahrhunderte später die Philomarianiten oder Kollyridianer des Frühristentums, welche die irdische Mutter von Christus, Maria, als Göttin in einem Kult verehrten, anstatt der wahren Muttergöttin, sei es nun Rhea, Persephone oder Demeter die Ehre zu geben! Hier wie dort haben wir es lediglich mit einer Ausnahmeerscheinung in den Glaubensformen der Religionsgeschichte zu tun.

Göttner-Abendroth zufolge ist Dionysos der Heros der Muttergöttin Demeter. Bei ihr sind Kore, Persephone und Hekate eins:[51] Kore symbolisiert das grüne Getreide und ist die Frühlingsgöttin, das Mädchen, das im Frühjahr aus der Unterwelt emporsteigt und die Heilige Hochzeit mit Dionysos vollzieht; als Persephone steht sie für die reife Ähre und wird in die Unterwelt entführt, wenn das Korn geerntet wird. Für das geerntete Korn wiederum steht Hekate, die schreckliche Alte und Prototyp aller Hexen.[52] Demeter ist hier der Name der Göttin als Ganzheit; Kore, Persephone und Hekate sind ihre einzelnen Aspekte.[53] Für uns kommt es in erster Linie darauf an, zu erkennen, dass Dionysos alias Bakchus/Bacchus oder Iakchos – das „Göttliche Kind“ – der Geliebte dieser Göttin ist.[54] Dass Dionysos der Sohn von Demeter sei, sagt bereits Diodor (III, 62).[55] Und für die Verbindung von Dionysos als der Sohn-Geliebte der Muttergöttin Demeter mag zusätzlich der ägyptische Glaube sprechen, dass Apollon und Diana Kinder von Demeter und Dionysos seien![56]

Von diesen mythologischen Spuren abgesehen, gibt es noch kultische Aspekte, die Demeter mit Dionysos in Zusammenhang bringen: Demeter war die Hauptgöttin von Theben, da kann es nicht verwundern, wenn Dionysos, der soviel Bezug zu dieser Stadt hat, auch ihr Beisitzer heißen konnte.[57] In den Eleusinischen Mysterien wurden Demeter und Dionysos gemeinsam, und zwar als Mutter und Sohn verehrt.[58] Barth erwähnt die schlichte Anschauungsweise, dass die vom Volk vergötterten Brot und Wein Demeter beziehungsweise Bakchos zuzuordnen sind: Demeter alias Ceres versinnbildlichte das Getreide und das Brot, Dionysos aber den Wein.[59] Wir finden dies noch bei Euripides in „Die Bakchen“ (274-279). Welcker zufolge galt der Wein als das edelste Erzeugnis so hoch, dass dies den Dionysos dazu erhebe, an die Seite der Muttergöttin gestellt zu werden.[60] Zu dieser Verbindung scheint auch zu passen, dass man der Demeter unter anderem Trauben opferte.[61] Im christlichen Gottesdienst entwickelte sich aus dieser Kultform die Eucharistie mit Brot und Wein, wobei allerdings dort die Göttliche Mutter und ihr Sohn/Geliebter voneinander getrennt wurden, um beides auf die eine Person des Christus beziehen zu können. Abgesehen davon gilt Dionysos als der Bienenvater (nämlich als Naturwesen, Nahrungsgeber und Lehrer) und Demeter ist die Bienengöttin.[62] Kerényi weist darauf hin, dass der Vorläufer des Weins in Kreta und Griechenland ein Honigtrank war,[63] dem germanischen Met vergleichbar, und seiner Theorie zufolge stammt der Weingott aus Kreta, wo sich viele Spuren von ihm und besonders auch Rhea finden. Bienen und Honig haben auch mit dem Sirius, dem Hundsstern zu tun, denn der Zeitpunkt der Dionysosfeste steht mit dem Siriusfrühaufgang in Zusammenhang, und die Honigtrankbereitung war um diese Zeit.[64] Behnk hat hierzu den Einwand, dass es nach Nilsson den Weinbau bereits vor der Ankunft des Dionysos in Griechenland gegeben habe und das Element des Weins erst später seinem Kult hinzugefügt wurde.[65] Das mag ja theoretisch richtig sein, doch bezüglich der Verbindung mit Demeter kommt es in erster Linie darauf an, was man seinerzeit von ihr und ihrem Sohn-Geliebten glaubte. Die Erinnerung an den Bezug zum Honig hat selbst noch Euripides im „Hippolytos“ verarbeitet:

und die Sterbliche, die Dionysos empfing

sinkt nieder aufs Brautbett, sinkt in den Tod,

ja furchtbar ist die Liebe,

furchtbar und süß: sie führt der Biene gleich

den Honig und den Stachel.[66]

Bezüglich Demeter gibt es noch zahlreiche weitere Relationen von Dionysos zu ihr. Sie konnte mit Isis identifiziert werden, und Preller betont, dass für die Entwicklung der Demeterreligion besonders Ge (Gaia), Isis und Rhea, sowie für die mit ihr praktisch identische Persephone besonders Hekate, Artemis und der orphische Dionysos von Bedeutung waren.[67] Mit Dionysos hat sie gemein, dass sie wie er eine Gottheit der Fruchtbarkeit ist, und diese aus der „Unterwelt“, aus den Bereichen unterhalb der Erde, hervorwächst, um oben schöne Frucht zu tragen. Im Kult erfolgte ihre Zusammenführung vor allem in den Eleusinischen Mysterien, wo Demeter und Dionysos gemeinsam verehrt wurden. Demeter war aber auch eine Burggöttin verschiedener Städte, so unter anderem der Kadmea, der alten Burg Thebens, und Kadmos, der irdische Gatte der Göttin Harmoneia, der Tochter Aphrodites, galt als ein besonderer Diener der Thesmophorien, den Kultfeiern zu Ehren Demeters.[68] In den eleusinischen Mysterien wurde Demeter gern als rastlose Wandernde in entsprechendem Kostüm dargestellt,[69] und ihrer Eigenschaft als Wandernde ist sie natürlich sehr mit Dionysos verwandt. Eine Folge der natürlichen Zusammengehörigkeit von Demeter und Dionysos war die Kombinierung der eleusinischen Triptolemossage mit der ikarischen vom Weinerfinder Ikarios, wahrscheinlich auch auf Grund der Nachbarschaft der beiden Orte: Demeter und Dionysos kommen gemeinsam nach Attika, und in manchen Varianten, in denen Triptomelos und Ikarios gemeinsam nach Eleusis gelangen, wird an der Stelle des Ersteren Demeter zur Freundin des Letzteren.[70] Die Phytaliden in Attika sollen aus der Hand Demeters selbst die erste Feige erhalten haben, und da Dionysos als Erfinder der Feigenkultivierung gilt und sie seine Frucht genannt wird, stellt dies natürlich eine weitere bemerkenswerte Übereinstimmung dar.[71]

Mythen von Dionysos’ Kindheit und Jugend

Geburtsort und Name

Durch Heras Eifersucht ist Dionysos gezwungen, fern von seiner Heimatstadt Theben aufzuwachsen. Seine Geburt soll auf dem Berg Nysa erfolgt sein, eine Örtlichkeit, die sich in aller Regel erst in späterer Zeit nachweisen lässt – dann, nachdem verschiedene Berge und Orte infolge der Verehrung von Dionysos nach seinem mythischen Geburtsort benannt wurden. Griechische Mythographen erwähnen Nysa in Zusammenhang mit Äthiopien, Libyen, Arabien und sogar Tribalija (bei Danube, Wolgagebiet). Eine Stadt Nysa am Mäander gab es auch in Kleinasien und Palästina (Skythopolis). Und wenn wir Hesychios von Alexandria hinzuziehen, der im 5. Jahrhundert v. Z. ein byzantinisches Lexikon verfasste, so finden wir darin eine Liste folgender Lokalisierungen, die von alten Autoren als der Ort genannt werden, wo Nysa gelegen haben soll: Arabien, Äthiopien, Ägypten, am Roten Meer, Thrakien, Thessalien, Kilikien, Indien, Libyen, Lydien, Makedonien, Naxos, in der Gegend von Pangaios (mythische Insel im südlichen Arabiens) und letztlich Syrien. Eine Stadt Nysa soll einst auf dem Berg Meros gelegen sein, und dort existierte auch ein Dienst des Dionysos, den die Griechen unter Alexander dort fanden.[72] Und da Meros auf Griechisch „Schenkel“ bedeutet, ging laut Strabon (XV, 1. §. 8), Curtius (VIII, 10) und Arrian (Hist. Indicae) die Sage, dass Zeus seinen Sohn in seinem Schenkel bis dahin gebracht habe, wo ihn Semele dann gebar.[73] Als auffälliges Indiz mag man, sich die Tat der Rhea, die zu Dionysos’ Rettung führte, vor Augen haltend, werten, dass auf eben diesem Berg Meros der Efeu und der Weinstock heimisch sind.[74] Da nach Herodot (II, 146) und Diodor (III, 62) dieser Berg in Indien beheimatet sein soll, spricht man im Zusammenhang mit Meros, Nysa und Nysos von Dionysos als erstem, dem indischen Dionysos, der auch Sabazios hieß, was verwandt ist mit Sabath und Zebaoth. Von hier aus soll er in die Welt gezogen sein – in der Behauptung der Griechen hingegen von hier aus nach Indien![75]

Bachofen weiß zu berichten, dass Nysa se, „Dionysos’ Mutterstadt“, Nachtstadt, Nischbura heißt.[76] In Euphrone erscheint die Nacht als urweise Mutter, und Lucian beschreibt die Insel der Träume mit einer Stadt, in der die Nacht höchste Verehrung genießt.[77] So deutet also schon der Geburtsort und die Heimat des Dionysos dezent auf Verbindungen zur Großen Mutter hin. Welcker: „Heimat und Wohnsitz des Sohns der Semele ist überall ein Nysa, für ihn was für Demeter das Ackerfeld, auch geschrieben Ντσα), womit, was sicher und unbestreitbar ist, sein Name Nysos, Dionysos übereinstimmt.“[78] Auch Barth schreibt, dass von Nysos der Name Dionysos stammen soll: Zeus habe ihn von den Nymphen auf dem Berg Nysos erziehen lassen, wobei das Dio von Dios = Zeus, und das nysos vom genannten Berg herrührt.[79] Somit hätten wir nebst einem weiteren Zusammenhang von Demeter und Dionysos auch die Erklärung von Erde und Ackerfeld, Göttin der Erde und ihrer Wirkung, Dionysos. Unter zahlreichen Hinweisen darauf, dass Dionysos mit der Feuchtigkeit in Verbindung stehen muss, welche die Erde bewässert, kommt Welcker zu dem Schluss, dass Dionysos auf jeden Fall die erwachende Seite des Jahres im Gegensatz zu der vernichtenden ausdrücke.[80]

Nysa (griech. Νύσα) ist auch der Name einer Nymphe, die auch den Namen Macris trägt und dem Mythos zufolge die Amme von Dionysos war,[81] und eine weitere Nymphe heißt Nysis oros „Nysaberg“.[82] Bereits Homer spricht von den Ammen des Dionysos auf dem „heiligen Berg Nyseion“, und im homerischen Hymnus ist die Rede von den Nymphen, die in den Tälern des Berges Nsya leben und den kleinen Dionysos in einer Grotte großziehen. Ikonographisch ist Nysa auf einer Vase von Sopholis (580 v. Z.) und auf einem Mosaik von Paphos (Zypern) nachgewiesen, daneben auf zahlreichen Denkmälern, wobei sich ihre Identität aus Darstellung, Handlung oder Kontext ergibt.

Hera indessen macht Dionysos’ Aufenthaltsort Nysa bald ausfindig, und eine neue Flucht beginnt. Hermes bringt den Knaben nach Böotien, eine im mittleren Griechenland gelegene Region, die nach Rinderweiden benannt ist. Dies dürfen wir ohne große Bedenken als eine weitere Anspielung auf das angeblich gehörnte Kind werten, dem wie seinem Vater Zeus der Stier als wichtiges Symboltier zugerechnet wird. Die wiederholte Erwähnung der Hörner ist nicht allein eine Anspielung auf ein Tieropfer, sondern soll gleichermaßen auch die Verbundenheit von Zeus mit seinem Sohn zum Ausdruck bringen.

Einer anderen Version zufolge, die noch bemerkenswert ist, war es die Nymphe Amaltheia, die Dionysos nährte und großzog.[83] Ihre Geschichte lautet wie folgt: Rhea, die Mutter des Zeus, hatte einst einen Sohn von Kronos, der alle ihre Kinder fraß. Rhea jedoch verbarg ihren Sohn in einer Höhle, und dort begegnete sie Nymphen, die am Bach spielten und das Weinen des Kindes hörten. Eine davon mit Namen Ver (Vega), die ihr Kind auf den Arm genommen hatte, verwandelte sie in eine Ziege, damit für ihren Sohn gesorgt sei. Amaltheia (griech. Άμάλθεια), deren Name „Göttliche weiße Ziege“ bedeutet, besaß ein Füllhorn mit guten Gaben, und daher ist es leicht, in ihr eine ursprüngliche Form der Großen Mutter zu erkennen. Deren Herabwürdigung ist einerseits in Amaltheias Herabsinken zur Nymphe, andererseits in ihrer Ziegengestalt, in der sie dem Knaben die Muttermilch verabreichte, unschwer auszumachen. Die Schlüsselfigur aber ist wieder einmal Rhea, denn Amaltheia ist nichts anderes als einer ihrer Aspekte, worauf auch Göttner-Abendroth hinweist: „Rhea war die große dreifaltige Göttin Kretas, als Amaltheia die Mädchengöttin, als Io die Nymphengöttin und als Adrasteia das Herbstweib“.[84]

[...]


[1] Kerényi 1994, S. 23, 40, 42, 48f.

[2] Behnk 2009, S. 28.

[3] Behnk 2009, S. 40.

[4] Behnk 2009, S. 35.

[5] Behnk 2009, S. 28.

[6] Vgl. Barth 1828, S. 124f.

[7] Kerényi 1994, S. 80.

[8] Kerényi 1994, S. 65.

[9] Kerényi 1994, S. 64.

[10] Kerényi 1994, S. 65.

[11] Barth 1828, S. 126, Ersch/Gruber 1834, S. 378.

[12] Kerényi 1994, S. 65.

[13] Barth 1828, S. 3, 192, 217; zu Hera als Erdgöttin vgl. auch: Moritz 1861, S. 93, Overbeck 1871, S. 237.

[14] Kurts 1869, S. 360.

[15] Kurts S. 1869, 360.

[16] Kerényi 1994, S. 51-53.

[17] Kerényi 1994, S. 52.

[18] Kerényi 1994, S. 53.

[19] Kerényi 1994, Abb. 13.

[20] Kerényi 1994, Abb. 14.

[21] Kerényi 1994, S. 81.

[22] Bachofen 1861, S. 232.

[23] Kerényi 1994, S. 81.

[24] Preller 1837, S. 359.

[25] Aeschylos/Müller 1833, S. 168-169.

[26] Aeschylos/Müller 1833, S. 169.

[27] Aeschylos/Müller 1833, S. 169.

[28] Fischer 1856, S. 35, Fn. 2.

[29] Behnk 2009, S. 84.

[30] Kerényi 1994, S. 65.

[31] Behnk 2009, S. 38.

[32] Szabó 1971, S. 179.

[33] Behnk 2009, S. 30.

[34] Behnk 2009, S. 29.

[35] Welcker 1857, S. 434.

[36] Welcker 1857, S. 435.

[37] Welcker 1857, S. 435-436.

[38] Welcker 1857, S. 437.

[39] Barth 1828, S. 209.

[40] Barth 1828, S. 209.

[41] Barth 1828, S. 251f.; Wilamowitz 1931, S. 208f.

[42] Behnk 2009, S. 32.

[43] Barth 1828, S. 209.

[44] Barth 1828, S. 264.

[45] Dihle 2002, S. 429.

[46] Dihle 2002, S. 427.

[47] Kerényi 1994, S. 156.

[48] Kerényi 1994, S. 156.

[49] Barth 1828, S. 124.

[50] Otto 1933, S. 64f.

[51] Göttner-Abendroth 1980, S. 35.

[52] Göttner-Abendroth 1980, S. 35.

[53] Göttner-Abendroth 1980, S. 33-37.

[54] Göttner-Abendroth 1980, S. 37f..

[55] Hartung 1866, S. 100.

[56] Barth 1828, S. 197-198.

[57] Wilamowitz 1932, S. 60, Fn. 1.

[58] Grimm 1854, S. 961, Fn. *.

[59] Barth 1828, S. 239.

[60] Welcker 1857, S. 441.

[61] Barth 1828, S. 135.

[62] Creuzer 1842, S. 104.

[63] Kerényi 1994, S. 34-41.

[64] Kerényi 1994, S. 37-39.

[65] Behnk 2009, S. 36.

[66] Wilamowitz 1891, S. 107.

[67] Preller 1837, S. 30.

[68] Preller 1837, S. 359-360.

[69] Preller 1837, S. 91.

[70] Preller 1837, S. 288.

[71] Preller 1837, S. 320.

[72] Barth 1828, 125.

[73] Barth 1828, S. 125.

[74] Groskurd 1833, 15. Buch, Abschn. 1, S. 112.

[75] Barth 1828, S. 125.

[76] Bachofen 1861, S. 185.

[77] Bachofen 1861, S. 185.

[78] Welcker 1857, S. 438.

[79] Barth 1828, S. 124-125.

[80] Welcker 1857, S. 440.

[81] Vollmer 1851, S. 179, 778.

[82] Kerényi 1994, S. 130.

[83] Merkelbach 1988, S. 45.

[84] Göttner-Abendroth 1993, S. 54

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Dionysos, Gott der Frauen
Untertitel
Eine mythologische Spurensuche
Autor
Jahr
2011
Seiten
76
Katalognummer
V164558
ISBN (eBook)
9783640797592
ISBN (Buch)
9783640797653
Dateigröße
3225 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dionysos, Göttin, Mythologie, Mutterrecht, Anthropologie, Mänade
Arbeit zitieren
Klaus Mailahn (Autor:in), 2011, Dionysos, Gott der Frauen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164558

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