Über die gegenwärtigen Formen der humanitären Hilfe von NGOs unter besonderer Berücksichtigung der „neuen Kriege“


Hausarbeit, 2010

36 Seiten, Note: 1,3

Marc Eric Hussmann (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung
1.2. Aufbau der Arbeit

2. Wer leistet gegenwärtig humanitäre Hilfe?

3. Die klassische humanitäre Hilfe
3.1. Weite Definition
3.2. Enge Definition

4. Neue Kriege
4.1. Dilemmata für die humanitäre Hilfe
4.1.1. Dilemma 1: Personelle und materielle Unterstutzung der lokalen Machthaber
4.1.2. Dilemma 2: Verleihung von Legitimitat an die Konfliktparteien . .
4.1.3. Dilemma 3: Strategischer Schutz
4.1.4. Dilemma 4: Eine ungleiche Versorgung der Bevälkerung
4.1.5. Dilemma 5: Negative Effekte in Bezug auf die Herausbildung einer Zivilgesellschaft
4.1.6. Dilemma 6: Kurzfristigkeit humanitärer Hilfe

5. Erstes Zwischenfazit

6. Die veränderten Prinzipien
6.1. Do no harm
6.2. Comprehensive Peace Building
6.3. Back A Decent Winner

7. Zweites Zwischenfazit

8. Ausgewählte humanitare Operationen
8.1. LCPP
8.2. Kosovo Einsatz
8.3. OLS

9. Fazit

Anhang

A. Glossar
A.1. Neue Kriege
A.2. A Bed For The Night
A. 3. NGO

B. Tabellen und Schaubilder
B. 1. Das internationale Netzwerk der humanitären Hilfe
B.2. Finanzquellen von NGOs in den USA

1. Einleitung

1.1. Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Die Fragestellung, ob die Prinzipien humanitärer Hilfe aufgrund veränderter Rahmen­bedingungen in denen diese heute geleistet wird, diesen Bedingungen angepasst werden sollten, bestimmt seit Jahren die Diskussion im Feld der humanitaren Hilfe (vgl. Hezschel 2006: 33) und soll aufgrund ihrer Aktualität in dieser Arbeit wie folgt thematisiert wer­den: Haben sich die Prinzipien humanitärer Hilfe angesichts des Phanomens der „neuen Kriege“ verändert? Und falls dem so ist, welche Prinzipien verfolgen humanitäre NGOs in solch komplexen humanitären Notlagen?

1.2. Aufbau der Arbeit

Um diese Leitfrage beantworten zu kännen, wird zunachst die klassische Form huma­nitärer Hilfe dargestellt, um im zweiten Abschnitt dieser Arbeit drei Typen humanitärer Hilfe darzustellen, deren Prinzipien als Reaktion auf die Herausforderungen der neuen Kriege“ entstanden sind und sich von den klassischen Prinzipien unterscheiden. Zuvor werden die Dilemmata beschrieben, die sich die humanitaäre Hilfe angesichts der neuen Kriege“ zu stellen hat. Die „neuen Kriege“ werden in diesem Zusammenhang als der wichtigste Grund angefuhrt, der zu einer Veränderung der klassischen Prinzipien huma­nitärer Hilfe gefuhrt hat. Da die Entstehungsgrunde und Ursachen der „neuen Kriege“ für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit aus Sicht des Autors keine zwingen­de Relevanz aufweisen, werden sie ausschließlich als inhaltliche Ergänzung im Anhang der vorliegenden Arbeit thematisiert. Im letzten Abschnitt dieser Arbeit werden die ide­altypisch formulierten Theorieansatze, die eine von der klassischen divergierende Form humanitärer Hilfe beschreiben, an der Wirklichkeit uberpräft, um eine kritische Reflek- tion der behandelten Literatur zu gewährleisten und um die Leitfrage der vorliegenden Arbeit in einer reflektierten und moäglichst realitaätsnahen Weise beantworten zu koännen.

2. Wer leistet gegenwärtig humanitäre Hilfe?

Seit dem Ende des kalten Krieges ist es im Bereich der internationalen humanitaären Hilfe zu einer umfassenden „[...] Multiplikation und Diversifizierung der hier engagier­ten Akteure.“ (Henzschel 2006: S.74) gekommen. Die humaniräre Hilfe ist gegenwartig ein sehr dezentral organisiertes Politik-Netzwerk, dass durch starke Interdependenzen der Akteure gekennzeichnet ist (vgl. Henzschel 2006: S.285). Dies wird vor allem in der Durchführung humanitarer Hilfe deutlich. Diese ,,[...] präsentiert sich als Verknüpfung multidimensionaler und integrierter Verhandlungssysteme, welche wiederum zahlreiche eigene Sub-Netzwerke formaler oder informaler Art produzieren.“ (Henzschel 2006: S.285). Die Akteure der humanitären Hilfe rekrutieren sich dabei sowohl aus staatlichen als auch zwischenstaatlichen und privaten Organisationen. Das besondere an diesem Netzwerk ist, dass sich die Geber, welche in der Regel die Nationalstaaten oder private Spender sind, zum gräßten Teil aus den entwickelten Ländern stammen (vgl. Henzschel 2006: S.285). Während sich das Tätigkeitsfeld der Empfänger in den unterentwickelten Lander befindet (vgl. Henzschel 2006: S.285). Die Empfänger, bzw. die durchfuhrenden Akteure huma- nitaärer Hilfe, sind in der Regel lokale und internationale NGOs aber auch hilfebeduärftige Nationalstaaten und andere staatliche Akteure wie das Militar oder semi-staatliche Ak­teure, wie Bundesanstalten[1] [in der BRD z.B. das THW] (vgl. Henzschel 2006: S.286) Vor allem private NGOs spielen in den letzten Jahren eine immer großer werdende Rolle in der internationalen humanitären Hilfe. Dies wird durch drei Punkte belegt:

1. In den letzten Jahren haben sich immer mehr private NGOs gebildet (vgl. Debi­el/Sticht 2007: S.167). Dies bedeutet aber nicht, dass alle NGOs gleichberechtigt im Feld der humanitären Hilfe agieren. Vielmeher gibt es eine uberschaubare Zahl von großen, dominierenden NGOs[2], die auf sich einen Großteil der staatlichen Gelder vereinen (vgl. Debiel/Sticht 2007: S.167). Dementsprechend nahm der UN­HCR 1997 an, dass etwa 75% aller öffentlichen Gelder fur Notsituationen[3], an ca. 20 europaische und nordamerikanische NGOs gingen (vgl. Debiel/Sticht 2007: S.167).
2. Humanitäre NGOs verfügen über immer gräßere Geldbeträge. So erhohte sich der prozentuale Anteil des Budget den ECHO [European Community Humanitarian Office] an europäische NGOs vergab, von 40% [1990] auf 64% [2000]. Bereits En­de der 90er Jahre wurde davon ausgegangen, dass, bezogen auf die staatlichen Geberinstitutionen, ein Viertel der Gelder an NGOs vergeben wurden[4] (vgl. Debi­el/Sticht 2007: S.167) .
3. Humanitare NGOs erhalten von staatlichen und zwischenstaatlichen Akteuren im- mer umfangreichere und autonom durchzuführende Hilfsprogramme[5] (vgl. Henz- schel 2006: S.75). und werden gegenwärtig in weitaus größerem Umfang als friiher von nationalen und multinationalen Akteuren respektiert (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.218).

Neben non-profit NGOs vergeben Staaten z.T. auch Gelder an kommerzielle Anbieter (vgl. Henzschel 2007:S.75). Es wird deutlich, dass humanitare Hilfe sowohl von staat­lichen als auch nicht-staatlichen Akteuren geleistet wird, die wiederum in profit und non-profit Organisationen unterteilt werden käonnen.

Die Fragestellung dieser Arbeit bezieht sich jedoch explizit auf humanitäre non-profit NGOs.

3. Die klassische humanitäre Hilfe

Im Folgenden wird definiert, was in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff der klas­sischen humanitaren Hilfe zu verstehen ist. Grundsätzlich kann zwischen einem weiten und einem engen Verständnis der klassischen humanitären Hilfe unterschieden werden.

3.1. Weite Definition

Diese Definition orientiert sich am Begriff des Humanitarismus und setzt sich aus re- ligioäs-philosophischen und anthropologischen Elementen zusammen. Als anthropologi­sche Determinante humanitaäre Hilfe ist eine grundsäatzliche anthropologische Tatsache zu erwähnen: die menschliche Hilfsbedörftigkeit (vgl. Henzschel 2006: S.5). So ist der Mensch um äberleben zu können auf fremde Hilfe angewiesen, was ihn zu einem sozialen Wesen macht. Sorge, Mitgefuhl und Großzugigkeit sind daher elemantare menschliche Emotionen: „Call it altruism, call it pity, call it solidarity, call it compassion, but the impulse to help is so deeply rooted in human culture that, whether it is intrinsic or learned, it can be described as one of the basic human emotions.“ (David, Rieff: A Bed for the night: 2002, zitiert nach Henzschel 2006: S.5). Hinweise auf humanitär motivier­te Hilfe finden sich schon im Gilgamensch Epos und den abrahamischen[6] und nicht- abrahamischen[7] Religionen. Humanitäre Bestrebungen können damit als ein genuines Element aller menschlichen Gesellschaftsformationen verstanden und als ein „common heritage of humankind“ gesehen werden(Isaac 1993: S.21, zitiert nach Henzschel 2006: S.8).

3.2. Enge Definition

Die enge Definition basiert auf der weiten Definition des Begriffes und enthält dement­sprechend als Kerngedanken die Überzeugung, dass jeder Mensch aufgrund seines Mensch­seins ein Anrecht auf physische Unversehrtheit hat. Dieses Anrecht besteht demnach unabhängig von den außeren Umstanden in denen sich der Einzelne befindet und ist ihm mit dem Zeitpunkt seiner Geburt inhärent (vgl. Gätze 2004: S.210). Humanitare Hilfe ist in diesem Verständnis als ein universelles Menschenrecht zu sehen. Die Grun­didee der klassischen humanitären Hilfe besteht darin, dass sie als eine Nothilfe direkt und unverzuäglich nach einer humanitäaren Katastrophe einsetzt, gleichguältig ob diese auf eine Naturkatastrophe oder eine kriegerische Auseinandersetzung zuruäckzufuähren ist (vgl. Gätze 2004: S.210). In Kriegssituationen besteht das Ziel der humanitaren Hil­fe nicht darin das Kriegsgeschehen zu Gunsten oder Üngunsten einer Kriegspartei zu beeinflussen oder den Krieg zu beenden. Damit ist humanitare Hilfe [1] neutral. Diese Neutralitaät bedeutet auch, dass humanitaäre Hilfe kein politisches Gestaltungsinstrument ist, dass beispielsweise fur Demokratisierung, nachhaltige Entwicklung oder die Gleich­berechtigung von Frauen eintritt (vgl. Eberwein: S.37). Vielmehr wird, im Sinne des humanitaären Kerngedankens, versucht allen Hilfsbeduärftigen die notwendige Hilfe zu­kommen zu lassen und das unabhängig davon, ob es sich um einen verletzten Soldaten oder einen hungernden Zivilisten handelt (vgl. Gotz 2004: S.210) Humanitäre Hilfe blen­det demnach den politischen Kontext aus und hilft unabhängig von der Gesinnung des Hilfebedurftigen. Humanitäre Hilfe ist damit bedingungslos, bzw. [2] unparteilich (vgl. Gätz 2004: S.210). Humanitäre Hilfe ist also weder Friedens- noch Menschenrechten ver­pflichtet, sondern einzig und allein dem Recht eines jeden Menschen auf Leben (vgl. Gätz 2004:S.210).Es gibt keine guten und bosen Opfer, nur ihre Bedurfnisse und der Grad des Leidens zahlen. Hilfe, die nicht unparteilich ist, die also bestimmte Gruppen anderen vorzieht, entspricht nicht den klassischem humanitaren Prinzipien (vgl. von Pi­lar: S.3). Um Unparteilich agieren zu kännen müssen die humanitären Helfer so weit wie moäglich [3] unabhäangig von wirtschaftlichen und politischen Zwäangen sein um ih­ re Arbeit einzig den humanitären Prinzipien gemäß leisten zu können (vgl. von Pilar: S.3). Dadurch ist es den jeweiligen Parteien möglich, humanitäre Helfer in ihrem Ein­flussgebiet zu akzeptieren und ihnen einen humanitaren Korridor einzurichten. Dies ist besonders in bewaffneten Konflikten von Bedeutung (vgl. Henzschel 2006: S.13). Die drei Prinzipien Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität bilden im klassischen Ansatz die drei Grundprinzipien humanitärer Hilfe und sind in diesem Ansatz zugleich die Garanten dafär, dass Humanitäre Hilfe nicht als [politische] Einmischung in einen Konflikt gesehen wird und deswegen gefahrlos von den Konfliktparteien zugelassen wer­den kann (vgl. von Pilar:S.3). Ein solches klassisches Prinzip humanitärer Hilfe vertritt unter anderem das Internationale Rote Kreuz [IKRK]. Das IKRK schreibt in seinen Sta­tuten, dass es [1] unabhängig gegenuber der Politik des Ursprungslandes ist, [2] es sich unparteilich den Hilfebedurftigen gegenuber verhalt und es sich [3] neutral gegenuber allen Kriegsparteien verhält. Vor allem der Begriff der Neutralität in Kriegs- bzw. Kon­fliktsituationen benoätigt noch eine weitere Differenzierung. Diese besteht, in Anlehnung an Jeanette Schade, aus fìinf Kategorisierungen, die aus dem humanitaren Volkerrecht und den Grundsaätzen des IKRK und des Roten Halbmondes abgeleitet sind:

1. Neutralitat im Sinne von Unparteilichkeit meint, dass sich die humanitaren NGOs nicht aktiv am Konflikt beteiligen oder eine Konfliktpartei unterstutzen;
2. Neutralitat im Sinne der Unterschiedslosigkeit meint, dass jedem Opfer von Kriegs­handlungen geholfen werden muss. Nur das Kriterium der Bedurftigkeit ist hier von Relevanz. Dies meint auch das oben angefuhrte Prinzip der Bedingungslosigkeit;
3. Neutralitäat im Sinne von Unabhaängigkeit meint, dass sich internationale huma­nitäre NGOs vollkommen von den Interessen ihres Ursprungslandes freimachen und sich dementsprechend nicht instrumentalisieren lassen;
4. Neutralitat im Sinne von Ideologiefreiheit meint, dass Hilfe geleistet wird, ohne dass dabei bestimmte politische, religioäse oder andere ideologische Anschauungen vermittelt werden;
5. Neutralitat im Sinne von operationaler bzw. politischer Neutralitat meint, dass kei­ne oäffentlichen Statements zum Konflikt oder den am Konflikt beteiligten Parteien abgegeben werden. Dies verfolgen vor allem der IKRK und der Rote Halbmond (vgl. Schade 2007: S.184).

Obwohl humanitäare Hilfe im klassischen Ansatz dem Unparteilichkeitsgebot verpflichtet ist und ihr einziges Ziel darin besteht Menschenleben zu retten, bedeutet das nicht, dass sie vollkommen losgelöst vom Staat existiert. Vielmehr kann sie nur dort effektiv durch­geführt werden, wo sie auch geduldet wird (vgl. Gütz 2004: S.211). Humanitöre Hilfe ist in dem Staat indem sie durchgeführt wird davon abhüngig, dass dieser sein Gewaltmo­nopol einsetzt, um einen humanitüren Korridor zu schaffen, der die humanitüren Helfer schutzt (vgl. Gotz 2004:S.211). Die Genfer Konvention ist der Versuch die Prinzipien und den Schutz humanitarer Hilfe in Rechtsvorschriften niederzulegen, die für jeden Unter­zeichnerstaat verbindlich sind. Damit beruht humanitüre Hilfe auf dem Vülkerrecht (vgl. Gütz 2004:S.211). Als Arbeitsgrundlage wird folgende Definition dienen: Die klassische humanitäre Hilfe beruht auf den Prinzipien Neutralität, Unabhängigkeit und Unpartei­lichkeit und soll menschliches Leben erhalten und Opfer von humanitären Notsituationen in die Lage versetzten wieder eigenständig handeln und eigene Entscheidungen treffen zu können. Die klassische humanitare Hilfe hat keine anderen Aufgaben als Menschen in humanitären Notsituationen zur Hilfe zu kommen und tritt dementsprechend nicht für Demokratisierung, nachhaltige Entwicklung oder die Gleichberechtigung von Frauen ein (vgl. Henzschel 2006: S.14, sowie Eberwein: S.37).

Der Frage, ob humanitüre NGOs die klassische Form der humanitüren Hilfe innerhalb ihrer Tütigkeiten in den „neuen Kriegen“ einhalten, oder ob sich aufgrund der komple­xen Spannungsfelder in solchen komplexen humanitaüren Notlagen andere Formen der humanitaüren Hilfe herausgebildet haben, soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.

4. Neue Kriege als komplexe humanitäre Notsituation und Spannungsfeld humanitärer Hilfe

Die humanitare Hilfe ist in den letzten Jahren vor allem in sog. komplexen humanitüren Notlagen tütig. Diese binden dementsprechend den grüßten Teil der Ressourcen huma- nitürer Hilfe (vgl. Henzschel 2006: S.99). Der Begriff der komplexen humanitaren Not­lage entstand im Zuge der unuberschaubaren Konflikte im Mosambik der 1980er und beschreibt eine mehrdimensionale humanitaüre Notlage, die in der Regel auf strukturel­le Ursachen zurückzuführen ist (vgl. Henzschel 2006: S.99/101). Eine solche komplexe Notlage ist zweifach charakterisiert:

1. Die staatliche bzw. politische Ordnung ist im Begriff sich aufzulüosen (vgl. Henzschel 2006: S.101). Die betreffenden Staaten entwickeln sich zu „failed states“, oder sind dies bereits.
2. Die betreffenden Gesellschaften sind in allen Bereichen einer verstärkten Verletz­lichkeit ausgesetzt, die soziale Ordnung ist außerst fragil (vgl. Henzschel 2006: S.101).

Während die Grundursachen einer komplexen humanitaren Netsituatien in den betref­fenden politischen und wirtschaftlichen Systemen gesucht werden mässen, muss zugleich deutlich gemacht werden, dass diese Effekte durch veränderte globale Rahmenbedin­gungen [bzw. infolge der sozio-äkonomischen Globalisierungsprozesse] der letzten Jahre verstärkt worden sind (vgl. Henzschel 2006: S.101). In solchen Notlagen stellen sich an die humanitare Hilfe andere Herausforderungen, als dies in „normalen“ humanitären Notlagen, wie z.B. Naturkatastrophen, der Fall ist. Dies ist darauf zuriickzuführen, dass die Rahmenbedingungen häufig von innerstaatlichen Konflikten gegeben werden (Henz­schel 2006: S.101). Häufig munden die Prozesse der staatlichen und sozialen Auflosung in innergesellschaftliche Kriege, deren Dauer haäufig nicht absehbar ist und in deren Fol­ge es zu einem volligen Zusammenbruch soziopolitischer und wirtschaftlicher Strukturen kommt. Dies fuhrt in der Regel dazu, dass normale Selbsthilfemechanismen der jeweiligen Gesellschaft nicht mehr funktionieren und die Notsituation zu einem Dauerzustand wird (vgl. Henzschel 2006: S.102). In einer solchen Konstellation, in der die grundsätzlichen Ordnungs- und Versorgungsstrukturen zerstäort sind, wird Gewalt haäufig zur einzigen Form wirtschaftlicher Aktivitäten, indem z.B. Lebensmittel gewaltsam angeeignet wer­den: „Der Bärgerkrieg wird damit selbst zur Ursache seiner Fortsetzung [...]“ (Henzschel 2006: S.103). Erschwerend kommt hinzu, dass die „neuen Kriege“ fur die kriegsfuhrenden Parteien häufig immense okonomische Vorteile bringen, was dazu fuhrt, dass sie die Ten­denz haben sich selbst zu reproduzieren (vgl. Haberland 2007: S.326). In den letzten Jahren existiert der groäßte Bedarf an humanitäarer Hilfe im Kontext solch bewaffneter Konflikte (vgl. Henzschel 2006: S.20). Während in der Periode des Ost-West Konflik­tes primaär Hilfe bei Naturkatastrophen und Nahrungsmittelknappheit im Vordergrund standen, so uberwiegen seit Ende des kalten Krieges Hilfsleistungen fur Fluchtlinge und Binnenvertriebende im Kontext bewaffneter Konflikte (vgl. Henzschel 2006: S.20). Vor allem die „neuen Kriege“ sind verantwortlich fur die gräßten Dillemmatasituationen humanitaärer NGOs und sind dementsprechend als das hauptverantwortliche Element fur die Veränderung der klassischen Prinzipien humanitarer Hilfe zu nennen. Denn es sind vor allem die ungewollten Nebeneffekte humanitärer Hilfe in den „neuen Kriegen“[8], durch die es in den letzten Jahrzehnten zu einer Infragestellung der klassischen Prinzipien humanitärer Hilfe kam. Insbesondere in Folge der Geschehnisse an den großen Seen [Ruanda, Burundi, DR Kongo] seit 1994, wird die Frage nach den negativen Effekten humanitärer Hilfe, sowohl in akademischen, als auch nicht-akademischen Kreisen und natürlich von den humanitären Helfern selber, heftig diskutiert (vgl. Henzschel 2006: S.34)

4.1. Dilemmata für die humanitäre Hilfe

In den sogenannten „neuen Kriegen“ entfalten humanitäre Hilfsmaßnahmen haufig ei­ne unmittelbare Wirkung auf die politische Ökonomie von bewaffnen, substaatlichen Konflikten (vgl. Henzschel 2007: S.20). Daher wird vor allem humanitären NGÖs häufig der Vorwurf entgegengebracht, dass sie zu einer Verlängerung von Konflikten beitragen würden und damit ihre eigentliche Aufgabe und Intention konterkarierten (vgl. Schade 2007: S.179). Um einer solchen Dilemmata Situation entgegenzutreten wandte sich schon in den 1970er Jahren erstmals eine humanitare NGÖ [Medecins Sans Frontieres, MSF] gegen den klassischen und tradierten Neutralitäatsanspruch, da sie diesen angesichts der Dilemmata, die aus den neuen Kriegen fär humanitäre NGÖs entstehen, als unange­messen ansahen (vgl. Schade 2007: S.179). Die aus den „neuen Kriegen“ resultierenden Dilemmataszenarien fur die klassische humanitäre Hilfe sind, u.a., folgende:

4.1.1. Dilemma 1: Personelle und materielle Unterstützung der lokalen Machthaber

Wird Hilfe nach dem Prinzip der Unterschiedslosigkeit bzw. Bedingungslosigkeit geleis­tet, ist ihre Folge, dass auch Soldaten bzw. Kombattanten der kriegsfuhrenden Partei wieder in die Lage versetzt werden zu kämpfen, indem sie mit Lebensmitteln, Medi­kamenten und sonstigen Hilfeleistungen versorgt werden (vgl. de Waal/Ömaar 1996: S. 214) und der Krieg dadurch fortgefährt werden kann (vgl. Schade 2007: S.184). Weiterhin werden Fluächtlingslager, die von den humanitaären NGÖs aufgebaut werden, in einigen Konflikten als „humanitäre Räckzugsgebiete“ (vgl. Jean/Rufin 1999), bzw. als Rekrutie­rungsgebiete fur Soldaten genutzt (vgl. Gebauer 2002: S.54). Indem Hilfsorganisationen Fahrzeuge oder Gebäude von den kriegsfuhrenden, lokalen Machthabern mieten und Per­sonal einstellen, entstehen Einnahmequellen fur die Kriegsparteien (vgl. de Waal/Ömaar 1996: S.20). Humanitaäre Hilfe kann also zur Finanzierung eines Kriegs missbraucht wer­den, wodurch ungewollt das Prinzip der Unparteilichkeit verletzt wird. Die humanitaäre Hilfe wird vor allem in den neuen Kriegen haufig Teil der Kriegsäkonomie, weil die

Konfliktakteure oftmals über keine anderen Ressource verfügen, um ihre Kriegsanstren­gungen zu refinanzieren (vgl. Gütze 2004:S.212). Dies war beispielsweise in Bosnien der Fall, wo die internationalen Hilfslieferungen zu einem integralen Kriegsbestandteil wur­den, indem die Hilfslieferungen entwendet und von den Kriegsparteien weiterverkauft wurden (vgl. Götze 2004: S.212). Eine andere Form der ükonomischen Nutzbarmachung humanitürer Hilfsguter durch Kriegsakteure besteht in der Besteuerung von Hilfsgütern, wie dies die FRELIMO (Frente da Libertacao de Mocambique) in den 1980er Jahren tat, indem sie eine hundertfìinfzigprozentige Abgabenquote auf alle importierten Hilfsguter erhob (vgl. Gebauer 2002:S.54). In einigen Lander, wie Angola[9], Afghanistan oder Libe­ria haben die Hilfslieferungen für die Kriegsakteure eine so große Bedeutung bekommen, dass sie als integraler Bestandteil des Gewaltzykluses angesehen werden künnen (vgl. Gebauer 2002:S.54). Dies vermag angesichts der immensen Summen, die weltweit fur die humanitare Hilfe ausgegeben wird, auch nicht verwundern[10].

4.1.2. Dilemma 2: Verleihung von Legitimität an die Konfliktparteien

Konfliktparteien künnen durch folgende Punkte im Bereich ihrer Legitimitüt von huma- nitaürer Hilfe profitieren:

- Humanitüre Hilfe kann bewirken, dass die Konfliktparteien weniger schnell ihre Legitimation bei der Bevoülkerung verlieren, da der Krieg humaner wird indem die Zahl der getüteten Menschen durch eine bessere Nahrungsmittel- und Me­dizinversorgung minimiert wird (vgl. Schade 2007: S.184). Denn Kriegsparteien, die zumindest ein Mindestmaß an sozialer Versorgung bieten konnen und sei es nur mittelbar, genießen innerhalb der Bevüolkerung ein hoüheres Ansehen, als sol­che die ihre Autoritüt ausschließlich auf repressive Gewalt stutzen (vgl. Gebauer 2002: S.55). Diese Stärkung lokaler Autoritaten infolge der Arbeit von humanitären NGOs wurde u.a. in Somalia sichtbar (vgl. Gebauer 2002: S.55).
- Durch die Anwesehnheit von Hilfsorganisationen wird den Kriegsparteien interna­tional ein humanitürer Anstrich verliehen, der ihnen eine erhühte Legitimitüt in der Staatengemeinschaft verschafft (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.215).
- Militärisch-politische Maßnahmen gegen die gegenerische Partei können als huma­nitäre Hilfsmaßnahmen ausgegeben werden, z.B. indem Zwangsumsiedlungen als humanitäre Maßnahme getarnt werden (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.214).
- Humanitäre Helfer kännen mittels politischer Statements ungewollt Propaganda für die Kriegsparteien machen, derer sie sich aufgrund ihrer politischen Unerfah­renheit haufig nicht bewusst sind (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.216).
- Wird Hilfe nach dem Prinzip der operationalen bzw. politischen Neutralität ge­leistet, konnen humanitäre NGOs zu Komplizen von Menschenrechtsverletzungen werden da sie diese, unter strikter Befolgung der politischen Neutralitäat, nicht äffentlich machen (vgl. Schade 2007: S.184) und dadurch den Eindruck erwecken, dass keine Menschenrechtsverletzungen stattfinden (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.216). Dies zeigte sich u.a. im Biafra krieg 1960 und während des dritten Golf­krieges, indem der IKRK die Folterskandale im US-Militar Gefängnis Abu Ghuraib nicht offentlich machte (vgl. Schade 2007: S.184).

4.1.3. Dilemma 3: Strategischer Schutz

Dieses Problem tritt dann ein, wenn die politischen oder militäarischen Ziele der Konflikt­partei mit logistischen Notwendigkeiten der Hilfsorganisationen zusammentreffen und gestaltet sich wie folgt:

- Wichtige Stadte konnen durch die Versorgung von Hilfsorganisationen als mi­litärische Stutzpunkte aufrechterhalten werden (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.215)
- Friedenstruppen halten bestimmte Straßen offen, die fur Hilfslieferungen notwen­dig sind, zugleich aber von den kriegsfuährenden Akteuren genutzt werden. Dieses Dilemma tritt auch bei Flughäfen, Häfen und anderen strategisch bedeutsamen Anlagen ein, die sowohl zivil als auch militarisch genutzt werden kännen (vgl. de Waal/Omaar 1996: S.215).

4.1.4. Dilemma 4: Eine ungleiche Versorgung der Bevölkerung

Humanitäare Hilfe kann in den neuen Kriegen haäufig nicht nach dem Kriterium der Bedurftigkeit, sondern nach der territorialen Zuganglichkeit geleistet werden (vgl. Gätze 2004: S.212). Dies ist auf die ethnisch begriindeten Feindseligkeiten zwischen den Be- voälkerungsgruppen zuruäckzufuähren, von denen die neuen Kriege haäufig gekennzeichnet sind. Konkret bedeutet dies z.B., dass die humanitären NGOs nur die Volksgruppen mit Nahrungsmitteln versorgen, zu denen ihnen von den lokalen Machthabern Zutritt gewährt wird. Eine solche Situation trat u.a im Bosnien Krieg ein, indem nur bestimmte Bevälkerungsgruppen versorgt werden konnten (vgl. Gätze 2004: S.212).

4.1.5. Dilemma 5: Negative Effekte in Bezug auf die Herausbildung einer Zivilgesellschaft

Humanitare Nachkriegsversorgung kann in den neuen Kriegen [aber sicherlich auch in den klassischen Kriegssituation] einen negativen Effekt auf die Herausbildung einer friedensfärdernden und friedenserhaltenden Zivilgesellschaft haben, indem kurzfristige Beschäftigungsmäglichkeiten in humanitären NGOs besser entlohnt werden, als z. B. in­tellektuelle Tatigkeiten. Dies zeigte sich besonders im Kosovo, wo aus ,,[...] unabhangigen Intelektuellen, Menschenrechtsaktivisten und Experten für Primary Health [...] Fahrer, Dolmetscher und Angestellte im Dienst der Hilfsorganisationen [...]“ (vgl. Gebauer 2002: S.56) wurden.

4.1.6. Dilemma 6: Kurzfristigkeit humanitarer Hilfe

Diesem Vorwurf sehen sich humanitare NGOs dann ausgesetzt, wenn sie Hilfe ausschließ­lich nach den Prinzipien der klassischen Form humanitärer Hilfe leisten, die keine struk­turelle Veraänderung in den betroffen Staaten vorsieht, sondern bestenfalls eine mittelfris­tige Nachversorgung. Die strukturellen Ursachen der humanitaren Katastrophe bleiben jedoch bestehen. Dieses Dilemma wird vor allen in den „neuen Kriegen“ von Bedeu­tung, da hier die Ursache der Katastrophe in einem andauernden Konflikt besteht. Die humanitaäre Notlage wird dementsprechend immer wieder reproduziert.

5. Erstes Zwischenfazit

Es ist deutlich geworden, dass die humanitäre Hilfe gegenwartig in einer sehr komplexen Umwelt agiert. So handeln humanitare Organisationen in bestimmten politischen Kon­texten und ihre Handlungen haben, was vor allem in den neuen Kriegen deutlich wird, häufig ungewollte Nebeneffekte. Es ist damit zunehmend schwieriger geworden die klas­sischen Prinzipien humanitaärer Hilfe in ihrer Eindeutigkeit aufrechtzuerhalten. Folgende Fragen werden unter Betrachtung der gegenwartigen Herausforderungen aufgeworfen:

1. Mit welcher moralischen Legitimation kännen die Prinzipien der Unparteilichkeit und Bedingungslosigkeit weiter verfolgt werden, wenn es dieses Prinzip sind, die dazu fuhren, dass Bürgerkriegsökonomien unterstutzt werden?

[...]


[1] Vergleiche hierzu auch das Schaubild im Anhang:,,Das internationale Netzwerk der humanitären Hilfe“

[2] Die am meisten beachteten Akteure waren dabei Ärzte ohne Grenzen, Medecins du Monde, Action Contre la Faim, Oxfam.

[3] Dies waren nach Schätzungen zu diesem Zeitpunkt ca. acht bis zehn Milliarden US Dollar

[4] Vergleiche hierzu auch die Tabelle im Anhang:,,Finanzquellen von NGOs in den USA“

[5] Diese Erkenntnis ist jedoch äußerst ambivalent, da zugleich viele Geberländer einen relativ großen Einfluss auf die Implementierung der Hilfsmaßnahmen nehmen (vgl. Henzschel 2007: S.75). Die geschieht beispielsweise indem nur Gelder fär Projekte bewilligt werden, an denen die Geberländer ein politisches Interesse haben [siehe Anhang]

[6] So z.B. im „Gleichnis vom guten Samariter“ im neuen Testament, dem Gebot der Nächstenliebe [„tsedaka“] im judischen Glauben oder der 16en Sure des Koran (vgl. Henzschel 2006: S.6-7).

[7] So z.B. das hinduistische Gebot der Gastfreundschaft und des Anstandes [„karman“] (vgl. Henzschel 2006: S.7).

[8] Einschränkend muss gesagt werden, dass die These von den „neuen Kriegen“ nicht unumstritten ist und in der Fachliteratur häufig hinterfragt wird (vgl. Haberland 2007: S.326)

[9] In Angola kann auch ersichtlich werden, dass keine der beiden Konfliktparteien ein Interess an der der Beendigung des Konfliktes hat. So tauschen MPLA Regierung und UNITA Rebellen Diamanten gegen Benzin, damit sich der Krieg fortsetzen kann (vgl. Gebauer 2002: S.55).

[10] So stieg das durchschnittliche Budget für die humanitäre Hilfe zwischen den 80er und 90er Jahren um das fünfzehnfache (vgl. Roth/Klein 2007:S.12). 1994 waren dies 4,5 Milliarden Dollar, die weltweit für humanitäre Hilfe ausgegeben wurden (vgl. Gebauer 2002: S.54).

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Über die gegenwärtigen Formen der humanitären Hilfe von NGOs unter besonderer Berücksichtigung der „neuen Kriege“
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Vertiefungsmodul Internationale Beziehungen
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
36
Katalognummer
V164517
ISBN (eBook)
9783640801596
ISBN (Buch)
9783640801428
Dateigröße
1596 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Laut Dozentin "die mit Abstand beste Arbeit, die ich dieses Semester erhalten habe".
Schlagworte
Formen, Hilfe, NGOs, Berücksichtigung, Kriege“
Arbeit zitieren
Marc Eric Hussmann (Autor:in), 2010, Über die gegenwärtigen Formen der humanitären Hilfe von NGOs unter besonderer Berücksichtigung der „neuen Kriege“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164517

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