Computergestützte Förderung bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten


Examensarbeit, 2009

99 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Schriftspracherwerb
2.1 Schriftsystem der deutschen Sprache
2.2 Erwerbsmodell
2.3 Routenmodell des Lesens und des Schreibens
2.4 Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs
2.5 Gründe für Lernerfolg und Lernversagen beim Schriftspracherwerb

3. Lese-Rechtschreibstörung
3.1 Definition
3.2 Verbreitung von LRS
3.3 Ursachen
3.3.1 Genetische Ursachen
3.3.2 Auditive Wahrnehmung als Ursache
3.3.3 Visuelle Wahrnehmung als Ursache
3.3.4 Gedächtnis als Ursache
3.3.5 Beeinflussende Faktoren
3.4 Erkennungsmerkmale und Begleitsymptome
3.5 Verlauf
3.5.1. Besonderheiten in der Sekundarstufe
3.6 Diagnostik
3.7 Förderung
3.8 Prävention
3.9 Rechtliche, schulische und finanzielle Hintergründe

4. Herkömmliche und computergestützte Förderprogramme
4.1 Herkömmliche Förderprogramme
4.1.1 Lautgetreue Rechtschreibförderung, Reuter-Liehr
4.1.2 Systematische Unterrichtung nach Kossow
4.1.3 Marburger Rechtschreibtraining, Schulte-Körne und Mathwig
4.1.4 Kieler Lese-Rechtschreibaufbau, Dummer-Schmoch und Hackethal
4.1.5 Strategisches Lernen nach Mannhaupt
4.2 Computergestützte Förderprogramme
4.2.1 Uniwort - Universelles Worttraining, Treager
4.2.2 ULK - Rettung für den Zeitreisenden, Cornelsen
4.2.3 Fast forWord Language v2, Scientific Learning
4.2.4 Gut 1, Computer und Lernen
4.2.5 Alfons Lernwelt - Deutsch 1-2, Schroedel

5. Eine Auswahl computergestützter Förderprogramme sowie deren Beurteilung
5.1 Cesar Schreiben 1.0, CES-Verlag
5.1.1 Bedienung des Programms
5.1.2 Inhalt des Programms
5.1.3 Bewertung und Wirksamkeit
5.2 Schreib- und Leselabor 2.0, Medienwerkstatt
5.2.1 Bedienung des Programms
5.2.2 Inhalt des Programms
5.2.3 Bewertung und Wirksamkeit
5.3 Der neue Karolus 4.0, Veris-Verlag
5.3.1 Bedienung des Programms
5.3.2 Inhalt des Programms
5.3.3 Bewertung und Wirksamkeit

6. Eine Erprobung des „Karolus“ in einer Gruppe von Kindern mit Förderbedarf im Lesen und Rechtschreiben
6.1 Beschreibung der Fördergruppe
6.2 Erprobung des „Karolus“

7. Ergebnisse und Interpretation der Erprobung
7.1 Allgemeiner Umgang mit dem Programm
7.2 Ergebnisse der Schüler in den einzelnen Aufgaben
7.2.1 Ergebnisse in der Kategorie „Lesen“
7.2.2 Ergebnisse in der Kategorie „Schreiben“
7.3 Auswertung des Fragebogens
7.4 Interpretation der Ergebnisse
7.5 Eignung und Wirksamkeit des Programms

8. Sinn und Unsinn solcher Programme, Vorschläge zur Förderung
8.1 Sinn und Unsinn herkömmlicher und computergestützter Förderprogramme für Kinder mit LRS
8.2 Fördervorschläge

9. Schlussbetrachtung

10. Verzeichnisse

Vorwort

Die Reihe „Sprachförderung und Sprachtherapie in der Sonderpädagogik - neue Perspektiven“ zeigt diagnostische und methodisch-didaktische Aspekte und Ziele in der schulischen und außerschulischen Sprachförderung und Sprachtherapie auf. An­schaulich und pragmatisch, theoretisch und innovativ sollen Ideen und Anregungen für die Praxis in Schule und Therapiepraxis geliefert werden. Die einzelnen Arbeiten entstanden in Kooperation zwischen Studierenden und Forschern der Sonderpäda­gogik im Rahmen von kleineren und mittleren Projekten, in denen Konzepte, Metho­den und Verfahren für die Sprachförderung und -therapie elaboriert oder evaluiert wurden. Diese Projekte wurden von den Herausgebern der Reihe begleitet oder be­treut. Die Reihe soll Studierenden und Absolventen der Sonderpädagogik, die ihre Schwerpunkte in den Bereichen der Sprachentwicklung, Sprachförderung und Sprachtherapie setzen, die Möglichkeit geben, ihre Arbeiten und Ergebnisse anderen Fachkolleginnen und Fachkollegen sowie Studierenden bekannt zu machen, um mit interessanten und innovativen Perspektiven neue Denkrichtungen und Arbeitsweisen anzustoßen oder bewährten zu stützen.

Dr. Jörg Mußmann

Institut für Heil- und Sonderpädagogik - Sprachheilpädagogik - Justus-Liebig-Universität Gießen

1. Einleitung

Im Rahmen dieser Arbeit wurde sich dem Thema der Lese-Rechtschreibstörung und damit verbunden der Wirksamkeit herkömmlicher und computergestützter Förderpro­gramme für Kinder mit LRS gewidmet. An der Thematik wecken vor allem das Phä­nomen der LRS, die Vielfalt an Förderprogrammen für Schüler und der enge Zu­sammenhang mit dem Beruf als Förderschullehrerin u.a. im Fach Deutsch Interesse.

LRS als umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten ist eine in der Praxis alltäglich anzutreffende Erscheinung, die systematischer Prävention und För­derung bedarf.

Hierfür hält der Markt für Fördermaterialien eine unübersichtliche Anzahl an Pro­grammen bereit, die es zu analysieren, kategorisieren und bewerten gilt.

Für den konkreten Einsatz bei Kindern mit kombinierter Beeinträchtigung des Lese­prozesses und des Rechtschreibens ist es im Anschluss daran von Bedeutung, das jeweilige Konzept an ihre Bedürfnisse und individuellen Probleme anzupassen und zu ergänzen.

Besonders im Zeitalter neuer Medien tritt die Verwendung von Lernsoftware in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diesbezüglich sind allerdings Chancen und Grenzen sol­cher Programme klar abzuwägen und vor dem Hintergrund der jeweiligen Förder­gruppe zu betrachten.

All diese Überlegungen und Bemühungen erscheinen besonders in Anbetracht der weitreichenden Auswirkungen einer LRS als sinnvoll.

Die folgenden Ausführungen zielen entsprechend dem Titel der Arbeit auf die Be­antwortung der Fragestellungen „Was ist unter einer LRS zu verstehen und welche Anforderungen ergeben sich daraus für Förderprogramme?“ und „Welche herkömm­lichen und computerbasierten Programmtypen stehen für die Unterstützung lese- rechtschreibgestörter Kinder zur Verfügung, was ist im Umgang mit ihnen zu beach­ten und wie effektiv sind sie?“.

Nun zu einem knappen inhaltlichen Überblick der Ausarbeitung.

Im theoretischen Teil der Arbeit wird zunächst grundlegend auf den Schriftspracher­werb von Kindern eingegangen und dies am Erwerbsmodell von Uta Frith aus dem Jahre 1985 illustriert. Außerdem soll es vor diesem Hintergrund zu einer Darstellung des Routenmodells des Lesens und Schreibens kommen, wichtige Vorläuferfähigkei­ten für den Erwerb werden erläutert und darauf basierend sollen mögliche Gründe für Lernerfolg und Lernversagen beim Erwerb der Schriftsprache aufgeführt werden.

Im Anschluss daran steht die Lese-Rechtschreibstörung als umfangreiche Teilleis­tungsstörung im Mittelpunkt.

Neben einer Definition, der Verbreitung, den verschiedenen Ursachen, den Erken­nungsmerkmalen und Begleitsymptomen wird Bezug auf den Verlauf einer LRS ge­nommen und somit das komplexe Erscheinungsbild dargeboten. Das Kapitel schließt daraufhin ab mit den zugehörigen diagnostischen, fördernden, präventiven sowie rechtlichen, schulischen und finanziellen Aspekten der Lese-Rechtschreibstörung.

Im 4. Kapitel werden verschiedenste herkömmliche und computergestützte Förder­programme älterer und neuerer Art vorgestellt. Dabei wird ihr Inhalt dargeboten und darauf aufbauend eine kurze Bewertung vorgenommen, was unter Beachtung der zuvor erläuterten theoretischen Grundlagen geschieht. Die Beurteilung richtet sich danach, inwieweit die verschiedenen Konzepte der Unterstützung lese- rechtschreibgestörter Kinder gerecht werden.

Es schließt sich eine Auswahl computergestützter Programme zur Förderung der Lese- Rechtschreibfähigkeiten an, welche einer genauen Betrachtung und einer Be­urteilung der Wirksamkeit unterzogen werden.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die Beurteilungen erste persönliche Einschätzungen sind, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Material erge­ben und nicht als allgemein gültig verstanden werden dürfen. Dafür fehlen repräsen­tative Erprobungen in der Praxis.

Im praktischen Teil der Ausarbeitung wird die Erprobung der Lernsoftware „Der neue Karolus 4.0“ zum Kieler Leseaufbau und zum Kieler Rechtschreibaufbau von Dr. Lisa Dummer-Smoch und Renate Hackethal aus dem Jahre 2004 in einer Gruppe von Kindern mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben thematisiert.

Es folgen die Ergebnisse sowie die Interpretation der praktischen Phase. Ebenfalls wird eine Auswertung und Interpretation eines selbst erstellten Fragebogens zur Lernsoftware vorgenommen, der von den Teilnehmern der Untersuchung ausgefüllt wurde. Schließlich wendet sich das 8. Kapitel inhaltlich dem Sinn und Unsinn von herkömmlichen und computergestützten Förderprogrammen für Kinder mit Lese­Rechtschreibstörungen zu. Passend dazu werden Vorschläge zur effektiven Förde- rung dargestellt.

Zuletzt kommt es zu einer Schlussbetrachtung meiner Ausarbeitung, die eine Zu­sammenfassung, ein Fazit sowie einen Ausblick beinhaltet.

Im weiteren Text wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die grammatisch maskuline Form verwendet, die weibliche Form wird hierbei mit einge­schlossen.

2. Schriftspracherwerb

Das Erlernen des Lesens und Schreibens gehört unumstritten zu den wichtigsten Kulturtechniken unserer Zeit und fordert vielfältige Leistungen von den Schülern.

„[...] written symbols represent spoken sounds. Learning to read and to write in an alphabetic script [...] makes heavy demands on a number of cognitive processes” (Simpson 2001, S. 201).

„Learning to read and to write is neither a natural nor a simple process. Before a child can be considered literature, a number of skills must be taught, acquired and inte­grated” (Simpson 2001, S. 202).

Diverse Fähigkeiten, welche die Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb bil­den, werden schon im vorschulischen Alter erworben, worauf in 2.4 Bezug genom­men wird. Traditionell ist der Erwerb der Schriftsprache schwerpunktmäßig der Grundschule zugeordnet, der damit viel Verantwortung obliegt. Jedoch können einige Kompetenzen im Umgang mit der Schriftsprache erst in weiteren Klassenstufen er­lernt werden und schwächere Schüler benötigen auch noch über die Primarstufe hin­aus basale Förderung der Grundkompetenzen.

Allgemein können die Kompetenzen Lesen und Schreiben als zusammengehörige, korrespondierende Formen des Schriftsprachgebrauchs verstanden werden. Ihr Ziel ist grundsätzlich Verständnis zu erzeugen und zu kommunizieren. Lesen ist vor die­sem Hintergrund als aktive Sinnsuche und -konstruktion und Schreiben als Sinnbil­dung aufzufassen (vgl. Ulrich 2001, S. 62).

Aufgrund der Ausführungen ist zu erkennen, dass es ein Grundbedürfnis des Men­schen zu sein scheint, Lesen und Schreiben zu erlernen, denn ohne diese Fähigkei­ten ist eine aktive gesellschaftliche Teilhabe erschwert. Unser tiefes Bedürfnis, uns einerseits anderen mitzuteilen und andererseits Informationen zu erhalten, wäre so nur beschränkt möglich.

2.1 Schriftsystem der deutschen Sprache

Einleitend lässt sich festhalten, dass wir es bei dem Schriftsystem, auf welchem die deutsche Sprache basiert, mit einer Alphabetschrift zu tun haben.

Im Grunde genommen beruhen alle Schriftsysteme, die sich im Verlauf der Ge­schichte herausgebildet haben, auf graphischen Zeichen für Gegenstände und Le­bewesen, auf Zeichen für ganze Wörter und bedeutungstragende Wortteile oder auf diskreten Zeichen für Lautsegmente, z.B. Buchstaben.

Unsere Alphabetschrift zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich an der Lautstruktur der gesprochenen Sprache orientiert, sie mit wenigen graphischen Zeichen aus­kommt und dass das Lesen und Schreiben unbekannter Wörter möglich ist. Für den Erwerb alphabetischer Systeme sind phonologische Fähigkeiten und ein ausreichen­des auditives Arbeitsgedächtnis vonnöten.

Da unser Schriftsystem über wenige graphische Zeichen verfügt, stellt es keine exak­te phonetische Transkription der gesprochen Sprache dar, sondern bietet dem Schreiber die Möglichkeit, Lautsegmente durch entsprechende Buchstaben oder Buchstabenfolgen zu visualisieren.

Es sind zwar enge Beziehungen zwischen Graphemen und Phonemen vorhanden, jedoch kann hierbei nicht von einer 1:1-Zuordnung gesprochen werden.

Neben der Lautstruktur orientiert sich die deutsche Schrift an morphologischen As­pekten, denn Wortformen, welche voneinander abgeleitet werden können, werden meist gleich geschrieben. Kinder lernen folglich in sprachanalytischen Lernprozes­sen, die Sprache nach grammatischen Kriterien (von der Satz- bis hin zur Buchsta­benebene) bewusst zu gliedern.

Dementsprechend ist der Erwerbsprozess der Schriftsprache in unterschiedliche, aufeinander folgende Lernstadien unterteilt, die jeweils spezifische Verarbeitungs­strategien erfordern. (vgl. Springer, Wucher 2001, S. 50)

Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass es sich beim Schriftspracherwerb um einen elementaren und vielschichtigen Prozess handelt, sondern auch wegen der bemän­gelten Schwächen deutscher Schüler (z.B. PISA-Studie) in den beiden Kulturtechni­ken, sollte man sich im Zuge der Therapie von LRS mit diesem gezielt auseinander­setzen.

Ferner ist es wichtig feststellen zu können, in welcher Phase des Schriftspracher- werbs sich ein Kind befindet, denn hiervon hängt der Anknüpfungspunkt in der För­derung ab.

2.2 Erwerbsmodell

Die symptomspezifischen Trainings in der LRS-Therapie lassen sich, wie bereits oben erwähnt, verschiedenen Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs zuord­nen.

Hierzu kann das Modell von Uta Frith aus dem Jahre 1985 herangezogen werden, welches durch eine Reihe von empirischen Studien in seinen Grundannahmen be­stätigt worden ist (vgl. Schulte-Körne 2004, S. 76) und auch international viel Beach­tung findet.

Im Modell werden die kindlichen Strategien des Schriftsprachzugangs berücksichtigt. Dabei handelt es sich um eine Dreiteilung der Entwicklung, und zwar in eine logo- graphische, eine alphabetische und eine orthographische Stufe.

Die logographische Stufe ist in Bezug auf das Lesen durch das Erkennen herausra­gender Merkmale eines Wortes gekennzeichnet.

Beim Schreiben auf dieser ersten Entwicklungsstufe kann vielmehr von Zeichnungen gesprochen werden. Bekannte Schriftzüge, wie z.B. McDonalds oder Namen, wer­den abgemalt und anhand ihrer graphischen Besonderheiten wiedererkannt. Kinder haben in dieser vorschulischen Entwicklungsstufe bereits Vorstellungen davon, dass Laute in Zeichen ausgedrückt werden können, aber die Buchstaben-Laut­Beziehungen sind ihnen noch unbekannt.

In der sich anschließenden alphabetischen Stufe sind die Kinder nun dazu in der La­ge, die Struktur der bisher bekannten Schriftbilder zu erfassen. Sie können folglich Wörter als Aneinanderreihungen einzelner Buchstaben wahrnehmen und sie mit ihrer lautlichen Repräsentation in Verbindung setzen. Somit findet ein qualitativ neuer Entwicklungsschritt statt, der die Einsicht in das phonetisch-phonologische Prinzip der Verschriftlichung unserer Sprache ermöglicht.

Da Kinder in dieser Phase ihre eigene Artikulation auf hörbare Laute hin analysieren, beginnen sie lautorientiert zu schreiben (z.B. HS für Haus [Skelettschreibweise] oder FARAT für Fahrrad).

Das Lesen erfolgt unter Verwendung der segmental-phonologischen Strategie (Ge­naueres siehe 2.3), die später nur noch zum Erlesen wenig vertrauter Wörter heran­gezogen wird. Wörter werden also Buchstabe für Buchstabe, Laut für Laut zusam­mengezogen bzw. synthetisiert, was für die Kinder noch einen sehr mühsamen Pro­zess darstellt.

Die Stufe beginnt allgemein mit der schulischen Unterrichtung, weil hier die Buchsta- ben-Laut-Zuordnung als Prinzip unserer Schriftsprache aufgegriffen wird und sie überdauert durchschnittlich die ersten beiden Grundschulklassen. Der Übertritt von der logographischen zur alphabetischen Stufe gelingt durch die wachsende phonolo- gische Bewusstheit (vgl. Springer, Wucher 2001, S. 51), die in 2.4 noch genauer thematisiert wird.

Die dritte und letzte Phase wird als orthographische Stufe bezeichnet.

Man ist sich fortan über Regelmäßigkeiten von Buchstabenfolgen, Morphemen und übergeordneten grammatischen und semantischen Strukturen bewusst und muss Wörter nicht mehr buchstabenweise erlesen (Anwendung der lexikalischen Strate­gie). Stattdessen werden ganze Silben, Phrasen etc. auf einen Blick erfasst und ver­arbeitet, sodass der Lese- wie auch der Schreibprozess schneller ablaufen kann. Somit vereinfacht sich auch das sinnentnehmende Lesen eindeutig und Wörter wer­den von nun an als Ganzes gelesen.

Im Hinblick auf das Schreiben ist eine schrittweise Überwindung der lautgetreuen Schreibweise zu beobachten. Wir haben es hierbei mit dem Übergang zu einer normorientierten Rechtschreibung zu tun, die sich durch die Verinnerlichung ortho­graphischer Regularitäten auszeichnet. Besonders grammatische Konventionen so­wie die morphematische Wortstruktur sind ausschlaggebend. (vgl. Schründer-Lenzen 2004, S. 30ff)

Auf Grundlage dieser drei Entwicklungsstufen kann das individuelle Entwicklungsni- veau eines Schülers ermittelt und eine passende Förderung in Angriff genommen werden.

Auch die in den einzelnen Phasen produzierten Rechtschreibfehler und Leseschwie­rigkeiten sind wichtige Ansatzpunkte. Jedoch ist an dieser Stelle zu beachten, dass bestimmte Fehler für bestimmte Stufen typisch und normal sind und mit fortdauern­der Entwicklung wieder verschwinden. Das ist in der nachstehenden Abbildung de­tailliert am Beispiel des Wortes „Fahrrad“ aufgeführt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Entwicklung der Schreibung des Wortes „Fahrrad"

Schließlich wird durch das Erwerbsmodell von Frith deutlich, wie sehr sich Lesen und Schreiben gegenseitig bedingen und dass dies stets in Diagnostik und Förderung zu beachten ist. (vgl. Günther 2007, S. 23f)

Zusammenfassend kann das Erlernen des Lesens und Schreibens als ein Prozess des Problemlösens bezeichnet werden. Dazu wenden die Kinder die ihnen zur Ver­fügung stehenden Verarbeitungsstrategien an, verbessern sie durch Ausprobieren oder entwickeln effektivere Strategien.

Ob der Schriftspracherwerb erfolgreich ist, hängt von schulischen Gesichtspunkten aus gesehen letztendlich von den auf die Schüler abgestimmten Aufgaben und Hil­fen, von genügend Übungsmöglichkeiten und positiven Lernerfahrungen ab (vgl. Springer, Wucher 2001, S. 52).

2.3 Routenmodell des Lesens und des Schreibens

In den einzelnen Phasen des Schriftspracherwerbs wenden Kinder jeweils unter­schiedliche kognitiv aufgabenspezifische Strategien für das Lesen und Schreiben an. Die in den einzelnen Strategien enthaltenen Vorgänge lassen sich mit Hilfe des Zwei- Wege-Modells von Coltheart (1978) veranschaulichen.

Die Kenntnis über die von den Kindern gewählten Verarbeitungsstrategien hilft uns bei der Interpretation individueller Lernstrategien und im gegebenen Fall bei der Auswahl entsprechender Therapiemethoden.

Sowohl für das Lesen als auch für das Schreiben existiert ein eigenes Modell, wel­ches zwei Strategien beinhaltet: die lexikalische und sublexikalisch-phonologische (beim Schreiben) bzw. segmental phonologische (beim Lesen) Strategie.

Zunächst zum Lesen. Nach dem Wahrnehmen eines visuellen Stimulus schaltet sich die visuelle Analyse ein und entscheidet darüber, ob ein Schriftzeichen oder Wort vorliegt oder nicht und an welcher Stelle des Wortes oder Satzes es sich befindet. Hier findet eine Art Mustererkennung statt. Stellt sich heraus, dass es sich bei dem Stimulus um ein bekanntes Wort handelt, dann wird die lexikalische Strategie ver­wendet, bei der das Wort ganzheitlich erfasst wird. Hierbei kommt das visuell- graphematische Lexikon zum Tragen, das einen Speicher für orthographische Wort­formen bekannter Wörter darstellt und über den Sichtwortschatz entscheidet. Da­raufhin ist das semantische Netzwerk dafür zuständig, gespeicherte Wortbedeutun­gen bereitzuhalten. Das phonologische Lexikon schließt sich an und ist als Gedächt­nisspeicher mit phonologischen Wortformen ausgestattet, es beinhaltet also die Aus­sprache von Begriffen. Zum Schluss kommt das phonologische Arbeitsgedächtnis zum Einsatz, welches die Informationen für die weitere Verarbeitung (sprechmotori­sche Realisierung) zur Verfügung stellt.

Zeigt sich jedoch bei der visuellen Analyse, dass es sich bei dem betreffenden Sti­mulus um ein unbekanntes Wort handelt und es daher noch nicht in abgespeicherter Form vorliegt, dann wird die segmental-phonologische Strategie eingeschlagen. Im visuellen Arbeitsgedächtnis findet die Analyse der Buchstabenfolge statt und die Grapheme, die in der visuellen Analyse identifiziert wurden, werden nun im Zuge der Graphem-Phonem-Konversion in Phoneme übersetzt. Zur Weiterverarbeitung erfolgt,
ähnlich wie bei der lexikalischen Strategie, die Speicherung dieser im phonologi- schen Arbeitsgedächtnis.

Veranschaulicht wird der gesamte Prozess des Lesens im folgenden Schaubild.

In Bezug auf das Schreiben (z.B. Diktat) liegen ähnliche Mechanismen vor. Nach der auditiven Analyse eines auditiven Stimulus und der Feststellung eines bekannten Wortes wird die lexikalische Strategie, die Wörter als Ganzes erfasst, herangezogen. Im Folgenden ist das phonologische Lexikon tätig, ein Speicher für bekannte phono- logische Wortformen.

Das sich anschließende semantische Netzwerk enthält gespeicherte Wortbedeutun­gen. Unter dem visuell-graphematischen Lexikon, welches daraufhin zum Tragen kommt, versteht man einen Gedächtnisspeicher für orthographische Wortformen. Zum Schluss gelangen die Informationen zu dem jeweiligen Wort in das Arbeitsge­dächtnis, das sie für weitere Prozesse, wie die graphomotorische Realisation, berei­thält.

Falls aber bei der auditiven Analyse deutlich wird, dass es sich bei dem auditiven Stimulus um ein noch unbekanntes Wort handelt, dann findet die sublexikalisch- phonologische Strategie Verwendung.

Da dem auditiven Stimulus keine phonologische Wortform im phonologischen Lexi­kon zugewiesen werden konnte, wird nun im phonologischen Arbeitsgedächtnis eine Phonemanalyse und -synthese durchgeführt. Den auf diesem Wege identifizierten Phonemen werden im Anschluss durch die Phonem-Graphem-Konversion entspre­chende Grapheme zugeordnet. Zur Weiterverarbeitung werden sie letztendlich im Arbeitsgedächtnis gespeichert. Der insgesamt ablaufende Prozess beim Schreiben ist in Abbildung 3 zu sehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dementsprechend ist festzuhalten, dass die lexikalische Strategie von Schülern mit zunehmendem Alter herangezogen wird, denn bei Anfängern ist das Lexikon für be­kannte Wörter noch wenig ausgereift und diese direkte Route bereitet ihnen somit noch Probleme.

Die segmental-phonologische bzw. sublexikalisch-phonologische Strategie kann als zeitintensiver und anstrengender angesehen werden. Sie wird von Schulanfängern verwendet aber auch von geübten Lesern, die ein fremdes Wort dekodieren wollen.

2.4 Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs

Vielen Annahmen zufolge beginnt der Erwerb der Schriftsprache nicht bei null, son­dern knüpft an bereits vorhandene Kenntnisse und Fertigkeiten an. Aufgrund dessen sind die Wurzeln einiger Schwierigkeiten bereits vor dem eigentlichen Erwerb zu fin­den (vgl. Marx 1997, S. 101).

Damit der Schriftspracherwerb gelingen kann, gelten folglich einige Fähigkeiten als Voraussetzung.

Die am besten untersuchte vorschulische Kompetenz ist die sogenannte phonologi- sche Bewusstheit. Seit den 70er Jahren beschäftigt man sich im angloamerikani- schen Sprachraum mit der Forschung zu diesem Aspekt, der sich in den 80er Jahren zu einem Forschungsboom entwickelte (vgl. Mannhaupt 1994, S. 124).

Es hat sich dabei u.a. herausgestellt, dass die phonologische Bewusstheit eine zent­rale Kompetenz für den Schriftspracherwerb ist und sie dessen Erfolg voraussagen kann.

Sie kennzeichnet die Bewusstheit für lautliche Elemente unterhalb der Wortebene, sodass man dazu in der Lage ist, lautliche Unterschiede, Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten zwischen Wörtern bzw. Wortteilen wahrzunehmen. Um dies zu errei­chen, also die Grundlage für das Erlernen des Lesens und Schreibens schaffen zu können, müssen Kinder vom Bedeutungsaspekt gesprochener Sprache absehen und lautliche und strukturelle Aspekte der Sprache genauer betrachten können.

Kinder lernen auf diese Weise Schritt für Schritt, sich unserer Sprache bewusst zu werden und sie als Gegenstand der Reflexion anzusehen. (vgl. Jansen, Marx 1999, S. 7f)

Des Weiteren unterscheidet man die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne von der im engeren Sinne.

Die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne kann beispielsweise durch das Bilden von Reimen oder das Klatschen von Silben überprüft werden. Diese sind als Sprachleistungen zu bezeichnen, die im direkten Zusammenhang mit dem natürli­chen Umgang mit den lautlichen und artikulatorischen Bereichen unserer Sprache stehen.

Die phonologische Bewusstheit im engeren Sinne steht vielmehr im Kontext des Schriftspracherwerbs und wird durch Aufgabenstellungen wie z.B. „Hörst du ein I in Igel“ trainiert bzw. überprüft. An dieser Stelle wird mit lautlichen Strukturen unserer Sprache operiert, wobei sie keine sprechrhythmischen und semantischen Bezüge innehaben.

Demzufolge ist von einer besonderen Bedeutung der auditiv-sprachstrukturellen Fä­higkeiten beim Erwerb der Schriftsprache auszugehen. Denn durch die strukturellen Einsichten in die Schriftsprache und ihre phonologischen Entsprechungen sind die Grundlagen für eine erfolgreiche Erwerbsphase gegeben.

Neben der phonologischen Bewusstheit sind auch einige weitere Vorläuferfähigkei­ten zu nennen.

Zu den visuellen Fähigkeiten, die sich positiv auf den Schriftsprachlernprozess aus­wirken, gehören Darbietungen von Schrift und Bildern zu differenzieren, Buchstaben­symbole voneinander zu unterscheiden, einige zu benennen, diese abzuschreiben, Informationen aus visuellen Anordnungen (z.B. Ampel) zu entnehmen, visuell darge­botene Teilelemente zu vervollständigen, Bildergeschichten zu erfassen und Abbil­dungen und Gegenstände wieder erkennen, benennen und kategorial ordnen zu können.

Als hilfreiche sprachliche Fähigkeiten sind das Auseinanderhalten von ähnlich klin­genden Worten mit unterschiedlicher Bedeutung, das Nachsprechen von ähnlichen Wortpaaren oder artikulatorisch komplexen Wortfolgen, das Dekodieren gesproche­ner Sprache, das Enkodieren von Gedanken sowie Bedeutungen in gesprochene Sprache und das verständliche Artikulieren dieser zu nennen.

Folgende auditiv-artikulatorische Fähigkeiten sind als Voraussetzungen für einen guten Einstieg in das Erlernen der Schriftsprache anzusehen: lautliche Aspekte der Sprache produzieren und erkennen, Reimfolgen von Nichtreimfolgen unterscheiden und Pseudowörter und existierende Wörter voneinander abgrenzen. (vgl. Marx 1997, S. 102ff)

Abgesehen von diesen analytischen und synthetischen Vorerfahrungen sind auch bestimmte Grundvoraussetzungen notwendig, um das Lesen und Schreiben ohne größere Probleme erlernen zu können.

Dazu zählen vor allem die Seh- und Hörfähigkeit, das Gleichgewicht und die motori­sche Koordination.

Möglichkeiten der Prävention von Problemen im Schriftspracherwerb und von LRS sind in 3.8 zusammengefasst.

2.5 Gründe für Lernerfolg und Lernversagen beim Schriftspracherwerb

Es existiert eine große Anzahl von persönlichen, schulischen und außerschulischen Gründen, welche nachweislich den Erwerb des Lesens und Schreibens positiv oder auch negativ beeinflussen kann. Sie sollte bekannt sein und in der Unterrichtung und Förderung Beachtung finden.

Als Bedingungsfaktoren von Lernversagen können bezogen auf den persönlichen Hintergrund z.B. folgende gelten: eingeschränktes Handlungs- und Umweltwissen, sprachliche Entwicklungsrückstände, wenig ausgereifte intellektuelle Grundfertigkei­ten, rückständige sensorische und motorische Entwicklung, geringes Interesse an schulischen Inhalten, Schul- und Sozialangst, Aggressivität, Hyperaktivität, Angst und Lernblockaden gegenüber dem Schriftspracherwerb, Krankheitsanfälligkeit, ge­ringe vorschulische Erfahrungen mit schulisch relevanten Sachverhalten und lange Fehlzeiten in der Schule.

Diese außerschulischen Sozialisationsbedingungen können mit zum Lernversagen beitragen: bildungsfernes Milieu, wenig Kommunikation innerhalb der Familie, beeng­te Wohnverhältnisse und instabile Familienkonstellation.

Die sich anschließenden schulischen Sozialisationsbedingungen können sich nach­teilig auf den Lernerfolg auswirken: schlechtes Schulklima, hoher Leistungsdruck, Mitschülerkonflikte, gestörte Schüler-Lehrer-Beziehung, wenig Lebensweltbezug der Lerninhalte, Nichtbeachtung von Lernvoraussetzungen und fehlende inhaltliche und emotionale Unterstützung der Lehrer.

Als Bedingungsfaktoren von Lernerfolg im Bereich des persönlichen Hintergrunds sind z.B. nachstehende zu nennen: vorschulische Erfahrungen mit Sprache und Schrift, umfassendes Weltwissen, gut ausgebildete Sprachkompetenz, altersgemäße sensorische und motorische Entwicklung, Interesse am Lerngegenstand der Schrift, Erfolgszuversicht, verschiedene Hobbys und Interessensgebiete, Selbstbewusstsein, soziale Kompetenz, gute organische und körperliche Entwicklung und Gesundheit sowie Vorerfahrungen mit schulischen Sachverhalten.

Auf dem Gebiet der außerschulischen Sozialisation wirken sich z.B. die folgenden Bedingungen positiv auf den Lernerfolg aus: bildungsnahes Elternhaus, Unterstüt­zung der Familie in schulischen Belangen, soziale und finanzielle Absicherung der Familie und anregende und unterstützende Erziehung.

Schließlich sind diese schulischen Sozialisationsbedingungen förderlich für den Schriftspracherwerb: vielfältige Anregungen zum Lesen und Schreiben, Anpassung an individuelle Lern bed ürfnisse und Lernvoraussetzungen, Unterstützung für ent­wicklungsrückständige Kinder und Einbeziehung der Familie in den Schulalltag.

(vgl. Kretschmann 2002, S. 58ff)

Da alle diese Faktoren auch eine Lese-Rechtschreibstörung begünstigen bzw. ihr entgegenwirken können, wird damit in das 3. Kapitel übergeleitet, in dem dieses Er­scheinungsbild einer genaueren Betrachtung unterzogen wird.

3. Lese-Rechtschreibstörung

Die bestehende Forschung zum Phänomen der Lese-Rechtschreibstörung lässt sich auf das Ende des letzten Jahrhunderts zurückführen und setzt sich seitdem mit der Frage auseinander, weshalb trotz regulärem Schulunterricht und normaler Intelli­genzleistung einige Kinder das Lesen und Schreiben nur teilweise und schwer erler­nen.

Neuere Forschungsansätze beschäftigen sich vor allem mit den kognitiven Defiziten und den beeinträchtigten Hirnfunktionen von Betroffenen.

Bevor es zu einer Definition und einer genaueren Darstellung von LRS kommt, zu­nächst einige Anmerkungen zum begrifflichen Hintergrund.

Die häufig verwendete Abkürzung „LRS“ steht für Lese-Rechtschreibstörung und sollte laut Empfehlungen der Kultusministerkonferenz aus dem Jahre 1978 den Le­gasthenie-Begriff ablösen.

Jedoch findet sich dieser auch in aktueller Literatur noch teilweise wieder, obwohl er als sehr belastet und belastend anzusehen ist. Daher haben sich einige Autoren auf dem Gebiet wie auch die Verfasserin dieser Arbeit dazu entschieden, den Ausdruck „Legasthenie“ zu ersetzen.

Der Begriff sollte des Weiteren abgelegt werden, weil das dahinterstehende Konzept besondere Fördermaßnahmen nur für intelligente Legastheniker vorsieht und schwachbegabte Schüler mit LRS von den Fördergruppen ausschließt. Das ist aber als fraglich anzusehen, da Intelligenz nicht pauschal über den Erfolg im Lesen und Schreiben bestimmt. LRS als Bezeichnung und Konzept zieht vielmehr sozial­familiäre, schulische und individuell-kognitive Faktoren zur Förderung heran und ver­steht sie somit auch als Ursachen.

Der klassische Legastheniebegriff betrachtet im Rückschluss also alle Betroffenen als Personen, die die krankhafte Eigenschaft besitzen, eine Diskrepanz zwischen einer guten Intelligenz und einer schwachen Lese-Rechtschreibfähigkeit aufzuwei­sen. Hinzu kommt, dass die auf diese Art definierten Legastheniker widersprüchlicherweise keine anderen Hilfen brauchen und keine anderen Fehler machen als Kinder mit LRS. (vgl. Valtin 2001, S. 32ff) In dieser Arbeit wird daher der Begriff der Lese-Rechtschreibstörung benutzt, da in ihm für alle Beteiligten die oben genannten Vorzüge gesehen werden.

3.1 Definition

Entsprechend der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen lässt sich die LRS den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zuordnen. Dazu zählen außerdem noch isolierte Rechtschreibstörung, Rechenstörung, kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten, sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fer­tigkeiten und nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten. Ihnen ist gemeinsam, dass sie im Kleinkindalter und in der Kindheit beginnen, eine Entwicklungseinschränkung oder -verzögerung von Funktionen, welche eng mit der biologischen Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind, verursachen sowie einen stetigen Verlauf ohne Remission und Rezidive erkennen lassen. Außerdem handelt es sich dabei um Beeinträchtigungen, die vom normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an abweichen. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die Störungen nicht aufgrund mangelnder Lerngelegen­heiten entstehen, nicht aus einem niedrigen Intelligenzniveau resultieren und die Ur­sache auch keine erworbene Hirnschädigung oder -erkrankung ist. (vgl. Dilling, Freyberger 2008, S. 279ff)

Die Lese-Rechtschreibstörung ist in dieser Klassifikation der WHO unter F81.0 wie­derzufinden und meint eine kombinierte Beeinträchtigung des Leseprozesses und des Rechtschreibens, woraus eine Leistung resultiert, welche nicht den Erwartungen hinsichtlich des jeweiligen Alters entspricht (vgl. Gasteiger Klicpera, Klicpera 2004, S. 46).

Folglich ist unter einer LRS keine Lernbehinderung zu verstehen, weil bei ihr nicht von einer allgemein beeinträchtigten Lernfähigkeit gesprochen werden kann. Zu erkennen ist sie an einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, welche nicht nur durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung zu begründen ist. Bei einer LRS zeigt es sich häufig, dass das Leseverständnis, das Wiedererkennen gelesener Worte, das Vorlesen sowie mit der Lesefähigkeit in Verbindung stehende Leistungen betroffen sind. Rechtschreibstörungen werden bei umschriebenen Lese- Störungen oft beobachtet und bleiben meist bis in die Pubertät bestehen, obwohl Fortschritte beim Lesen verzeichnet werden können.

Der Lese-Rechtschreibstörung gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache voraus und im schulischen Kontext begleiten vermehrt Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich die LRS.

Außerdem ist die LRS nicht durch eine Seh- oder Hörstörung oder eine neurologi­sche Erkrankung bedingt und sie tritt trotz einer in einem angemessenen Rahmen stattfindenden Beschulung auf. (vgl. Dilling, Freyberger 2008, S. 286ff)

Bei der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1) beschränken sich die Probleme des Kindes lediglich auf das Rechtschreiben und der Leseprozess ist als unauffällig an­zusehen. Dieses Phänomen tritt im Vergleich zur Lese-Rechtschreibstörung aber wesentlich seltener auf, denn aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Lesen und Schreiben sind Schwierigkeiten oft in beiden Leistungsbereichen vertreten.

3.2 Verbreitung von LRS

Bezogen auf einen Jahrgang wird davon ausgegangen, dass 4-7 % der Kinder von LRS betroffen sind (vgl. Beckenbach 2000, S. 248). Jedoch schwanken die Angaben über die Häufigkeit der Lese-Rechtschreibstörung und manche Forscher sind sogar der Meinung, 10-15 % der Kinder im Grundschulalter seien durch die Störung beein­trächtigt. Für die Anzahl der Personen in der Gesamtbevölkerung Deutschlands mit einer Lese-Rechtschreibstörung ist zu vermuten, dass es sich dabei um etwa 3 Milli­onen handelt.

Mit zunehmendem Alter werden die Schwierigkeiten im Lesen geringer, wobei die Schwächen in der Rechtschreibung in höheren Grundschulklassen stärker vertreten sind.

Darüber hinaus ist die Verbreitung der Lese-Rechtschreibstörung vor allem bei Ver­wandten ersten Grades signifikant häufig.

Sie ist aber in Familien aller sozialen Schichten anzutreffen, wobei sich bei einer vor­liegenden Veranlagung nachteilhafte Milieu- und Unterrichtsbedingungen besonders stark auf den Ausprägungsgrad und die damit verbundenen Folgen auswirken kön­nen. (vgl. Warnke 2001, S. 230f) „Es hat sich weiterhin herausgestellt, dass die Störung bei Menschen aller bekannten Sprachen vorkommt, jedoch noch unsicher ist, ob ihre Häufigkeit durch die Art der Sprache und die Art der geschriebenen Schrift beeinflu[ss]t wird“ (Reuter-Liehr 1993, S.136).

Meist weisen Kinder mit LRS leicht ausgeprägte Probleme im Lesen auf. Besonders das laute Lesen, die Flüssigkeit und die Sinnentnahme sind erschwert. Beim Recht­schreiben zeichnen sich hingegen vermehrt schwerwiegende Probleme ab. Das ist vorrangig dann der Fall, wenn das Phänomen der LRS erst gegen Ende der Grund­schulzeit entdeckt wird.

Hieraus ergibt sie die nicht ausreichende Lese- und Rechtschreibfähigkeit vieler Ju­gendlicher und Erwachsener, sodass ihr alltägliches Leben nur beschränkt zu bewäl­tigen ist. Beispielsweise ist es ihnen nicht möglich, Formalitäten eigenständig zu er­ledigen oder auch schriftliche Anweisungen alleine zu lesen und auszuführen.

Überdies ist festzuhalten, dass Jungen wesentlich häufiger darunter leiden, als Mäd­chen. In Zahlen ausgedrückt sind Jungen zwei- bis viermal häufiger von einer Stö­rung der Lese-Rechtschreibfähigkeit betroffen, wobei im Rechtschreiben deutlichere Unterschiede auszumachen sind. Als Gründe dafür werden die besseren Vorläufer­fähigkeiten der Mädchen, ihre größeren Vorkenntnisse im Schriftsprachbereich und ihre Fähigkeit, Strategien für das Lesen und Schreiben schneller zu entwickeln, an­gesehen.

Diese Erklärungsansätze werden wiederum dadurch untermauert, dass der Grund­schulunterricht eher die Mädchen anspricht und sie deshalb größere Motivation und Lernfreude aufbauen als ihre gleichaltrigen Mitschüler. Ferner finden bei ihnen be­reits in der vorschulischen Erziehung mehr sozialisatorische Effekte und Imitations­lernen in Bezug auf die Vorbereitung auf den Schriftspracherwerb statt. (vgl. Valtin 1997, S. 131ff)

3.3 Ursachen

Lese-Rechtschreibstörungen können durch eine große Anzahl von Faktoren entste­hen. Man spricht auch von einer multifaktoriellen Bedingtheit der LRS.

Besonders bei einer beeinträchtigten phonologischen Bewusstheit ist die Gefahr er­höht, eine LRS auszubilden (vgl. 2.4).

Auch bezüglich der Genetik sind Verursachungselemente festzustellen, denn geneti­sche Anlagen können ebenfalls zu Problemen im Erlernen des Lesens und des Schreibens führen.

Des Weiteren stützen neurologische Befunde die Annahme, dass bei Betroffenen die sprachliche Informationsverarbeitung erschwert ist.

Letztendlich tragen auch den Schriftspracherwerb begleitende psychosoziale Fakto­ren dazu bei. So sind z.B. Kinder aus niedrigen sozialen Schichten gefährdet und auch Schule und Unterricht können sich nachteilhaft auf den Lernprozess auswirken. Sie werden zwar von der Definition der WHO nicht als Auslöser aufgefasst, allerdings können sie eine Störung noch zusätzlich verstärken. (vgl. Noterdaeme, Amorosa 2002, S. 334)

Bezogen auf das Stufenmodell von Frith ist hinzuzufügen, dass Übergangsprobleme von der logographischen zur alphabetischen Stufe oft die Entstehung der LRS mar­kieren.

3.3.1 Genetische Ursachen

Anhand zahlreicher Studien, die das Auftreten von LRS bei Zwillingen und innerhalb von Familien untersuchen, hat sich eine zu beobachtende familiäre Häufung heraus­gestellt. Weist beispielsweise ein Kind eine Lese-Rechtschreibstörung auf, dann sind die Geschwister zu 62% ebenfalls davon betroffen.

Demzufolge scheinen auch genetische Bedingungen für das Rechtschreiben eine elementare Rolle zu spielen. (vgl. Warnke 2001, S. 232)

Allerdings sind auf diesem Gebiet der Forschung noch keine genaueren Angaben zu ablaufenden Prozessen etc. zu machen. Die Darbietung aller weiteren angenomme­nen Zusammenhänge wäre somit rein spekulativ.

3.3.2 Auditive Wahrnehmung als Ursache

Bei der auditiven Wahrnehmung von lese-rechtschreibgestörten Personen kann die Aufnahme von sprachlichen und nicht-sprachlichen Reizen betroffen sein. An dieser Stelle haben sie vermehrt Probleme, schnell aufeinanderfolgende akustische Reize zu unterscheiden und einzelne ähnliche Laute auseinander zu halten. Darauf auf­bauend kann auch die phonologische Bewusstheit vermindert sein. Betroffene sind nämlich häufig nicht dazu in der Lage, Phoneme angemessen zu segmentieren, analysieren und eine Phonem-Graphem-Zuordnung vorzunehmen. Bei der Ausführung solcher Aufgaben sind besonders die Aktivitäten der linken Hirnhälfte ausschlaggebend. Sie weisen im Fall einer LRS Mängel auf, führen zu einem Sprachwahrnehmungsdefizit und die jeweilige Person verfügt somit nur über ein niedriges phonologisches Verarbeitungsniveau.

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Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Computergestützte Förderung bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Heil- und Sonderpädagogik (Sprachheilpädagogik))
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
99
Katalognummer
V164516
ISBN (eBook)
9783640797585
ISBN (Buch)
9783640797646
Dateigröße
1026 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Computergestützte, Förderung, Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
Arbeit zitieren
Isabell Leckel (Autor:in), 2009, Computergestützte Förderung bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164516

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