Das Neue Wissen vom Menschen. Entstehung und Entwicklung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1900 – 1931

Zur Popularisierung eines modernen Menschenbildes


Masterarbeit, 2008

157 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
II. 1 Annäherungen an die Hygiene - Rahmenbedingungen für die Entstehung des Hygiene-Museums
II.1.1 Hygiene als Kulturbegriff.
II.1.2 Eine kurze hygienische Stadtgeschichte Dresdens von 1880 - 1920
II.1.3 Das hygienische Engagement Karl August Lingners
II.2 Die Entstehung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1900-1912
II.2.1 Vom Odol zur Deutschen Städtebauausstellung 1903
II.2.2 Die 1. Deutsche Städteausstellung 1903 mit der Sonderausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung
II.2.3 Der Weg zur Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911
II.2.4 Die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911
II.3 Die Entwicklung des Deutschen Hygiene-Museums 1912-1931
II.3.1 Das Deutsche Hygiene-Museum ohne Haus 1912 - 1929
II.3.2 Das Deutsche Hygiene-Museum im eigenen Haus
II.3.3 Das Deutsche Hygiene-Museum und die II. Internationale Hygieneausstellung 1930

III. Resümee

IV. Abstract

V. Anhang
V.1 Exkurs: Ein Versuch über großbürgerliches Mäzenatentum bei Lingner
V.2 Verzeichnis der wichtigsten Personen und ihrer Funktion im Museum
V.3 Abkürzungsverzeichnis
V.4 Abbildungsverzeichnis
V.5 Quellen- und Literaturverzeichnis
V.5.1 Textquellen zur Geschichte des DHMD aus dem Zeitraum 1903 - 1936
V.5.2 Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Um die Jahrhundertwende, mehr oder minder zwischen 1880 und 1930 entstand, was unsere heutige moderne Welt immer noch prägt. Damals durchlebte unsere Gegenwartskultur gleichsam ihre ,klassische‘ Phase, weshalb die Kunstwissenschaft ja auch von der ,klassischen Moderne‘ spricht. Aber dies gilt nicht nur für die Künste, sondern auch für die Wissenschaften, die mit der Lehre von den Elementarteilchen, der naturwissenschaftlichen Medizin und der chemisch-elektrischen Umwälzung der Technik nicht nur ein neues Welt- und Menschenbild, sondern auch eine neue Lebenswelt, in der sich der Mensch in seinen Wahrnehmungen und in seinem Verhalten ganz neu orientieren musste, erschaffen haben. “[1]

Die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Zeit einer Vielzahl sich gegenseitig befeuernder Revolutionen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Es war die Zeit überquellenden Nationalstolzes und des Imperialismus; die Zeit von Industrialisierung, rasanter Urbanisierung und rapidem Anwachsen der neuen proletarischen Klasse. Schnelles Bevölkerungswachstum und steigende Mobilität gingen damit ebenso einher, wie eine immer massivere Störung traditioneller sozialer Bindungskräfte insbesondere von Religion und Familie. Ein Denken brach sich Bahn, das versuchte rationaler als seine Vorgänger den Menschen und seine Umwelt zu erfassen. Die verschiedenen Wissenschaften profitierten davon genauso wie von besserer allgemeiner Bildung und der Konzentration Hochgebildeter an Forschungs- und Lehreinrichtungen. Die Ingenieurwissenschaften drängten, auf der Basis des bis dahin in der Geschichte beispiellosen Erkenntniszuwachses der Naturwissenschaften, genau wie Biologie, Medizin und Humanwissenschaften von einer Entdeckung zur anderen. Revolutionen in allen Lebensbereichen folgten in immer rascherer Geschwindigkeit aufeinander. Das Tempo des Lebens selbst beschleunigte sich, so dass Zeitgenossen und Historiker bald vom Zeitalter der Nervosität[2] sprachen. Alle diese Entwicklungen und nicht zuletzt die verheerenden Massenkriege, die unter anderem durch die massive Technisierung des Militärwesens möglich wurden, stellten bis dahin gebräuchliche Vorstellungen vom Menschen in Frage. Alternative Lebensentwürfe und Versuche, dem Menschen den Umgang mit der sich steigernden Dynamik der Moderne zu ermöglichen, waren in großer Zahl vorhanden. Das Spektrum dieser Entwürfe war groß und umfasste das lebensreformerische Zurück zur Natur! genauso wie faschistische und kommunistische Gesellschaftsutopien und die sich zum Teil radikal modernisierende Kunst. Neben diesen Strategien, die die Kultur als Ganzes zum Ziel hatten und letztlich Austritt aus, Übersteigerung oder Zerstörung der modernen Kultur darstellten, gab es gemäßigtere Versuche, mit den Mitteln und Kenntnissen der Zeit, die Strukturen der Gesellschaft von innen zu verändern. Die Hygienebewegung wird hier verstanden als ein solcher Versuch, den Herausforderungen der Moderne zu begegnen. Sie war eine Reaktion auf die Moderne und nur durch diese in ihrem historischen Umfang möglich. Zugleich war sie Teil des Projektes der Moderne und vertrat für diese wesentliche Geisteshaltungen. „Es stellt sich die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen [diesem, T.S.] Wissen und Gesellschaft, zwischen Wissenswandel und gesellschaftlichem Wandel.“[3]

Der Hygienediskurs war Nexus einer ganzen Reihe - von normalerweise getrennt behandelten, aber nichtsdestoweniger interdependenten - Wissensbeständen und Praktiken. Er war ein hybrides Produkt der fortwährenden Überschneidung und gegenseitigen Beeinflussung verschiedenster kultureller Entwicklungen. Diskurse aus Medizin, Sozialpolitik, Wirtschaft, Anthropologie und Ästhetik manifestierten sich in jeweils zeitspezifischer Synthese und schrieben sich in ihm fort. Die internationalen Hygiene-Ausstellungen (1911 & 1930/31) in Dresden und das Deutsche Hygiene-Museum Dresden[4] waren herausragende institutionelle Manifestationen dieses Diskurses, der die Gesundung und Gesunderhaltung des Menschen und seiner Lebensumstände zum Ziel hatte.

Als Hypothese wird dieser Arbeit somit vorangestellt, dass das Deutsche Hygiene-Museum und die internationalen Hygiene-Ausstellungen Teil der Bewältigung der Moderne waren. Situiert in der Kernzeit der Moderne, war die Hygienebewegung[5], ähnlich wie die Bewegungen der Lebensreform, ein Versuch, den Unsicherheiten der Moderne zu begegnen. Das Hygiene-Museum war im Zeitraum 1900 - 1933 ein Vorreiter der Hygienebewegung in Deutschland. In dieser Arbeit wird daher unter anderem Hinweisen nachgegangen, die es nahe legen das Museum innerhalb einer Wissenskultur zu verorten, die versuchte zu Stabilität in einer als zunehmend schwierig empfundenen Moderne beizutragen. Es geht also um den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Veränderungen, geistesgeschichtlichem Wandel und Hygienepräsentationen. Eine Erzählung der Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums kann damit sowohl im chronologischen Längs- als auch im Querschnitt wesentliche Ausblicke auf die wechselvolle Kulturgeschichte Deutschlands im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geben.

Ziel der Arbeit

Ziele der Arbeit sind, Entstehung und Entwicklung des Deutschen HygieneMuseums und dessen Ziele darzustellen und zu den Wandlungen des Hygienediskurses in Beziehung zu setzen. Parallel dazu werden hierfür zentrale Quellen analysiert. Die Ergebnisse dieser Analyse sollen dann in einem weiteren Schritt Rückschlüsse auf die Konzepte vom Menschen zulassen, die das DHMD popularisierte. Alternativ als Frage formuliert lautet dieser zweite Teil wie folgt: Gab es in der Entwicklung des Dresdner Hygiene-Museums anthropologische Grundannahmen, die konstitutiv für die Bildung, Kommunikation und Aufbewahrung von Wissen, also die Wissenspraxis[6] des DHMD waren? Die Erzählstruktur orientiert sich an der Zielstellung und wird entsprechend doppelsträngig sein. Abschnitte zum geschichtlichen Werden der Institution wechseln sich mit der Analyse von Quellen ab. Die Arbeit wird darüber hinaus versuchen, zwischen der spezifischen Geschichte einer Institution sowie ihrer Wissenspraxis und zu verschiedenen Ebenen der Zeitgeschichte (also Wissenskultur) Brücken zu schlagen. So wird gefragt, welche Diskursfelder fundamental für die Wissenspraxis im DHMD waren.

Der zeitliche Untersuchungsrahmen wird zum einen durch die Jahrhundertwende begrenzt. Diese markiert etwa den Beginn des karitativen Wirkens Lingners in Dresden. Zum anderen stellen die massiven Arbeitseinschränkungen im DHMD zu Beginn der 1930er Jahre eine zeitliche Grenze dar. Diese war charakterisiert durch die Wirtschaftskrise und eine wesentliche Änderung der inhaltlichen und methodischen Ausrichtung des Museums mit Beginn der Einflussnahme des Nationalsozialismus. Die Arbeit schließt demnach mit der Besprechung der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung 1930/31.[7]

Forschungsstand

Es sind eine Reihe von Publikationen zum DHM erschienen. Die wesentlichen Entwicklungsstationen sind ereignisgeschichtlich grob durch ScHUBERT, STEPHAN, Schulte, Kowark aufgearbeitet. Lingner als Urheber des Museums ist durch Büchi und Funke hinreichend erforscht. Ebenso existiert ein Sammelband zur Geschichte des Mundwassers Odol (Roth, Scheske & Täubrich). Die Ausstellungen des Museums sind in knappen Überblickstexten bei Brecht & Nikolow, Heidel, Poser, Schrön und Roth aufgearbeitet. Vertiefte Analysen der Ausstellungen fehlen. Zu den Aktivitäten (Vorträge; Lehrmittelproduktion (außer RoEßiGER) und Vertrieb; Publikationstätigkeit) des Museums selbst ist die Forschungslage weniger befriedigend. Ein etwas besserer und zumindest in Einzelhemen bearbeiteter Zeitraum ist die IHA 1911 und das Ende der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Einzelaspekte wie die Architektur des Hygiene-Museums (PREiß, Schulte), die Sammlung Der Mensch (Schaible), Der Gläserne Mensch (Beier & Roth) und die Statistik in der Hygieneaufklärung (Nikolow) sind aufgearbeitet. Schaible und Poser berühren in ihren Dissertationen wichtige Aspekte des Zusammenhangs von objektpräsentation, Hygienebelehrung und gesellschaftlichem Wandel.

In der Forschung werden Fragen nach den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen sowie nach Sinn und Bedeutung zumeist nicht oder nur am Rande berührt. Insbesondere fällt auf, dass das Hygiene-Museum und dessen Vorläufer bisher überwiegend auf ihre Genese hin untersucht wurden. Der Versuch, ein zusammenhängendes Bedingungsgeflecht zur Entstehung und Entwicklung des DHMD zu formulieren, wurde bis jetzt nur ansatzweise unternommen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll mit der Betrachtung von Wissenskulturen hierzu ein Beitrag geleistet werden. Wirkungen des Museums und seiner Vorläufer wurden in der Literatur kaum thematisiert. Verknüpfungen zu den übergreifenden kulturellen Entwicklungen werden punktuell hergestellt (Beier & Roth auch Schulte). Bisher ist kein kulturgeschichtliches Überblickswerk zum Hygiene-Museum vorhanden. Für den hier betrachteten Zeitraum vor 1933 ist erkennbar, dass der bisher erreichte Forschungsstand die Behandlung einer Reihe von Themenkomplexen vermissen lässt, so die Frage nach Wissenskulturen und Wissenskommunikation. Hierzu müssten insbesondere die „[...] sich verändernden Sichten auf den Menschen und den menschlichen Körper“[8] im Zusammenhang mit dem Museum noch intensiver behandelt werden. Die vorliegende Arbeit versucht dazu einen Beitrag zu leisten. Der Beitrag von Schrön ist ein erster Versuch sich dem Thema Wissenspopularisierung durch das DHMD zu nähern. Die Verortung des Museums im Kontext der öffentlichen Gesundheitsfürsorge beziehungsweise Sozialpolitik sowie im Rahmen des Hygiene-Diskurses steht noch aus. Ebenso fehlt die Darstellung des Verhältnisses zu anderen nationalen[9] und internationalen Institutionen mit gleichem oder verwandtem Arbeitsgebiet. Ein bisher nicht bearbeitetes Kapitel in der Geschichte des Museums ist dessen Beteiligung an der Ausstellung für Gesundheit - Sozialfürsorge - Leibesübungen (GeSoLei) 1926. Diese Lehrstellen können auch in der vorliegenden Arbeit nicht gefüllt werden.[10] Hier entsteht eine Lücke, die jedoch vorerst hingenommen werden muss. Indizien werden genannt, können jedoch nicht weiter verfolgt werden. Ebenso muss mit zwei weiteren wichtigen Tätigkeitsbereichen des Hygiene-Museums umgegangen werden: der Hygiene-Akademie und teilweise auch der Lehrmittelproduktion. Für die HygieneAkademie liegen keine, für den Bereich Lehrmittel nur Einzeluntersuchungen (RoEßiGER) vor. Das intellektuelle „Milieu Deutsches Hygiene-Museum“, wie auch der Kreis um Lingner, werden in den Forschungen nur anhand von Einzelpersonen knapp skizziert (zum Beispiel für Lingner). Deren Verhältnis zueinander und ihr weiterer Wirkungskreis in der Stadt Dresden und über sie hinaus sind noch unbekannt. Am auffälligsten ist das nahezu vollständige Fehlen von Erkenntnissen zum nationalen und internationalen Einfluss der Institution und der Hygiene-Ausstellungen. Dies gilt vor allem für die Rezeption der internationalen Hygiene-Ausstellungen sowie der Wanderausstellungen und für die Bedeutung der vertriebenen Lehrmittel und der abgehaltenen Kongresse. Auf welchen Gebieten und bei welchem Publikum das Deutsche Hygiene-Museum wie gewirkt hat, ist unklar. Dafür können im Rahmen dieser Arbeit Vorarbeiten geleistet werden, die später ausgebaut werden könnten.

Abseits der Forschungen zum DHMD sei noch kurz die Forschungssituation zur Hygienebewegung umrissen. Historische Überblickspublikationen sind hier rar. Die Hygiene ist kulturhistorisch wenig bearbeitet. Gut ausgewiesen sind auf diesem Gebiet Labisch, Hardy und für stadtgeschichtliche Aspekte Witzler. Zumeist wird das Thema wie bei Nitschke et. al. durch Castell-Rüdenhausen, bei Roeriger & Merk sowie bei Nipperdey durch kleinere Einzelbeiträge oder knappe Kapitel behandelt. Der Einfluss des Hygienediskurses auf die Gesellschaft ist generell wenig erforscht.

Auch wenn die Eugenik / Rassenhygiene im ersten Drittel des Jahrhunderts keine vergleichbare gesellschaftliche Wirkung wie anderer Teile der Hygienebewegung entfaltete, ist sie doch wesentlich besser aufgearbeitet. Die Erforschung dieses Teils der Hygiene hat sich in den letzten Jahren über die Fokussierung auf die NS-Zeit oder den Anglo-Amerikanischen Raum hinaus auch auf die deutsche Geschichte vor 1933 ausgeweitet. Einschlägige Werke sind beispielsweise von Adams, Weingart, Weindling, Labisch erschienen.

Thesen

Folgende Annahmen werden der Untersuchung vorangestellt und zu prüfen sein:

1. Zwischen den Wandlungen des Hygienediskurses und der Entwicklung des DHMD bestanden vielfältige Zusammenhänge. Es war ein in Deutschland einzigartiges hybrides Produkt der fortwährenden Überschneidung und gegenseitigen Beeinflussung verschiedenster kultureller Entwicklungen. Das Deutsche Hygiene-Museum vereinigte im Jahr 1930 eine für ein Museum bemerkenswerte Vielzahl unterschiedlicher Funktionen und Aufgaben innerhalb einer Institution. Es war Ausstellungsort, Lehr- und Lernanstalt, Herausgeber einer hygienischen Zeitschrift sowie Produktionsort didaktischer Materialien und zugleich Kern und Initialpunkt von internationalen Hygiene-Ausstellungen mit spektakulären Ausmaßen. All dies war darauf ausgerichtet, das Volk in gesundheitlichen Fragen zu belehren. Die Hygienebewegung, dieser vornehmlich bürgerliche, naturwissenschaftlich-medizinisch geprägte Diskurs, entfaltete am Ende des 19. und in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erhebliche und zunehmende Breitenwirkung. Dies geschah kompensatorisch zu den Unsicherheiten der Moderne. Fester Bestandteil dieser Wissenspraxis war die Vermittlung von Wissen zum menschlichen Körper, die Aufklärung zu Gesundheitsgefahren und Krankheiten sowie die Propagierung von gesundheitsfördernden Tätigkeiten.

2. Die Geschichte des DHM ist im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zweigeteilt. Diese fließend ineinander übergehenden Phasen sind gekennzeichnet durch Differenzen in den „hygienischen Grundannahmen“. Diese Differenzen wurden nicht zuletzt durch den Schnitt des I. Weltkriegs (von Auslösungshygiene zu Sozialhygiene)[11] und dem Wechsel der maßgebenden Akteure und Akteursstrukturen verursacht. Zu unterteilen ist demnach in den Zeitraum 1900 bis etwa 1913/14 [bis zur Gründung des Vereins für das National-Hygiene-Museum, Tod Lingners] und in den Zeitraum 1913 bis etwa 1930.[12] Die Trennung zwischen beiden Phasen darf jedoch nicht überzeichnet werden, denn in vielerlei Hinsicht lassen sich Kontinuitäten erkennen. Dies betrifft Methode, Technik und Themen der Präsentationen. Ferner lassen sich in der Weimarer Republik Phasen von größerem und weniger großem Erfolg ausmachen.

3. Als Vorgänger und wichtige Wegbereiter des Deutschen Hygiene-Museums sind die Ausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung 1903 und die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 anzusehen. Diese wurden maßgeblich von den Impulsen des Großindustriellen Karl August Lingner (1861 - 1916) geprägt. Die Erfolge dieser Ausstellungen ebneten den Weg zur Einrichtung einer dauerhaften Institution zur Hygieneaufklärung in Gestalt des Deutschen Hygiene-Museums. Zugleich prägten die dort erprobten Methoden und Grundideen die Vermittlungsarbeit der IHA und des DHMD.

4. Maßgeblich für die Entstehung und Entwicklung der Institution waren besonders die Gedanken Lingners. Diese wurden am deutlichsten in seiner Denkschrift zur Errichtung eines National-Hygiene-Museums in Dresden 1912 und in seinem Vortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde in Bern 1914 Der Mensch als Organisationsvorbild dargelegt. Die eigentliche Gründung des Deutschen Hygiene Museums erfolgte 1913 mit Umwandlung des Vereins für die Internationale Hygiene Ausstellung in den Verein für das National-Hygiene-Museum Dresden.

5. Der I. Weltkrieg und speziell dessen wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung bedeuteten einen tiefen Einschnitt in den Arbeitsprozess des Museums. Einerseits war das Museum personell und finanziell stark eingeschränkt. Andererseits verschoben sich die inhaltlichen Schwerpunkte der hygienischen Aufklärung während und unmittelbar nach dem Krieg von allgemeiner Gesundheitaufklärung zu akuter Krankheitsprävention und Linderung gesundheitlicher Missstände. Das Museum stellte seine Kompetenzen in den Dienst der staatlichen Politik.

6. Die Inflation zu Beginn der 1920er bedeutete einen nochmaligen tiefen Einschnitt in dem Betrieb des Museums. Die Zuwendungen aus der von Lingner eingerichteten Stiftung versiegten fast vollständig, ebenso die der öffentlichen Hand. Die Produktion und der Vertrieb von Lehrmitteln ermöglichten das Fortbestehen der Einrichtung.

7. In den Jahren 1925-1930 war das Museum äußerst produktiv. Das DHMD nahm damit an den Goldenen Zwanzigern oder treffender bezeichnet als roaring twenties teil.[13] Erste neue Höhepunkte der Arbeit des Museums nach Krieg und Inflation waren die Sonderschauen Der Mensch 1921 und Der Mensch - In gesunden und in kranken Tagen 1926 sowie die äußerst umfangreiche Beteiligung des Hauses an der Ausstellung für Gesundheitspflege - Soziale Fürsorge - Leibesübungen (GeSoLei) in Düsseldorf 1926. Jetzt nahm auch die allgemeine Gesundheitsaufklärung wieder stärkeren Raum ein.

8. Diese Erfolge und die insgesamt verbesserte wirtschaftliche Lage ermöglichten den Bau des Museumsgebäudes unter der Leitung des Architekten Wilhelm Kreis (1873-1955).

9. Die größte Steigerung und den Endpunkt dieser Entwicklung stellten die Dauerausstellung des Museums und die zur Eröffnung des Museums veranstaltete II. Internationale Hygiene-Ausstellung 1930/31 dar. Deren Rezeption wurde allerdings durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise stark beeinträchtigt. Der zunehmenden Änderung des politischen Klimas entsprach bald auch eine Änderung in den Leitlinien des Museums. Dies wird aber nicht mehr Thema dieser Arbeit sein.

10. Das DHMD war eine Schnittstelle zwischen der Formierung hygienischen Wissens und dessen Repräsentation. Das DHMD nahm in hervorragender Position in der Hygienebewegung an der Bildung, Kommunikation und Aufbewahrung von Wissen über den Menschen teil. So erreichten das Museum, seine Vorläufer und deren Arbeitsergebnisse im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine außerordentlich große Zahl von Menschen.[14] Das DHMD und seine Vorformen gehörten zu den ersten Versuchen, hygienisches Wissen in einem derartig umfangreichen und breitenwirksamen Maßstab systematisch an Laien und Experten zu vermitteln.

11. Die Gestalter des DHMD und seiner Vorgänger forderten, anders als manche Zeitgenossen, keinen radikal Neuen Menschen.[15] Nichtsdestoweniger war das Hygiene-Museum „Diskussionsort eines neuen Menschenbildes“[16] also Schnittstelle innovativer Entwicklungen. Die Belehrung des DHMD war bürgerlich konservativ und wurde durch ein rationalistisches körperfokussiertes Menschenbild bestimmt.[17] Dieses beschrieb den Köper analog zu einer technischen Apparatur. Zugleich wurde dessen organisation als vorbildlich für Gesellschaftsorganisation angesehen. Das Individuum sollte hygienisch optimiert werden um sich möglichst effizient in den Volkskörper einzupassen. Leitbegriff dafür war Menschenökonomie.

12. Die Geschichte des Museums kann zugleich als Geschichte von dessen Sicht auf den Menschen und seinen Körper erzählt werden. Dabei spielt die Frage nach der Ästhetik des Körpers nicht zuletzt im Rahmen der innovativen anschaulichen Darstellungstechniken des DHMD eine wesentliche Rolle.

13. Das DHMD und seine Vorformen entwickelten neue, eigene Präsentationsformen. Insbesondere Anschaulichkeit, wissenschaftliche Aktualität und Genauigkeit wurden als Leitlinien der Gestaltung immer wieder beschworen. Die Vollständigkeit wurde allerdings zum Teil vernachlässigt.

14. Durch die Betrachtung des normativen „hygienischen“ Teils des gesellschaftlichen Umgangs mit Wissen im Hygiene-Museum kann ein spezifischer, aber zentraler Ausschnitt deutscher Wissenskultur im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts dargestellt werden. Denn „[w]er nach der konkreten Entwicklung von Orientierungs- und Wertungswissen fragt, fragt immer auch nach den Strukturen der jeweiligen Gesellschaft, ihren Zielen und Leitbildern [...]“[18]. Für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland wird das DHMD in seinen zentralen Grundannahmen über den Menschen als exemplarisch für einige fundamentale, weit verbreitete, moderne Wissensformationen den Menschen betreffend angenommen. Denn „[a]lle Institutionen - verstanden in einem weiten Sinne - lassen sich als Zentren eines kulturellen Gedächtnisses verstehen, wo Wissen sich in ungeheurer Verdichtung manifestiert, wo es solcherart angewendet, umgeschlagen, weitergegeben und erneuert wird.“[19] Das DHMD wird gelesen als Teil und Ausdruck von Wissenskultur und deren Zusammenhang mit gesellschaftlichem Wandel. Hau spricht von der „medicalization“ der Wilhelminischen und Weimarer Gesellschaft.[20]

15. Insofern verschiedene Wissenschaften das Bild vom Menschen im DHMD maßgeblich bestimmten, kann mit der Untersuchung des Museums ein Beitrag zu deren Geschichte in der Öffentlichkeit geleistet werden. Durch die besondere Mittlerposition des Hygiene-Museums kommt das popularisierte beziehungsweise das zu popularisierende Wissen in den Blick.

Methode

Dem analytischen Teil der Arbeit liegt folgende Voraussetzung zugrunde: In dieser Arbeit soll das Wissen über Menschen, so wie es das DHMD vermittelte, nicht „[...] primär als Theorie begriffen, sondern als bestimmte, mehr oder weniger lokal situierte, kulturelle und soziale Praxis [...]“[21] verstanden werden. Für Zittel konstituiert diese „kulturelle oder soziale Praxis“ eine Wissenskultur. In dieser Arbeit werden seine Vorschläge zur Erarbeitung von Wissenschaftsgeschichte aufgegriffen. Somit wird ein einseitiges Verständnis, basierend auf entweder an internen Bedingungen ausgerichteten Erklärungsmustern oder einer sozialkonstruktivistischen Deutung des Wissensbildungsprozesses, vermieden. Äußere Einflussfaktoren und interne Bedingungen gilt es in ihren Abhängigkeiten und gegenseitigen Beeinflussungen aufzuzeigen, um sie zu einem schlüssigen Gesamtbild zu verknüpfen. Diese Verknüpfung herzustellen und als dialektischen Austauschprozess zu verstehen ist für das Hygiene-Museum umso wichtiger, als hygienisches Wissen im Vergleich zu anderen Wissensbeständen eine große öffentliche beziehungsweise alltagspraktische Relevanz und Prägekraft besaß. Ziel ist es, soziale Faktoren, wie auch Methoden und Wissensbegriffe gleichermaßen in eine Analyse einzubinden. Dadurch soll die spezifische Wissenspraxis[22] des DHMD als Teil einer Wissenskultur[23] dargestellt werden und so deren „nicht-wissenschaftliche Hintergrundannahmen“, „normative Einstellungen“ und „kulturelle Deutungsmuster“ offen zu legen.[24] „Damit werden sowohl Produktion als auch Rezeption von Wissen in einen historischen Raum sich gegenseitig initiierender und steuernder Abhängigkeit und Veränderung gestellt [...]“.[25] Diese Praxis zu beobachten wird nur punktuell möglich sein. Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen erweist sich der gewählte Untersuchungszeitraum als zu umfangreich für ein solch aufwändiges Verfahren. Zum anderen wurde die notwendige detaillierte wissenschaftliche Aufarbeitung von Archivmaterial für den gesamten Zeitraum noch nicht geleistet. Um trotzdem einen ersten Zugang zu dieser Wissenspraxis zu gewinnen, wird hier nach deren Ergebnissen gefragt. Diese waren sehr unterschiedlicher Natur. Zuvorderst sind Ausstellungen, Lehrmittel[26] und (Lehr-)Veranstaltungen zu nennen. Aber auch das Museumsgebäude selbst und in besonderer, idealtypischer Weise Konzept- und Programmschriften werden als Spiegel des Wissens über den Menschen dienen. In dieser Untersuchung wird anhand einer Auswahl von Ausstellungen und offiziellen Konzept- und Programmschriften dargestellt, welche Positionen das DHMD im Rahmen des Hygienediskurses vertrat.

Erzählstruktur

Aus der methodischen Zielstellung ergeben sich Grundanforderungen an die Erzählstruktur der Geschichte des Hygiene-Museums in dieser Arbeit. Angestrebt wird eine disziplinenüberschreitende Untersuchung. Sie soll Mikroperspektiven wie Stadtgeschichte, individuell Biographisches und konkrete Museumsbeziehungsweise Institutionengeschichte genauso mit einbeziehen, wie auch Erkenntnisse der Medizin- und Geistesgeschichte. Die Geschichte des Museums ist auch aufgrund der Vielseitigkeit des Hygienediskurses nur in ihrer vielfachen Verwobenheit mit unterschiedlichsten kulturellen Feldern verstehbar. Deren Darstellung erfordert einen weiten (im größten Umfang eigentlich europäischen) Blickwinkel. Entsprechend werden für das Hygiene-Museum relevante Entwicklungen in verschiedenen Kulturbereichen aufgespürt und deren Zusammenhang mit und ihre Einflussnahme auf das Deutsche Hygiene-Museum erläutert. Im Hygienediskurs überschnitten sich eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Wissensbestände und Handlungsmuster. Die bedeutendsten werden im Rahmen dieser Arbeit in Ausschnitten oder in Überblicksform thematisiert. Hierzu zählen: 1. das immens erweiterte medizinisch-naturwissenschaftliche Wissen und dessen Niederschlag im Hygienediskurs; 2. gesellschaftliche Transformationen, die zum Ausbau der staatlichen Fürsorge führten, beispielsweise die Urbanisierung; 3. Konzepte vom Menschen beziehungsweise Lebensentwürfe; 4. Rationalisierungsbestrebungen der Wirtschaft.

In der Arbeit wird ein permanenter Wechsel der Betrachtungsebenen vollzogen. In deren Zusammenschau soll, fokussiert auf entscheidende Entwicklungsstationen des Museums, ein dichtes Informationsnetz herausgearbeitet werden. Abschnitte zum geschichtlichen Werden der Institution werden mit der Analyse von zeitgenössischen Quellen verbunden. Den wichtigsten Kontextbezug bilden die Wandlungen des Hygienediskurses im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Um Wandel und Dynamik in der Geschichte des Hauses zu erfassen, wird die gesamte Arbeit chronologisch durchstrukturiert wobei die Erzählstruktur zweisträngig sein wird. Über unmittelbar mit Hygiene zusammenhängende Themenfelder hinaus wird das sich rapide entwickelnde Ausstellungswesen beziehungsweise Museumswesen und dessen Techniken angesprochen. Diese Arbeit behandelt eine aussagekräftige Auswahl der prägnantesten Einflussbereiche. Eine Grundlage für die ereignisgeschichtliche Aufarbeitung des Museums in dieser Arbeit bildete die vom Autor angefertigte Seminararbeit Wege zum Deutschen HygieneMuseum Dresden - Überblick über die Stationen der Entwicklung von 1900- 1930.

Zu der Beschreibung der einzelnen geschichtlichen Zeitabschnitte werden die entsprechenden Quellenanalysen gruppiert. Auf dieser zweiten Analyseebene wird versucht anhand von Schlüsseldokumenten zentrale Ziele und Praktiken, die die Aufklärungsarbeit des Deutschen Hygiene-Museums und dessen Vorgänger prägten, herauszuarbeiten. Hier können die kontinuierlichen und diskontinuierlichen Elemente der handlungsleitenden anthropologischen Grundannahmen, die die Gesundheitsaufklärung fundierten, aufgedeckt werden. Die Quellen stammen aus der Zeit zwischen 1903 und 1931. Schlüsseldokumente sind zum Beispiel: Konzepte für Ausstellungen, Denkschriften, Abhandlungen zur Selbstverortung des Museums beziehungsweise der Hygieniker, des Museums, auch Eröffnungs- und Festreden, sowie Ausstellungsführer, Kataloge und Ausstellungszeitschriften. Eingehende Analysen einzelner Ausstellungen werden in dieser Arbeit nur im Ansatz geleistet, sofern sich direkte Übertragungen ergeben. Dies begründet sich darin, dass die Ausstellungen nur teilweise wissenschaftlich ausgewertet sind und daher umfangreiche Archivstudien notwendig wären. Die Textquellen sind wesentlich einfacher zugänglich. Drei Ausstellungsarrangements sind für die Fragestellung besonders relevant, da sie direkt zum Menschen Stellung nehmen. Sie werden in Teilen, zum Beispiel anhand von Katalogen, in die Untersuchung einbezogen: erstens die Teilausstellung Der Mensch der Internationalen Hygiene Ausstellung 1911, zweitens die Wanderausstellung der Der Mensch nach dem I. WK und die neukonzipierte Kernausstellung über den Menschen im Neubau des DHMD ab 1930. Als deren „Leitfossil“ ist der Gläserne Mensch anzusehen.

Literatur

Für die gewählte Fragestellung sind zwei Dissertationen besonders relevant. Zum einen die Arbeit Schuberts aus dem Jahr 1986 mit dem Titel Vorgeschichte und Geschichte des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (1871 - 1931) und zum anderen die Arbeit von Schulte Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden von Wilhelm Kreis: Biographie eines Museums der Weimarer Republik aus dem Jahr 2001. Schuberts Forschungsarbeit ist eine deskriptiv angelegte, positivistische Arbeit, welche eine Fülle von Material bereitstellt. Insbesondere bei der Herleitung von Zusammenhängen und Begründungen wird deutlich, dass sie vor dem Hintergrund eines marxistischen Geschichtsverständnisses geschrieben wurde. Die aktuelle Arbeit von Schulte ist eine ergiebige Quelle. Ihre Schwerpunkte liegen in architektonischen, bauhistorischen sowie museologischen Fragestellungen. Die Dissertation von Schaible Sozial- und Hygieneausstellungen. Objektpräsentationen im Industrialisierungsprozess Deutschlands war besonders zur Erarbeitung mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Aspekte der Ausstellungen von 1911 und der frühen zwanziger Jahre bedeutsam. Die Arbeit von Poser Museum der Gefahren - Die gesellschaftliche Bedeutung der Sicherheitstechnik war eine wichtige Grundlage zur museologischen Erarbeitung der IHA. Ein neuerer Beitrag, der auch den für diese Arbeit relevanten Themenkomplex der Wissenspopularisierung behandelt, ist der Überblicksbeitrag von Schrön. Für die architektonische Interpretation war die Arbeit von Preir trotz ihrer Knappheit und teilweisen Ungenauigkeit eine wichtige Hilfestellung. Eine ganze Reihe von Anregungen wurden dem Sammelband In aller Munde, herausgegeben von Roth, Scheske und Täubrich, entnommen. Von besonderem Interesse war in diesem Band der Beitrag von Starke zur Dresdner Stadtentwicklung sowie die knappe Überblicksdarstellung von RoEßiGER zum Hygiene-Museum. Die Dresdner Stadtgeschichte ist darüber hinaus in den themenfokussierten, kurzen Beiträgen der Dresdner Hefte exzellent aufbereitet. Die bewusst populär gehaltene Überblicksdarstellung Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden 1911-1990 ist die einzige umfangreichere eigenständige Publikation mit sozialgeschichtlichen Inhalten. Sie wurde herausgegeben von Klaus Vogel, dem derzeitigen Direktor des Deutschen Hygiene-Museums. Die vielseitigen Beiträge sind von pointierter Knappheit, jedoch nur für einen ersten Überblick ausreichend. Vogels Vorgänger in diesem Amt, Martin Roth, hat ebenfalls eine Reihe von Beiträgen zur Erforschung des Deutschen Hygiene-Museums hinzugefügt. Er beschäftigte sich unter anderem intensiver mit den Menschen- und Körperbildern, die im Hygiene-Museum vermittelt wurden, so in seinem Text, in dem ihm mit herausgegebenen Buch Der Gläserne Mensch - Eine Sensation. Zum Leben Karl August Lingners wurden die Biographien von Funke und Büchi herangezogen. Während Büchi eine große Fülle von Details bietet, dabei aber zum Teil recht feuilletonistisch schreibt und leider ganz ohne Nachweise auskommt, konzentriert sich Funke stark auf den Aspekt des sozialen Engagements Lingners. Zu Lingner ist die Biographie von Wollf eine wichtige Informationsquelle. Allerdings muss diese kritisch gelesen werden, da die Beiträge teils von schwärmerischer Überhöhung Lingners gefärbt sind. Zur Reflexion über die Hygiene-Bewegung wurden Labisch, Weiss, Weindling sowie Witzler für das Sonderthema Hygiene und Urbanisierung herangezogen. Ferner ist das Buch von Hau für den Aspekt der Medikalisierung der deutschen Gesellschaft und das Verhältnis der Hygiene zu lebensreformerischen Bewegungen interessant. Rahmeninformationen boten die Überblickswerke von Nipperdey, Hobsbawm und Zölling sowie der Sammelband Jahrhundertwende von Nitschke, Ritter, Peukert und Bruch. Sie waren insbesondere aufschlussreich in Bezug auf medizinisch-naturwissenschaftliche Entdeckungen.

Quellen

Die Literatur wird komplettiert durch die zur Verfügung stehenden Quellen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Das Archiv und die Bibliothek des Deutschen Hygiene-Museums bieten, trotz der gravierenden Verluste durch die Zerstörung des Hauses im zweiten Weltkrieg, eine Fülle zeitgenössischer Dokumente. Bei sämtlichen Quellen handelt es sich um veröffentlichte Dokumente. Es sind Reden, Programmkonzepte, Denkschriften, Katalogtexte und Aufsätze aus Periodica. Der überwiegende Teil wurde vom Museum, beziehungsweise von dessen Vorläufern, oder von Personen die diesem nahe standen (Lingner, Seiring, Schlossmann, Süpfle, Vogel, M.), veröffentlicht. Für die Zeit vor dem I. Weltkrieg - der Entstehungszeit des DHMD sind weniger Quellen als für die Zeit nach 1918 vorhanden. In der Kriegszeit sind entsprechend dem zeitweilig fast vollständigen Arbeitsstillstand kaum aussagekräftige Dokumente vorhanden. Eine Ausnahme bildet der allerdings erst 1919 erschienene Tätigkeitsbericht des Vereins für das National-Hygiene-Museum für die Zeit von 1914-1918. Die Quellendichte ist um die Großereignisse (IHA, II. IHA) und Eröffnung des DHMD besonders hoch.

Es folgt nun ein knapper Überblick. Die Quellen werden jeweils bei ihrer Bearbeitung genauer eingeführt. Die Schriften Karl August Lingners sind eine wesentliche Quelle für die Vorgeschichte des Museums. Sie legen die Ziele und Motivationen Lingners offen und zeichnen gleichzeitig den Weg für die folgende charakteristische Entwicklung des Museums vor. Zur Untersuchung der Grundlagen der ersten hygienischen Ausstellung auf der 1. Deutschen Städteausstellung 1903 kann Lingners Denkschrift Einige Leitgedanken zu der Sonderausstellung „Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung“ (in: Wollf 1930) herangezogen werden. Besondere Beachtung verdienen seine Denkschrift zur Errichtung eines National- Hygiene-Museums in Dresden 1912 und sein Vortrag zur Verleihung der Ehrendoktorwürde in Bern 1914 Der Mensch als Organisationsvorbild. Beide gemeinsam geben einen tiefen Einblick, wie ein zukünftiges Hygiene-Museum gestaltet werden sollte und von welchen anthropologischen Grundannahmen es letztlich ausging. Sie wurden in den zwanziger Jahren immer wieder aufgegriffen wenn es um Richtungsentscheidungen für das Museum ging. Zur IHA werden hauptsächlich ein Programmentwurf von 1906 und Teile des offiziellen Ausstellungskatalogs sowie zu geringen Teilen die offizielle Ausstellungszeitung herangezogen.

Für die Nachkriegszeit konnten eine ganze Reihe von Quellen ausgewertet werden. So kann der Tätigkeitsbericht von 1919 und die Denkschrift von 1922 unter anderem über die schwierige wirtschaftliche Lage Auskunft geben. Mehrere zwischen 1922 und 1930 (mit Ausnahme der Zeit zwischen Winter 1922/23 und 1924)[27] veröffentlichte Ausstellungsführer zeugen von einer regen Tätigkeit. Dass die Arbeit des Hygiene-Museums spätestens mit der GeSoLei einen erheblichen Aufschwung und Ausweitung erfährt, lässt sich nicht zuletzt an den steigenden Veröffentlichungen ablesen. Eine äußerst ergiebige Quelle ist die von 1926 - 1931 vom Deutschen Hygiene-Museum herausgegebene Monatszeitschrift Hygienischer Wegweiser. Dieser beschäftigte sich mit Fragen der Hygienischen Volksaufklärung und insbesondere wie diese am Besten zu betreiben sei. Er enthielt Artikel von Mitarbeitern des Hauses und Beiträge von auswärtigen Autoren. Eine besonders für den letzten Teil des Untersuchungszeitraums wichtige Quellengattung sind die Festreden, Festschriften und Selbstdarstellungen des Museums in verschiedenen weiteren Publikationen. Diese dienten der Präsentation des Erreichten und des noch Angestrebten und referierten gleichzeitig zentrale Wissensbestände und Grundannahmen, die der Museumsarbeit zugrunde lagen. Somit waren diese Dokumente Mittel der Selbstversicherung, aber auch der Präsentation nach außen hin. Positionen erscheinen in diesen Dokumenten zugespitzter als in Ausstellungen und sind daher leichter herauszuarbeiten. Von hohem dokumentarischen Wert ist die Festschrift Das Deutschen Hygiene-Museum und Die Internationale HygieneAusstellung Dresden 1930. Dieser, von Zerkaulen und der Pressestelle des Museums herausgegebene Begleitband zur II. IHA, beleuchtet eine Vielzahl relevanter Fragestellungen. So wird in diesen zum Beispiel die Selbstdefinition und Aufgabenstellung des Museums, die Funktion des Museums im Rahmen der „hygienische[n] Volksbildung im In- u. Ausland“[28], die Bedeutung von Hygiene für die Wirtschaft und die Beziehungen des Museums zur Wissenschaft erörtert. Der Band vereinigt in sich einige prominente Figuren der Wissenschaftslandschaft und Sozialpolitik der dreißiger Jahre; neben dem Präsidenten des DHMD, Dr. Seiring, Prof. Dr. Martin Vogel, Dr. Oskar von Miller, Prof. Dr. Süpfle, Dr. Külz, Dr. Fraenkel, Prof. Dr. Galewsky und andere.

Bei den ausgewerteten Schriften handelt es sich überwiegend um Konzeptschriften. Sie sind insofern aussagekräftig, als sie das ideal Angestrebte zum Thema haben. (Die ist nicht immer unbedingt das, was später verwirklicht wurde.) Die Schriften waren Medien der Selbstdarstellung, Selbstvergewisserung und nicht selten als richtungweisend für zukünftige Entwicklungen gedacht. Sie sind für Vermutungen zur generellen Tendenz der praktischen Verwirklichungen aussagekräftig und auch nicht losgelöst von diesen denkbar. Sie zeigen idealtypisch und fokussiert die Grundannahmen zum Menschen.

Nicht zu beantwortende Fragen

Das Deutsche Hygiene-Museum kann aufgrund seiner vielfachen

Verwobenheit mit der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Forschungsfragen sein. Nur ein kleiner Teil davon kann hier besprochen werden. Weitere mögliche Themenfelder werden nun kurz benannt. Ein wesentlicher Auswahlgrund war die notwendige Beschränkung des Untersuchungsdesigns. Weiterhin sind eine Reihe von Fragen wissenschaftlich noch nicht bearbeitet. Ferner reicht die Expertise des Autors nicht bis auf medizingeschichtliche Gebiete. Deren inhärente Entwicklungsbedingungen blieben ihm daher grundsätzlich verschlossen und konnten auch nur zum Teil durch Literatur erhellt werden.

Es kann nicht beantwortet werden, von welcher Art und wie prominent die Stellung des Hygiene-Museums und seiner Vorformen im nationalen und internationalen Diskurs über den Menschen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts tatsächlich war, wie also die Wirkung des DHMD zu bemessen ist. Hierzu fehlen wissenschaftliche Untersuchungen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten sind. Einige Indizien werden jedoch aufgezeigt. Aufschlussreich wäre eine Verortung und Beurteilung des 1930 fertig gestellten Hauses des Museums von Wilhelm Kreis innerhalb der architektonischen Entwicklungen der 1920er Jahre.[29] Die genauere Erarbeitung des Einflusses medizinisch-wissenschaftlicher Entwicklungen auf die Genese des Hygiene-Museums und dessen Arbeit wäre für Fragen der Wissenschaftsgeschichte von großem Interesse. Die Untersuchung personeller Verknüpfungen wäre hierfür ebenfalls aufschlussreich. Diese Lehrstellen ergeben sich nicht zuletzt aus der begrenzten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte des DHMD. Das in dieser Arbeit angewandte Vorgehen der Überblicksdarstellung verfährt selektiv. Es könnten daher, durch die Zuspitzung auf einzelne prägnante Entwicklungen, weniger bedeutende, aber nichtsdestoweniger wichtige Faktoren in ihrer Bedeutung gemindert erscheinen. Ferner können in Bezug auf Details Unschärfen auftreten. Für die Beantwortung der Leitfrage der vorliegenden Arbeit wird dies in Betracht gezogen.

Untersuchungsablauf

Es wird nun der Untersuchungsablauf kurz vorgestellt. Die vorliegende Arbeit

hat zum Ziel, die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Museums darzustellen. Es erfolgt eine Fokussierung auf die prägnanten Stationen der Entstehung bis 1930. Als Rahmen für die weitere Untersuchung wird zuerst die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Hygiene behandelt. Weiterhin werden die materiellen und organisatorischen Vorraussetzungen für das Museum in Dresden besprochen. In Anlehnung an die einschlägige Literatur und durch Analyse aussagekräftiger Quellen zum Deutschen Hygiene-Museum werden dann im Hauptteil charakteristische Entwicklungsstationen in entsprechenden Abschnitten chronologisch behandelt. Dazu in Beziehung gesetzt werden die Wandlungen des Hygienediskurses im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. In Kapitel II.2 wird der erste Entwicklungsabschnitt des Hygiene-Museums bis etwa 1912 besprochen. Ein Vorläufer des DHMD in Dresden, die Sonderaustellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung 1903 wird behandelt, sowie die überaus bedeutende Internationale Hygiene-Ausstellung von 1911. In dem Zeitraum von 1903 bis 1911 war der Einfluss des Großindustriellen Karl August Lingner (18611916) von entscheidendem Gewicht. Diesem Teil wird daher in II.1 ein biographischer Abschnitt zu Lingner vorangestellt. Der zweite Hauptabschnitt II.3.1 beginnt mit einer Analyse der zwei für die Entwicklung des DHM essentiellen Texte Lingners, der Denkschrift für ein National-Hygiene-Museum 1912 und dessen Vortrag Der Mensch als Organisationsvorbild aus dem selben Jahr. Nach dessen Tod und mit Ende des I. Weltkriegs bestimmten andere Akteure die Entwicklungsrichtung. Ein zweiter Entwicklungsabschnitt wird hier identifiziert. Der Verein Deutsches Hygiene-Museum e. V. wird als wesentlicher Akteur vorgestellt. Nach Bearbeitung der Kriegszeit wird die schwierige Konsolidierungsphase des Museums 1918-1926 behandelt. Die Geschichte des Museums in der Nachkriegszeit wird dann auch anhand der Transformation der Ausstellung Der Mensch ausgearbeitet. Die Mitarbeit des DHMD an der GeSoLei wird kurz vorgestellt. Sodann wird der komplizierte Weg zu einem festen Haus behandelt. Der Endpunkt dieser Arbeit sowie das Ende einer zweiten Entwicklungsetappe des HygieneMuseums liegen Anfang der 30er Jahre. Im letzten Abschnitt wird entsprechend die Konzeption des Deutschen Hygiene-Museums 1930 und der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung 1930/31 besprochen.

II. Hauptteil

II. 1 Annäherungen an die Hygiene - Rahmenbedingungen für die Entstehung des Hygiene-Museums

„Wir leben in einer ernsten Zeit. Die Daseinsbedingungen und die Lebensgewohnheiten der Menschen haben sich im letzten Jahrhundert ganz allmählich, aber konstant, und zwar meist zuungunsten der Gesundheit verschoben. Das atemlose Jagen nach Besitz, nervöse Arbeitshast und Streben, der kräftige Wettbewerb auf allen Gebieten bedingen Kraftanspannungen, wie sie in früheren Jahrhunderten ganz und gar unbekannt waren. “[30]

Die Ausführungen in den drei folgenden Abschnitten beschreiben Entstehungsbedingungen des Hygiene-Museums. Die geraffte Darstellung des deutschen Hygienediskurses bildet den Referenzrahmen für die Geschichte des DHMD. Der Facettenreichtum der Hygienebewegung würde es erlauben von ganz verschiedenen Seiten zu beginnen. Umso nahe liegender ist es mit den die Hygiene begründenden Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Medizin im 19. Jahrhundert zu beginnen. Darauf aufbauend wird die Hygienebewegung in ihren Grundzügen geschildert.

In der Einleitung zu dem Sammelband Jahrhundertwende entspinnt sich zwischen den Historikern Hörl, Peukert, Ritter, und Nitschke ein fiktives Gespräch darüber, was Wesensmerkmale der Zeit seien, die heute Fin de siecle, Jahrhundertwende oder Moderne genannt wird.[31] Es werden eine Reihe von Innovationen, wie das entfernungs- und körperrythmenzerstörende Flugzeug und das Automobil, das Informations- und damit auch teilweise Schichtendifferenzen nivellierende Radio als Stellvertreter für die Massenmedien, betrachtet. Auch setzten sie sich mit modernen Künstlern wie Schönberg und Klee auseinander und gelangen zu der Schlussfolgerung, dass mit den Innovationen um die Jahrhundertwende eine Veränderung der Wahrnehmung und eine Steigerung der nervlichen Anspannung einherging.[32] Die Mobilität und die Kommunikation, zwei grundlegende menschliche Lebensbedingungen, hatten sich „durch die Technik fundamental verändert“. [33] An den Menschen dieser Zeit stellte sich der Anspruch den Umgang mit der neuen Technik zu erlernen und zwar dadurch, „daß sie ihr eigenes Nervenkostüm neu schneidern“[34]. Neben der Technik war die Organisation Merkmal dieser Zeit. Durchrationalisierung und Bürokratisierung betrafen zunehmend alle Bereiche der Gesellschaft. Alle vorgenannten Entwicklungen boten dabei sowohl Chancen als auch Gefahren. Sie sind auch in dem engen Nebeneinander von neuer „Welterkenntnis“ und „Möglichkeit zur totalen Weltzerstörung“ Ausdruck des zwiespältigen oder sogar widersprüchlichen Charakters der Epoche.[35]

II.1.1 Hygiene als Kulturbegriff.

„Der Mensch von heute ist so ganz andersartiger Beanspruchung ausgesetzt und von unendlichen Gefahren umlauert, die der Industrialisierung und dem Tempo des heutigen Verkehrs entspringen.

Er kann nicht sorg- und verantwortungslos den hygienischen Forderungen gegenüber aufwachsen, sondern muß bestrebt sein, das Kapital, das Natur ihm auf den Weg gab, seinen Körper und dessen Gesundheit, zu pflegen.“[36]

„Das kostbarste Kapital der Staaten und der Gesellschaft ist der Mensch. Jedes einzelne Lebewesen repräsentiert einen bestimmten Wert. Diesen zu erhalten und ihn bis an die unabänderliche Grenze möglichst intakt zu bewahren, das ist nicht bloß ein Gebot der Humanität, das ist auch in ihrem eigensten Interesse die Aufgabe der Gemeinwesen. “[37]

II.1.1.1 Vorraussetzungen für die Entwicklung der Hygiene

Die beiden vorstehenden Zitate von Rosenhaupt und Rudolf von habsburg beschäftigen sich mit den von Zeitgenossen wahrgenommenen, tiefgreifenden Veränderungen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Hygiene auf Basis der naturwissenschaftlichen Medizin versprach einen Weg mit ihnen umzugehen. Die rapide Entwicklung der Naturwissenschaften und die damit verbundene Genese der Medizin zur Wissenschaft werden nun kurz skizziert.

Das fin de siecle zeichnete sich durch eine enorme Fortschrittsgläubigkeit und die „Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche“[38] aus. Du Bois-Reymond (1818-1886), Physiologe und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, war überzeugt, dass die Erkenntnis der Naturgesetze und der Fortschritt der Naturwissenschaften im Ganzen dem Menschen nur Gutes bringen und diesen sogar zu einem höheren Wesen adeln können. Tatsächlich waren „[...] Gelehrten tiefe Einsichten in die Naturzusammenhänge gelungen [...], mit denen sich die Auffassung des Naturgeschehens grundlegend gewandelt hatte. “[39] Man war bestrebt, die Funktionszusammenhänge der Naturgesetze allgemein bekannt zu machen und sie an die Stelle von Glauben zu setzen. Dass „[...] sich anstelle des weitgehend überwundenen Aberglaubens ein neuer ,Wissenschaftsaberglaube‘ entwickelte“[40] wurde begrüßt. „Die naturwissenschaftlichen Denkkategorien verschafften sich weit über die Naturwissenschaften hinaus Anerkennung und beeinflussten das gesamte geistige und politische Leben.“[41] So wird unter Medikalisierung der Gesellschaft die Erfassung gesellschaftlicher Phänomene (zum Beispiel Alkoholismus und Prostitution) unter medizinischen Gesichtspunkten verstanden. Der Sozialdarwinismus und die sich in dessen Folge entwickelnde Eugenik als eine Unterströmung der Hygienebewegung sind zwei Beispiele dafür.

Grundlagen für diese Entwicklung der Naturwissenschaften zu einem maßgeblichen Kategoriensystem für Weltwahrnehmung und gestaltung waren deren rasanter Fortschritt im 19. Jahrhundert, die produktive Verknüpfung von wissenschaftlichem Entdeckungen mit industriellen Innovationen, sowie der universale Geltungsanspruch der naturwissenschaftlichen Gesetze. Vorreiter und Leitdisziplinen waren Physik und Chemie, mit Mathematik als Grundlage, sowie die Medizin, besonders die Physiologie. Die deutsche Wissenschaft war, im Vergleich zu anderen Ländern in Europa, auf diesen Gebieten führend.[42] Eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen entstand im 19. Jahrhundert. Ein herausragendes Innovationsfeld war die Biologie. Charles Darwin (1809-1882) steht hier für eine der weitreichensten und stabilsten neuen Theorien.[43] Zoologie und Botanik erweiterten ihre klassischen Aufgabengebiete der Beschreibung und Systematisierung des Lebendigen. Die Biologie entstand als übergeordnete Disziplin, als „[...] eine allgemeine Wissenschaft vom Leben, seinen Grundelementen und -prozessen, seiner Struktur, seinen Zusammenhängen, seiner Geschichte.“[44] Nicht zuletzt durch die alles Lebendige umfassende Theorie Darwins und die überall einziehenden naturwissenschaftlich-experimentellen Methoden näherten sich Biologie und (Human-)Medizin an.

Die Medizin war eines der Wissenschaftsgebiete, das sich am schnellsten entwickelte.[45] Die raschen Fortschritte der Physiologie und der Zellforschung bildeten die Grundlage für eine verstärkt naturwissenschaftlich geprägte Medizin. Diese wurden von deutschen Medizinern - oft in der Doppelfunktion von Arzt und Forscher mit ausgeprägtem Professionalisierungsinteresse - stark voran gebracht. Die Medizin vereinigte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Physiologie, Chirurgie, Pharmakologie und Psychiatrie miteinander zu einer Wissenschaft. Diese versuchte Leistung und Funktion des Menschen zu erklären und Krankheiten umfassender als zuvor zu begegnen. Virchows (1821-1902) Erkenntnisse zur Zellpathologie[46] „[...] hatten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Kenntnis vom gesunden und kranken Körper auf eine ganz neue wissenschaftliche Grundlage gestellt.“[47] Bakteriologie und später Mikrobiologie, wesentlich durch die Erkenntnisse von Pasteur (1822-1895) und Koch (1843-1910) begründet, gewannen auf dieser Grundlage geradezu dominierenden Einfluss in der Medizin. Dies wirkte sich besonders auf die Hygiene aus (siehe Unten). Große Erfolge konnte die deutsche Wissenschaft bei der Endeckung einer Reihe von Krankheitserregern erzielen.[48] Wichtige Fortschritte auf dem Gebiet der klinischen Medizin waren die Einführung der Anti- und Asepsis[49], sowie Verbesserungen in der Anästhesie. Auch beeinflusst durch diese Entwicklungen formierte sich eine neue Teildisziplin der Medizin: die Hygiene. Wie kam es dazu?

II.1.1.2 Die Entwicklung der Hygiene

„Die Bedrohung durch Epidemien und Seuchen gehörte zu den typischen Existenzbedingungen der Menschen vor dem spektakulären Anstieg der Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren.“ [1990][50]

Mitte des 19. Jahrhunderts war die Gefahr von epidemischer Krankheiten in den sich industrialisierenden Städten am höchsten. Die Belastung insbesondere der wachsenden Stadtbevölkerung durch schlechte Lebensbedingungen war gravierend. Urbanisierung, als Folge von Industrialisierung, Bevölkerungszuwachs[51] und Bevölkerungswanderung, ging einher mit immer bedrückenderen Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dahinter verbarg sich nicht zuletzt ein gesamtgesellschaftlicher Wandel hin zur Massengesellschaft; weg von der agrarisch dominierten, hin zur von Industrie und Dienstleistung dominierten Wirtschaft. Es entwickelte sich, neben dem städtischen Bürgertum, die moderne Arbeiterschaft als sozialer Faktor. Die Bewohner der expandierenden Großstädte wurden mit vorher kaum gekannten Belastungen und Anforderungen konfrontiert.[52] Dies ging häufig einher mit der Aufgabe traditioneller absichernder Lebensformen, bis hin zum Verlust der Bindungskraft der Religionen. Darüber hinaus hatten „[s]chlechte Arbeitsbedingungen [...] physische und psychische Gesundheitsschädigungen, soziales Elend und hygienisch-medizinische Missstände die schnelle Ausbreitung von Epidemien und Infektionskrankheiten in der Bevölkerung begünstigt.“[53] Die Städte und insbesondere deren Verwaltungen mussten sich neuen Herausforderungen stellen. Im Regelfalle bedeutete dies eine Ausweitung der städtischen Aufgaben, weg vom liberalen „laisser faire“.[54] Die Städte konnten in ihrer überkommenen Verfassung den Bedürfnissen der rapide wachsenden und sich konzentrierenden Bevölkerung nicht nachkommen. „Die Stadt selbst galt als Krankheitsfaktor.“[55] Neue „Bewältigungsstrategien“[56] waren angesichts der geschilderten Transformationen auf allen Seiten gefordert. Als Teil der Medizin nahm die Hygiene diesen Platz zumindest teilweise ein. Sie ist damit eine Form der Medikalisierung.

Nun wird die Entwicklung der Hygiene bis in das erste Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts beschrieben und deren zentrale Handlungs- und Themenfelder erläutert. Für das aufstrebende Bürgertum des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts war die besondere Wertschätzung von Hygiene und Gesundheit, neben ihrer Bedeutung für die Leistungsfähigkeit, Mittel der sozialen Absetzung gegenüber Adel, niedrigen Handwerkern und Bauern.[57] Gesundheit und Sauberkeit trugen dabei immer auch die Konnotation moralischer Güte.[58] Mit der Industrialisierung wandelte sich dies teilweise ins Gegenteil. Hygiene und Gesundheit wurden zunehmend zu elementaren Faktoren des industriellen kapitalistischen Wirtschaftssystems, das auf Konzentration von Arbeitermassen angewiesen war. Gleichzeitig war es, in dem Maße wie die Städte wuchsen, zur Erhaltung des sozialen Friedens zunehmend im Interesse der gesellschaftlichen Führungsschichten den Forderungen nach hygienischeren Lebensverhältnissen nachzukommen.[59] Gravierende Seuchenwellen[60] machten Kommunalverwaltungen deutlich, dass in Großstädten, mit ihren vielfältig verflochtenen Infrastrukturen und engem Lebensraum, Epidemien kaum eingrenzbar waren und daher einzelne Bevölkerungsgruppen nicht isoliert zu betrachten seien. In der Folge wurden strukturelle Verbesserungsmaßnahmen vorgenommen.

Es lässt sich keine einzelne kohärente Lesart der hygienischen Entwicklungen geben. Was Schulte und andere[61] unter dem vereinfachenden Oberbegriff „Hygienebewegung“ summieren,[62] stellt vielmehr ein Bündel einer ganzen Reihe von Bewegungen dar. Diese werden über den allgemeinen Wunsch der Verbesserung des menschlichen Lebens hinaus weder durch einheitliche Ziele noch durch einheitliche Mittel geeint. Labisch schlägt vor, die Entwicklung der Hygiene in mindestens drei Abschnitte zu gliedern, welche wiederum in sich als heterogen beschrieben werden. Differenzierungskriterien sind: der Bezug auf medizinischwissenschaftliche Paradigmen, die Beachtung der sozialen Dimension und die Zielgruppen. Darauf begründet werden, unter Berücksichtigung von Unschärfen und Überlagerungen, die Konditionalhygiene, die Auslösungshygiene und die Sozialhygiene als Kategorien entwickelt.[63]

Die sich entwickelnde Hygiene wurde als Teilgebiet der Medizin stark durch deren Fortschritte beeinflusst. Medizinische Paradigmenwechsel beeinflussten sie maßgeblich und erzeugten zum Teil miteinander konkurrierende beziehungsweise parallel laufende Strategien. Im Verlauf des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Hygiene zunehmend zu einem sich ausweitenden interdisziplinären Diskurs über den Menschen und dessen Gesundung beziehungsweise Gesunderhaltung. Die Hygienediskurse des 19. und 20. Jahrhunderts zeichnete aus, dass sie sich, wie die Medizin, zunehmend naturwissenschaftlich fundierten. Gesundheit avancierte bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur scheinbar „[...] wertfreien, weil wissenschaftlich beweisbaren, Richtschnur des täglichen Lebens [...]“[64]. Krankheiten wurden weniger in religiösen Zusammenhängen gedeutet, sondern deren erst umweltbezogene, dann biologische und später soziale Ursachen rückten zunehmend ins Bewusstsein der Bevölkerung. Wissen zu Gesundheit und Krankheit wurde popularisiert.[65] Dieses Wissen war nicht wertneutral, die „wertrationale Komponente von Gesundheit“ wurde nur durch naturwissenschaftliche beziehungsweise naturgesetzliche Erklärungen überdeckt. Das Gesunde wurde nun das Vernünftige. Hygiene und Medizin entwickelten sich zu Disziplinierungsinstanzen.[66] Die Utopie des eigenverantwortlichen Bürgers - der gemäß naturwissenschaftlichen Wissens, rational, ohne weitere äußerliche Beeinflussung durch staatliche oder medizinische Autoritäten, Entscheidungen trifft - wurde durch die Sorge um den gesunden Volkskörper mehr und mehr verdrängt.[67] Allerdings hatten die hygienischen und medizinischen Versorgungsmaßnahmen speziell für Risikogruppen wie Arbeiter auch emanzipatorischen Wert.[68] Gesundheit wurde zum scheinbar rationalen, da naturwissenschaftlich begründbaren, kulturellen Prinzip. Diese neuen Vorstellungen von Normalität wurden Ordnungsfaktoren. Abweichendes erzeugte dann Handlungsbedarf.[69]

Konditionalhygiene

Die Konditionalhygiene oder auch experimentelle Hygiene wie sie zum Beispiel durch Pettenkofer und Virchow vertreten wurde „[...] betrachtete nicht nur Umwelteinflüsse als maßgeblich, um Seuchen zu beseitigen. Vielmehr war sie auch das Mittel, öffentliche und private, äußere und innere Sauberkeit herzustellen [...]“[70]. Hygiene wurde zur „Gesundheitsökonomie“ deren Strukturen durch die kommunale Selbstverwaltung bereitgestellt wurden. Die Nutzung der Strukturen blieb jedoch dem individuellen Bürger überlassen.[71] Die beispielsweise von Pettenkofer geforderten sozialpolitischen Eingriffe in die städtische Lebensumwelt weiteten die Kompetenzen der kommunalen Selbstverwaltung erheblich aus. Wichtigstes Arbeitsgebiet der öffentlichen und privaten Initiativen waren Krankheitsvorbeugung und städtische Assanierung[72]. Die Anfänge lagen zumeist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zogen sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Einrichtung von Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, der Bau von Bädern und städtische Bauordnungen waren verbreitete Maßnahmen. Weiterhin forderte die Konditionalhygiene aber auch:

„[...] individualhygienische Vorbeugemaßnahmen zur Steigerung der körpereigenen Abwehrkräfte wie Reinlichkeit, nahrhafte Diät, Wärme, Licht, gesunde Luft, aber auch Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Sittlichkeit. [...] Pettenkofer brachte die bürgerliche Gesundheitsmoral auf eine Formel: Reinlichkeit, Gottesfurcht und Wohltätigkeit. Gesundheit bedingte Sittlichkeit, und Sittlichkeit gedieh in einem gesunden Körper und einer gesunden Umwelt. “[73]

Die Maßnahmen der Auslösungshygiene waren überwiegend auf die Umwelt bezogen. Effekte der sozialen Umwelt wurden nicht berücksichtigt. Ebenso blieben „[d]ie Fragen der unmittelbaren und spezifischen Ursachen von Seuchen [...] ungeklärt. “[74]

Auslösungshygiene

Hier konnten die Kontagionisten einen Teilerfolg verbuchen. Als zum Teil zur Konditionalhygiene gegenläufige Bewegung war die Auslösungshygiene den Erkenntnissen von Pasteur[75] und Koch[76] verpflichtet. Auch wenn Theorien über kleinste Lebewesen als Verursacher von Krankheiten schon lange existierten, verhalfen doch erst naturwissenschaftliche, wiederholbare Methoden der Bakteriologie zum Durchbruch. Mit der Entdeckung nachweisbarer Krankheitserreger rückten, für Verfechter der Auslösungshygiene wie Koch, Umweltbedingungen von Krankheiten in den Hintergrund. Der Bekämpfung der Keime wurde oberste Priorität eingeräumt. „Gesundheit wurde nun ausschließlich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten gedeutet“[77] und medizinische Prinzipien bestimmten was als hygienische Lebensführung galt. Das bedeutete auch, dass die Bakteriologie zum Teil entlastend wirkte, „[...] weil die moralischen und politischen Nebenklänge früherer Deutungen von Gesundheit nunmehr aufgehoben wurden.“[78] Die Assanierung nahm einen wesentlich spezifischeren Charakter an. Desinfektion, Isolierung, Immunisierung und spezifische Therapien wie die Serumtherapie wurden als vorrangige Mittel zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes angesehen.[79] Krankheiten wurden zunehmend individualisiert und durch spezifische Maßnahmen bekämpft.[80] Problematisch war die einseitige Verwurzelung der Auslösungshygiene im bürgerlichen Klassendenken und im bakteriologischen Diskurs. Die Reduktion von Krankheit auf pathogene Erreger und der Wunsch sich gegen die Arbeiterklasse abzugrenzen, also Lebensverhältnisse nicht zu verändern, machte die Auslösungshygiene blind für ein umfassendes Ursachengeflecht von Krankheiten.

Sozialhygiene

Nach den überwiegend der unbelebten Umwelt geltenden Stadtassanierungen der Konditionalhygiene und den auf Erreger fixierten eher individualhygienischen Maßnahmen der Auslösungshygiene, erweiterte sich Ende des 19. Jahrhunderts der Fokus der Gesundheitsvorsorge um die Sozialhygiene. Deren Vertreter warben für Maßnahmen, die auf die Sanierung der sozialen Umwelt zielten und forderten die Popularisierung von hygienischem Wissen. Die Sozialhygieniker betrachteten Krankheiten auch auf ihre Abhängigkeit von Einkommens-, Arbeits-, Wohn- und Ernährungsverhältnissen und deren soziale Bedingtheit hin.[81] Während vorher die akute Bewältigung von Krankheiten die Aufmerksamkeit band „[...] ging es nun [außerdem, T.S.] um langfristige und nachhaltige Vorbeugung, um fürsorgliche Prophylaxe.“[82] Dabei wurden neue Gruppen zu Adressaten der Maßnahmen. Quantitativ betrachtet, wurde das ganze Volk Ziel der Gesundheitspflege. Qualitativ betrachtet, traten neben Großgruppen (beispielsweise ganzen Städten) andere soziale Einheiten, wie beispielsweise Familien, Militär, Arbeiter einer bestimmten Industrie oder Mütter[83]. Das Private, als zu hygienisierender Bereich, geriet in den Blick[84] und soziale Praktiken wurden geprüft. Die hygienische Volksbelehrung beziehungsweise Volksbildung trat durch Aufklärung und die Vermittlung von Wissen neben die anderen Maßnahmen.[85] „Die Ärzte sprachen von der Gesundheit zuträglichen und der Gesundheit abträglichen Lebensgewohnheiten, ,richtiger‘ und ,falscher‘ Lebensweise. Normen wurden aufgestellt und Anpassungsleistungen gefordert.“[86] A. Grotjahn, einer der Vordenker der Sozialhygiene, sprach in seiner Sozialen Pathologie (1912), einer der großen Zusammenfassungen dieser Denkrichtung, von der „hygienischen Kultur“.[87] Anlässlich der II. IHA 1930/31 sprach man vom „Zeitalter der Technik und Hygiene“[88]. Ein wesentlicher Grund für diese neuerliche Wandlung war, dass die Grenzen der Erklärungs- und Handlungsfähigkeit der Bakteriologie immer deutlicher wurden.[89] Um zu erkennen, wie es zu „der variablen Wirkung spezifischer Krankheitserreger“ kommen konnte, wandte sich die Sozialhygiene eränzend der „Pathogenität der sozialen Umwelt“ zu.[90] Darüber hinaus waren die Verheerungen des I. Weltkrieges ein Faktor für die zunehmende Relevanz von sozialbezogener Krankheitsdeutung.[91] Der Krieg hatte in den Augen eines Großteils der deutschen Bevölkerung den Volkskörper um eine große Anzahl von „wertvollen“ Menschen gebracht und stellte mit seinen Nachwirkungen erhebliche Anforderungen an Deutschland. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, schien eine die ganze Gesellschaft umfassende und durchgreifende Kraftanstrengung notwendig. In einem derartigen geistigen Umfeld fanden sozialbezogene Diskurse der Sozialhygiene und des Sozialdarwinismus eine günstige Umgebung. „Für Grotjahn war es wichtig, dass die Hygiene unter Einbeziehung kulturhistorischer, psychologischer, nationalökonomischer und politischer Erwägungen zu einer sozialhygienischen Gesamtdisziplin werde. “[92] Deutlich wird die Tendenz der Hygieniker ihr Arbeitsgebiet sehr weit auszudehnen und auch mit medizinfremden Feldern zu kooperieren.[93] Im Anschluss an die Sozialhygiene befasste sich die Konstitutionshygiene mit, je nach Konstitution individuell verschiedenen, Krankheitsdispositionen. Die Theorien der Konstitutionshygiene waren, mit ihrer Bezugnahme auf körperliche Veranlagungen, mit grundlegend für die Entwicklung der Rassenhygiene. Diese nahm in ihren Theorien zu Selektion und Kontrolle von Fortpflanzung den „zukünftigen Menschen“ zur prophylaktischen Krankheitsabwehr in den Blick. Im Diskurs der Sozialhygiene sind auch die Erzeugung des Neuen Menschen und der gesunde Volkskörper als Topoi vertreten.[94] Volksgemeinschaft, Volkskörper sowie Volkskraft und Volksgesundheit waren im Hygienediskurs häufig gebrauchte Begriffe für eine vorgestellte völkisch-nationale Einheit, auf die sich (rassen-)hygienische Maßnahmen bezogen. „Staat und Gesellschaft werden im Biologismus in Analogie zum Organismus gesetzt. Sein eindrucksvollstes Beispiel ist der ,Volkskörper‘“[95]. Dieser Begriff ist Teil eines Versuches den naturwissenschaftlich-biologischen Weltzugang zu universalisieren.[96]

Die Darstellung der Strömungen innerhalb der Hygiene, so wie sie Labisch vornimmt und wie sie auch in dieser Arbeit verstanden werden, haben zunächst einmal idealtypischen Charakter. Die Hygiene war um die Jahrhundertwende von diesen Hauptströmungen geprägt, deren Übergänge zueinander waren fließend.

Die wichtigsten Akteure auf dem Gebiet der Hygiene waren zuvorderst „sozial engagierte Ärzte“ und (Medizinal-)Beamte, weiterhin aber auch Lehrer, geistlich, Pflegepersonal, Betriebsräte, Architekten und Ingenieure sowie die Gewerbeaufsicht und Krankenkassen.[97] Besonders das kommunale Gesundheitswesen erfuhr eine enorme Aufgaben- und Kompetenzerweiterung.[98] Zunehmend spielten staatliche Maßnahmen eine wichtige Rolle.[99] „Gesundheitspflege ist [...] eine öffentliche Sache geworden, Gesundheitspolitik. [sic!]“[100] Nicht zu vernachlässigen waren die Tätigkeiten von Vereinen, Gesellschaften, Stiftungen und Anstalten, die vielfach Anstöße gaben, die dann mit Hilfe der öffentlichen Hand umgesetzt wurden.[101]

„Die Großstädte leisteten einen wesentlichen Beitrag bei der Vermittlung medizinischen Wissens und der Etablierung hygienischer Standards. Faktoren, die beträchtlich [...] zur individuellen und [102] kollektiven Krankheitsprävention beigetragen haben dürften.“[103]

Aus den Städten gingen Impulse zur Vereinheitlichung der Gesundheitsfürsorge an die Reichsebene. 1900 wurde beispielsweise das Reichsseuchengesetz verabschiedet.[104] Privatwirtschaftliche Interessen waren auf verschiedenen Ebenen wichtig, in Dresden in jedem Falle für die Stadthygiene, aber auch auf Reichsebene und beispielsweise bei der der wirtschaftlichen Verwertung der bakteriologischen Erkenntnisse bei Impfstoffen und Seren.[105]

Menschenökonomie

Castell-Rüdenhausen argumentiert, dass der „Wandel der ,generativen Strukturen“1105 - der ja nicht zuletzt durch Konditionalhygiene und Auslösungshygiene mit herbeigeführt wurde - „sich aus ,menschenökonomischer Perspektive‘ als Aufwertung der einzelnen Geburt“ darstellte. Zeitgenossen folgerten, dass der „soziale Nutzeffekt“ des einzelnen Menschen vergrößert werden müsse.[106] Menschenökonomie war ein dafür viel gebrauchter Begriff im Hygienediskurs.[107] Er beschreibt eine einflussreiche Sichtweise, die im Kontext von wachsenden Schwierigkeiten nach der Jahrhundertwende an Bedeutung gewann. Geburtenrückgang, die Verluste des I. Weltkriegs, Revolution und wirtschaftliche Krisen ließen es für die Hygieniker und insbesondere für die Rassenhygieniker notwendig erscheinen, rationale ökonomische Strategien zur Überwindung von Not und zur Schaffung einer „healthy and culturally productive nation“[108] zu entwickeln.[109] Ähnlich den industriellen beziehungsweise wirtschaftlichen Strategien des Fordismus und des Taylorismus[110] sollte die Gesellschaft rationalisiert und (nur noch) die wertvollsten und effektivsten Teile gefördert werden. Menschenökonomische Strategien „[...] used human resources in the most efficient way, both for peoples own good and for the good of the economy and the nation.“[111] Menschen wurden in diesem Denken zu manipulierbaren Ressourcen, ähnlich technischen Apparaturen oder Rohstoffen. Sie sollten entsprechend ihrer Fähigkeiten und Belastbarkeit und durch rationale Entscheidungskriterien begründbar, zum größten Nutzen für Volksgemeinschaft und Individuum, eingesetzt und gepflegt werden. Grundlegend für dieses technokratische Denken war die Hierarchisierung von menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten nach Wertigkeit. Hohe Wertigkeiten erzielten „high quality manual and intelectual work“[112], also Tätigkeiten wie sie vorwiegend die bürgerliche Mittelschicht ausübte.

In Verbindung mit der Medikalisierung von sozial unerwünschten Gewerbe beziehungsweise Verhalten wie Prostitution oder Alkoholismus erwies sich dieses Denken als fatal. Mit der „Aufwertung der einzelnen Geburt“ ging, nachdem der Bevölkerungsüberschuss in den mittleren Alterstufen in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt erreicht hatte, die Abwertung des Alters und die Ausgrenzung „Minderwertiger“ einher. „Im Zuge der Aufwertung der Geburt erhielten Körperlichkeit und Körperverfassung einen erhöhten gesellschaftlichen Stellenwert.“[113] Die Unterteilung von Menschen in „Voll- und Minderwertige“ nahm immer exklusivere Züge an. Die Gruppe der „Minderwertigen“, die im hygienischen Diskurs mit medizinischen Kategorien beurteilt wurden, vergrößerte sich und schloss nun neben Geisteskranken, Körperbehinderten, Blinden und Tauben auch chronisch Kranke (Tuberkulöse, Geschlechtskranke, Alkoholiker), Kriminelle, Prostituierte und Vagabunden mit ein. „Durch die Erkenntnisse der Medizin konnten Kindersterblichkeit, chronische Krankheiten, Alkoholismus, Prostitution als medizinische und damit gezielt beeinflussbare Probleme gedeutet werden.“[114] In anderen Worten: soziale Probleme wurden medikalisiert. Die Betroffenen konnten dann mit rationaler Begründung, ohne das dies ethisch in Frage zu stellen war, in Anstalten, Asyle oder Zuchthäuser abgeschoben werden.[115] Eine steigende Anzahl von Beratungsstellen, aber auch Fürsorgeanstalten mit immer repressiverem Charakter, wurden für Betroffene eingerichtet. Der Belehrungsbedarf erhöhte sich. Der Umgang mit Menschen die als weniger wertvoll betrachtete Fähigkeiten besaßen oder so genannten „Minderwertigen“ konnte im Rahmen eines menschenökonomischen Denkens je nach Ausprägung von geringerer Förderung, über die Asylierung, bis hin zu Vorschlägen von Zwangssterilisation und später Euthanasie reichen.

„Die Überzeugung, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse automatisch der menschlichen Natur gerecht würden, führte zu einer Aufwertung der Volksgesundheit gegenüber dem Einzelschicksal, zu einer Betonung der Pflicht zur Gesundheit und gleichzeitig zu der folgenschweren Legitimation der Enteignung des einzelnen Körpers zugunsten der Gesamtheit. “[116]

An dieser Stelle setzten auch rassenhygienische Theorien an, die den Geburtenrückgang besonders in den „,kulturtragenden‘ Schichten“ kritisierten und für die Erhaltung und Verbesserung gerade dieses vermeintlich besseren Genmaterials argumentierten.[117] Entsprechend der Relevanz von Rassenhygiene, beziehungsweise Eugenik[118] für diese Arbeit folgt eine knappe Skizze dieses Teilgebiets der Hygiene. Theorien der Fortpflanzungshygiene waren im deutschen hygienischen Diskurs ab dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts in nahezu allen politischen Lagern präsent.[119] Die Rassenhygiene unternahm den Versuch durch die Industrialisierung entstandene soziale Probleme durch Umwandlung in erbbiologische Probleme zu lösen.[120]

„[A]ll German race hygienists embraced eugenics as a means to create a healthier, more productive, and hence more powerful nation. Eugenics embodied a technocratic, managerial logic - that power was essentially a problem in the rational management of the population.

[...] [T]hese race hygienists would be inclined to offer a biomedical solution for social and political problems [...]“.[121]

Hierzu kam nicht selten die Überzeugung von der Überlegenheit der weißen, westeuropäischen oder der so genannten arisch-nordischen Rasse. Rassenhygiene kann zum Teil auch verstanden werden als eine Reflektion der bürgerlichen Angst vor der zunehmenden Stärke der unterbürgerlichen Schichten.[122] Eugenik war ab der IHA 1911 ein Teil der hygienischen Belehrung des deutschen Hygiene-Museums. Rassenhygienische Ideen werden nach dem I. Weltkrieg verstärkt in der Wissenschaft und Öffentlichkeit rezipiert. Dies resultierte aus dem „Menetekel vom drohenden Niedergang des Volksköpers“ durch die dem Weltkrieg unterstellte „kontraselektorische Negativauslese“[123].

„Wesentlich ist der Hygiene [...] eine Doppelrolle, die sie biologischnaturwissenschaftliche Forschung betreiben und gesellschaftliche Forderungen erheben lässt; sie macht die moderne Hygiene des 19.und 20. Jahrhunderts zur gleichermaßen deskriptiven wie normativen Wissenschaft. “[124]

Die Hygienebewegung, vor allem die Sozialhygiene, versuhte Antworten zu geben auf die wachsenden Unsicherheiten der modernen Welt. Die Hygiene „[...] spiegelt[e] die ausgeprägte Wissenschaftsgläubigkeit, den Drang zur Rationalisierung, die Suche nach einer allgemein gültigen Kulturtheorie und umfassenden Lösungen.“[125] Als konkrete Motivationen identifiziert Schulte im Wesentlichen zwei Aspekte: einen nationalökonomischen und einen sozialen, humanitär-karitativen. Die nationalökonomische Argumentation für Hygiene stellte die menschenökonomische Erhaltung von Nutzen und Leistungsfähigkeit des Menschen in den Vordergrund. Gesundheit war für Wirtschaft und Staat ein begehrtes Gut. „Es herrschte die Meinung, dass es die moralische Pflicht des Individuums sei, nach Anweisung der Gesundheitswissenschaft für den eigenen Körper Sorge zu tragen.“[126] Weiterhin ist Hygiene als Reaktion auf die soziale Frage verstehbar. Gleichermaßen Hilfe gegen Not wie Schutz gegen sozialen Unfrieden bedeutete die Hygienisierung die Verbreitung bürgerlicher Normen und Werte in der Gesellschaft und damit zumindest teilweise die Integration von Bevölkerungsteilen.[127]

Die Hygiene weitete ihren Kompetenzbereich als Sozialhygiene im Verlauf des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer weiter aus. „Ein wichtiges Phänomen der Hygienebewegung [...] [war, T.S.] die Popularisierung von Wissen um die Ursache und Entstehung von Krankheiten in der breiten Bevölkerung.“[128] Neben die Stadthygiene trat nicht nur die medizinische Hygiene sondern auch die Hygiene der Arbeit, der Nahrung, des Körpers, der Fortpflanzung und sogar der Seele. Insofern war tatsächlich von einer „hygienischen Kultur“ zu sprechen, die einen bedeutenden Teil des menschlichen Lebens diskursiv umfasste. Sie enthielt Lebensregeln für Gesundheit, leitete das Nachdenken und Handeln zum Beispiel auf sozialpolitischen Sektor[129] und bestimmte sogar die Erforschung des menschlichen Körpers. Die Hygiene erwies sich als wandlungsfähige, deskriptive und zugleich normative Wissenschaft vom Leben, mit vielfältiger interdisziplinärer Methodik und weitem Untersuchungsgegenstand.[130]

In diesen Ausführungen zur allgemeinen Entwicklung der Hygiene ist deutlich geworden, dass die Hygiene auf einer ganzen Reihe von Gebieten tätig war. Nun folgen Ausführungen zur „hygienischen“ Stadtgeschichte Dresdens. Sie dienen als Beispiel für die Auswirkungen der Hygienebewegung und sind zugleich ein Teil der Entstehungsbedingungen des Hygiene-Museums. Hier wird Hinweisen nachgegangen warum gerade in Dresden das Hygiene-Museum entstand. Dresden kann zugleich als Beispiel dienen für eine durch Industrialisierung und damit einhergehende Urbanisierung forcierte hygienische Entwicklung von städtischer Infrastruktur. Der Fokus liegt auf den infrastrukturellen Veränderungen.

II.1.2 Eine kurze hygienische Stadtgeschichte Dresdens von 1880 - 1920

„Am Anfang der Hygienebewegung stand die moderne Großstadt: ihr Schmutz und ihre ungeklärten Abwässer, verbunden mit der Angst vor Seuchen. “[131]

Die Stadt Dresden war Ende des 19. Jahrhunderts eine dieser modernen Großstädte und kannte alle mit der Urbanisierung und Industrialisierung einhergehenden Probleme. Allerdings wurden in Dresden schon frühzeitig die Weichen für einen hygienisch fortschrittlich gestalteten Stadtraum gestellt. Inwiefern dies zutraf wird im Folgenden zuerst anhand allgemeiner Merkmale erläutert um dann einige für die Hygiene spezifische Einrichtungen zu nennen.

Dresden avancierte bis 1900 zur viertgrößten Stadt des Reiches.[132] Das wettinische Königshaus hielt, wie schon seit acht Jahrhunderten, noch immer die Zügel des Staates Sachsen in der Hand. Doch neben dem höfischen Glanz Dresdens, als barocke Residenzstadt, bildete sich ein unternehmerisches und zunehmend selbstbewusstes Handels- und Industriebürgertum heraus. In der Gründerzeit (etwa ab 1830) erfuhr Dresden in nahezu jeder Hinsicht ein rapides Wachstum. Obwohl sich die Wettiner politisch wenig erfolgreich zeigten, verstanden sie es trotzdem die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung der Stadt voranzutreiben. Im Zusammenspiel vom Hof und den sich zunehmend diversifizierenden bürgerlichen Mittelschichten entwickelte sich eine innovative, intellektuell fruchtbare, weltoffene und betreffs Auseinandersetzungen mit der Arbeiterklasse vergleichsweise entspannte Atmosphäre in der Stadt.[133] Auch durch enormen Zuzug aus dem Umland verfünffachte sich die Bevölkerung innerhalb von knapp 60 Jahren, von 102.000 Einwohnern (1852) auf 548.000 Einwohner (1910). Die Arbeiterschaft stellte bald die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung Dresdens. Dennoch war das städtische Leben eher von der binnendifferenzierten starken bürgerlichen Mittelschicht und der dominierenden Oberschicht geprägt.[134] Um den repräsentativen charakter der Stadt nicht zu schmälern, wurde die Ansiedlung von Industrien in den Vorstädten forciert.[135] Hinzu kam, dass vorwiegend wenig belastende, dafür aber vergleichsweise hohe Qualifikationsanforderungen stellende Gewerbe angesiedelt wurden.[136] So spielte der zunehmende Ausstellungs- und Fremdenverkehr für Dresden eine bedeutende wirtschaftliche Rolle. Die Siedlungsstruktur der Stadt transformierte sich. Von einer vorindustriellen Stadt wandelte sie sich zu einer modernen Großstadt mit umfangreichen Verkehrsanlagen, großflächigen, dicht bebauten Arbeiterquartieren in den Vorstädten und einer wachsenden Anzahl öffentlicher Bauten.

Mit der Urbanisierung im Rahmen der Industrialisierung verschärften sich auch in Dresden städtische Probleme und neue traten auf den Plan. Der Mangel an Licht, sauberer Luft und Wasser und beengte Wohnverhältnisse erhöhten beispielsweise die Gefahr zu erkranken. Nichtsdestoweniger hatten zahlreiche „Städtische und private Initiativen [...] zu dem Ruf Dresdens als einer besonders gesunden Stadt beigetragen.“[137] Dresden wurde bald als Stadt der Hygiene bezeichnet.[138] Die geringe Bebauungsdichte infolge der konsequenten Baupolitik der Stadt begünstigte die Entwicklung hin zur Gartenstadt.[139]

Die positive wirtschaftliche Entwicklung erhöhte, nicht nur den Wohlstand der Bürger, sondern auch das Steueraufkommen der Stadt. Dies erlaubte Investitionen in öffentliche städtische[140] und damit auch hygienische Strukturen. Die Entwicklung der hygienischen Infrastruktur[141] war zuerst von den Ideen der Konditionalhygiene geprägt. Man konzentrierte sich auf die Assanierung und die Bereitstellung neuer Strukturen. So hatte Dresden schon zwischen 1868 und 1874 eine Schwemmkanalisation erhalten. Der eigentliche Aufschwung der sozialen (Bau- )Politik ereignete sich in den vier Jahrzehnten um die Jahrhundertwende. Dazu zählten, neben vorgenannten Einrichtungen, die Städtische Landesstelle für öffentliche Gesundheitspflege, genannt Chemische Zentralstelle für öffentliche Gesundheitspflege (1871, die erste ihrer Art in Deutschland), das Ordinariat für Hygiene der Technischen Hochschule (1894) und ein Hygienisches Institut (1897) (ebenfalls die ersten Einrichtungen ihrer Art im Reich)[142]. Diese Einrichtungen wurden in Ergänzung zu den strukturellen Maßnahmen eingerichtet. Sie entstanden im Zusammenhang mit den bakteriologischen Erkenntnissen der Auslösungshygiene und sollten unter anderem Wissen und praktische Anleitung für die Öffentlichkeit bereitstellen. Daneben wurde die Ausstattung der Stadt mit weiteren hygienischen Strukturen fortgesetzt. Die Entstehung von Bäderanlagen, wie zum Beispiel dem Güntz-Bad (1906) sowie das Krematorium im Jugendstil auf dem Friedhof Tolkewitz von Schumacher (1908-11) bezeugen dies. Die Verbesserung der gesunden Nahrungsversorgung der wachsenden Stadtbevölkerung wurde erreicht durch die Einrichtung von Markthallen, Brunnen und besonders durch den Bau des Neuen Schlachthofs im Ostragehege (1906-1913) durch Stadtbaurat Erlwein. Der medizinische Sektor war in Dresden schon seit Carl Gustav Carus (1789-1869) stark vertreten und wurde weiter ausgebaut.[143]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Plakat des GüntzBades. Entwurf Max Feldbauer 1924

Weitere der Stadthygiene förderliche Strukturen waren: drei Wasserwerke (erbaut 1875, 1898 und 1908), Sandsteinwasserleitungsrohre, die Kläranlage Kaditz (1908-11) als Abschluss der Kanalisation sowie das Straßenreinigungsamt (1887). Private Initiativen ergänzten die öffentlichen Anstrengungen erheblich. Stellvertretend seien die Gartenstadt Hellerau (1906), der Naturheilverein (schon 1835), Sanatorien und Kureinrichtungen, zum Beispiel das Lahmann-Sanatorium (1888) auf dem Weißen Hirsch und das Bilz-Sanatorium genannt. In den Heilanstalten wurde versucht mit alternativen Heilmethoden Gesundung zu erreichen. Diese lebensreformerischen Anstalten verließen sich nicht auf die Erkenntnisse der Bakteriologie, sondern versuchten neue Wege zu gehen. Ähnlich wie die sozialhygienischen Initiativen des Kinderarztes Arthur Schlossmann (1867-1932). Dieser gründete 1894 eine Kinderpoliklinik und 1897 eine Anstalt für Säuglingsfürsorge.[144] An dieser beteiligte sich bald auch Karl August Lingner.

Die Summe der beschriebenen Entwicklungen und deren Wechselwirkungen machten Dresden zu einer im Reichsvergleich überdurchschnittlich attraktiven Großstadt mit einem „gesunden Ruf“, hoher Lebensqualität und konzentrierter Expertise im Gesundheitsbereich.[145] Im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhundert war Dresden auf dem Weg die deutsche „Stadt der Hygiene“ zu werden. Deutlich wurde, dass nach einer ersten Phase in der Strategien basierend auf der Auslösungshygiene dominierten, bald auch die Erkenntnisse der Bakteriologie in Dresden umgesetzt wurden. Daneben entwickelten sich alternative Strategien auf dem Gebiet der Lebensreform und der Sozialhygiene.

II.1.3 Das hygienische Engagement Karl August Lingners

Als einer der wichtigsten Akteure auf dem Gebiet der Hygiene sollte sich der Industrielle Lingner erweisen. Ziel ist es nun einen pointierten Überblick über Motivationen Lingners und Stationen seines gesellschaftlichen Engagements auf dem Wege zum Deutschen Hygiene-Museum zu skizzieren.[146] Die Deutsche Städteausstellung 1903 und die Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 werden nur erwähnt, da sie noch in separaten Kapiteln thematisiert werden.

Karl August Lingner, geboren 1861 in Magdeburg, gestorben 1916 in Dresden, stammte aus den bescheidenen Verhältnissen einer materiell wenig begüterten Kaufmannsfamilie. Nach seinen Lehr- und Wanderjahren (zwischen 1877 und 1885), in denen er grundlegende Kenntnisse im kaufmännischen Beruf und Welterfahrungen in Paris erwarb, nahm er 1885 - 1988 eine Anstellung als Korrespondent für Werbung bei der Dresdner Nähmaschinenfabrik Seidel & Naumann an. Die Jahre bis 1893 (das Jahr des Beginns der Herstellung des Odol- Mundwassers) waren besonders geprägt durch das Sammeln von umfangreichen Erfahrungen mit Öffentlichkeitsarbeit und Produktmarketing. Ab 1892 widmete er sich der Herstellung von Körperhygieneartikeln und Kosmetika. Dazu gründete Lingner „Das Dresdner Chemische Laboratorium Lingner“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Karl August Lingner. Foto, Nicola Perscheid 1911.

In Dresden hatten die Ideen der Konditionalhygiene schon seit der Jahrhundertmitte mit der Stadtassanierung konkrete Gestalt angenommen (siehe oben). Als Lingner in Dresden eintraf, erweiterten gerade die bakteriologischen Erkenntnisse von Pasteur und Koch die Hygiene zur Auslösungshygiene. Dresden war hygienischen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Sowohl wissenschaftliche Kompetenz als auch technisches Wissen waren vorhanden. Der Raum für privates Engagement war durch den Hof bereitet. Lingner konnte auf diesen Bedingungen aufbauend innerhalb eines Jahrzehntes ein überaus gewinnbringendes Gewerbe schaffen.

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Abbildung 3: Odolflasche aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Aufschrift auf der Flasche: Nach heutigem Stand der Wissenschaft ist Odol nachweislich das beste Mittel zur Pflege der Zähne und des Mundes".

Funke vermutet, dass der gelernte Drogist das wachsende Schutzbedürfnis der Bevölkerung vor Bakterien und die praktische Anwendbarkeit der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse erkannte. In Zusammenarbeit mit dem Chemiker und späterem Freund Lingners, Richard Seifert (1861 - 1919), der selbst an wissenschaftlichen Neuerungen teilhatte, kreierte Lingner, die potentielle Nachfrage antizipierend, ein antiseptisches Mundwasser.[147] Dies kombiniert mit einer weitreichenden und fortschrittlichen Werbestrategie, die insbesondere die Wissenschaftsbegeisterung der Zeit mit entsprechenden wissenschaftlichen Argumenten und untersuchungsergebnissen zugunsten von Odol bediente, machte Odol schnell zu einem Verkaufsschlager.[148] „Odol wurde zum Reklameerfolg im Gewand einer Lebensführung nach wissenschaftlichen Grundsätzen“.[149] Die Themen der Zeit geschickt aufnehmend, wurde zum reichsten unternehmer Sachsens.

Lingners geschäftliche und gemeinnützige Tätigkeiten lassen sich mit der zuvor dargelegten Auffächerung der Entwicklungen im Hygienediskurs gut in Einklang bringen.[150] Während vor allem seine geschäftliche Tätigkeit dem „Kampf gegen die Mikroben“ und damit der Auslösungshygiene verpflichtet war, wurde dieses Arbeitsgebiet etwa ab der Jahrhundertwende durch eine zunehmend umfangreichere, uneigennützige Betätigung in der Sozialhygiene ergänzt.

Lingners erstes gemeinnütziges Engagement begann 1897.[151] In jenem Jahr wurde er Mitglied und Geldgeber des Vereins Kinderpoliklinik mit Säuglingsheim in der Johannstadt.[152] Es waren sozialdarwinistische Überlegungen, die es Lingner nahe legten sich zu engagieren. Aus seiner Schrift „Betrachtungen über die Säuglingsfrage [...]“[153] geht hervor, dass er es als vordringlich ansah die Sterblichkeit zu mindern, um „die drohende Degeneration aufzuhalten“ und damit das „Übergewicht“ seiner Rasse im „Wirtschaftskampf“ zu sichern.[154] Neben Schlossmann waren noch eine Reihe auf dem Gebiet der Hygiene und Medizin tätige Wissenschaftler Mitglieder. Die Zusammenarbeit mit diesen gab ihm Ideen, Impulse und Kontakte für sein gesamtes späteres Wirken. Einmal durch Wissenschaftler und Mediziner wie Seifert und Schlossmann mit hygienischen Themen konfrontiert, bestimmten diese sein weiteres Schaffen nachhaltig und umfassend. Lingner ergriff auch in seinen eigenen Betrieben sozialhygienische Maßnahmen zu Gunsten seiner Angestellten.[155] Die Vergünstigungen sind als pragmatische ökonomische Maßnahmen, zur Hebung der Gesundheit und damit Produktivität der Angestellten, zu beurteilen. Hier zeigte sich, was Lingner später selbst unter dem Begriff Menschenökonomie fasste.

Sein Wirken wandte sich vorerst noch einmal der Auslösungshygiene zu. Der Kampf gegen die krankheitserregenden Mikroorganismen, für die Asepsis und der Seuchenvorbeugung dienend, wurde mit Blick auf die Hamburger Choleraepidemie von 1892 aufgenommen. Nach dortigem Vorbild richtete Lingner 1901 privatfinanziert die Öffentliche Zentralstelle für Desinfektion ein. Der öffentlichen Hand gegenüber vertrat er die Notwendigkeit einer solchen Anstalt unter anderem mit dem ökonomischen Argument der durch kranke oder tote Staatsbürger entstehenden unerwünschten Steuerausfälle.[156] Ein weiteres langfristiges Projekt hatte der Odolfabrikant schon im Oktober 1900 begonnen. Die Zentralstelle für Zahnhygiene wurde als Forschungs- und Aufklärungseinrichtung zu Ursachen und Vorbeugungsmaßnahmen von Zahnkrankheiten gegründet. Sozialen wie bakteriologischen Ursachen wurde dort nachgegangen. Die allen zugängliche Aufklärung über Zahnkrankheiten, die durch die Einrichtung zu leisten war, ging über unmittelbare ökonomische Motive hinaus.[157] Die aus der Förderung der Gesundheit der Dresdner entstehenden Werbeeffekte für Odol waren dagegen sehr wohl kalkuliert. Ein rein gemeinnütziges Unternehmen war die, 1902 eingerichtete, öffentliche Dresdner Lesehalle. Diese erste öffentliche Dresdner Bibliothek, schwerpunktmäßig ausgestattet mit populär- und fachwissenschaftlicher Literatur, wurde als Beitrag zur hygienischen Volksbildung konzipiert. „Durch das öffentliche Angebot von ,Wissen‘, wollte Lingner zur Verbesserung der ,Lebenslage‘ und der ,Erwerbsfähigkeit‘ des einfachen Mannes beitragen.“[158] Auch bei diesem erfolgreichen Projekt fungierte Lingner als Initiator und finanzierte es.

Als Karl August Lingner 1885 in Dresden eintraf, deutete kaum etwas darauf hin, dass er etwa zwanzig Jahre später einer der reichsten und zugleich sozial aktivsten Großindustriellen der Stadt sein würde. Vielfältige Bemühungen seinerseits zielten auf die Verbesserung der hygienischen Zustände der Stadt und mündeten letztendlich unter anderem in die Gründung des Deutschen HygieneMuseums. Während der Beginn seines Engagements noch Inspiration von außen benötigte - hier ist besonders Schlossmann[159] zu nennen - wurde er, etwa ab der Jahrhundertwende, ein zunehmend wichtiger Verbesserer der Hygiene in Dresden und darüber hinaus. Die gemeinnützigen Tätigkeiten Lingners wurden durch das wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Umfeld Dresdens geprägt.

II.2 Die Entstehung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1900-1912

11.2.1 Vom Odol zur Deutschen Städtebauausstellung 1903

„Mich selbst [K. A. Lingner] hat ein Zufall auf das Gebiet der Sozialhygiene geführt. Meine geschäftlichen Unternehmungen machten es vor mehreren Jahren notwendig, mich eingehend mit dem in voller Entwicklung befindlichen Desinfektionswesen zu beschäftigen, und so kam ich zu dem Studium der sozialhygienischen Literatur. “[160]

Nach der Jahrhundertwende erweiterte sich der Fokus von Lingners hygienischem Engagement beträchtlich. Wie das Zitat zeigt, reflektierte er selbst auch diese Veränderung seines Arbeitsbereiches. Er folgte dabei zum Teil der oben beschriebenen grundsätzlichen Ausweitung des Hygienediskurses von der Auslösungshygiene zur Sozialhygiene. Lingner gelangte durch Erfahrungen aus seinen Initiativen zu der Einsicht, dass wirksame Gesundheitsvorsorge auf die aktive Mithilfe der Bevölkerung und damit auf ein beträchtliches individuelles Wissen angewiesen ist.[161] Dementsprechend zielte sein folgendes Engagement immer stärker darauf ab, die Bevölkerung systematisch zu „Fragen der individuellen und öffentlichen Gesundheitspflege“[162] zu belehren. Erste dahingehende Initiativen waren die erwähnte Lesehalle sowie die Beratungsangebote der Kinderpoliklinik und der Zentralstelle für Zahnhygiene und der Zentralstelle für Desinfektion. Diese Tätigkeiten waren nicht mehr nur der Bekämpfung von Bakterien oder der konkreten Abhilfe bei Krankheiten gewidmet, sondern auch die vorbeugende Information gewann an Bedeutung.[163] Das Individuum wurde also nicht mehr nur Maßnahmen unterzogen oder diese wurden an ihm oder seiner umgebung durchgeführt, sondern das Individuum selbst sollte zum wissenden Akteur werden.

Wobei dies drohte mit den Interessen der, sich gerade professionalisiert habenden und auf Status bedachten, Ärzte zu kollidieren. Diese sahen die Vermittlung von medizinischem Wissen an Laien oftmals mit Skepsis. Lingner begegnete deren Einwänden dadurch, dass er - ganz konform mit der Wissenschafts- und Autoritätshörigkeit der Zeit - die unbedingte medizinische Autorität der Ärzte, bei seinen Bemühungen um hygienische Volksbildung, immer unterstrich. Deutlich wird, dass es bei dem Engagement Lingners nicht darum ging, die sozialen Verhältnisse, die ja die Lebensbedingungen letztlich bestimmten, zu verändern. Er nahm an, dass Belehrung, das Vorführen guter Beispiele und Hilfe im Ernstfall (zum Beispiel bei ernachlässigten Säuglingen) ausreichen würden, um Gesundheit zu erzielen.

Eine dauerhafte, systematische und breit angelegte Volksbelehrung, wie Lingner sie als wünschenswert und notwendig empfand, war nur in Zusammenarbeit mit Staat, Land und Stadt sowie kompetenten Fachleuten zu realisieren. Lingner agierte hier in mehreren Richtungen. Zum einen versuchte er die öffentliche Hand immer in die Planung seiner Initiativen einzubinden. Er holte Unterstützung ein oder sicherte eine spätere Übernahme durch die öffentliche Hand. Zum anderen suchte er Kontakte zu öffentlichen Entscheidungsträgern, wie oberbürgermeister Gustav Otto Beutler (1853-1926)[164], zu intensivieren. Parallel knüpfte er ein engmaschiges Netzwerk von Fachkompetenz aus Wissenschaftlern, Medizinern aber auch Künstlern und anderen Personen des öffentlichen Lebens und Vereinen.[165] Die Koordinationsstelle für seine vielseitigen Aktivitäten war Lingners Privatkontor. Immer wichtiger wurde sein engster Mitarbeiter Georg Seiring (1883-1972). Ab etwa 1906 an Lingners Seite, war er oft eine der treibenden Kräfte hinter vielen Projekten Lingners.[166]

[...]


[1] Hörl, Nitschke, Peukert, Ritter in: Nitschke et. al. 9f.

[2] Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität: Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München [u.a.] : Hanser, 1998.

[3] Fried & Kailer in: Fried & Kailer 7.

[4] Die Bezeichnung Deutsches Hygiene-Museum trifft ab dem Gründungsdatum 3. März 1913, des Vereins für das National-Hygiene-Museum e. V. zu. (Vgl. Schubert 135.) Die Bezeichnung ist nicht erst mit dem Haus ab 1930 identisch. Dies würde einen Großteil der Tätigkeiten vernachlässigen. Entsprechend wird vor 1913 von der Entstehung bzw. Vorgeschichte des Deutschen HygieneMuseums gesprochen, danach von seiner weiteren Entwicklung. Für den Namen der behandelten Institution wird in Folge die Abkürzung DHMD verwandt. Die Internationalen Hygiene-Ausstellungen werden mit IHA (1911) und II. IHA (1930/31) abgekürzt. Siehe Abkürzungsverzeichnis.

[5] Die Entwicklungen auf dem Gebiete der Hygiene waren keineswegs eine homogene Bewegung. Vielmehr müsste von mehreren Hygienebewegungen gesprochen werden. (Siehe unten.)

[6] Wissenspraxis ist zu verstehen als Teil einer Wissenskultur. Zu den Herleitungen der Begriffe Wissenspraxis und Wissenskultur siehe unten.

[7] Verfallserscheinungen aufgrund finanzieller Engpässe, beispielsweise die Einstellung des Hygienischen Wegweisers und nachlassende Besucherzahlen, wurden ab dann sichtbar. Auch wenn Ausstellungen oder Ausstellungsteile zum Teil lange bis in die 1930er Jahre weiter verwandt wurden, war die Vereinnahmung des Museums durch die Nationalsozialisten ab 1933 eine deutliche Zäsur.

[8] Roth & Nentwig 113.

[9] Zum Beispiel die nach dem I. Weltkrieg in München und Düsseldorf unter Oskar von Miller entstehenden Wissenschaftsmuseen.

[10] Siehe Fußnote 424.

[11] Dies bezieht sich auf Ausführungen Labischs. Näheres dazu siehe unten.

[12] Die wesentlichen Entwicklungsstationen des DHMD auf ereignisgeschichtlicher Ebene sind durch die Forschung aufgearbeitet. Folgende fünf Hauptzeiträume mit fließendem Übergängen werden differenziert: die Entstehungszeit des DHMD bis etwa 1912; Es schloss sich an, vermittelt durch den Übergangszeitraum und gleichzeitigen Bruch des I. WK, die zweite Phase etwa von 1918 bis 1933; Drittens folgte die Zeit des Nationalsozialismus; abgelöst durch das DHMD in der DDR-Zeit und zuletzt durch das Nach-Wende-Museum. Ich setze auf eine Zusammenschau der beiden ersten Phasen, da sie wissenskulturell mehr eint als trennt. Ähnliche, aber schwächere Gemeinsamkeiten (besonders die Eugenik betreffend) sind auch mit der NS-Zeit erkennbar. Sie werden jedoch aus Platzgründen in diesem Text nicht berührt.

[13] Die Bezeichnung roaring twenties ist passender. Denn auch wenn Deutschland, nicht zuletzt durch den Dawes-Plan ein erhebliches Maß an Leistungsfähigkeit zurück gewann, so war man doch nach wie vor zu finanziellen Einschränkungen genötigt. Das heißt „golden“ war die Zeit wohl nicht, aber jedenfalls produktiver als die unmittelbare Nachkriegs- und Inflationszeit. Auf einer ähnlichen Linie liegen Nitschke, Ritter, Peukert und vom Bruch Vgl.: Nitschke et. al. 10. Die Einschränkungen äußerten sich für das DHMD zum Beispiel in dem knappen Baubudget für den Museumsneubau.

[14] Leider lässt sich das Publikum bisher nur zum Teil quantifizieren. Zahlen liegen für einige Einzelausstellungen und die großen Hygiene-Ausstellungen vor. Nichts lässt sich zu der Verbreitung der Publikationen und der Teilnahme an Kongressen und anderen Veranstaltungen sagen. Die kleine (Wander-)Ausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung erreichte 1903 bis 1906 ~ 1 Million Besucher (BÜCHI 106). Die Internationale Hygiene-Ausstellung besichtigten in sieben Monaten ~ 5,5 Millionen Besucher (Funke 102). Die Wanderausstellungen sahen sich zwischen etwa 1918 und 1924 ~ 3 Millionen Besucher an (Schaible 89). Die GeSoLei, an der das DHMD maßgeblich beteiligt war, zog ~7,5 Millionen Besucher an, die II. Internationale Hygiene-Ausstellung 1930/31 ~3,4 Millionen (DHMD(d) 80 und Heidel 40, 43). Albrecht nennt 1931 insgesamt ~ 17 Millionen Ausstellungsbesucher für den Zeitraum seit Bestehen des Museums 1913 (Vgl.: Albrecht in: Schaible 89f). Für die weite Verbreitung der Lehrmittel lässt sich der indirekte Beweis bringen, dass die Geschäfte der Aktiengesellschaft für hygienischen Lehrmittelbedarf in den 20er Jahren sehr ertragreich waren und die Erträge entscheidend dazu beitrugen, das Museum zu ermöglichen (Vogel, Klaus 2003, 48).

[15] Es wird hier Bezug genommen auf so unterschiedliche Phänomene wie den George-Kreis, kommunistische Bilder eines Neuen Menschen, Futurismus, Faschismus, und die Visionen einzelner Denker, wie zum Beispiel Ernst Jünger.

[16] Vogel, Klaus 1999, 83.

[17] Es handelt sich um historisch verortbare Vorstellungen darüber, was das Menschsein ausmacht. Es handelt sich nicht um absolute oder allgemeingültige Auffassungen, sondern um zeitspezifisch wandelbare, gesellschaftlich und kulturell bedingte sowie Normativität beanspruchende Auffassungen. Durch Bilder / Vorstellungen darüber, was der Mensch ist und wie er sein soll, ergeben sich für Erziehung und Bildung, im Falle des DHMD für die Gesundheitsaufklärung, Handlungsorientierungen.

[18] Aus den Zielen des Forschungskollegs Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel Frankfurt/Main http://web.uni-frankfurt. de/SFB435/ .

[19] Fried & Kailer 15.

[20] Vgl.: Hau 3.

[21] Vgl.: Zittel in: Zittel 7.

[22] Der Begriff des Denkstiles von Fleck geht in eine ähnliche Richtung. Auch er bezieht soziales Handeln und Strukturen innerhalb eines Denkkollektivs mit ein. Der Begriff der Wissenspraxis erscheint trotz aller Gemeinsamkeiten jedoch passender, da das Konzept Denkstil eher auf das Finden von wissenschaftlicher „Wahrheit“ angewendet wird. Wissenspraxis schließt dies ein und berücksichtigt auch das dialektische Verhältnis zu außerwissenschaftlichen Kulturbereichen stärker. Insbesondere für die Hygiene als praktisch zielorientierte, normative Wissenschaft ist der Bezug zur außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit wichtig. (Vgl.: Fleck, Ludwig: Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache. Suhrkamp 1980.)

[23] Vgl.: Die Ziele des Forschungskollegs Wissenskultur und Gesellschaftlicher Wandel Frankfurt/Main http://web.uni-frankfurt.de/SFB435/. „Unter Wissenskultur verstehen wir [...] all diejenigen Praktiken, die der Begründung eines Wissens als Wissen; seiner Sammlung, Ordnung und Prüfung; seiner Systematisierung; seiner Aufbewahrung, Weitergabe und Vermehrung; seiner Aktualisierung und Neuanwendung, gelten: Die Gesamtheit der gesellschaftlichen Wissensdeklaration und Wissenspflege wird von dem Begriff der Wissenskultur umfasst. “ In der Einleitung des ersten Bandes der zum Kolleg erscheinenden Schriftenreihe wird Wissenskultur definiert als „[...] Gesamtheit aller in einer Gesellschaft vorkommenden Wissen und Wissensarten im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Verteilung, gesellschaftlichen Gebrauch und ihre gesellschaftliche Funktion.“ Bei der Untersuchung von Wissenskulturen werden Gesellschaften befragt nach „[...] Regeln über Produktion, Erwerb und Verwendung, über Aufbewahrung, Weitergabe und über den sozialen Status ihrer Wissensbestände und über deren Vernetzung. Ausgehend von der Organisation des Wissens soll das Sozialprofil einer Gesellschaft geklärt werden, ihre Austauschbeziehungen im Inneren und nach außen, ihre Offenheit und Abschottung, ihr Vermögen, Herausforderungen anzunehmen und Neues zu assimilieren, Altes zu integrieren. Dies rückt die Forschungsperspektive [...] allmählich in Richtung des gesellschaftlichen Wandels. Denn Wissen ist ein Medium gesellschaftlichen Wandels - und es initiiert ihn zugleich. “ Fried & Kailer in: Fried & Kailer 11.

[24] Vgl.: Zittel in: Zittel 7.

[25] Kailer in: Zittel 232f.

[26] Dazu zählen Modelle, Moulagen, Präparate, Lichtbilder, Schaubilder und Publikationen wie Kataloge, Ausstellungsführer und Belehrungsheftchen.

[27] Mit Beginn der Inflation im Winter 1922 erstarb die Ausstellungstätigkeit und war als Resultat der massiven finanziellen Schwächung durch die Wirtschaftskrise bis etwa 1925 stark eingeschränkt. (Schubert Anlage 23 Blatt 1 ff.)

[28] Aus dem Titel des Beitrages von Dr. Hamel, Präsident des Reichsgesundheitsamtes und Vorsitzender des Reichsausschusses für hygienische Volksbelehrung in Zerkaulen & Pressestelle 26.

[29] Schulte und Preir leisten hierzu Vorarbeiten.

[30] Seiring in: Zerkaulen 48.

[31] Die Begriffe werden nicht als deckungsgleich aber als miteinander verwandt und sich überschneidend gebraucht.

[32] Mit Simmel könnte man auch von einer „Steigerung des Nervenlebens“ sprechen. (Vgl.: Simmel 117.)

[33] Hermann in: Nitschke et. al. 329.

[34] Hörl, Nitschke, Peukert, Ritter in: Nitschke et. al. 13.

[35] Hörl, Nitschke, Peukert, Ritter in: Nitschke et. al. 13.

[36] Rosenhaupt in: Hygienischer Wegweiser 3 (1928) 8/9.

[37] Kronprinz Rudolf von Habsburg bei der Eröffnung des Internationalen hygienischen Kongresses Wien 1887. Zitiert nach dem Deckblatt des Hygienischen Wegweisers 3 (1928) 8/9.

[38] Schulte 32.

[39] Hermann in: Nitschke et. al. 313.

[40] Hermann in: Nitschke et. al. 320.

[41] Hermann in: Nitschke et. al. 323.

[42] Es wurden unzählige neue Methoden erprobt, die Gegenstände der Wissenschaften massiv erweitert und eine große Zahl herausragender wissenschaftlicher Entdeckungen gemacht. Stellvertretend für viele andere seien genannt: die Entdeckung der elektrischen Wellen durch Hertz (1857-1897) 1886, die Endeckung der X-Strahlen durch Röntgen (1845-1923) 1895. Andere bedeutende Naturwissenschaftler die in dieser Zeit wirkten waren Liebig (1803-1873), Planck (18581947), Einstein (1879-1955), Haber (1868-1934), Bosch (1874-1940), Ostwald (1853-1932), Hahn (1879-1968), Haeckel (1834-1919) (siehe auch Fußnote 45).

[43] Dies traf besonders zu, nachdem die Vererbungsregeln Gregor Mendels (1822-1884) mit der Theorie Darwins in Einklang gebracht werden konnten. Der Streit um die Vererbung von Eigenschaften zwischen Anhängern des Neolamarckismus und Befürwortern der Theorie Darwins wurde auch deshalb zugunsten letzterer entschieden und zeigt die Belastbarkeit der Darwinschen Theorie.

[44] Nipperdey 612.

[45] Einige wichtige deutsche Mediziner waren Wöhler (1800-1882), Du Bois-Reymond (1818-1886) Pettenkofer (1818-1901), Helmholtz (1821-1894), Virchow (1821-1902), Flemming (1843-1905), Koch (1843-1910), Behring (1854-1917).

[46] Die Zellpathologie erkennt die Funktionsstörung einzelner Zellen oder Zellgruppen als Ursache von Krankheiten. Sie löste die Humoralpathologie als wissenschaftliches Paradigma ab. Diese versuchte Krankheiten aus der Störung des Säftehaushaltes im Körper zu erklären.

[47] Nipperdey 618.

[48] Dazu gehörten die Erreger des Milzbrandes, der Tuberkulose, Cholera (alle durch Koch 1876, 1880, 1884), Gonorrhöe, Typhus, Diphtherie, Tetanus, Lungenentzündung, Meningitis, Dysenterie, Pest, Syphilis, Maul- und Klauenseuche (alle bis 1905).

[49] Hier besonders durch den Ungarn Semmelweis (1818-1868) und den Schotten Lister (1827-1912).

[50] Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 147.

[51] Die Bevölkerung im Reichsgebiet wuchs von 1866-1914 von 39,8 Millionen auf 67,8 Millionen. Dieser Zuwachs von 70% ergibt sich aus dem Zusammenfall von sinkender Sterblichkeit, steigender Lebenserwartung und Geburtenüberschuss bei steigender Geburtenrate. (Vgl.: Nipperdey 10ff.) Die Bevölkerungszusammensetzung änderte sich ebenso drastisch, so dass sich die Bevölkerung bis 1905 stark verjüngte. Die Maßnahmen der Konditionalhygiene und der Auslösungshygiene standen in einem dialektischen Verhältnis zu diesen Entwicklungen. Sie können sowohl als Reaktion wie auch als Auslöser für den demographischen Wandel ab der Mitte des 19. Jh. betrachtet werden. (Vgl.: Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 157ff.) Nach dem I. Weltkrieg wandelte sich das Bild nochmals. Nun wurde befürchtet, die sinkende Geburtenrate verbunden mit den hohen Verlusten im Krieg könnten den Bestand der Nation gefährden.

[52] Neben der gravierenden Verschmutzung der Lebens- und Arbeitsumwelt (Wasser, Luft, Lärm) und den damit einhergehenden körperlichen Beeinträchtigungen sind insbesondere räumliche Enge durch dichte Belegung der Wohnräume (u. A. durch Schlafgängertum) und mangelhafte Ernährung allgegenwärtig. Hinzu kamen nicht selten soziale Deprivation und Spannungen.

[53] Schulte 24.

[54] Vgl. Schulte 24 und Witzler 9-14.

[55] Labisch 113.

[56] Schulte 24.

[57] Vgl.: Labisch 102ff.

[58] Vgl.: Labisch 114.

[59] Vgl.: Roth in: Beier & Roth 45 und Witzler 13.

[60] Insbesondere Cholera sowie Typhus. Hamburg widerfuhr bspw. 1892 eine verheerende choleraepidemie.

[61] Beispielsweise Hardy.

[62] Vgl.: Schulte 27.

[63] Vgl.: Labisch 146.

[64] Labisch 117.

[65] Vgl.: Schulte 27f.

[66] Vgl.: Labisch 118ff & 122f & 251.

[67] Vgl.: Schulte 28f und Eckart in: Roesiger & Merk 34.

[68] Vgl.: Witzler 207.

[69] Vgl.: Labisch 256.

[70] LABISCH 122.

[71] Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 150.

[72] Assanierung bezeichnet die Verbesserung der Bebauung von Liegenschaften aus hygienischen, sozialen und technischen Gründen.

[73] Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 149f.

[74] Labisch 146.

[75] 1857 wies Pasteur nach, dass Gärung auf Mikroorganismen zurückzuführen ist.

[76] Koch entwickelte ab Ende 1870 eine Reihe von erregerspezifischen standardisierten Nachweisen.

[77] Labisch 134.

[78] Labisch 144.

[79] Dies betraf folgende Krankheiten: Cholera, Pest, Ruhr, Typhus. Nach der Jahrhundertwende dann besonders die Diphterie (z. B. durch Lingners Serumwerke) und einige Geschlechtskrankheiten. (Vgl.: Schulte 28.)

[80] Vgl.: Labisch 132ff & 140f. Dies hat nicht zuletzt die Einrichtung von Versicherungen gefördert, genau wie die Professionalisierung von Ärzten.

[81] Vgl.: Labisch 147, Weindling 214f und Castell-Rüdinhausen in: Nitschke et. al. 161.

[82] Schulte 30.

[83] Castell-Rüdinhausen spricht davon, dass Sozialmediziner und -politiker die „,Hygienisierung‘ der Unterschichten anstrebten“. (Castell-Rüdinhausen in: Nitschke et. al. 162.)

[84] Beispiele für derartige Eingriffe sind die Stillfürsorge für Mütter und die medizinisch-hygienische Beratung zur Säuglingsernährung. (Vgl.: Nipperdey 14 & 19.)

[85] Vgl.: Schulte 30f.

[86] Schaible 81.

[87] Eckert nennt als wichtige Theoretiker der Sozialhygiene neben Alfred Grotjahn (1869-1931), Alfons Fischer (1873-1936) und Adolf Gottstein (1857-1941). (Vgl.: Eckert in: ROEßlGER & Merk 43f.) In der Praxis ist der Kreis derer, die sich für sozialhygienisches Gedankengut interessieren und dies umsetzten sehr vielfältig (siehe unten). Arthur Schlossmann (1867-1932) wird hier stellvertretend für viele Andere genannt, da er wesentlich auch in Dresden tätig und für das Hygiene-Museum von Bedeutung war.

[88] Graefe in: II. IHA(a) #11, 3.

[89] Deutlich wird dies anhand der Bekämpfungsgeschichte der Tuberkulose. Wo das Kochsche Tuberkulin sich als ineffektiv herausstellte, schafften es erst die Verbesserung von Ernährungs und Lebenssituation und Ermahnungen zur Sauberkeit die Krankheit wirksam zu bekämpfen. (Vgl.: Eckart in Roesiger & Merk 40 und Schubert 97.)

[90] Beide Labisch 146 und vgl.: Weindling 220f.

[91] Vgl.: Eckart in: Roesiger & Merk 42.

[92] Eckart in: Roesiger & Merk 41.

[93] SÜPFLE, Direktor des Hygienischen Instituts der Technischen Hochschule Dresden und wissenschaftlicher Leiter der II. IHA, definierte Hygiene so: „Die Hygiene will und soll dafür sorgen, daß körperliche und seelische Gesundheit erhalten bleibt und gefördert wird. Das Forschungsgebiet der Hygiene erstreckt sich daher auf alle Momente, die die Gesundheit des Menschen beeinflussen, seien es Faktoren unserer äußeren Umgebung, seien es in unserem Köper selbst gegebene Anlagen. “ (SÜPFLE in: Seiring, 213.)

[94] Vgl.: Vogel, Klaus in: Dresdner Hefte 57 und Eckart in: Roesiger & Merk 34ff.

[95] Eckart in: Roeßiger & Merk 34.

[96] Darüber hinaus werden im Sozialdarwinismus Abgrenzung sowie Selbstvergewisserung und Einigkeit über die variable Definition des Volkskörpers realisiert. Verschiedene Definitionen ermöglichten die rhetorische Vereinigung sonst antagonistischer Gruppierungen und die Fokussierung der Kräfte auf einen (äußeren) identifizierbaren Gegner. (Siehe auch Schaible 103f.) Ein negativer Begriff ist beispielsweise der Volkstod. Im Nationalsozialismus wird diese Rhetorik stark ausgebaut.

[97] Vgl.: Schulte 30 und Schaible 81 f.

[98] Hier ist insbesondere auch der kommunale hygienische Wohnungsbau als, ein wichtiger Bereich im sozialhygienischen Diskurs zu nennen. „In der breiten, von Vereinen, Kommunen und Privaten getragenen Bewegung zur Wohnungsreform spielte die Wohnungshygiene - Küche, Wasch- und Badegelegenheit, Schlafzimmer, Toiletten - eine ganz wichtige Rolle.“ (Nipperdey 160.)

[99] Der Gesetzgeber griff speziell in die Berufshygiene ein. Gewerbe- und Fabrikinspektionen und Vorschriften zur Herabsetzung der Unfall- und Krankheitsrisiken sind zwei Beispiele dafür. (Vgl.: Nipperdey 161.)

[100] Nipperdey 162.

[101] Vgl.: Schaible 83f und Nipperdey 160. Hier ist die Förderung der Individualhygiene zu nennen. Einer der bedeutenden nationalen Zusammenschlüsse war der Deutsche Verein für Gesundheitspflege.

[102] WITZLER 208. In der Untersuchung WITZLERs wird außerdem deutlich, dass „alte“ Großstädte (wie z. B. Dresden) mit eingespielter Verwaltung bei der Implementierung von hygienischen Maßnahmen im Vorteil waren. (Vgl.: WITZLER 20.)

[103] Witzler 208. In der Untersuchung Witzlers wird außerdem deutlich, dass „alte“ Großstädte (wie z. B. Dresden) mit eingespielter Verwaltung bei der Implementierung von hygienischen Maßnahmen im Vorteil waren. (Vgl.: Witzler 20.)

[104] Vgl.: Eckart in: Roesiger & Merk 35.

[105] Beispielweise gründete Lingner 1903 ein Bakteriologisches Institut, das später im gewinnbringenden Sächsischen Serumwerk aufging. Impfseren wurden hier industriell hergestellt und insbesondere an das Militär vertrieben. (Vgl.: Funke 54ff.)

[106] Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 158.

[107] Aber dies war nicht nur dort der Fall. Goldscheid, Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Berlin, beschäftigte sich in mehren Werken mit dieser Theorie.

[108] WEISS 38.

[109] Vgl.: Roth 216.

[110] Taylorismus bezeichnet die, zur Effektivitätssteigerung, nach wissenschaftlichen Überlegungen organisierte Produktion im Wirtschaftsbetrieb. Benannt wurde er nach Frederick Winslow Taylor. Geistig verwandt dazu ist der Fordismus. Beide operieren im wirtschaftlichen Bereich, ähnlich wie es Lingners Körpersicht postuliert, mit den Prinzipien der Arbeitsteilung, Effektivitätssteigerung und ganz allgemein gefasst der Zweckrationalität der eingesetzten Mittel. Die Mechanisierung des Menschen fand dort im Produktionsprozess, zum Beispiel am Fließband, statt.

[111] Hau 137.

[112] WINKLER zitiert nach WEISS 38.

[113] Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 170.

[114] Labisch 158.

[115] Vgl.: HAU 125 & 136f und WEISS 38f.

[116] Schulte 29.

[117] Vgl.: Castell-Rüdenhausen in: Nitschke et. al. 160.

[118] Die Begriffe sind in der Entstehungszeit der Bewegung umstritten. (Vgl.: WEISS in: Adams 33.) Sie werden in dieser Arbeit der momentanen wissenschaftlichen Praxis entsprechend synonym verwendet.

[119] Protagonisten im Kaiserreich waren unter anderem Alfred Ploetz (1860-1940), Max von Gruber (1853-1927) und Friedrich W. Schallmayer (1857-1919), in der Weimarer Republik zum Beispiel Fritz Lenz (1887-1976) und Rüdin (1874-1952).

[120] Vgl.: WEISS 14.

[121] WEISS: 11f.

[122] Vgl.: WEISS 24, 28.

[123] Beide Eckart in: Roeriger & Merk 35.

[124] Schrön 311.

[125] Schulte 31.

[126] Schulte 29.

[127] Vgl.: Schulte 39 und Nipperdey 160.

[128] Schulte 28.

[129] Nipperdey spricht entsprechend von einem neuen Gesundheitsbewusstsein, hervorgerufen durch einen kulturell-mentalen „[...] Wertewandel im Gefolge der Säkularisation, bei dem vitale Gesundheit, Rationalität, Machbarkeit an Gewicht gewinnen.“ (Nipperdey 165.)

[130] Vgl.: Süpfle in: Seiring 219 und Eckart in: Roesiger & Merk 42.

[131] Vogel, Klaus 2003, 14.

[132] Vgl. Starke in: Roth et. al. 17 und Wilde in: Dresdner Hefte 63, 30.

[133] Zwei Ergebnisse waren beispielsweise die Einrichtung einer technischen Hochschule und eine weit entwickelte Bauordnung. Vgl.: Lerm & Jarmer in: Laudel & Franke 37, Starke in: Roth et. al. 22ff.

[134] Vgl.: Mirsch auf http://www.dresden-und-sachsen.de/dresden/geschichte14_industriezeit.htm und Lerm & Jarmer in: Laudel & Franke 38ff u. 51 f.

[135] Überwiegend durch Eingemeindungen der Vorstädte vergrößerte sich das Dresdner Stadtgebiet von 26 km2 um 1850 auf 110 km2 im Jahr 1920.

[136] „Das Gewerbeprofil Dresdens [...] wurde vor allem von Leichtindustrie, Näh- Büro-, Nahrungs-, Genussmittel- und Verpackungsmaschinenbau, Fotoindustrie, Kunstdruckerei, chemischer Industrie (z.B. chem. Fabrik von Lingner) und Feinmechanik bestimmt.“ Lerm & Jarmer in: Laudel & Franke 38.

[137] Vogel, Klaus 2003, 15.

[138] Vgl.: Vogel, Klaus 2003, 15.

[139] Vgl.: Starke in: Roth et. al. 16. Das relativ naturbelassene Elbtal bildete ein natürliches Erholungsgebiet innerhalb der Großstadt ebenso wie der Große Garten. Auch auf den Flächen der bis 1829 abgetragenen Festungsanlagen entstanden eine Reihe innerstädtischer Grünflächen. 1887 und 1907 fanden Internationale Gartenbauausstellungen in Dresden statt. In einer Abhandlung zur Großstadtentwicklung wird demgemäß bemerkt 1917: „Im Unterschied von der österreichischen und der deutschen Kaiserstadt macht sich in Sachsens Residenz die großstädtische Hast und Unruhe im allgemeinen nicht sehr bemerkbar, obschon auch hier alle an moderne Großstadtverwaltungen gestellten Anforderungen erfüllt werden [...] so nahm die sächsische Residenz einen gewissen aristokratischen Zug an, zu dem Ruhe, Gelassenheit und verfeinerte Lebenshaltung gehören. Dazu passt die Verbindung von Schönheit und Annehmlichkeit, durch die sich Dresdens Straßen von denen vieler andere Großstädte auszeichnen. “ (Stutzer 258.)

[140] Neben einer großen Zahl von Verwaltungsbauten und Ministerialgebäuden, stellvertretend sei hier das Neue Rathaus von Roth und Bräter (1905-1910) genannt, entstanden unter anderem eine Reihe von neuen Schul- und Kirchenbauten, der Ausstellungspalast am Straßburger Platz (1896), das Albertinum (1887) und die Kunstakademie (1894/95).

[141] Zur Stadtbaugeschichte liegen eigenständige Untersuchungen vor, zum Beispiel in dem Sammelband von Laudel & Franke und von Löffler. Die dort präsentierten Erkenntnisse lassen sich gut mit den geschilderten Entwicklungsphasen der Hygiene in Übereinstimmung bringen.

[142] Vgl.: Schubert 22.

[143] Das Krankenhaus Friedrichstadt, welches seit 1849 bestand, erfuhr umfangreiche Erweiterungen und wurde schließlich 1901 durch ein zweites großes Stadtkrankenhaus in Dresden Johannstadt ergänzt.

[144] Leutert in Hygienischer Wegweiser 3 (1928) 1, 3.

[145] Für die vorstehenden Daten vgl.: Lerm & Jarmer in: Laudel & Franke 36-52 und Mirsch auf http://www.dresden-und-sachsen.de/dresden/geschichte13_gruenderzeit.htm und http://www.dresden-und-sachsen.de/dresden/geschichte14_industriezeit.htm.

[146] Für ausführliche biographische Angaben siehe die beiden detaillierten Werke von BÜCHI und Funke - sie liegen auch diesem Kapitel zugrunde.

[147] Vgl.: Funke 20f & 24.

[148] Vgl.: Büchi 41f und Funke 27f.

[149] Vogel 16.

[150] Zu den Motivationen für Lingners mäzenatisches Engagement siehe Anhang: V.1 Exkurs Ein Versuch über großbürgerliches Mäzenatentum bei Lingner.

[151] Weitere Ausführungen zum Mäzen Lingner im Anhang V.l.

[152] Der Verein war aus der 1894 durch Arthur Schlossmann gegründeten Kinderpoliklinik hervorgegangen. Das Ziel des Vereins war die Senkung der gravierenden Säuglings- und Kindersterblichkeit besonders für materiell schlechter Gestellte.

[153] Der vollständige Titel lautet Betrachtungen über die Säuglingsfrage mit einem Vorschlage für die Organisation einer Landes-Zentrale für Säuglingspflege und Mutterschutz in Hessen. Dresden, o.V., 1908.

[154] Lingner zitiert und paraphrasiert nach Funke 37 vgl. auch Büchi 158ff.

[155] So ermöglichte er Urlaubs- und Weihnachtsgeld, eine Unterstützungskasse, Badeanlagen, Pausengymnastik sowie die Einrichtung einer Betriebskantine und den kostenfreien Ausschank eines halben Liters Milchkaffee pro Tag pro Arbeiter. Die Einführung der genannten Maßnahmen erfolgte nach und nach bis 1903. Vgl.: Funke 33.

[156] Der Staat Sachsen übernimmt sodann auch die Einrichtung 1906. (Vgl.: BÜCHI 99f und Funke 40ff)

[157] Es ging auch um Erkenntnisse, die nicht direkt ökonomisch verwertbar waren, wie die Wirkung der Stillzeit auf die Zahnentwicklung und der Einfluss des Kauens harter Brotrinde auf die Sauberkeit der Zähne. Ein ökonomisches Interesse, ist kaum auszuschließen, war allerdings nicht dominant.

[158] Funke 40.

[159] Schlossmann und Lingner waren unter anderem beide Mitglieder des Deutschen Vereins für Volkshygiene. Schlossmann war einer der herausragenden Akteure auf dem Gebiet der Sozialhygiene in Deutschland und wirkte an fast allen hygienischen Einrichtungen Lingners mit. Durch den Verein kam Lingner mit einer Reihe weiterer Hygieniker in Kontakt, beispielsweise Prof. Hueppe. (Vgl.: Schubert 22 & 34.)

[160] Lingner in: Wollf 210f.

[161] Lingner in: Wollf 208.

[162] Funke 42.

[163] Vgl.: Lingner in: Wollf 211 und Funke 92f.

[164] Die Zusammenarbeit mit Beutler war es, die Lingner bei der Planung der Sonderausstellung Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung und bei der Vorbereitung der Internationalen HygieneAusstellung trotz Widrigkeiten mit der Arbeit fortfahren ließen.

[165] Aus diesem Reservoir speisten sich immer wieder die verschiedensten Gremien, Leitungspersonen und Schaffende für seine Großprojekte. Wie dies genau ablief lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen. Über den Bekanntenkreis von Lingner ist zu wenig bekannt.

[166] Seiring trat später auch das „geistige Erbe“ Lingners an und wird der „Retter von Lingners Museumsidee“ und langjähriger Direktor des DHMD.(Vgl.: BÜCHI 177.)

Ende der Leseprobe aus 157 Seiten

Details

Titel
Das Neue Wissen vom Menschen. Entstehung und Entwicklung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1900 – 1931
Untertitel
Zur Popularisierung eines modernen Menschenbildes
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
157
Katalognummer
V164048
ISBN (eBook)
9783640787432
ISBN (Buch)
9783640787616
Dateigröße
2895 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hygiene, Deutsches Hygiene-Museum, Lingner, Dresden, Weimarer Republik, Museologie
Arbeit zitieren
Thomas Steller (Autor:in), 2008, Das Neue Wissen vom Menschen. Entstehung und Entwicklung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 1900 – 1931, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164048

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