Der Gang des Helden in die Unterwelt als Weg zu Vergangenheit und Zukunft


Facharbeit (Schule), 2008

57 Seiten


Leseprobe


GLIEDERUNG

A. DIE STRUKTURELEMENTE DER HOMERISCHEN NEKYIA UND DER VERGILISCHEN KATABASIS
I. Gemeinsame Elemente und methodische Vorbemerkung
II. Ausführung der grundlegenden Struktur bei Homer
1. Der Held
2. Der Weg als erste Schwelle
3. Die Riten
4. Kontakt zu den Seelen Verstorbener
a) Die Seele des jüngst verstorbene Elpenor als Schwellenfigur
b) Die Prophezeiung des Teiresias
c) Einschub eines erzählerischen Intermezzos
d) Blick ins Innere der Unterwelt zu den mythologischen Figuren
5. Ausgang
III. Ausführung der grundlegenden Struktur bei Vergil
1. Der Held
2. Riten und Führer
3. Schwellen
4. Kontakt zu den Seelen Verstorbener
a) Die Seele des unbegrabenen Palinurus
b) Die Begungnung mit Dido
c) Seelen aus Aeneas’ trojanischer Vergangenheit
d) Die mythologischen Figuren als zeitlose Ebene
e) Bei Anchises im Elysium: Einblick in postmortale Mysterien
5. Die Heldenschau
a) Grundlegendes zur Anchisesrede
b) Die erste Gruppe zukünftiger Helden: Gründung und Ausdehnung Roms
c) Die zweite Gruppe der Helden: Abhängigkeit Roms von menschlichem Schaffen
d) Die dritte Gruppe zukünftiger Helden: Weltgeschichtliche Aufgabe der Römer
e) Klage um Marcellus
f) Telos des Ausblickes auf die römische Zukunft
6. Ausgang: Aufstieg durch das Tor der falschen Träume

B. MEMORIA ET OBLIVIO - DIE KONZEPTION DER ZEIT IN DER AENEIS
I. Die Konstruktion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Gesamt-Aeneis
II. Die Katabasis im Zeitgefüge der Aeneis
1. Der Gang in den „Zeitort“: Die Visualisierung der memoria und der spes in der Unterwelt
a) Die Tote als Träger der memoria
b) Das Universum der memoria
c) Die Kommenden als Träger der spes
2. Die Wirkung des „Zeitortes“: Die Umpolung des Helden in der Katabasis
Exkurs: Die Frage nach der Determination des Menschen

3. Das Resultat: Aeneas‘ Vergessen nach der Katabasis...46

A. DIE STRUKTURELEMENTE DER HOMERISCHEN NEKYIA UND DER VERGILISCHEN KATABASIS

I. Gemeinsame Elemente und methodische Vorbemerkung

Die beiden vorliegenden Texte, das elfte Buch der homerischen Odyssee und das sechste Buch von Vergils Aeneis, thematisieren innerhalb der langen Suche der Helden Odysseus und Aeneas nach der alten bzw. der neuen Heimat eine zentrale Etappe: die Katabasis in die Unterwelt. Trotz vieler Differenzen weisen beide descensus ähnliche tragende Elemente auf, die ich im Folgenden benennen und in ihrer Ausführung bei Homer und Vergil untersuchen möchte.

Ausgangspunkt der Höllenfahrten ist der Held, den besonderen Eigenschaften zum Abstieg in den Hades qualifizieren. Er wird durch Weisung einer befehlsbefugten Instanz oder Person zu diesem Extremereignis motiviert und soll Prophezeiungen in Bezug auf die Zukunft durch einen bestimmten Toten erfahren und somit die Chance zum Erreichen der Heimat verbessern.

Neben seiner besonderen persönlichen Qualifikation bedarf der Held bestimmter Riten, um Einlass in das den Lebenden gewöhnlich verschlossene Todesreich zu erlangen. Insbesondere sind hierbei Opferhandlungen und Gebete zu Pluto und Persephone zu erwähnen, zu deren Ausführungen der Held durch einen wissenden, übermenschlichen Führer konkrete Anweisungen erhält Hat der Held diese munera durchgeführt, kann er - nach Überschreitung weiterer Schwellen der Unterwelt (traditionell sind hier der Fährmann Charon und der Höllen- hund Cerberus zu nennen) - Kontakt zu den Seelen Verstorbener aufnehmen. Ob der Protagonist hierbei selbst in das Totenreich hinabsteigt oder die Toten zu ihm in die Oberwelt gelangen, wird später zu analysieren sein. Diese Begegnungen sind in der Re- gel mit Dialogen verbunden1, die dem Helden teils Aufschluss über die Vergangenheit, teils sogar Einblick in die Zukunft bieten und somit das Ziel der Katabasis implizieren. Auch das Mysterium von Leben und Tod, das mit dem eschatologischen Schicksal der Seelen im Rahmen ihrer jeweiligen Klassifizierung verbunden ist, wird im Laufe der Katabasis in solchen Dialogen offenbart.

Am Ende der Katabasis steht der Aufstieg aus der Unterwelt und die Wiederaufnahme der Reise gen Heimat bzw. Ziel.

Im Rahmen dieser grundlegenden Struktur soll gemäß der chronologischen Reihenfolge der Epen zunächst die homerische Nekyia untersucht werden2, anschließend die Kataba- sis des Aeneas bei Vergil. Auf der Aeneis liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit, da Ver- gil ein differenzierteres und umfangreicheres Zeitkonzept als Homer offenbart und die Zeitebenen in unkonventioneller, faszinierender Weise darstellt. Während im ersten Teil die inhaltliche Ebene erfasst und eine grundlegende Deutung vorgenommen wird, kon- zentriert sich der zweite Teil auf die Dialektik von Erinnern und Vergessen in der Kata- basis des Aeneas.

II. Ausführung der grundlegenden Struktur bei Homer

1. Der Held

Odyssseus fasst nach einjährigem Aufenthalt auf der Insel Aiaia als Gast und Geliebter der Zaubergöttin Kirke, der Tochter des Helios und der Perseis, aufgrund des Drängens seiner Gefährten den Beschluss, in seine Heimat Ithaka zurückzukehren. Zwar ent- spricht die Göttin seiner Bitte um Abreise und lässt ihn gehen, fordert ihn jedoch auf, zuvor „die Häuser der Hades und der schrecklichen Persephone“3 aufzusuchen. Dort soll er die Seele des verstorbenen, blinden Sehers Teiresias aus Theben über seinen wei- teren vostos befragen. Kirke liefert Odysseus hiermit sowohl die Motivation zur Kata- basis - durch ihre Weisung - als auch - durch das Versprechen einer Prophezeiung durch den griechischen Seher - Intention zum Aufsuchen der Unterwelt, die als (einzi- ge!) Station, die nicht auf dem Reiseweg liegt und damit rein räumlich gesehen einen Umweg bedeutet, bewusst angesteuert wird.4

Die Qualifikation zur Nekyia muss jedoch vom Helden selbst ausgehen: Zwar bricht ihm „das liebe Herz“5 und er kann ob seines Entsetzen über den bevorstehenden Abstieg in die Unterwelt die Tränen nicht zurückhalten, da doch „noch keiner in den Hades gekommen ist[...]“6. Dennoch zweifelt er die Notwendigkeit der Katabasis nicht an, sondern konzentriert sich bald auf pragmatische Überlegungen bezüglich des Weges und des Führers und verdeutlicht auch dadurch, dass er seine Gefährten trotz deren heftigem Widerstreben zum Aufbruch zur Grenze des Hades bewegen kann, seine Führungsqualitäten. In erster Linie verlangt der Abstieg als etwas Ungeheuerliches jedoch nicht nur Mut, sondern insbesondere „Leidensfähigkeit“7.

Insgesamt entspricht Odysseus als listenreichen und umsichtiger Charakter dem klassi- schen Heldenideal jedoch nur sehr bedingt - wie zunächst auch Aeneas -, sondern er- scheint als exemplarischer Vertreter eines Menschen, der im Rahmen seines irdischen Lebens den erforderlichen Weg geht und so Verantwortung für sich und seine Gefährten übernimmt8.

2. Der Weg als erste Schwelle

Bei Homer ist zwischen diesem Ausgangspunkt und dem Vollzug der Riten, die den Zu- gang zum Hades erst ermöglichen, ein weiteres Element eingefügt: der Weg zur Grenze des Okeanos, an dem der Eingang zur Unterwelt liegt. Homer offenbart in dieser Kon- struktion den typischen antiken Glauben: „there existed a world cut off by mountains, rivers [...] or the ocean [...] beyond the confines of the habitable world where the dead lived“9. Die Unterwelt wird hier also exakt lokalisiert. Kirke gibt Odysseus eine genaue topograpische Beschreibung und verweist auf die vier Flüsse des Hades - Acheron, Styx, Pyriphlegethon und Kokytos -, Odysseus aber muss den Weg nicht alleine finden, was die Ausführung dessen, was „,noch kein Sterblicher‘“10 zuvor vollbracht hat, bedeu- ten würde. Die Zauberin weist ihn vielmehr darauf hin, dass der Nordwind sein Schiff an die Grenze des Ozeans führen werde, und fungiert so als Führerin des Odysseus, der hier als passiver Charakter auftritt, dessen Fahrt zum Hades „ein träumendes Sichtrei- benlassen von gottgesandten Winden [ist], kein selbsttätiges Rudern“11. Der Weg zum Hadeseingang stellt so die erste, für in eigener Motivation handelnde Sterbliche un- überwindliche Schwelle zur Unterwelt dar.

3. Die Riten

Nach Ankunft an den Grenzen des Ozeans, führt Odysseus die Tier - und Trankopfer gemäß den Anweisungen Kirkes durch12 und verleiht den Seelen der Verstorbenen durch die Nekyomantie die Möglichkeit zur Überwindung der Schwelle, die sie in den Hades bindet. Das Blut als „Sitz des Lebens“13 zieht die Toten magisch an, sodass sich Odysseus nur mit Hilfe seines Schwertes schützen kann. In der homerischen Konstruktion handelt es sich also nicht um eine Höllenfahrt in dem klassischen Sinne, dass der Held in die Unterwelt hinabsteigt, sondern um einen Aufstieg der eidola, die eine Schattenexistenz in der Unterwelt führen, an die Grenzen der Oberwelt.

4. Kontakt zu den Seelen Verstorbener

a) Die Seele des jüngst verstorbene Elpenor als Schwellenfigur

Die erste psyche, die zu Odysseus kommt, ist die des eben erst verstorbenen Elpenor, der deshalb eine Sonderstellung innerhalb der Toten einnimmt, da er mangels Bestat- tung noch nicht in den Hades eingehen konnte. In der Forschung als „unorganisiertes Zwischenstück“14 des zweiten, unbekannten Dichters der Odyssee eingestuft, verdeut- licht diese Szene dennoch hervorragend das Bild der Unterwelt im Kontext der memo- ria, das im späteren Verlauf der Arbeit zentral werden wird: Dass Elpenor, im Gegen- satz zu den übrigen Toten mit Ausnahme des Teiresias, noch über Bewusstsein und Er- innerung verfügt, macht deutlich, dass diese nicht mit dem Tod, sondern erst mit dem Eintritt der psyche in die Unterwelt ausgelöscht werden. Der Hades steht also in Homers Konstruktion als Ort der Zeit- und damit Erinnerungslosigkeit. Nur das Blut als Sitz des Lebens - gewissermaßen als stoffliche Entsprechung des Lebens - vermag den eidola der Verstorbenen einen kurzen „Zeit-Moment“ zu verschaffen.

Elpenor ist, da noch nicht in den Hades eingegangen, bei vollen Bewusstsein und besitzt Erinnerungen sowohl an seinen Tod, den er hier Odysseus noch einmal erzählt und für den er den „Daimon“ verantwortlich macht, als auch an die Irrfahrten, die er vorher mit Odysseus erlebt hat. Letzteres wird nicht nur in dem sofortigen Erkennen des Odysseus deutlich, sondern auch in der Aussage, er wolle ihm nicht „Ursache für den Zorn der Götter“ werden - hierbei zeigt sich das Wissen um die durch Poseidon hervorgerufenen Irrfahrten - ,und wird verknüpft mit der Bitte um ein Begräbnis, was Odysseus ihm ver- spricht. Hiermit wird zugleich die Motivation für eine Rückkehr nach Aiaia zu Kirke gegeben, wo Odysseus eine weitere, konkretere Prophezeiung als die des Teiresias hö- ren wird.

Elpenor fungiert also als Schwellenfigur: Er ist es, der in den Hades hineinführt, als die erste der Seelen, mit denen Odysseus in Kontakt tritt. Zudem stellt Odysseus verwunderte Frage „Bist du eher zu Fuß hier als ich mit dem schwarzen Schiffe?“15 Elpenor in eine direkte Verbindung mit dem Weg zu Hades. Auch die Rückkehr in die Sphäre des Lebens bereitet dieser nun durch seine Bitte um Begräbnis vor. Zugleich führt er Odysseus durch den Dialog, den er mit ihm führt, in die Vergangenheit ein, in die der Held in der nächsten Station weiter eintreten wird.

b) Die Prophezeiung des Teiresias

Obwohl Odysseus‘ Beschwörung lediglich der Seele des Teiresias galt, steigen nach El- penor andere Seelen, vom Blut angelockt, aus der Unterwelt hervor. Odysseus macht unter den Toten seine eigene Mutter Antikleia aus, die er bisher nicht tot wähnte, hält jedoch auch sie, den Anweisungen Kirkes folgend, von der Nekyomantie fern.

Die durch seine prophetischen Fähigkeiten bedingte Sonderstellung des Teiresias unter den Toten war bereits in Buch 10 angekündigt worden: Er allein sei bei Verstand und ihm sei auch in der Unterwelt Einsicht gegeben. Dementsprechend erkennt er Odysseus sofort und kündet nach dem Trinken des Blutes die Zukunft. Zunächst benennt er die re- ligiöse Dimension der Irrfahrten durch den Verweis auf den Groll der Götter, insbeson- dere des Poseidon. Dennoch könnte Odysseus mit seinen Gefährten trotz großem Lei- den seine Heimat Ithaka erreichen, wenn sie auf der Insel Thrinakia die Rinder des Son- nengottes Helios unberührt lassen würden. Teiresias benennt ihm eine wesentliche Vor- aussetzung für seine baldige Heimkehr und verrät zugleich eine kommende Station des nostos, die Insel Thrinakia. Hier eröffnet sich für den Leser jedoch eine weitere Bedeu- tungsebene, die Odysseus verschlossen bleibt. Denn schon im Proömium hatte Homer angekündigt, dass die törichten Gefährten sich durch das Verspeisen der Rinder des He- lios die Heimkehr verderben werden. Da der griechische Leser bzw. Hörer um die Inef- fizienz dieser Warnung des Teiresias weiß, lässt Homer Teiresias die Alternative erör- tern: Er kündigt Verderben für Odysseus‘ Schiff und seine Gefährten an und verweist darauf, dass mit dem Erreichen der Heimat die Strapazen noch kein Ende nehmen wer- den, sondern fremde Männer um seine Frau freien würden16. Auch wenn Teiresias keine Einzelheiten über den Verlauf der Heimkehr verlauten lässt, erfährt Odysseus durch ihn immerhin, dass er heimkehren wird. Doch dies ist nicht die einzige Neuigkeit, die der Held des Epos durch den blinden Seher erfährt. Der zweite Teil der Prophezeiung weist über die Heimkehr und damit - wie die Heldenschau in Vergils Aeneis - über das Epos selbst hinaus: Eine weitere Reise stehe Odysseus bevor; er müsse direkt nach der Rache an den Freiern fortgehen in ein Land, dessen Bewohner das Meer nicht kennen, bis er einem Wanderer begegne, der sein Ruder für eine „Worfschaufel“17 halte, und dort Po- seidon Opfer darbringen. Dann werde er in hohem Alter einen ruhigen Tod ohne Ago- nie finden.

c) Einschub eines erzählerischen Intermezzos

Nach der Prophezeiung des Teiresias wird die Erzählsituation, in die die Nekyia einge- bunden ist, im Intermezzo deutlich; Odysseus erzählt während des Aufenthaltes bei den Phäaken rückblickend von seinen Irrfahrten. Die Erzählung steht so in „dritter Potenz“18 : Innerhalb des Epos bildet die Erzählsituation am Hof der Phäaken die Gegen- wart, die Erzählung der Odyssee die Vergangenheit und die Prophezeiungen des Teire- sias die Zukunft. Dieser Erzählrahmen bedingt auch die zweite Bedeutungsebene der Prophezeiung des blinden thebanischen Sehers: Sie enthält über die Anweisungen an Odysseus bezüglich seiner Irrfahrten hinaus die Weisung des Odysseus an seine Zuhö- rer, ihn nach Ithaka überzusetzen.

Anschließend erfährt Odysseus von Teiresias von der bereits erläuterten Erinnerungslo- sigkeit der Toten und beschließt, seine Mutter Antikleia, die ihn bisher nicht erkannt hatte, von dem Blut trinken zu lassen und ihr damit kurzzeitig die Fähigkeit der Sprache und der Erinnerung zurückzugeben. Von ihr erfährt er nun von der Art ihres Todes, von dem Befinden seines Vaters Laertes und seines Sohnes Telemachos und von dem Ver- halten seiner Ehefrau. All diese Informationen, die Antikleia ihrem Sohn gibt, sind zwar Auskünfte über die Vergangenheit, bekommen aber für Odysseus, für den sie Neuigkei- ten darstellen, die er ohne die Nekyia erst bei seiner Heimkehr nach Ithaka erfahren würde, eine Zukunftsperspektive. Zugleich wird die gegenwärtige Situation auf Ithaka umrissen. Von seiner Mutter wird Odysseus auch in das Mysterium von Leben und Tod eingeführt, als er feststellen muss, dass er sie trotz dreimaligen Versuches nicht umar- men kann: Der Körper sei sterblich und vergehe, die Seele jedoch fliege als eidolon des früheren Körpers umher.19

Mit dem Intermezzo kehrt die Erzählung zwischenzeitlich auf eine einfache Erzählebe- ne zurück. Odysseus scheint sich hier auf seinen Auftrag zu besinnen und festzustellen, dass jedes weitere Erzählen nur ein Aufschub für das endgültige, ihm in der Nekyia ver- heißene telos, die Heimkehr, bedeutet. Auf Drängen der Phäaken nimmt er seinen Be- richt jedoch wieder mit dem sogenannten Heroenkatalog auf. Hier rekapituliert er im Kontakt mit den verstorbenen griechischen Helden seine eigene -für den griechischen Hörer ferne - Vergangenheit und die Geschehnisse des trojanischen Krieges. Vergange- ner Ruhm wird hier präsentiert, die Gespräche zwischen Odysseus und seinen ehemali- gen Gefährten sind jedoch eher privater Natur. Im Wesentlichen wird in den Gesprä- chen die Vergangenheit durch ihre Aufarbeitung wieder präsent, von besonderem Inter- esse sind jedoch auch in die Zukunft hinausdeutendende Elemente in den Dialogen. So verweist Agamemnon in Zusammenhang mit der Erzählung seines eigenen Todes dar- auf, dass Odysseus nicht durch die Hand seiner Frau sterben werde.

d) Blick ins Innere der Unterwelt zu den mythologischen Figuren

Dem Kontakt mit den Seelen Verstorbener - nur im Fall des Aias kommt es zu keinem Dialog, die Vergangenheit wird nicht aufgearbeitet - folgt der Blick in den Hades, der sich hier Odysseus‘ Blicken öffnet. Homer beschreibt die Situation der mythologischen Figuren Sisyphos, Tantalus und Tityos, der drei großen Büßer, und baut hierdurch eine weitere Ebene, die mythologisch-fiktive, neben der geschichtlichen auf.

Zugleich entstehen auch hier wieder Querverbindungen zu anderen literarischen Wer- ken, insbesondere durch die Darstellung des Herakles im Tartarus. Die besondere Be- deutung dieser Figur wird dadurch ersichtlich, dass sie die einzige der im Hades befind- lichen Seelen ist, die Odysseus direkt anspricht. Hierdurch stellt Homer nicht nur seinen Helden in den Vergleich mit der griechischen Heroenwelt, sondern auch sein Werk in Konfrontation mit anderen Werken, insbesonder der Katabasis des Herakles. Diese Ver- bindung zu Vorgängern dient der Nobilitation und Legitimation des eigenen Epos.

5. Ausgang

Die Nekyia endet mit der Flucht des Odysseus angesichts der vielen, zum Blut strömenden Seelen und seiner Rückkehr zu Kirke auf die Insel Aiaia, wo er Elpenor begräbt und von Kirke eine weitere Prophezeiung hört.

III. Ausführung der grundlegenden Struktur bei Vergil

1. Der Held

Schon in babylonischen Texten wird die Unterwelt als „Land ohne Rückkehr“20 bezeichnet. Die Vorstellung, dass jeder Mensch die Unterwelt nur einmal und nur nach seinem Tod aufsuchen kann, war in der Antike durchaus verbreitet21 ; auch Sibylle bezeichnet den Hades als regna invia vivis (V. 154). Innerhalb dieses natürlichen Weltgefüges nimmt Aeneas offensichtlich eine Sonderstellung ein.

Nach Vergil sind für den Helden die wichtigsten Wegweiser zur Katabasis die Traumer- scheinungen des Anchises. Bereits im vierten Buch verweist Aeneas beim tragischen Abschied von der karthagischen Königin Dido auf die Traumvisionen, in denen sein Vater ihn ermahnt, auf den von fatum aufgezeigten Weg zurückzukehren22. Durch diese Konstruktion Vergils, dass Anchises als Wegweisender auch über den Tod hinaus eine entscheidende Hilfe für den umherirrenden Helden bleibt, wird eine Existenz nach dem Tod prinzipiell bejaht und somit die Möglichkeit zu der in Buch VI beschriebenen Va- ter-Sohn-Begegnung gegeben. Konkreter werden die Anweisungen des Anchises im fünften Buch während der Leichenspiele für den Verstorbenen: Ditis tamen ante infer- nas accede domos et Averna per alta congressus pete, nate, meos.23

Aeneas wird hier formell zur Katabasis aufgefordert; als Führer in die Unterwelt soll ihm die Sibylle von Cumae dienen; bereits im Irrfahrtenbuch war Aeneas durch den Se- her Helenus aufgefordert worden, die Prophetin in Bezug auf sein Schickal zu konsul- tieren24. In seiner pietas gehorcht der Sohn nun den Befehlen des Sehers und seines Va- ters, der seine Legitimation von Jupiter selbst bezieht25. Zugleich jedoch treibt ihn die Sehnsucht nach seinen Vater im Rahmen seiner persönlichen Vergangenheit und emo- tionalen Gefühlswelt. Die Katabasis ist also ausdrücklich zweifach motiviert. Anchises vereint an dieser Stelle deutlich die öffentliche und private Stimme der Aeneis in sich26.

[...]


1 Nur in Ausnahmefällen kommt es nicht zu einem Gespräch, sondern bleibt bei einer einseitigen Anrede des in die Unterwelt Hinabgestiegenen.

2 Hierbei verlasse ich mich mangels Griechischkenntnisse auf die Übersetzung von Wolfgang Schade- waldt.

3 HOMER, Die Odyssee 10, V. 491

4 In der Literatur wird jedoch oft eine Intention für diese Abweichung vom nostos auf Textebene bemängelt, was mit der Prophezeiung der Kirke, die die des Teiresias a posteriori unnötig zu machen scheint, zusammenhängt; vgl. PLATTHAUS, Höllenfahrten, 97

5 HOMER, Die Odyssee 10, V. 496

6 HOMER, Die Odyssee 10, V. 502

7 STORCH, Zur Behandlung der homerischen Nekyia, S.76

8 Vgl. CLARUS, Odysseus, S. 8; siehe auch CICERO, De officiis 3, 96-99

9 TSAGARIKES, Studies in Odyssey 11, S.23

10 Homer, Odyssee 10, V. 502, zitiert in: LESSING, Die Odyssee, S.23

11 RAHNER, Griechische Mythen in christlicher Deutung, S. 246

12 Die schwarze Färbung der geopferten Tiere verweist in diesem Zusammenhang auf die Unterwelt.

13 STORCH, Zur Behandlung der homerischen Nekyia, S.77

14 STORCH, Zur Behandlung der homerischen Nekyia, S.78

15 HOMER, Odyssee XI, V. 58

16 HOMER, Odyssee XI, V. 113-117

17 HOMER, Odyssee XI, V. 128

18 PLATTHAUS, Höllenfahrten, S. 99

19 Es folgt der Heroinenkatalog, der hier nicht detailliert analysiert, sondern lediglich in seiner Funktion erklärt werden soll. Er sucht die Einbindung in die epische Tradition durch die Verknüpfung der Nekyia des Odysseus mit anderen antiken Legenden über Totengespräche und weist so über das Epos selbst hinaus auf den geschichtlich-fiktiven und mythologischem Zeitkontext.

20 FOß, Die Ausbildung der Jenseitsvorstellungen, S. 51

21 Das Phänomen der Seelenwanderung, bei dem die Seele nach 1000-jähriger Läuterung im Jenseits er- neut inkorporiert wird, kann in diesem Zusammenhang außer Acht gelassen werden, da es sich nicht um Menschen im eigentlichen Sinne, sondern um mentes/ eidola handelt, die auf die Erde zurückkommen.

22 VERGIL, Aeneis, IV, 351-353

23 VERGIL, Aeneis, V, 731-733

24 VERGIL, Aeneis, III, 456-457

25 Vgl. VERGIL, Aeneis, V, 725/26

26 Vgl. PLATTHAUS, Höllenfahrten, S. 111

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Der Gang des Helden in die Unterwelt als Weg zu Vergangenheit und Zukunft
Hochschule
Ursulaschule Osnabrück  (Ursulaschule Osnabrück)
Autor
Jahr
2008
Seiten
57
Katalognummer
V163852
ISBN (eBook)
9783640787371
ISBN (Buch)
9783640787494
Dateigröße
737 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Im Rahmen des Rerum Antiquarum Certamen, Schülerwettbewerb „Alte Sprachen 2007/2008“, ausgerichtet vom Niedersächsichen Altphilologenverband NAV
Schlagworte
Vergil, Aeneis, Katabasis
Arbeit zitieren
Wiebke Voß (Autor:in), 2008, Der Gang des Helden in die Unterwelt als Weg zu Vergangenheit und Zukunft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163852

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