Dort, wo der Staat nicht hinkommt

Beschreibung des Phänomens Zeitratgeber als eine besonders effektive Form der Selbsttechnologie im neoliberalen Zeitalter


Seminararbeit, 2009

20 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung ins Thema

2. Arbeit im Wandel - dem Zeitratgeber auf der Spur
2.1. Die Zeit der Stempeluhr ist abgelaufen
2.2. Von der Entgrenzung zur Erschöpfung

3. Gouvernementalität und der Aufstieg des Selbst-Unternehmers

4. Der Zeitratgeber - wie funktioniert er, was will er?
4.1. Zeitratgeber älterer Herkunft
4.2. Der neue Zeitratgeber
4.3. Funktion und Wirkung neuer Zeitratgeber
4.3.1. Das Ich als Andockstelle
4.3.2. Entscheidungshilfen
4.3.3. Pakt mit der Wissenschaft, Flirt mit der Religion

5. Schlüsse

Literaturverzeichnis

1. Einführung ins Thema

Auch wenn niemand gerne zugibt, Rat und Unterstützung von wildfremden Menschen zum Beispiel in Sexfragen, im Gewinnen von Selbstvertrauen oder beim Verlieren von Körpergewicht zu benötigen - die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das Internet-Versandhaus amazon.de rechnet gut 138’000 Titel in ihrem Buchsortiment der Kategorie Ratgeber zu. Diese beeindruckende Zahl hat vor allem damit zu tun, dass sich das Ratgeben in alle Lebensbereiche hinein und damit auch auf die gesamte Sachliteratur ausdehnen lässt. Zwar war bereits ab Ende des 18. Jahrhunderts eine stattliche Anzahl bürgerlicher Anstands- und Manierbücher im Umlauf (Maasen 2004: 224), dennoch hat erst in jüngster Zeit eine eigentliche Kolonialisierung des Alltags durch Ratgeber stattgefunden. Die moderne Gesellschaft stellt eine Vielzahl von Anforderungen an ihre Mitglieder. Gleichzeitig hat der Staat damit aufgehört, sich an Stelle der Bürgerinnen und Bürger darum zu sorgen, dass diese den Anforderungen auch gerecht werden. Stattdessen ist er dazu übergegangen, die Verantwortung auf jeden Einzelnen zu übertragen. Der Bandbreite an Zonen der Intervention ist dabei keine Grenze gesetzt: Vom Haarausfall bis zur Geldanlage, von Schüchternheit über die Arbeitssucht bis hin zur erfolgreichen Vermarktung von Wildbret für Jäger gibt es nichts, was sich nicht durch gezielte Anleitungen (zur Selbst-Therapie) lösen, vermehren, vermindern, verbessern liesse.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf das Phänomen der Zeitratgeber. Auch wenn diese nur einen kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit wiedergeben, so zeigt doch diese Form des Ratgebens exemplarisch auf, wie hier das Individuum mittels diversifizierten „Techniken der Selbst- und Handlungskontrolle“ (ebd: 229) zur Konstruktion eines, wie vom Soziologen Ulrich Bröckling eindrücklich beschriebenen, „unternehmerischen Selbst“ angeleitet wird.

Wo ist das Problem? Ist es denn nicht wünschenswert, durch ein gezieltes Management seines Alltags mehr Zeit für sich, für die Familie, für die Erholung und damit weniger Stress im Beruf zu haben, wie das die Ratgeberautoren versprechen? Was ist dagegen einzuwenden, wenn einem dank der erlangten Zeitsouveränität „Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung nach eigenen Bedürfnissen oder Zielvorstellungen“ (Seiwert 2000: 86) ermöglicht wird? Bevor wir uns dieser verfänglichen Frage nähern, müssen wir uns die ambivalente Natur von Ratgebern vergegenwärtigen. Maasen rückt den Ratgeber als „Vehikel der Selbstführung und der Fremdführung“ (Maasen 2004: 234) in den Blick. Dieses spricht das Individuum als Entscheider an, „der zwischen Alternativen wählen oder tragfähige Kompromisse bilden muss“ (ebd: 232), wobei es „wollende, wählende, entscheidende Selbste gewissermassen in einer Doppelbewegung von Individualisierung und Normalisierung“ erzeugt (ebd: 233). „Doch wie lernt man zu wollen und zu wählen? Da hilft wohl nur eine Entscheidung zur Paradoxie: Ich muss das Wollen wollen und das Wählen wählen. Invisibilisiert wird dieser Schritt durch das Zauberwort Selbstmanagement, die aktuelle Formel für Selbstdisziplin“ (ebd.: 212). Bei der Herstellung dieses Paradox spielt der Ratgeber eine vorbildliche Rolle. Sein Appell an das Selbst, an sich zu arbeiten und seine Arbeitshaltung zu verbessern, findet in zahlreichen Techniken (meist schriftlich fixiert in Form von Tagebüchern, Vereinbarungen mit sich selbst, To-do-Listen) Niederschlag. Das Erreichen eines wünschbaren Zustands wird so mit einer „Multiplizierung von Verantwortlichkeiten“ (Opitz 2004: 126) gekoppelt, was laut Opitz einem zentralen Kernstück der Gouvernementalität entspricht, dessen ultimatives Ziel wiederum der Selbsttechniker als Unternehmer seiner Arbeitskraft ist (ebd: 144).

In dieser Arbeit versuche ich, diesen Aspekt von einer politisch-ökonomischen Perspektive heraus zu beleuchten. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der von neoliberalen Prämissen dominierten Arbeitswelt die Entgrenzung von Arbeit und damit die physische wie psychische Belastung der Arbeitnehmenden einen Höhepunkt erreicht haben, versuche ich zu zeigen, dass die boomende Zeitratgeberliteratur in dieser Krisensituation nicht einfach eine willkommene (Über-)Lebenshilfe bietet, sondern nachgerade als eine Art Programm zur Aufrechterhaltung, ja Steigerung dieser Weise der Bewirtschaftung von Humankapital angelegt ist. Damit dies nicht bloss eine Unterstellung bleibt, ist es nötig, die Wirkungsweise des Zeitratgebers zu untersuchen. Ich werde mich dabei auf den von Foucault geprägten Begriff der Gouvernementalität beziehen und den Ratgeber als ein Konstrukt aus Mikro-Techniken beschreiben, die dazu imstande sind, das Individuum aus der Distanz „gleichermassen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen“ (Foucault 2000: 63).

2. Arbeit im Wandel - dem Zeitratgeber auf der Spur

Dieses Kapitel gibt einen groben Überblick über die Neuordnung, die im Zuge der Neoliberalisierung für die Arbeitspolitik in Unternehmen vorgenommen worden ist. Dabei lässt sich nüchtern feststellen, dass die „klassischen“ Arbeitsverhältnisse in bürokratisch organisierten Betrieben (sprich: 8-Stunden-Tag, 5-Tage-Woche, fix eingeplante Pausen, klare Trennung von Privat und Büro etc.) fortlaufend erodieren oder, im Falle grosser, global tätiger Unternehmen schon länger nicht mehr vorhanden sind. Neue Arbeitsmodelle, die sich durch eine zunehmende Entgrenzung auszeichnen, also durch eine besondere Betonung von Flexibilität und einer verstärkten Selbstkontrolle, bürden dem Arbeitnehmer ein bis anhin nicht gekanntes Mass an Verantwortung auf. Die Folge: Ausfälle aufgrund psychischer Probleme am Arbeitsplatz nehmen zu. Erscheinungen wie die immer noch anwachsende Zeitratgeberliteratur sind ein Symptom dieser Entwicklung.

2.1. Die Zeit der S tempeluhr ist abgelaufen

Das allmähliche Verschwinden der Stechuhr und weiterer Arbeitszeitmessgeräte ist ein Indiz dafür, dass sich in der Beziehung der Arbeitenden zu ihrer Arbeit etwas Wesentliches verändert hat. Hat die Stech- oder Stempeluhr die Angestellten noch dazu angehalten, ihren Arbeitstag innerhalb der arbeitsrechtlichen Dimensionen einzurichten, locken neue Modelle mit mehr Freiheit und Flexibilität. Vertrauensarbeitszeit heisst das Zauberwort. „Plakative Formeln, wie z.B. ,Gruppenarbeit’, ,Mitarbeiter als Unternehmer’, ,Empowerment’, geben einen groben Eindruck von solchen Veränderungen: Mehr oder minder grossen Gruppen von Beschäftigten wird in oft erstaunlichem Masse und in zum Teil ganz neuen Formen erweiterte Eigenverantwortung abverlangt“ (Voss/Pongratz 2002: 127). Voss und Pongratz sichten hier das Entstehen einer neuen Haltung des Selbst zu seiner Arbeit: ihr Arbeitskraftunternehmer ist gekennzeichnet durch eine erweiterte Selbst-Kontrolle, durch einen Zwang zur forcierten Ökonomisierung seiner Arbeitsfähigkeiten sowie eine entsprechende Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung (ebd: 128). Unter dem Stichwort Flexibilisierung werden zunehmend neue, im Endeffekt rein ergebnisorientierte Arbeitsmodelle in Betrieben implantiert, die den Angestellten ein erhöhtes Mass an Selbstorganisiation auferlegen. Dazu gehört auch die Förderung der Heim- und Mobilarbeit, womit die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben zusehends durchlässig werden. „Zielsetzung der neuen Formen der Arbeitsorganisation ist damit ein grundlegend erweiterter und letztlich sogar nahezu ,totaler’ Zugriff auf die gesamte Person gegenüber der bisher allenfalls partiell möglichen Verfügung über ihr Arbeitskraftpotential“ (Kleemann et al. 2003: 72). All dies kennzeichnet eine Entwicklung, die unter dem Begriff „Subjektivierung von Arbeit“ Eingang in die arbeitssoziologische Debatte gefunden hat.

Entgrenzungsphänomene dieser Art sind vor dem Hintergrund der neoliberalen Revolution in der Ökonomie ab den 1970er Jahren zu sehen, die das Ende von Taylors kontrollorientierter, den Arbeitnehmer eng an den Betrieb schmiedende Arbeitsphilosophie einläutete. Diese erwies sich „zunehmend als unzureichend, um die angestrebten weiteren Produktivitätssteigerungen zu erreichen. Denn weitere Kontrollverschärfungen erzeugen in immer mehr Bereichen überproportional steigende Kosten, begrenzen die Leistungsbereitschaft und behindern vor allem die Nutzung der zunehmend wichtiger werdenden Fähigkeiten von Arbeitenden, schnell und kreativ auf komplexe Anforderungen zu reagieren“ (Voss/Pongratz 2002: 136).

Was folgt daraus? Wie lässt sich ein derart umfangreiches Kontrollsystem nutzbringend und gleichwohl wirkungsvoll ersetzen? Die Antwort liegt in der Internalisierung jener Mechanismen, die zuvor auf die Arbeitenden angewendet und diese diszipliniert hatten. Damit sind wir bereits beim entscheidenen Wirkungsmechanismus der Gouvernementalität angelangt, der weiter unten beschrieben wird, und als deren Teileffekt wir auch die Zeitratgeberliteratur anzusehen haben.

2.2. Von der Entgrenzung zur Erschöpfung

Gemäss der 4. europäischen Erhebung über die Arbeitsbedingungen (2005) empfindet jeder dritte Berufstätige in der Schweiz, dass seine Gesundheit durch die Arbeit beeinträchtigt wird. Psychische Belastungen nehmen dabei einen herausragenden Stellenwert ein: Stress, Erschöpfungszustände, Schlaflosigkeit oder Kopfschmerzen sind häufige Begleiter am Arbeitsplatz - und darüber hinaus. Auch der Spitzenreiter Rückenschmerz (bei 18 Prozent der Befragten) lässt sich nicht alleine auf ergonomische Ursachen zurückführen. Der Zusammenhang zwischen psychischer Belastung und Muskelverspannungen ist in der Stressliteratur gut belegt[1].

Die Studie weist zudem einen in der Schweiz überdurchschnittlich hohen Arbeitsdruck aus: 73% der abhängig Beschäftigten geben an, zumindest teilweise ein hohes Arbeitstempo zu haben, 69% arbeiten mindestens einen Teil ihrer Arbeitszeit unter Termindruck. Stress und körperliche Beschwerden wiederum steigen mit zunehmendem Arbeitstempo stark an (Jaggi 2008: 16). Die Folgen dieser Entwicklung wirken sich auch auf die IV-Statistik aus. So verzeichnete der Bund für das Jahr 2007 eine Zunahme jener Fälle, die aufgrund psychischer Erkrankung eine IV-Rente beziehen, von 7,2 Prozent. Damit ist bereits mehr als jeder dritte IV-Rentenbezug der Schweiz auf psychische Beschwerden zurückzuführen. In Zahlen ausgedrückt: 91000 Personen (Stand 2007). Die Kostendimension eines Burnout-Falles wurde von einem St. Galler Anwalt-Duo wiederum mit 39’1400 Franken an direkten Belastungen für Arbeitgeber und Sozialversicherungen angegeben (Petermann/Studer 2003: 762).

Zahlenspiele dieser Art haben stets zwei Aussagen, die allerdings untrennbar miteinander verbunden sind und letztlich auf dasselbe hinauslaufen: „Es geht um die Gesundheit, Ihre eigene und die des Unternehmens!“[2] Die unter Entgrenzungsbedingungen auferlegte Arbeit ist zu einer Last geworden, die zunehmend in physischen und psychischen Erschöpfungszuständen ausartet. Gleichzeitig sind aber die dafür verantwortlichen Arbeitsmodelle das eigentliche Rückgrat neoliberaler Wirtschaftsweise - und daher unverzichtbar. Das ist der Punkt, an dem der Ratgeber ansetzt. Sein Erscheinen und vor allem sein Erfolg ist eine Reaktion auf die Krise der (post-)modernen Gesellschaft.

[...]


[1] So erklärt zum Beispiel der Schmerztherapeut Marcus Schiltenwolf in einem Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Focus (Nr. 26, 2005) den Zusammenhang zwischen psychischer Belastung, Stress und Rückenschmerz. Die weiter oben und im Folgenden genannten Zahlen der Studie beschränken sich auf Erhebungen in der Schweiz. Der europäische Durchschnitt liegt bei den genannten Symptomen um jeweils rund 10 Prozent höher.

[2] Das unter anderem vom Seco, dem Schweizerischen Staatssekretariat für Wirtschaft, getragene Stress­Informationsportal im Internet macht mit diesem Aufruf auf die Notwendigkeit einer vorsorgenden Selbstführung am Arbeitsplatz aufmerksam (www.stressnostress.ch/d/06-Massn2/str-06-01.html).

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Dort, wo der Staat nicht hinkommt
Untertitel
Beschreibung des Phänomens Zeitratgeber als eine besonders effektive Form der Selbsttechnologie im neoliberalen Zeitalter
Hochschule
Universität Basel
Veranstaltung
Technologien des Selbst und des Sozialen
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V163415
ISBN (eBook)
9783640804269
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zeit, Ratgeber, Gouvernementalität, Foucault, unternehmerisches Selbst, Neoliberalismus, Postfordismus, Selbsttechnologie
Arbeit zitieren
Markus Kocher (Autor:in), 2009, Dort, wo der Staat nicht hinkommt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163415

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