Die Qual der Wahl

Schriftliche Ausarbeitung zu einem Referat über "Das System der Dinge" von Jean Baudrillard


Seminararbeit, 2007

9 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Neulich im Supermarkt: Ein durstiger Mensch steht vor einem Regal, gefullt mit alkoholfreien Erfrischungsgetranken aller Art. Er hat die Wahl: Es gibt mit Sauer- stoff angereichertes Mineralwasser (Adelholzer Alpenque llen), Cola ohne Zucker (Coca Cola Zero), fermentierte Limonade aus okologischer Produktion (Bionade), Wachmacher mit Stiergalle (Red Bull) und vieles mehr. Die angebotene Waren- vielfalt scheint schier unermesslich. Sich unter der Vielzahl der Produkte das passendste auszuwahlen, fallt nicht leicht. Mehr als 2500 alkoholfreie Getranke sind 2003 als Produktneuheiten in deutsche Regale gekommen, viele davon ver- schwinden nach kurzer Zeit wieder aus den Supermarkten und werden durch noch neuere Produktneuheiten ersetzt.[1] Diese enorme Auswahl an Produkten laftt sich durch den bloften Verweis auf das menschliche Bedurfnis nach Flus- sigkeit nur unzureichend erklaren. Schlieftlich geht es baum Kauf einer Sache fur den Kaufer meist neben dem eigentlichen Bedarf auch um die Befriedigung von Bedurfnissen wie etwa Anerkennung, Freiheit und soziale Abgrenzung, die jedoch immer auch soziale Integration bedeutet. Die unuberschaubare Auswahl von Dingen innerhalb einer einzelnen Produktgattung findet sich dabei in alien Bereichen der industriellen Produktion. “Die Gegenstande des taglichen Gebr- auchs (...) zeigen eine sprunghafte Zunahme, die Bedurfnisse werden immer vielfaltiger, die Produktion beschleunigt ihr Kommen und Gehen, und schlieftlich ermangeln wir der Worter, um alle mit Namen zu benennen”.[2] Aber welches Produkt ist nun das Beste fur den individuellen Durst? Womoglich ist es am Ende die beste Entscheidung, auf Leitungswasser aus dem Wasserhahn zuruckzugrei- fen, um den Durst zu loschen.

Doch je komplexer das Produkt in Hinblick auf seine technologische Perfor-mance und die Art seiner Verwendung, je undurchsichtiger sein individueller Ge- brauchswert und desto schwieriger die Kaufentscheidung. Der Symbolcharak- ter eines Produktes ist dabei unterschiedlich stark ausgepragt und bringt einen entsprechenden Grad der Differenzierung mit sich. Wer sich heute zum Beispiel fur ein neues Mobiltelefon entscheiden muss, kann aus einem riesigen Katalog an unterschiedlichen Modellen auswahlen, die sich nicht nur in ihren technischen Leistungen unterscheiden, sondern vor allem auch in Hinblick auf ihre Gestaltung stark differenziert sind. So gibt es Modelle fur Frauen, Geschaftsleute, Jugendliche, Sportier, Senioren, Trendsetter, Autofahrer oder Videospieler. Wer sich an- gesichts dieser Vielfalt nicht fur das passende Modell entscheiden kann, hat die Moglichkeit sich durch entsprechende Anwendungen im Internet Abhilfe zu ver- schaffen: Nach ausgewahlten Kriterien kann der potentielle Kunde das geeignet- ste Gerat ermitteln. Die vorgegebenen Kriterien schlieften allerdings die formalen Vorlieben nicht mit ein, wenngleich diese beim Kauf eines Handys offensichtlich von besonderer Bedeutung sind. Dies ist sicher nicht zuletzt durch den Umstand zu erklaren, dass ein Handy ein in hohem Mafte individueller und personlicher Gegenstand ist. Denn im Gegensatz zu einem Festnetztelefon besitzt das Handy eine direkte Zuordnung zu einer Person und wird damit zum wirklich personlichen Utensil. Die reine Funktion des Telefonierens verliert dabei an Bedeutung. Der Besitzer eines Mobiltelefons stellt sich mittels seines Gerates dar, das Telefon wird als Zeichen fur das jeweilige Umfeld lesbar. Die Kommunikation funktioniert hier durch die Gestaltung ebenso wie durch die Technologie.

Jean Baudrillard beschreibt in seinem Buch “Das System der Dinge - Uber unser Verhaltnis zu den alltaglichen Gegenstanden” die Welt der Gegenstande anhand ihres symbolischen Charakters. Dieser Betrachtungsweise liegt die An- nahme zugrunde, dass die Dinge des Alltags Aufschluft geben uber die Person- lichkeit ihres Benutzers. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Symbolgehalt eines Gegenstandes in unmittelbarem Zusammenhang steht zur Verfugbarkeit des Produktes innerhalb eines Kulturkreises und zur Moglichkeit der differenzi- erten Wahl. Denn je grofter das Angebot an verfugbaren Konsumgutern inner-halb einer Produktgattung ist, desto individueller und desto aussagefahiger ist die Kaufentscheidung in Bezug auf die Personlichkeit des Kaufers oder Benutzers. Wohl auch deshalb vermeidet es Jean Baudrillard, in seinem Werk die Produkt- welt in staatlich gelenkten Industriegesellschaften wie der DDR in seine Betrach- tungen mit einzubeziehen, die sich bekanntermaften durch eine Beschrankung der Wahlmoglichkei wt auszeichnen. Die Moglichkeit der Wahl ist damit ein ents- cheidendes Kriterium fur die Gultigkeit einer Betrachtungsweise, die den sym-bolischen Wert der Dinge gegenuber ihrem bloften Gebrauchswert herausstellt. Die Freiheit der Wahl bildet deshalb auch den Schwerpunkt dieser Ausarbeitung.

Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich auf das vierte Kapitel “Gegenstande und Verbrauch”, in dem Baudrillard die gesellschaftliche Bedeutung der Differen- zierung von Serienprodukten beschreibt. Baudrillard schreibt, die Moglichkeit der Wahl sei in einer industrialisierten Gesellschaft nicht zuletzt als Zeichen formeller Freiheit zu verstehen, die jedem Mitglied der Gesellschaft unabhangig von den materiellen Moglichkeiten des Kaufs zugestanden werde.[3] Der freie Markt stelle zunachst einmal jedem Mitglied der Gesellschaft sein Angebot in seiner ganzen Fulle zur Verfugung. Die Botschaft an den Konsumenten lautet also: “Du hast die Wahl!”. Diese suggerierte Form der Wahlfreiheit bleibe zunachst niemandem verschlossen, sie ist offen und scheinbar fur jeden zuganglich. Die Globalisier- ung der Markte und der Wegfall von Handelsbeschrankungen verstarken diesen Eindruck. Alles scheint jederzeit und allerorts verfugbar. Der Markt scheint sich damit ganz nach dem Willen der Konsumenten zu formen und sozusagen stets im Auftrag seiner Kunden zu handeln. Die freie Marktwirtschaft erzeugt daraus ihr Selbstverstandnis. Der Mangel an Kaufkraft, der moglicherweise die freie Wahl einschrankt oder den Kauf ganz und gar verhindert, wird dabei nicht als Aus- grenzung empfunden, weil dieser Mangel nicht grundsatzlich zu sein scheint und damit zur Verheiftung der formellen Freiheit nicht in Widerspruch gerat. Es gilt der Grundsatz: Was der Verbraucher will, entscheidet er am Markt - unabhangig davon, ob er sich die Freiheit der Wahl auch tatsachlich leisten kann. Das indivi- duelle Bedurfnis bildet scheinbar die Grundlage fur die Vielzahl an Gegenstan- den, die vorgibt den Wunschen des Verbrauchers zu entsprechen. Die Differen- zierung der Ware wird zum Versprechen der unbegrenzten Moglichkeit, das sich mittels des Serienproduktes erfullt.

[...]


[1] Marcus Rohwetter, Was aus der Fabrik kommt, wird gegessen! , in Die Zeit 29.01.2004 Nr.6, Hamburg 2004

[2] Jean Baudrilard, Das System der Dinge, Frankfurt/ Main 2001, S. 9

[3] Jean Baudrilard, Das System der Dinge, Frankfurt/ Main 2001, S. 175

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Die Qual der Wahl
Untertitel
Schriftliche Ausarbeitung zu einem Referat über "Das System der Dinge" von Jean Baudrillard
Hochschule
Bauhaus-Universität Weimar  (Fachbereich Gestaltung)
Veranstaltung
Seminar "Design und Psyche" (Prof. Dr. Siegfried Gronert)
Note
1,7
Autor
Jahr
2007
Seiten
9
Katalognummer
V163332
ISBN (eBook)
9783640798681
ISBN (Buch)
9783640798544
Dateigröße
395 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Produktdesign, Design und Psyche, Konsum, Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Konsumkritik
Arbeit zitieren
Christopher Doering (Autor:in), 2007, Die Qual der Wahl, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163332

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