Der Ehrbegriff im islamischen und westlichen Kulturkreis

Eine Gegenüberstellung


Essay, 2009

12 Seiten, Note: 1, 3


Leseprobe


Der Ehrbegriff im islamischen und westlichen Kulturkreis

-Eine Gegenüberstellung-

Der Begriff der „Ehre“ wird im islamischen Kulturkreis völlig anders verstanden als im christlichen. Für mich als Deutsche, die nicht viel Kontakt zu Menschen aus der islamischen Kultur pflegt, ist es schwer, sich in eine Perspektiver hineinzuversetzen, die von der unseren so verschieden ist. Denn die deutschen und die islamischen Familien leben zwar hier gemeinsam, jedoch leider wissen sie immer noch sehr wenig voneinander. Auch wenn man als Deutsche/r mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, ergibt sich selten ein Kontakt zu Migrantenfamilien, und die Vorstellungen darüber, wie türkische Familien leben und denke, bleibt vage. Indem ich mich mit diesem Thema befasse, möchte ich lernen, mich besser in die andere Sichtweise hineinzudenken und das Gefühl der Fremdheit und Angst ein wenig abzubauen. Hierbei beleuchte ich einerseits das Verständnis des Ehrbegriffs im traditionellen Sinne als auch modernere Sichtweisen von Menschen aus dem gleichen Kulturkreis. Für Letztere standen mir zwei Studentinnen der evangelischen Fachhochschule als Interviewpartnerinnen zur Verfügung. Bezüglich der traditionellen Sichtweise war es, trotz einiger Mühen meinerseits, nicht möglich, Menschen zu finden (ich suchte in erster Linie nach Männern), die mir für ein persönliches Interview zur Verfügung stehen wollten. Deshalb habe ich auf Literaturquellen zurückgegriffen und orientiere mich im Wesentlichen an dem Buch „Eure Ehre-unser Leid“ von Serap Cileli.

Bei dem überwiegenden Teil der Leser dürfte das Wort „Ehre“ sofort Assoziationen zu dem Thema „Ehrenmord“ auslösen. Deshalb ist es mir wichtig daraufhinzuweisen, dass ich in diesem Essay nicht das Thema des „Ehrenmordes“ im speziellen behandeln will, sondern nur herausfinden möchte, wie Menschen des islamischen Kulturkreises bezüglich des allgemeineren Begriffes „Ehre“ denken und fühlen. Darüber hinaus möchte ich an einigen Stellen die in Deutschland gängige Vorstellung zum Thema Ehre der türkischen Wertvorstellung gegenüberstellen. Hierbei wird die türkisch-islamische Seite natürlich den wesentlich größeren Raum einnehmen, da die deutsche Seite dem Leser überwiegend bekannt und vertraut ist. Auch ist es selbstverständlich, dass ein Text wie dieser niemals ein vollständiges Abbild der Wirklichkeit gibt, sondern immer nur einen kleinen Ausschnitt aus einem größeren Spektrum der Meinungen und Werte sein kann.

In landläufigem Sinne versteht man in Deutschland unter „Ehre“ ein Verhalten, womit sich jemand die Achtung und den Respekt seiner Mitmenschen verschafft. So werden bestimmte Menschen mit der „Ehrenbürgerschaft“ ausgezeichnet. Hierbei werden sie für ihr Verhalten oder ihr Lebenswerk geehrt, mit dem sie sich in ganz besonderer Weise für Werte der Gesellschaft eingesetzt haben. Meist geht es hier um Werte wie Frieden, Völkerverständigung, soziale Gerechtigkeit, aber auch Kunst und Kultur. So wurde z.B. Wolf Biermann 2007 die Ehrenbürgerwürde verliehen, weil er sich trotz massiver Repressalien seitens der SED-Führung immer wieder für Freiheit und Demokratie einsetzte. Die Bedeutung des Wortes Ehre steht hier in engem Zusammenhang mit dem Begriff „Ruhm“. Durch Ruhm gelangt die Person in das Blickfeld der Öffentlichkeit und wird durch ihre Taten be-rühmt. In jedem Fall ist Ruhm und Ehre etwas, was sich auf das Verhalten eines Individuums bezieht. Ein Einzelner kann sich durch sein Verhalten Ehre erwerben oder verdienen.

Ganz anders verstanden wird dies jedoch im traditionellen türkischen Verständnis. Hier bezieht sich die Ehre nicht auf ein einzelnes Familienmitglied, sondern immer auf die gesamte Familie. Verhält sich ein Familienmitglied „unehrenhaft“, dann ist immer die Ehre der ganzen Familie infrage gestellt. Aber was ist unehrenhaftes Tun und wer verhält sich wann unehrenhaft?

Hier muss man zuerst wissen, dass es innerhalb der Familie eine strenge Hierarchie gibt, an deren erster Stelle der Vater als unangetastetes Oberhaupt steht. Ihm haben sich alle anderen Familienmitglieder unterzuordnen. An zweiter Stelle stehen dann die Söhne oder andere männliche Familienmitglieder. Erst dann kommen Mutter oder Schwiegermutter und am unteren Ende der Ordnung finden sich die Töchter. Ein weiterer wichtiger Aspekt innerhalb der traditionellen türkischen Familie ist der unbedingte Respekt der Kinder vor den Eltern. Diese Tatsache wird durch verschiedene islamische Sittenlehren unterstrichen. Zum Beispiel: „Die sündigen Gläubigen, die als Letzte von der Hölle befreit werden, sind diejenigen, die sich gegen ihre sündigen Eltern empört haben.“ oder: „ Wer seinen Eltern widerspricht, dessen Zunge schneide man ab! Wenn er mit dieser Zunge seine Eltern gekränkt hat, so entferne man diese!“[1] Dieser Gehorsam ist im Islam und in der türkischen Kultur tief verwurzelt und die Kinder benötigen für jedwedes Vorhaben den Segen und die Erlaubnis der Eltern.

Im Gegensatz dazu ist in der deutschen Kultur der unbedingte Gehorsam gegenüber den Eltern eher etwas Altmodisches und es wird als normal empfunden, dass Kinder und insbesondere Jugendliche zeitweise gegen ihre Eltern rebellieren. Da man sich im deutschen Kulturkreis bezüglich Kindererziehung weniger an religiösen, sondern eher an pädagogischen Gesichtspunkten orientiert, wird die Rebellion eines Jugendlichen als zur jeweiligen Entwicklungsstufe dazugehörig interpretiert und sogar als wichtiger Baustein innerhalb der Persönlichkeitsreifung gutgeheißen. Die Entwicklung der Individualität hat einen höheren Stellenwert als die Anerkennung von Autorität. Hierbei genießen Mädchen in der Regel die gleichen Freiheiten und Möglichkeiten wie Jungen.

In der türkisch-islamischen Kultur jedoch ist die Rolle eines Mädchens eine ganz andere als die eines Jungen. Türkische Jungen treten möglichst bald in die Fußstapfen des Vaters und üben sich schon früh in der Rolle des Oberhaupts. Das heißt, sie genießen viele Freiheiten und ein höheres Maß an Selbstbestimmung, während Mädchen stark in ihrem Freiraum eingeschränkt werden. Während die Töchter schon früh auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter vorbereitet werden, können die Söhne ihren Hobbys nachgehen. Im Bezug auf die Familienehre gilt es vor allem das Verhalten der Mädchen frühzeitig zu beeinflussen, damit sie lernen, mit ihrem weiblichen Körper schamhaft und bescheiden umzugehen. Hier gibt es genaue Grenzen und Regeln, wie sich eine ehrenhafte Frau oder ein ehrenhaftes Mädchen zu verhalten hat. Dies gilt sowohl für die Kleidung und die Blicke als auch für die Bewegungen des Körpers. Dabei gilt es besonders darauf zu achten, dass keine Stelle des Körpers unbedeckt bleibt. Unter keinen Umständen darf ein Mädchen die sexuelle Erregbarkeit des Mannes in irgendeiner Weise ansprechen. Denn insbesondere von dem ehrenhaften Verhalten des Mädchens hängt die Ehre der ganzen Familie ab.

Cileli stellt hier zu Recht die Frage, ob man die Ehre einer Frau auf ein unbedecktes Stück Haut reduzieren kann, und ob Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit hierfür nichts bedeuten. Cileli ist der Auffassung, dass diese Einstellung in traditionellen muslimischen Kreisen noch erstarkt ist. Sie zitiert in diesem Zusammenhang den obersten Scheich Australiens, Taj el-Din Hamid al-Hilali, der das nicht bedeckte Fleisch als das eigentliche Problem identifiziert. Bei einer Predigt aus dem Jahre 2006 bezog sich der Scheich auf die Opfer von Vergewaltigungen und favorisierte folgende Lösung: „Wenn Frauen sich vornehmlich zu Hause aufhalten würden, gäbe es keine Probleme. Aber wenn sie sich anzüglich bewegten und Make-up trügen, provozieren sie sexuelle Angriffe.“[2]

Eine solche Einstellung ist für eine deutsche Frau schwer zu verstehen. Es scheint, dass die Frau alleine die Verantwortung für die sexuelle Triebhaftigkeit der Männer trägt? Hierbei zeichnet sich für mich das Bild eines Mannes, das mehr einem Tier gleicht als einem Menschen, der sofort seinen Sexualtrieb befriedigen muss, sobald er eine Frau sieht, bei der nicht jeder Zentimeter Haut sorgfältig bedeckt ist. Aus der Sicht des muslimischen Mannes wird überwiegend die Frau als die sexuelle Verführerin betrachtet.

Die Ehre einer deutschen Familie definiert sich nach meinen Erfahrungen nicht über das sexuelle Verhalten der Töchter. Natürlich hat das Verhalten der Kinder in einer deutschen Familie eine Bedeutung für das soziale Prestige der Familie. Doch das sexuelle Verhalten spielt hier eine untergeordnete Rolle- eher wird hier das Leistungsverhalten bewertet. Faktoren wie zum Beispiel: Welche Schule besuchen die Kinder? Wie gut sind sie in der Schule? Welchen Schulabschluss erreichen die Kinder und was für einen Beruf üben sie aus? Für eine deutsche Familie ist es in der Regel unwichtig, ob es sich um ein Jungen oder Mädchen handelt. Hauptsache ist, das Kind ist auf schulischem oder beruflichem Gebiet erfolgreich. Ein Kind, welches zum Beispiel ein gutes Abitur gemacht hat und gerade sein Medizinstudium aufgenommen hat, macht einer deutschen Familie alle Ehre. Deutschland ist eine Leistungsgesellschaft, in der sich ein Mensch durch Fleiß und „Ehr-geiz“ soziale Anerkennung verschafft. Auch mir selbst wurde von meiner Mutter eingebläut, dass ein guter und möglichst hoher Schulabschluss, der dann wiederum den Zugang zu einem guten Beruf eröffnet, absolute Priorität vor allem Anderen hat. Natürlich lernt auch ein deutsches Mädchen von seinen Eltern, dass es sich nicht jedem Mann an den Hals wirft und bei der Auswahl der Partner Vorsicht walten lassen sollte. Doch weiter wird ein deutsches Mädchen in der Regel nicht in seiner Freiheit eingeschränkt. Eine Befragung von 700 weiblichen Jugendlichen aus 2009 besagt, dass 50% der deutschen Mädchen mit 16 Jahren und 73% mit 17 Jahren ihren ersten Geschlechtsverkehr hatten.[3]

Dagegen ist es für islamische Mädchen, die zwar hier in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen, aber deren Eltern sie trotzdem nach streng traditionell-muslimischen Gesichtspunkten erziehen wollen, besonders schwer. Denn die Eltern befürchten, dass die Kinder sich von den traditionellen Werten abwenden, und wollen deren Fortsetzung unter allen Umständen an ihre Kinder weitergeben. Leider wird vonseiten der Eltern der Tatsache, dass ihre Kinder zwischen zwei sehr gegensätzlichen Kulturen aufwachsen, wenig Rechnung getragen, sodass es zwangsläufig zu Konflikten kommen muss, vor allem für die Mädchen.

Wichtig für türkisch-muslimische Eltern ist, dass sie ihre Töchter als Jungfrauen in eine Ehe geleiten. Davon hängt die Ehre der Familie zum größten Teil ab, denn ein entjungfertes Mädchen entehrt die ganze Familie und findet keinen Ehemann mehr. Darüber hinaus wird das weibliche Geschlecht immer noch als psychisch und physisch schwach und unheilvoll betrachtet und muss deshalb von den männlichen Familienmitgliedern unter Kontrolle gehalten werden. Es ist überwiegend die weibliche Sexualität, die angeblich kontrolliert werden muss. In der islamischen Gesellschaft ist der Mann für diese Kontrolle verantwortlich, und er verteidigt die Ehre seiner Familie auch nötigenfalls mit dem Leben. Somit hat der ehrenhafte Mann die Pflicht, die Frauen in seiner Familie zu überwachen. Und je besser diese Überwachung funktioniert, desto mehr soziales Prestige erhält der Mann. Also kann man sagen, dass die Familienehre untrennbar mit der Jungfräulichkeit bzw. Keuschheit der Frau verbunden ist. Diese wird von traditionell islamisch denkenden Menschen so ernst genommen, dass es sogar verschiedene Methoden gibt, wie man sie überprüfen kann. Denn die Jungfräulichkeit muss nicht nur vor dem Bräutigam und seiner Familie, sondern auch vor der ganzen Verwandtschaft unter Beweis gestellt werden. Traditionell wird in manchen Gegenden der Türkei und auch in anderen islamischen Ländern das blutige Bettlaken nach der Hochzeitsnacht vor der Haustür aufgehängt. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, die Jungfräulichkeit eines Mädchens zu überprüfen. Wenn nach der Hochzeitsnacht Zweifel über die Unberührtheit der Braut bestehen, dann hat der Bräutigam das Recht, seine Frau zu verstoßen. Wenn schon vor der Hochzeit aus irgendwelchen Gründen an der Jungfräulichkeit der Braut gezweifelt wird, dann muss sie sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen. Ein Frauenarzt untersucht hierbei die Unversehrtheit des Jungfernhäutchens und stellt dem Mädchen gegebenenfalls ein sogenanntes „Jungfräulichkeitsattest“ aus. Wie wir heute aufgrund des medizinischen Standes wissen, muss eine Jungfrau beim ersten Geschlechtsverkehr nicht immer bluten. Außerdem kann das Jungfernhäutchen auch schon vorher reißen, zum Beispiel durch Sport. Ist dies vor der Ehe geschehen, bietet die moderne Medizin trotzdem eine Möglichkeit, die Ehre wieder herzustellen, nämlich mit einem künstlich implantierten Jungfernhäutchen. Hierfür wird körpereigenes Gewebe aus dem hinteren Teil der Scheide entnommen und damit das Jungfernhäutchen rekonstruiert. Man kann davon ausgehen, dass die ganze Sache für Frauen sehr entwürdigend ist, da ihre Ehre und die ihrer Familie von diesem kleinen Häutchen abhängt. Eigentlich ist das Jungfräulichkeitsattest seit 1999 in der Türkei verboten. Es gibt aber immer noch die Möglichkeit, dieses Verbot mit einem richterlichen Beschluss zu unterlaufen. Und die Richter in der Türkei ordnen auch immer noch regelmäßig solche Tests an. Darüber hinaus muss man auch noch wissen, dass nach türkischer Rechtsprechung Sex unter 18 Jahren bestraft werden kann. Besteht hier ein Verdacht, dann können zum Beispiel Eltern oder Lehrer einen Jungfräulichkeitstest veranlassen, indem sie das Mädchen auf Verdacht anzeigen. Dies ist also noch eine weitere Methode, das Verbot des Jungfräulichkeitstests zu umgehen. Cileli führt diese Tatsache als klassisches Beispiel für die Doppelmoral innerhalb der türkisch-traditionellen Gesellschaft an.[4]

[...]


[1] http://www.hakikatkitabevi.com/deutsch/Sitte14.htm

[2] http://www.theaustralian.news.com.au/story/0,20867,20646437-601,00.html

[3] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/319/umfrage/erster-geschlechtsverkehr-bei-weiblichen-jugendlichen/

[4] Cileli, Serap 2008

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Der Ehrbegriff im islamischen und westlichen Kulturkreis
Untertitel
Eine Gegenüberstellung
Hochschule
Evangelische Hochschule Berlin
Veranstaltung
An eine fremde Kultur anknüpfen
Note
1, 3
Autor
Jahr
2009
Seiten
12
Katalognummer
V163146
ISBN (eBook)
9783640794539
ISBN (Buch)
9783640877584
Dateigröße
475 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interkulturelle Kommunikation, Interkulturelle Kompetenz, fremde Kulturen
Arbeit zitieren
Sabine Mazouz (Autor:in), 2009, Der Ehrbegriff im islamischen und westlichen Kulturkreis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163146

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