Freiheit und Würde - Macht und Verantwortung

Über politische Macht und Verantwortung


Bachelorarbeit, 2010

62 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hannah Arendts Denkraum
2.1 Freiheit
2.2 Würde
2.3 Macht und weitere Schlüsselbegriffe
2.4 Differenzierung zwischen Gewalt und Macht
2.5 Politisches Handeln

3 Macht und Gewalt - Szenen (wie) aus einem Roman
3.1 Internierung: Verlust der Würde
3.2 Handlungsunfähigkeit: Entzug der Freiheit
3.3 Misstrauen und Angst: Anonymes Gerede statt Sprechen
3.4 Sicherung der Herrschaft: Instrumentelle Gewalt
3.5 Unverhandelbarkeit: Erpressung
3.6 Nichts mehr zu verlieren: Eskalation der Gewalt

4 Verantwortung - Schlüssel zur Macht
4.1 Unwiderruflichkeit des Handelns
4.2 Handeln heißt einen Anfang zu machen
4.3 Der Anfang, Verantwortung zu übernehmen: Macht

5 Ausblick
5.1 Mit Angst und Selbstbewusstsein gegen Gewalt
5.2 Politisches Handeln in der Moderne

6 Fazit

Literatur

1 Einleitung

Manchmal pieckt's einen, als wär's ein Stachel vom Baum der Erkenntnis. (Lec, 2007, S. 375)

Ein Stück Nachkriegsgeschichte in Deutschland heißt „Terror im eigenen Land“. Es war die Zeit der unberechenbaren Gewaltaktionen der Roten Armee Fraktion, kurz RAF. Zweck der Gewaltmittel war, das neu gewachsene deutsche Staatssystem in Frage zu stellen. Zwei der großen Forderungen der jungen Menschen war die Übernahme von Verantwortung und die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit Deutschlands. Ihnen fehlte ein aufklärender Dialog mit der verantwortlichen Generation in der Öffentlichkeit, und sie prangerten an, dass, statt an Aufarbeitung und Verantwortung, nur an dem schnellen Aufbau von neuen Machtstrukturen im Inneren des Landes sowie in der Außenpolitik gearbeitet wurde.

Die Journalistin Ulrike Marie Meinhof war eines der Mitglieder der RAF. Schon vor ihrem Abtauchen in den Untergrund für die RAF schrieb sie für die linke Zeitung „konkret“. Ihre Aufsätze und Polemiken wurden nach ihrem Tod unter dem Titel „Die Würde des Menschen ist antastbar“ herausgegeben. Faszinierend, dass sich die Herausgeber für diese provokante Titelzeile entschieden haben, und das in einem Land, das sich dessen Gegenteil als obersten Grundsatz seines Grundrechts auf die Fahne schreibt. Nach der Lektüre der Aufsätze zog ich für mich den Schluss, dass es der Autorin um Folgendes ging: Sie hat immer wieder versucht, die für sie sichtbare Paradoxie eines Staates aufzuzeigen, der sich offiziell in seinem Grundrecht auf die Freiheit und die Unantastbarkeit der menschlichen Würde stützt, dieses Recht aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht allen Menschen zubilligen kann. Gleichzeitig entzogen sich die Regierenden des Staates dem, der jungen Generation Rede und Antwort zu stehen, wenn es um die Stellungnahme nebst Verantwortlichkeit zur Geschichte des Landes ging. Denn nur die Überlebenden, wozu auch die Regierenden gehörten, kannten die Geschichte, für die aber alle - „das Volk“ - Verantwortung übernehmen sollten. Anscheinend misstraute diese kritische, revoltierende Jugend den Staatsmännern, die um eine Antwort verlegen waren, wenn es um „damals“ ging, um die Frage, wie sie die grausame Unmenschlichkeit mit System und die absolute Missachtung von Freiheit und Würde haben zulassen können. Jetzt wiederum widmeten sich genau diese Menschen dem Wiederaufbau des Landes und der Ausübung von Staatsmacht, verankerten Grundrechte per Gesetz, ließen aber daneben wenig Raum für Dialog, Mitsprache und Widerspruch, indem sehr rigide gegen Demonstrationen und andere meist studentische Unruhen vorgegangen wurde.

In den vorangegangenen Zeilen wurde das Phänomen „Gewalt“ durchgängig in seiner negativen, sich meist auf den Körper beziehenden Form vorgestellt, wie die unabsehbare, furchteinflößende Gewalt im Rahmen von Terroranschlägen, die Erinnerung an die autotelische Gewalt unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die das greuelhafte Ziel hatte, Körper systematisch zu zerstören (vgl. Reemtsma, 2009, S. 116 ff.), sowie den negativ empfundenen Aspekt im Fall der Sanktion durch den Staat bei Studentenunruhen. Es gibt natürlich auch politische Beispiele, Gewalt aus einem anderen Blinkwinkel zu betrachten, doch das ist nicht Ziel dieser Arbeit. Weil auch im Folgenden Gewalt immer wieder in ihrer negativen Form als Begleiterscheinung von zwischenmenschlichen Angelegenheiten auftauchen wird, möchte ich an dieser Stelle noch das Beispiel anführen, was passiert, wenn man das Wort „Gewalt“ mit „Täter“ verbindet und das zusammengesetzte Wort in einen weiteren Kontext setzt.

1972 wurde durch ein Plakat der Kriminalpolizei nach den Mitgliedern der RAF als „anarchistische Gewalttäter“ gefahndet. Es spricht für mich nichts dagegen, nach Gewalttätern zu fahnden, denn das Wort „Gewalttäter“ auf einem Plakat macht die Bevölkerung dafür sensibel, dass es sich um gefährliche Menschen handelt, die Gewalt destruktiv und unberechenbar einsetzen. Doch wer das im Zusammenhang liest, bringt am Ende ein harmloses Wort wie „Anarchie“, das nur die „Abwesenheit von Herrschaft“ bedeutet, mit Gewalt in Verbindung.

Ob 1972 oder heute: Es geht letzten Endes immer wieder um die Themen Macht, Gewalt, Freiheit, Würde, Verantwortung. Die Zeit der RAF und das Liebäugeln der 68-er-Generation mit der Anarchie ist vorbei, die Studenten heute revoltieren „nur“ gegen das Bildungssystem. Die deutsche Vergangenheit wurde und wird stückchenweise nur sehr müßig aufgearbeitet, dazu seit zwanzig Jahren ein weiteres Stück Vergangenheit der DDR. Man versucht leidlich Verantwortung zu übernehmen, heute mit der zusätzlichen Schwierigkeit von zwei verschiedenen Denkweisen der Bundesbürger, resultierend aus der noch in geteilten Staatssystemen aufgewachsenen Bevölkerung. Die Wahlbeteiligung deutet auf eine zunehmende Politikverdrossenheit und neben der breiten - politikverdrossenen? - Masse formieren sich immer wieder kleine Gruppen, die gegen Minderheiten gewaltsam vorgehen. Ab und zu wird der Ruf nach einer neuen Führung laut, übernimmt jemand die Führung, hagelt es Kritik auf diese, und es ertönt der Ruf nach einer anderen Führung. Mein spontaner Gedanke, während ich das schreibe, lehnt sich an Konstantin Weckers „Habemus Papam“ aus dem Jahre 1978 an, nur setze ich hier statt dem Wort „Papst“ das Wort „Bundeskanzler“ ein:

Wir haben einen neuen Bundeskanzler

Jausa

einen neuen Bundeskanzler

der neue Bundeskanzler ist besser ja besser

als der alte Bundeskanzler

jeder neue Bundeskanzler ist besser wir wollen täglich einen neuen frischen Bundeskanzler jausa

jaäglich täglich

einen neuen

funkelnagelneuen Bundeskanzler schon morgen fangen wir an

morgen schon wollen wir einen niegelnagelneuen Bundeskanzler

und den alten schaffen wir ab

und übermorgen schaffen wir den neuen ab zuerst einen neuen

und dann abschaffen

(Text: Konstantin Wecker, Zugriff 19.02.10,änderung durch den Verf.)

Was passiert, wenn wir einem Menschen Macht übertragen? Wie verhält sich das dann mit der eigenen Verantwortung? Gibt man die mit der Wahl ab, und ist man dann unzufrieden, wählt man einfach einen neuen Amtsträger, der für einen selbst die Verantwortung übernimmt? Nicht zuviel Macht soll die Führung haben und nicht zu wenig Macht, Stärke soll sie zeigen und Autorität, nach innen wie nach außen. Andernfalls wollen wir eine neue Führung, und die alte schaffen wir ab!

Aber wie kommt es zu einem Machtgefüge? Mit wieviel Gewalt darf gedroht werden, um Stärke zu zeigen und Autorität zu bewahren? Ist Gewalt überhaupt unumgänglich? Was wäre die Folge, wenn immer mehr Menschen der Politik den Rücken kehren? Bestimmen dann die wenigen, die wählen, wer die Herrschaft über das Land hat? Hat der, der die Herrschaft hat, auch die Macht? Wie wird die Freiheit innerhalb eines Herrschaftsgefüges aufrecht erhalten? Und was hat Würde damit zu tun?

Es gibt Autoren, die nähern sich dem Thema Politik literarisch, wie zum Beispiel der portugiesische Journalist und Schriftsteller José Saramago in seinem Roman „Die Stadt der Blinden“. Hier wird das Szenario in einer namenlosen Stadt beschrieben, in der plötzlich wahllos Bürger erblinden. Die Regierung reagiert zum Schutz der Bevölkerung wegen Seuchengefahr mit Internierung der Betroffenen in einem leerstehenden Gebäude.

„ Der Vorschlag stammte vom Minister persönlich. Von welcher Seite auch immer man sie betrachtete, es war eine gute, wenn nicht gar perfekte Idee, sowohl, was die rein sanitären Aspekte des Falles anging, als auch im ]Hinblick auf die gesellschaftlichen Komplikationen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. (...) Man würde sie alle in Quarantäne schicken, um es mit allgemein verständlichen Worten auszudrücken, ging es darum, einer alten Praxis aus den Zeiten der Cholera und des Gelbfiebers zu folgen... “ (Saramago, 2009, S. 53, 54)

Dort überlässt man die Blinden sich selbst und ihrem Schicksal. Sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit dem Handicap der Blindheit in dem ungewohnten Zustand zurecht zu kommen. Die Situation für die im Lager Eingeschlossenen verschlechtert sich von Tag zu Tag, besonders was ihre Versorgung, die Hygiene und ihr soziales Miteinander anbelangt. Im Roman werden die Strukturen beschrieben, die sich unter den zunächst hilflosen Internierten bilden, die menschlichen Interessenkonflikte und das Dilemma zwischen Egoismus und Gerechtigkeit, d.h. die Verteilungsgerechtigkeit. Die Geschichte handelt von genommener Freiheit, davon, Würde in einer würdelosen Umgebung zu bewahren, dem Ringen um vermeintliche Macht, und es geht um die Übernahme von Verantwortung entsprechend den eigenen Fähigkeiten und dem persönlichen Handlungsspielraum. Die Erzählung hat für mich durchaus den Charakter einer Parabel in Bezug auf politisches Engagement. Der Roman bietet noch nicht die Antwort auf meine Fragen zu Macht und Verantwortung, aber er liefert zahlreiche Beispiele zur Darstellung von Situationen, in denen versucht wird, Macht auszuüben, zeigt auf, wie es zu Gewalttätigkeiten kommt und wie menschliche Angelegenheiten miteinander verknüpft sein können.

Tatsächliche Antwort auf meine Fragen suche ich bei Hannah Arendt und ihren Ausführungen zum Thema „politische Macht“. Im Rahmen des Hochschul- Seminars „Macht liegt in der Luft“ konnte ich eine Reihe von Theorien zum Thema „Macht“ und deren Schöpfer kennenlernen. Dabei hat mich die politische Philosophin am meisten angesprochen, weil sie durch einfache, klare Definitionen einen Denkraum schafft, der zunächst nicht erklären, sondern verstehen will. Ihre Art zu reflektieren kann unabhängig von modernen Systemtheorien gedacht bzw. auch mit diesen verknüpft werden. Um eine Analyse zur Macht zu ermöglichen, grenzt Hannah Arendt die Bedeutung ihrer Schlüsselbegriffe „Macht“, „Stärke“, „Autorität“ und „Gewalt“ voneinander eindeutig ab. So entsteht eine klare, zweckmäßige Umgebung, in der Situationen politischen und menschlichen Handelns untersucht werden können.

Mich fasziniert, dass sie nur „das Kind beim Namen nennt“, d.h. Definitionen festlegt, anschließend Kausalitäten bildet und damit letztendlich Abhängigkeiten und Phänomene erklären kann. Sie kommt ohne neue geschaffene Bezugsgrößen oder Definitionen aus. Arendts freies Denken führt nach meinem Dafürhalten zu einer bestechenden Klarheit ihrer Analyse, und es ist deshalb Grundlage meiner Studie zum Themenkomplex „Macht“ geworden.

Wenn es aber um Macht geht, kommt man nicht herum, sich gleichzeitig mit dem Phänomen „Gewalt“ auseinander zu setzen. In ihrem Buch „Macht und Gewalt“ (2009)äußert sich die Autorin wie folgt über die Gewalt:

„ Keinem, der dem Wesen der menschlichen Angelegenheiten, das sich in

Geschichte und Politik manifestiert, nachdenkt, kann die Rolle, welche die

Gewalt seit eh und je in den Beziehungen der Menschen zueinander gespielt hat, entgehen; und es ist auf den ersten Blick einigermaßenüberraschend, dass sie so selten zum Gegenstand besonderer Untersuchungen gemacht wurde. “ (Arendt, 2009, S. 12)

Dies schrieb sie im Jahre 1970, also zu einer Zeit, als sich in Deutschland die RAF formierte, in der zwischen den Ost- und Westmächten paradoxerweise der „Kalte Krieg“ als Friedenspolitik eingesetzt wurde, in dem Jahr, in dem Amerika in Vietnam einfiel. Als Fußnote ergänzte sie, es gäbe reichlich Literatur über Krieg und seine Gewaltmittel, aber keine zum Thema Gewalt in der Politik. Das obige Zitat regt mich an, darüber nachzudenken, ob Gewalt tatsächlich im Rahmen von politischen Beziehungen nicht wegzudenken ist, und ob Gewalt wie eine Art ungeschriebenes Gesetz nicht in Frage gestellt werden kann, d.h. eine Politik ohne Gewalt nicht denkbar ist.

Zufällig konnte ich zu einemähnlichen Thema vor kurzem die Buchvorstellung von Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma mit dem Titel „Vertrauen und Gewalt“ (2009) besuchen, in der er die Ergebnisse seiner gleichnamigen Studie mit dem Untertitel „Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“ vortrug. Reemtsmas Ausgangspunkt der Fragestellung war, wie es möglich ist, dass parallel zu unserem zeitgemäßen Empfinden, Gewalt so weit als möglich einzuschränken, immer wieder eine massive Destruktivität zwischen Bevölkerungsgruppen sichtbar wird. Seine Studien lassen keinen Zweifel über das fortwährende Vorhandensein von Gewalttätigkeit unter Menschen im Laufe der Geschichte, und vielleicht sogar besonders, wenn es um den Bereich „Macht“ geht.

Das mag vorerst in unserer Moderne eine unabänderliche Tatsache sein, die ich im Raum stehen lassen muss. Doch hier stelle ich nach meinen Überlegungen bezogen auf die Zeit der RAF und unser heutiges Politgefüge, nach der Lektüre „Die Stadt der Blinden“ und nach der Beschäftigung mit der politischen Philosophin Hannah Arendt die Hypothese auf, dass wirkliche politische Macht, die ich gleich im nächsten Kapitel definieren werde, nur durch Übernahme von Verantwortung im Rahmen der eigenen Möglichkeiten und des persönlichen Handlungsspielraums innerhalb einer Gruppe von Menschen entstehen kann. Die Möglichkeiten und der Handlungsspielraum hängen wiederum von der Freiheit und der gewahrten Würde der Menschen ab, die die Gruppe bilden. Zur Überprüfung dieser Hypothese und der Frage, welche Rolle die Gewalt dabei spielt, greife ich in der vorliegenden Arbeit einige markante Stellen aus dem Roman von Saramago heraus und versuche, diese mit Hannah Arendts Theorie zu erklären. Abschließend werde ich darauf eingehen, inwieweit die Handlung des Romans realistisch sein könnte, und was man daraus lernen kann.

Um die politische Denkweise Hannah Arendts zu verstehen, werde ich zunächst ihre Schlüsselbegriffe zum Thema „politische Macht“ aufgreifen und erläutern, sowie um die Begriffe „Freiheit“, „Würde“ und „politisches Handeln“ ergänzen. Dies ist notwendig, da ich die Phänomene rund um Macht und Gewalt bis auf wenige Ausnahmen mit der Theorie Arendts erklären werde. Danach gebe ich sechs Schlüsselszenen des Romans wieder und durchdenke diese mit Arendts Denkraum. Hier soll aufgezeigt werden, wie und warum eine Art Spannungsbogen der Gewalt in einer Gesellschaft entstehen und diese Gewalt schließlich eskalieren kann. Eine Wendung des Verlaufs menschlicher Angelegenheiten wird nur durch die Übernahme von Verantwortung möglich, und zwar im Fall des Romans durch einen Menschen, dem es gelungen ist, für sich, im Rahmen seiner Möglichkeiten, Würde und Freiheit zu bewahren. Das erläutere ich im vierten Kapitel mit drei weiteren Szenen aus dem Roman. Mit den Kapiteln drei und vier ist die Rolle der Gewalt in Kombination mit dem Phänomen „Macht“, sowie die Überprüfung meiner o.g. Hypothese nach der Entstehung von politischer Macht im Rahmens dieser Arbeit abgeschlossen. Weil mich die im Roman innewohnende Parabel in Kombination mit dem Denkraum Hannah Arendts so begeistert, teile ich mein Fazit in zwei Teile: Zum einen in die als „Ausblick“ bezeichnete Reflexion, ob das Romanszenario realistisch und in die Gegenwart übertragbar sein könnte, sowie inwieweit sich daraus Folgen für ein politisches Engagement in der Moderne ableiten lassen. Zum anderen in das ganz persönliche Fazit von mir, in dem ich aus der bestätigten Hypothese und nach dem vorangegangen Ausblick folgere, welche elementaren Grundlagen für ein politisches Handeln in unserer Gesellschaft notwendig wären.

2 Hannah Arendts Denkraum

Ich habe in meinem Kopf einem Gedanken Zuflucht gewährt, nun werde ich ihn nicht los. (Lec, 2007, S. 381)

2.1 Freiheit

Der Denkraum zur politischen Philosophie Hannah Arendts knüpft an die alte Schule der griechischen Philosophie, die mit ihrem Verständnis von 'Polis' als „vollkommene Gemeinschaft“ einen der Grundsteine für das gelegt hat, was heute unter Politik verstanden wird. Damals war die politische Tätigkeit eine Aktivität im Gemeinwesen, im Gruppenkontext, nicht das, was heute darunter verstanden wird. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Begriffe „Politik“, „politisches Handeln“ und „politische Tätigkeit“ aber ausschließlich auf Arendts bzw. das antike Verständnis beziehen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man auch ihre Antwort auf die Frage nach dem Zweck von Politik verstehen:

„ Aufgabe und Zweck der Politik ist die Sicherung des Lebens im weitesten Sinn. Sie ermöglicht dem Einzelnen, in Ruhe und Frieden seinen Zwecken nachzugehen, das heißt, unbehelligt von Politik zu sein... “ (Arendt, 1993, S. 36) Sie hebt hier den privaten Menschen, der seinen persönlichen Aufgaben nachgehen kann, heraus. Der Einzelne im Privaten führt zweckgebunden seine Tätigkeiten aus, wie z.B. den Lebensunterhalt zu verdienen, also arbeiten. Des weiteren kann er produzieren, wobei das Herstellen immer ebenso zweckgebunden bleibt wie die Arbeit. Das ist der private Bereich eines Menschen, hier soll er unbehelligt von Politik agieren können, er bleibt „unsichtbar“, eben privat. Im Gegensatz dazu hat jeder Mensch eine „öffentliche Seite“: Er kann sein öffentliches Wesen offenbaren, in dem er nach außen, in einem freien Raum unter Gleichen, sichtbar wird. Frei nach Goethe gesprochen „Hier bin ich Mensch, hier bin ich frei.“ (Im Original heißt es „ Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. “ Goethe, Faust I, Vers 940) Dieses Sichtbarwerden der Persönlichkeit vollzieht sich durch Sprechen und Handeln in der Öffentlichkeit: Der Mensch wird politisch.

Dieser politische Mensch ist bei Hannah Arendt nur im Zusammenhang mit dem Begriff „Freiheit“ zu denken. Hier stößt man an die gleiche Schwierigkeit wie oben angeführt beim Politischen. Arendt definiert „Freiheit“ angelehnt an die Antike: Freiheit bedeutet, aus sich heraus, selbst gewählt, zu handeln, ohne die Verpflichtung zu arbeiten und zu produzieren. Solange ein Mensch der Notwendigkeit unterliegt, zu arbeiten, ist er insofern unfrei, als dass die Arbeit zweckgebunden seine Existenz sichern muss. Auch als Produzent ist er abhängig vom Herstellungsprozess und nicht wirklich frei. Wahrhaft frei ist im Sinne von Aristoteles nur, wer frei über seine Zeit und seinen Aufenthaltsort bestimmen kann. (vgl. Arendt, 2007, S. 22ff.) Im Raum dieser Freiheit ist der Mensch erst in der Lage zweckfrei zu handeln. Unter dem Wort „Handeln“ versteht Arendt genaugenommen menschliche Fähigkeit, die Initiative zu ergreifen, d.h. einen Anfang zu machen. Sie bezieht sich dazu auf den Kantschen Begriff der Spontanität, der ausdrücken soll, dass jeder von uns „eine Kette“ anfangen kann, wenn er selbst nur die Initiative ergreift. Diese antike Sichtweise steht völlig konträr zu der, in der Nachantike entstandenen, noch heute existierenden traditionellen Vorstellung, Freiheit als das höchste Gut mit Willensfreiheit gleichzusetzen und als Wahlmöglichkeit zwischen Gut und Böse zu begreifen. Diese traditionelle Überzeugung lässt sich aber nur verwirklichen, wenn man auf das Handeln in der Öffentlichkeit verzichtet und sich im Stillen aus der Welt zurückzieht, womit aber keine Politik in Arendts Sinn mehr möglich ist. (vgl. Arendt, 1993, S. 34/35)

Begreift man die Tragweite des antiken Begriffs „Freiheit“, so kann er sich ausschließlich auf den öffentlichen Menschen beziehen, nicht auf den privaten, weil die Freiheit zu handeln nur im Zusammensein mit anderen erlebt werden kann. Die Philosophin konstatiert, dass Menschen nur in Bezug aufeinander frei sein können, wenn sie in einer öffentlichen Beziehung zueinander stehen, da man mit sich selbst allein keine Freiheit erleben kann. Diese dem Menschen eigens mögliche Freiheit ist somit in nichts anderem als im Bereich des Handelns und damit im Politischen möglich. Im Politischen kann das Positive an der Freiheit erfahrbar werden, ebenso wie der Unterschied zum „Nicht- gezwungen-Werden“. Diese Freiheit kann immer erst dann stattfinden, wenn um die Erhaltung der Art und des Lebens Sorge getragen ist. (vgl. Arendt, 1994, S. 201)

2.2 Würde

Arendts Gedanken zur Würde werden manchmal in der Literatur kritisiert, obwohl sie lediglich die Schwierigkeiten herausarbeitet, die im Zusammenhang mit der Gültigkeit der Menschenrechte entstehen. Im fünften Kapitel „Das Handeln“ von „Vita activa“ (2007) schreibt sie absolut achtungsvoll über die Einzigartigkeit eines jeden Menschen vor dem Hintergrund des Entstehungsprozesses des Universums, wie ein jeder handelnd und sprechend seine Individualität repräsentieren kann, darf und auch soll. (vgl. Arendt, 2007, S. 214 ff.) Wenn ich das lese, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass Arendt persönlich nicht nur jedem Menschen diese Rechte zuspricht, sondern dass sie dies gleichzeitig für selbstverständlich und naturgegeben hält. Für mich wird damit die bedingungslose Akzeptanz der menschlichen Würde als Grundlage des Menschseins ausgedrückt, weil sie in Achtung vor dem Schöpfungsprozess jedem Menschen die gleichen Rechte zuspricht. Sie spricht aber damit nicht nur jedem Menschen die gleichen Rechte zu, sie spricht allen, ohne Ausnahme jedem, das Recht der Rechte zu: die Freiheit, politisch zu handeln.

Damit wird die Würde auch nicht mehr zum Abstrakten, Unfassbaren, wenn es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Im Gegenteil, es wird sogar ganz einfach fassbar, denn folglich hat für Arendt jeder Mensch das konkrete Recht, politisch handelnd in die Welt zu treten. Damit wird für mich aber auch klar, wie leicht die Würde antastbar wird, sobald man sich nicht mehr unter Gleichen und im einem unfreien Rahmen befindet.

Aber für Arendt liegt das unlösbare Problem nicht in der Antastbarkeit, sondern in der folgenden Paradoxie: Jedem Menschen obliegt per Gesetz zwar die Menschenwürde, doch der Mensch im Rahmen von Politik muss zu einer Gruppe bzw. einem Staat gehören, damit ihm die Würde als Recht zuerkannt und es somit auch einklagbar wird. Abgesehen davon muss diese Gruppe bzw. dieser Staat das Recht aber erst anerkennen. Selbst jahrelang staatenlos, kritisiert sie das Fehlen von Zuständigkeit, wenn ein Staatenloser seine Rechte einklagen wollte, sowie das grundsätzliche Ignorieren dieser Problematik. (vgl. Arendt, 1986, S. 454 ff.) Arendt fixiert den Verlust der Würde zunächst am Verlust der Heimat. Mit diesem Schaden verliert der Mensch seinen angestammten Platz, seine dort wirkenden Rechte und auch den Schutz. (vgl. Arendt, 1986, S. 457) Nehme ich also einen Menschen aus seiner Gruppe, nehme ich ihm auch den Schutz, um seine Würde zu bewahren.

Die grausame Folge, wenn man Menschen die Freiheit zu handeln entzieht und die Würde in Form von Zugehörigkeit und Schutz nimmt, wie im Fall radikaler Internierung in Konzentrationslagern totalitärer Regime, ist nach Arendt die „Tötung der juristischen Person“ (Arendt, 1986, S. 687). Den Menschen in diesen Lagern wird quasi das Menschsein abgesprochen, es ist nicht einmal mehr eine rechtskräftige Verurteilung nötig, noch wäre sie möglich, da es eine Aporie wäre, ein Recht zu kreieren, um es auf Rechtlose anzuwenden.

2.3 Macht und weitere Schlüsselbegriffe

Um die Genauigkeit der deutschen Sprache zu nutzen und ein möglichst genaues Bild von der Wirklichkeit und den Wirkungsweisen zu erhalten, wurden von Arendt die Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit Macht und Herrschaft zum Einsatz kommen, klar von einander abgegrenzt. Sie verhindert damit im Rahmen ihrer philosophischen Exkursionen die Austauschbarkeit dieser Begriffe, wie sie nicht nur umgangssprachlich praktiziert wird. Das synonyme Benutzen der Wörter führt bislang nur zu der gesellschaftlichen Annahme, Politik laufe immer auf Herrschaft hinaus.

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Freiheit und Würde - Macht und Verantwortung
Untertitel
Über politische Macht und Verantwortung
Hochschule
Hochschule München  (Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
62
Katalognummer
V162419
ISBN (eBook)
9783640767564
ISBN (Buch)
9783640767908
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Macht, Gewalt, Politik, Hannah Arendt
Arbeit zitieren
Claudia Schmoll (Autor:in), 2010, Freiheit und Würde - Macht und Verantwortung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162419

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