»Game over«. Eine linguistische Analyse der brisanten Diskussion über Amokläufe an Schulen und Killerspiele


Hausarbeit, 2010

53 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Amoklauf
2.1 »Amock, Amock!« - die Herkunft einer Angst
2.2 Kurzer Exkurs: Der Fall Wagner
2.3 Amok laufende Schüler?

3 Massenweise Massaker

4 Spielen Killer»Killerspiele«?
4.1 Ein Begriff ohne Inhalt?
4.2 Kurzer Exkurs: Wenn aus Mördern Killer werden
4.3 »EGO-Shooter« für »EGOisten«?

5 Fazit

6 Bibliographie

7 Anhang
7.1 Korpora*
7.2 Abbildungen

* Im Anhang sind lediglich die in der Seminararbeit verwendeten Korpora aufgeführt.

1 Einleitung

Erfurt, Emsdetten, Winnenden waren vor gut einem Jahrzehnt lediglich mehr oder weniger bekannte Bezeichnungen für Orte in Deutschland. Das ist Vergangenheit. Es haben sich blutige Spuren an diese Wörter geheftet, die durch immer neue Mel- dungen von Amokläufen junger Menschen präsenter und sich unter Umständen dauerhaft in unser Gedächtnis einbrennen werden. Ihren Anteil daran haben die Medien, die mit Begriffen um sich werfen, die zwar eine hohe Aufmerksamkeit und Neugier erzeugen, jedoch fast nie ein korrektes Abbild der Wirklichkeit darstellen. Da wird live von Amokläufen berichtet, die per definitionem gar keine Amokläufe sind. Andernorts füllen blutige Massaker die Titelseiten, die im Vergleich zu den gleichnamigen Blutbädern der Weltgeschichte, verhältnismäßig harmlos erschei- nen. Gleichzeitig wird die dazugehörige Diskussion mit Scheindebatten über Com- puterspiele vermengt, die der Jugend angeblich das Töten lehren sollen. Eine lingu- istische Untersuchung scheint daher mehr als angebracht. Es sind freilich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Büchern, die sich mit dem Thema Amokläufe an Schulen und Killerspiele auseinandersetzen, veröffentlicht worden, doch diese hat- ten fast ausschließlich die soziologischen, medienwissenschaftlichen, juristischen oder neurophysiologischen Aspekte im Fokus. Eine linguistische Untersuchung des Gegenstandes scheint daher, auch aus persönlichem Interesse, durchaus ange- bracht.

Diese Arbeit möchte somit versuchen, die in den Diskussionen und Berichten auftretenden brisanten Lexeme zu untersuchen. Was macht sie brisant? Welche Wirkungen erzielen sie beim Rezipienten? Stellen sie den Sachverhalt neutral dar oder sind sie voreingenommen? Und welche Alternativen gibt es?

Begründet durch die Aktualität des Themas eignen sich besonders Textbelege aus den einschlägigen Zeitungen/Magazinen (bzw. deren Onlineausgaben) für eine Analyse. Diese soll zu einem bewussteren Umgang mit dem Thema führen und eine neutralere Ausgangslage für Debatten schaffen.

2 Amoklauf

2.1»Amock, Amock!« - die Herkunft einer Angst

Amok ist eine ǷSchöpfung des Berichterstatters“, sagt CHRISTIANS (2008: 21). Aller- dings entspringt jene Ƿaktuelle Chiffre der Angst" (CHRISTIANS 2008: 13) nicht dem Stift eines lebenden Journalisten, sondern den Federn europäischer Seefahrer und Kaufleute aus dem 15.-17. Jahrhundert (CHRISTIANS 2008: 13, 76). Als die Portugie- sen Südostasien für sich entdeckten, trafen sie dort auf Krieger, deren Vorgehen sie mehr als überraschte. Jene ǷWahnsinnige[nȐ“ (CHRISTIANS 2008: 77) kämpften selbst in den hoffnungslosesten Lagen1 bis zum eigenen Tod. Die Portugiesen nannten sie amoucos"Krieger“2 (CHRISTIANS 2008: 76f) und referierten dabei zu- nächst nur auf eine Ƿspezielle[...] kriegerisch-soldatische[...] Kaste aus den südli- chen Hindu-Staaten Indiens“ (CHRISTIANS 2008: 76). Griffen diese Soldaten an, schrieen sie: "a muck“ oder "meng-amok“ (CHRISTIANS 2008: 78). Ob sie allerdings tatsächlich diese Worte brüllten oder in ihrem Wahn nur irgendwelche Angst ein- flößenden Lautfetzen ausstießen3, ist nur schwer rekonstruierbar. Ist Letzteres der Fall gewesen, wäre Amok ein Onomatopoetikon und somit ein Ƿportugiesisch- indische[s] Wort für Krieger“ (CHRISTIANS 2008: 21). Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich tatsächlich um ein autochthones, malaysisches Lexem handelt, ist allerdings ungleich höher und wird der kulturellen Anerkennung der Eingeborenen weitaus gerechter. Demnach, sagt VOGL (2005: 191), wäre Amok ein Ƿmalayisches Wort indischer Herkunft“4 und aus lexikalischer Sicht ein Lehnwort (vgl. RÖMER/MATZKE 22005: 44).5 Es könnte das Wort malaysischer Eingeborener für wütend gewesen sein (CHRISTIANS 2008: 21). Nachprüfen lässt sich das allerdings nicht mehr.

Dessen ungeachtet scheint es evident zu sein: Sucht man die Wurzeln des Amok, muss man in der Fremde gehen. Dieses Klischee findet auch in der heutigen Amok- lauf-Diskussion Zuspruch. Doch war der malaysische Amoklauf tatsächlich eine Schöpfung jener Fremden? CHRISTIANS (2008: 65, 121) bemerkt richtigerweise, dass der gewalt(tät)ige Einfluss der europäischen Eroberer wohl seinen Anteil an dieser Entwicklung innerhalb des malaysischen Volkes gehabt haben dürfte. Der scheinbar erkannte "Volkscharakter“ (CHRISTIANS 2008: 65, 124) pflichtete äußerst adäquat dem Gefühl rassischer Überlegenheit bei.6 Auf der einen Seite der europäi- sche Herrenmensch, auf der Anderen der zu zähmende Wilde. 1906 findet man in Brockhaus´ Kleinem Konversations-Lexikon unter Amok, Amoklaufen den folgenden Eintrag: Ƿbei malaiischen Volksstämmen vorkommende Geistesstörung, Raserei, in der die davon Befallenen im Laufe jeden mit dem Dolch (Kris) niederstoßen“ (Brockhaus 2007).7

2.2 Kurzer Exkurs: Der Fall Wagner

Ausgerechnet ein Lehrer bewies schon 1913 das Gegenteil. Der Degerlocher (Schwaben) Ernst August Wagner ermordete im September zunächst seine Frau und die vier Kinder, anschließend fuhr er mit dem Zug nach Mühlhausen, zündete dort die Ortschaft an und erschoss wahllos die aus den Flammen laufenden Men- schen. Insgesamt waren es dort 12 Opfer. Er wurde überwältigt und nach dem Pro- zess8 in Heilbronn am 4. Februar 1914 in die Heilanstalt Winnentahl eingeliefert. Diagnose: Verfolgungswahn.

Seine Tat plante er bereits seit mehreren Jahren. Ursprünglich waren noch wei- tere Orte und Opfer vorgesehen. Am Ende wollte er sich eigentlich das Leben neh- men (SOMMER 2005). In zwei authentischen Zeitungsartikeln, die wenige Tage nach der Tat veröffentlicht wurden, findet man aber keineswegs die Bezeichnung Amok, obwohl damals noch niemandem die langjährigen Pläne Wagners bekannt gewe- sen waren:

(1) Der Massenmord in Mühlhausen
(2) Die Bluttat des Lehrers Wagner

Sowohl ǷMassenmord“ (1) als auch ǷBluttat“ (2) referieren lediglich auf die Tat. Der geistige Zustand des Täters bleibt unerwähnt. Ein Amoklauf scheint Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine allzu häufige Erscheinung gewesen zu sein und deshalb, so lässt sich mutmaßen, verwandt man nicht dieses Lexem, da wahrscheinlich die Mehrheit der Leser diesen Ausdruck gar nicht kannte bzw. noch mit der fernen, wilden Welt in Verbindung brachte; schließlich war der Europäer auch eben da- rum bemüht, dass jenes Rassemerkmal der primitiven Malaysier sich nicht auf ihn überträgt.

2.3 Amok laufende Schüler?

Amokläufe passieren meist im Frühjahr und Herbst, schreibt Gabriele GOETTLE (1988). Es scheint also, dass man die Uhr nach dem Wahnsinn stellen kann und dennoch erstarrt der Fußgänger, dessen Blick über die Schlagzeilen der Tageszeitungen fliegt und plötzlich dieses Wort liest: Amok. Man fühlt sich dann wie im Koma. Die Zeit steht still und unsere rationale Welt gerät aus der Bahn. Ein Wilder ist eingefallen in die heile Welt der Ordnung und Sicherheit.9

Doch sind Schüler, die in ihrer Schule Blutbäder anrichten, tatsächlich Amokläufer? Zunächst ist auszumachen, dass, wie zu den Zeiten der europäischen Eroberer, die meisten Menschen den Amok nur aus den Medien10 (damals Reiseberichte) kennen. ǷWas wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, schreibt Niklas Luhmann (LUHMANN 21996:9). Für sie sind die Morde an Schulen eindeutig Amokläufe:

(3) Amoklauf Winnenden
(4) Amoklauf an Berufsschule in Ludwigshafen

Manche Vertreter der Medienlandschaft gehen sogar soweit ihren Lesern eine Art ǷBest of“ der brutalsten Amokläufe zu präsentieren:

(5) Die schlimmsten Amokläufe an Schulen
(6) Die blutigsten Amokläufe an Schulen und Universitäten

Hier wird die Schockwirkung eindeutig für eine Auflagensteigerung missbraucht, indem man die Taten besonders spektakulär präsentiert.11 Mit der Ƿsprachlichen Äußerung[...] werden Emotionen [hier: Ohnmacht, Schock] ausgedrückt und [...] intensiviert sowie konstituiert“ (SCHWARZ-FRIESEL 2007: 6). Eine Überschrift mit dem Kompositum Amoklauf weist ein ungleich höheres Emotionalisierungspoten- zial (vgl. SCHWARZ-FRIESEL 2007: 41) auf, als eine mit dem Lexem Mehrfachmord beispielsweise. An Morde hat sich die Gese]llschaft gewöhnt: sie begegnen einem in der Kriminalliteratur, im Fernsehen oder im Film. Ein Amoklauf jedoch ist, trotz der vermeintlichen Häufung in den vergangenen Jahrzehnten, etwas Neues.12 Zu- sätzlich emotionalisiert ein Amoklauf die Menschen auch deshalb stärker, da viele Rezipienten selbst Kinder/Verwandte haben, die noch zur Schule gehen. Ein Amok- lauf betrifft somit die Lebenswirklichkeiten von mehr Bürgern, als es Morde tun.13 Da hinein spielt selbstverständlich auch die natürliche Angst um den eigenen, schutzlosen Nachwuchs. Überdies sind Kinder in der Opferrolle eine gern ver- wandte persuasive Strategie14 der Medienmacher, da seit jeher die an ihnen verüb- ten Taten eine besonders enorme Empörung erzeugen. Gleichzeitig schafft die Be- zeichnung Amok(lauf) auch einen Schutzraum für die Gesellschaft, denn wenn eine blutrünstige Tat von einem Amokläufer, statt von einem gescheiterten Abiturien- ten (wie im Fall Steinhäuser) verübt wird, ist die psychische Krankheit eines Ein- zelnen schnell als Ursache ausgemacht. Damit entzieht sich die Gesellschaft der Mitverantwortung. Notwendige Gesellschaftskritik bleibt unausgesprochen und man macht weiter wie bisher oder sucht nach einfachen Lösungen wie den Killer- spielen.

Dabei sticht ein wesentlich charakteristischeres Merkmal hervor, wenn man sich die Amokläufe der letzten Jahre ansieht. Die Schule als häufig gewählter Ort ergibt einen überaus passenderen Nenner als die in Verruf geratenen Spiele. Bereits vor- ab hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Bedeutungswandel des Lexems vollzo- gen. Waren Amokläufe um die vorletzte Jahrhundertwende noch ein Spezifikum der malaysischen Kultur (wie oben dargelegt), hat sich die Denotation (die Grund- bedeutung) des Wortes im letzten Jahrhundert zu (BLUTTAT MIT MEHREREN WAHLLOS AUSGEWÄHLTEN OPFERN, MÄNNLICHER, PSYCHISCH KRANKER TÄ- TER) entwickelt. Das kulturspezifische Merkmal ist verschwunden. Es wird inte- ressant sein zu beobachten, ob sich die Denotation, aufgrund des vermehrten Auf- tretens von Schulmassakern, eventuell zu (BLUTTAT AN EINER SCHULE, JUN- GER/MÄNNLICHER TÄTER) in Zukunft verändern wird. Im Moment ist dies noch nicht feststellbar, höchstens auf Ebene subjektiver Assoziationen (vgl. SCHWARZ- FRIESEL 2007: 167).

Es existiert allerdings noch eine weitere Verwendungsweise des Lexems Amok- lauf:

(7) Den Amoklauf des Innenministers kann jetzt nur noch das Bundeskabinett stop- pen.
(8) Vielleicht sei sein Mandant sogar zum Teil unzurechnungsfähig gewesen, denn diese ständige Schwarzfahrerei könne man nur noch als 'Amoklauf' bezeichnen.
(9) Sein jetziger rhetorischer Amoklauf sei Ausdruck einer Ƿvölligen Orientierungslo- sigkeit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus".
(10) Schalker Amoklauf?

In allen vier Beispielen 15 wird Amoklauf als (usuelle) Metapher (vgl. SKIRL/SCHWARZ-FRIESEL 2007: 1 bzw. SCHWARZ-FRIESEL 2007: 202) verwendet. Be- sonders im politischen Diskurs findet man sie häufig, wobei sie früher wesentlich häufiger gebraucht wurde als heute. Hier fand anscheinend eine Sensibilisierung innerhalb der Presse bzw. unter den Politikern statt, da heutige Amokläufe nicht zuletzt auch ein politisch intensiv diskutiertes Sujet geworden sind. Wird das Le- xem dennoch benutzt, nimmt man ihm häufig die Brisanz durch ein die Bedeutung veränderndes Adjektiv (9) oder durch das Hinzufügen von Anführungszeichen16 (8).

Abschließend bleibt die entscheidende Frage noch offen: Sind Jugendliche, die in ihrer Schule ein Blutbad anrichten tatsächlich Amokläufer? Nein, sie sind es nicht. Wie zuvor erläutert, sind Amokläufer Menschen, die in blinder Wut und ohne Plan andere Menschen töten oder verletzen. Dies trifft mitnichten auf die Mehrzahl der Fälle zu: Die Taten wurden bewusst geplant17. Ihnen gingen meist bestimmte Ereignisse18 voraus, die die Täter (aus ihrer Sicht) zum Amoklauf getrieben haben. Es wurden Waffen besorgt bzw. es wurde schon vorab das Schießen geübt. Und auch die Schule als Schauplatz auszuwählen, ist ebenfalls kein Zufall.

Welchen Begriff könnte man stattdessen verwenden? Der Kriminalpsychologe und Gewaltforscher Jens Hoffmann (TU Darmstadt) deklariert ein Schulmassaker als "zielgerichtete Gewalt(tat) an [einerȐ Schule“ (HOFFMANN 2007: 25). In Wissen- schaftskreisen mag sich dieser Terminus eventuell durchsetzen, doch als Schlag- zeile auf Seite eins ist er wohl zu unhandlich.19. Weiterhin ist er nicht weniger un- präzise. Schließlich ist zielgerichtete Gewalt an Schulen ein äußerst weites Feld. So kann man ohne weiteres auch verbales Mobbing20, Missbrauch durch Lehrer, Pau- senhofschlägereien, usw. dazurechnen. Hoffmanns Kollege Frank J. Robertz zeigt eine Alternative auf:

„Eine Lösung findet sich jedoch in der Nutzung einer angloamerikanischen Begrifflichkeit. In den USA hat sich als pragmatisch naheliegende Bezeichnung der Terminus ‚school shooting’ eingebürgert. Er wird bereits sowohl in Massenmedien und politischen Vorträgen [...], als auch in wissenschaftlichen Studien [...] und auf Kongressen benutzt [...] und umschreibt gleichzeitig sowohl den Ort, als auch die in der Mehrzahl der Fälle benutzte Waffe.“ (ROBERTZ 2004: 19f)

Tatsächlich hat dieser Ausdruck durch die Assonanz der Monophthonge und der Alliteration einen gewissen Wohlklang, was aber dem Ernst und der Dramatik des Ereignisses, auf das referiert wird, nicht gerecht werden würde. Die Wahrschein- lichkeit, dass er sich in Deutschland durchsetzen wird, ist somit eher gering. Zwar würde dieser Amerikanismus das generelle Vorurteil, dass derartige Erscheinun- gen ihren Ursprung in den Ƿverdorbenen“ USA haben, hervorragend bekräftigen, dochwahrscheinlich könnte ihn ein Großteil der älteren Rezipienten nicht verste- hen. Weiterhin weckt er nicht diese bedrohliche Angst, wie es Amoklauf schafft. Und ROBERTZ (2004: 20) gesteht selbst ein, dass der ǷBegriff allerdings eine gewisse Unschärfe [beinhaltet], denn von der reinen Wortbedeutung ausgehend, würden darunter beispielsweise auch Fälle von Schusswaffengebrauch an Schulen fallen, die aus Machtkämpfen zwischen Jugendbanden resultieren [...].“

Amoklauf scheint folglich alternativlos zu sein. Warum sollten die Medien auch einen neuen Begriff einführen? Der Aktuelle ist fest etabliert und vermag durch die Angst, die er vermittelt, eine enorme Emotionalisierung (vgl. SCHWARZ-FRIESEL 2007: 212) beim Empfänger zu erreichen. Amoklauf erzielt diese Perlokution (vgl. SCHWARZ-FRIESEL 2007: 198) ungleich besser als die genannten Gegenvorschläge.

3 Massenweise Massaker

„Auf dem betonierten Vorplatz dieser Tankstelle stand ein mittelgroßer, blonder und etwa 25jähriger Mann, der sich gerade ausruhend auf einen armdicken Holzprügel stützte, der ihm bis zur Brust reichte. [ǥȐ Nur wenige Schritte hinter diesem Manne standen etwa 20 Männer, die - von einigen bewaffneten Zivilisten bewacht -, in stum- mer Ergebenheit auf ihre grausame Hinrichtung warteten.“ (KLEE et al. 1988: 35f)

(Bericht eines Oberst zum Massenmord in Kowno, 27. Juni 1941)

In der Berichterstattung zu School Shootings begegnet dem Leser/Zuschauer neben dem Amoklauf vergleichbar häufig auch der Begriff Massaker:

(11) Massaker nur durch Zufall verhindert
(12) Der Amoklauf von Winnenden. Fast alles erinnert an das Erfurt-Massaker

„Die Software zum Massaker“ titelte Frank Schirrmacher sogar in der FAZ vom 28. April 2002 mit Bezug auf den Amoklauf von Erfurt und der Tatsache, dass Robert Steinhäuser das Spiel Counter-Strike regelmäßig gespielt haben soll (MERTENS 2006: 250). Doch ist die Bezeichnung Massaker in diesem Kontext überhaupt kor- rekt?

Ursprünglich stammt das Wort aus dem Französischen. Le massacre bezeichnete die ǷBank des Metzgers“. Dieser tranchierte darauf sein Schlachtgut mit dem massacreur, dem ǷBeil“. Seit dem 16. Jahrhundert hat das Wort massacre allerdings Ƿdie bis heute gültige Bedeutung extremer kollektiver Gewalt an Wehrlosen“ (BURSCHEL 2008: 110). Im deutschen Sprachraum taucht das Lehnwort dann etwa ein Jahrhundert später auf (BURSCHEL 2008: 110). Das Hauptaugenmerk bei der Beschreibung des Denotats Massaker - vor allem in der Geschichts- bzw. Politik- wissenschaft - liegt auf der kollektiven Gewalt an Wehrlosen, die in einem politi- schen Kontext ausgeübt wird. Dies wird deutlich, wenn man sich z.B. das Inhalts- verzeichnis von Massacres - An Historical Perspective von Eric CARLTON (1994) an- sieht. Es bedarf immer politischer Rahmenbedingungen, die einen solchen Ƿkollek- tive[nȐ Aktionsexzeß“, wie SOFSKY (1996: 178) es nennt, legitimiert. Erst dann kön- nen die Täter frei agieren, sich Zeit für ihre Grausamkeiten nehmen, denn keiner wird sie stören (SOFSKY 1996: 176-178). Das ǷZiel ist die restlose Zerstörung“. ǷMassaker dulden keine Überlebenden“ (SOFSKY 1996: 176f). ǷNichts soll übrigblei- ben, nichts soll mehr an die Menschen und ihre Behausungen erinnern“ (SOFSKY 1996: 176).21

Amokläufe an Schulen sind oft auch ǷSchauspiele der Grausamkeit“ (SOFSKY 1996: 188), doch sie haben nur wenig mit den oben aufgeführten Merkmalen ge- mein. Die Täter vollziehen ihren Rachefeldzug in den meisten Fällen allein.22 Sie sind Einzelgänger und ihr Hass richtet sich meist gegen ganz bestimmte Personen, die ihr eigenes Schicksal entscheidend beeinflusst haben.23 Robert Steinhäuser ermordete beispielsweise ausschließlich Lehrer bzw. Vertreter des Verwaltungs- personals der Schule. Zwar wurden auch zwei Schüler getötet, doch dies geschah aller Ansicht nach unbeabsichtigt. Natürlich fehlt bei solchen Amokläufen auch die politische Legitimierung, so dass die Täter für ihre Gräueltaten meist wenig Zeit zur Verfügung haben, bevor die Polizei eintrifft. Es handelt sich also nie um einen geschlossenen Ort (vgl. SOFSKY 1996: 178), der ihnen Raum für jedwede Grausam- keiten bietet.24 Daher ist der Grad der Brutalität im Vergleich zum politischen Mas- saker auch eher gering einzuschätzen. Sicherlich ist es etwas bedenklich die Schwere einer Tat nur an den Kriterien Opferzahl und Grausamkeit festzumachen, doch ein Ereignis, bei dem 14 Menschen (im Fall Erfurt) getötet wurden, mit dem- selben Wort zu bezeichnen, wie z.B. das Massaker von Babi-Yar (29./30.9.1941), dem 33.771 Juden zum Opfer fielen (KLEE et al. 1988: 66), ist schlichtweg unange- bracht, unverhältnismäßig und aus wissenschaftlicher Sicht auch einfach falsch. Ähnlich konträr verhält es sich mit dem häufig im Anschluss an einen Amoklauf stattfindenden Suizid des Täters. Auch dies passt nicht zum typischen Ablauf eines Massakers.

Wie sich zeigte, ist die tatsächliche Schnittmenge zwischen Schulmassakern und politischen Massakernäußerst gering. Wie erklärt sich nun die falsche Verwen- dung? Es können diesbezüglich nur Vermutungen angestellt werden, doch offen-4sichtlich nutzt ein Großteil der Medien diesen Terminus als persuasive Strategie, um die Leser/Zuseher zu emotionalisieren – in diesem Fall zu schockieren

[...]


1 "Das nackte Überleben der Akteure [...] galt offensichtlich in Südostasien in bestimmten Fällen als große Schande“ (CHRISTIANS 2008: 78).

2 Neben dem Portugiesischen wurde das Lexem im 17. Jahrhundert auch ins Holländische und Englische entlehnt und etwas später auch ins Deutsche (VOGL 2005: 191).

3 Die Europäer vermuteten nämlich, die Südostasiaten würden geradezu exzessiv Opium konsu- mieren (CHRISTIANS 2008: 120). Auch für SEEBOLD (242002: 39) ist der ǷOpiumrausch“ ein maß- gebliches Merkmal eines malaysischen Amoklaufs. CHRISTIANS (2008: 121) führt allerdings zu Recht an, dass der Vorsatz zur Handlung bereits vorab getätigt wurde. Hier diagnostizierten die Europäer anscheinend damals wie heute die ursprünglichen Gründe einer solchen Tat falsch. Auch in Analogie zu den Killerspielen ist dies eine interessante Beobachtung.

4 ǷDie malayische Verbform ‚mengamuk’ [...] bedeutet so viel wie ‚einen wütenden Angriff machen’ [...]“ (VOGL 2005: 191).

5 Die Portugiesen selbst sehen amouco ebenfalls als ein Wort malaysischer Herkunft an (MACHADO 1990: 235).

6 CHRISTIANS (2008: 120f) zitiert einen Bericht von William Marsden (1754-1836), der acht Jahre auf Sumatra gelebt hatte, in dem eine Portugiesin von ihrem Sklaven angefallen wird. ǷJene [die Portugiesin] schrie: Mengamok!“ (CHRISTIANS 2008: 121) Sie verbalisiert den Angriff als Attacke eines Wahnsinnigen, statt die eigentlichen Ursachen zu be-/erkennen bzw. be-/erkennen zu wol- len.

7 Für den ungarischen Ethnopsychiater Georges Devereux (1908-1985) ist Amok Ƿeine ethnische Störung, die es nur in primitiven Gesellschaften gibt [...]"(CHRISTIANS 2008: 247).

8 Ƿ[EȐrstmals wurde damals in der Württembergischen Geschichte ein Prozess wegen Unzurech- nungsfähigkeit eingestellt“ (SOMMER 2005).

9 Das Gefühl der Angst scheint in den letzten Jahren zu einem sich virulent ausbreitenden, läh- menden Gefühl innerhalb der westlichen Welt geworden zu sein. Wo man früher die Gefahren noch verorten konnte (z.B. die atomare Gefahr während des Kalten Krieges) und auf die Vernunft der Menschen hoffen durfte, ist eine Vorhersage heutzutage weitaus schwieriger zu treffen. Ge- rade nach 9/11 hat sich ein Gefühl des sich Ausgeliefert-Fühlens eingebrannt. Überraschender- weise findet man im Zusammenhang mit Terror-/Selbstmordanschlägen nie die Bezeichnung Amoklauf, obwohl hier das Kriterium des blindwütigen Tötens wesentlich eindeutiger zutrifft, als bei Schulmassakern. Schon FREUD (1993: 134, 146) verstand die Religion als Zwangsneurose und deren Lehren als ǷWahnideen“.

10 Auch in der Kunst wurde das Thema immer wieder aufgegriffen. So z.B. in Rainer Werner Fass- binders Film Warum läuft Herr R. Amok? (1970). Hauptfigur Raab tötet eine Nachbarin, seine Frau und seinen Sohnund erhängt sich einen Tag später in der Toilette seiner Arbeitsstelle (TÖTEBERG 1990: 47, 50). Als mögliche Ursache zeigt Fassbinder die spießbürgerliche Enge und Verlogenheit (CHRISTIANS 2008: 279); eine Negativbeeinflussung durch die Medien ist nicht zu erkennen. Dass aber auch ein Film unter Umständen massiv auf sein Publikum einwirken kann, zeigt das Beispiel Taxi Driver (1976) von Martin Scorsese. John Hinckley jr., ein psychisch labiler Einzelgänger, versuchte (wie Travis Bickle im Film) ein Attentat auf einen Politiker. Am 30. März 1981 unternahm er einen Attentatsversuch auf den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan und scheiterte nur knapp (CHRISTIANS 2008: 272f).

11 Gerade bei Live-Beiträgen ist oft sehr schnell, noch während der Amoklauf in vollem Gange ist, ein Kamerateam vor Ort (s. Amoklauf an der Columbine Highschool, 1999).

12 ǷNichts erzeugt mehr Neugier und Interpretationen als die Verheißung des Unfassbaren in nächster Nähe [...Ȑ“ (CHRISTIANS 2008: 30). Die Medien übermitteln Ƿden Schrecken und die Gefahr in die Nähe des Lesers [...], wo sie keinesfalls sind“ (CHRISTIANS 2008: 19).

13 Das Aktivationsniveau (vgl. Schwarz 2007: 129) ist hier wesentlich höher.

14 ǷPersuasive Strategien sind kommunikative Verfahrensweisen, die spezifisch rezipientenbeeinflussend, d.h. intentional auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet sind []“ (SCHWARZ-FRIESEL 2007: 223).

15 Alle Belege stammen aus der Zeit vor dem Erfurter Amoklauf 2002.

16 Auf den Gebrauch von Anführungszeichen wird in Kapitel 4.1 eingegangen.

17 Dylan Klebold, einer der Amokläufer von Littleton (1999), schrieb vor der Tat einen Ablaufplan in sein Tagebuch (s. Abb. 1).

18 Robert Steinhäuser beispielsweise wurde nicht zu den Abiturprüfungen zugelassen und stand faktisch ohne Abschluss da (ROBERTZ 2004: 74f).

19 Selbst die Autoren des Sammelbandes, dem dieser Fachbegriff entnommen ist, nutzen weitest- gehend den umgangssprachlicheren Begriff Amoklauf.

20 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Betrachtung der durch Lehrersprache er- zeugten Gewalt (s. MIETH 2000).

21 Beim Massenmord von My Lai (16. März 1968) wurden neben den 504 Vietnamesen (Frauen und Kinder eingeschlossen) auch deren Häuser und sogar deren Vieh abgeschlachtet (WELZER22005: 220f).

22 Eine Ausnahme bildet hier u.a. das Attentat von Littleton (1999). Die Freunde Eric Harris und Dylan Klebold töteten damals 13 Menschen und anschließend sich selbst.

23 SOFSKY (1996: 184) dagegen konstatiert für das politische Massaker, dass "Haß oder Wut [] keine notwendigen Bedingungen für das Gemetzel [sind]. Es ist die Aktion selbst, die sie packt [].“

24 Es bleiben immer Zeugen zurück, die die Erinnerung an die Taten behalten werden. Gerade das soll üblicherweise vermieden werden, wie man am Beispiel der Deportationen der Juden gut nachvollziehen kann. Sie wurden (in der Regel) nicht direkt in Sichtweite des deutschen Volkes ermordet, sondern zunächst weggebracht und dann ermordet.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
»Game over«. Eine linguistische Analyse der brisanten Diskussion über Amokläufe an Schulen und Killerspiele
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Germanistische Sprachwissenschaft)
Veranstaltung
Die Macht des Wortes: Gewalt der Sprache und Gewalt durch Sprache
Note
2,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
53
Katalognummer
V162114
ISBN (eBook)
9783640850853
ISBN (Buch)
9783640851270
Dateigröße
1827 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
KOMMENTAR DER DOZENTIN: Die Arbeit ist klar und verständlich geschrieben. Jedoch weicht der Sprachstil vereinzelt ins expressiv-feuilletonistische ab. Die Beispiele sind gut gewählt, aber es bleibt unklar, nach welchen Kriterien der Untersuchungskorpus ausgewählt wurde. Generell weist die Arbeit eine eher sprachkritische als sprachwissenschaftliche Bearbeitung auf. Grundbegriffe wie Denotation etc. wurden nicht definiert. Es wird zwar viel Forschungsliteratur benutzt, jedoch zu wenig linguistische.
Schlagworte
Amoklauf, Erfurt, Winnenden, Emsdetten, Columbine, Littleton, Massaker, Killerspiele, Ego-Shooter, Brisante Wörter, Ernst August Wagner, Robert Steinhäuser, Gewalt an Schulen, Amok, Massenmedien, Kolonialisierung, Schulmassaker, Emotionalisierung, USK, Counter-Strike, Amerikanismen, Videospiele, Computerspiele, Schlagzeilen, Jugendkultur
Arbeit zitieren
Karsten Tischer (Autor:in), 2010, »Game over«. Eine linguistische Analyse der brisanten Diskussion über Amokläufe an Schulen und Killerspiele, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162114

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