Macht Glaube frei?

Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C.G.Jungs


Diplomarbeit, 2006

94 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I. C. G. Jungs Theorie der Individuation: Der Weg vom Ich zum Selbst
1. Die Individuation
2. Der Prozess des Bewusstwerdens
3. Der Schatten
3.1 Inhalt und Entstehung
3.2 Der Umgang mit dem persönlichen Schatten
3.2.1 Annahme des Schattens
3.2.2 Verdrängung und Projektion
3.3 Gelungene Auseinandersetzung: Persönlichkeitsentfaltung hin zur Ganzheit
4. Die Bedeutung des Symbols
4.1 Jung und Freud
4.2 Das symbolische Leben
5. Das Böse
5.1 Die quantitative psychische Wertigkeit und qualitative Wertung des Bösen
5.2 Die Dimension des ‚vorläufigen Bösen’
5.3 Das Gesetz der Enantiodromie
Exkurs: Das machtvolle Böse
Der Reiz des Bösen
Der Archetyp des Bösen
Fazit: Die Verantwortung des Einzelnen
6. Das Verständnis von Schuld in der Psychoanalyse
6.1 Der Sündenfall: Eintritt in die Welt der Unterscheidung
6.2 Der Exodus und das Dilemma
6.3 Das Motiv der felix culpa
6.4 Das Schuldgefühl
7. Die Entwicklung der Moral
8. Ziel der Individuation: Selbstbegegnung und Gottesbegegnung

Teil II. Der Einfluss dämonischer Gottesbilder auf die Individuation
1. C. G. Jungs Kritik an der christlichen Kultur
2. Die Entstehung von Gottesbildern
2.1 Die pränatale Phase
2.2 Die frühkindliche Zeit
2.2.1 Die Phase des Urvertrauens oder: „Ich bin, was man mir gibt.“
2.2.1 Phase der Autonomie oder: „Ich bin, was ich will.“
2.2.2 Die Phase der Initiative gegen Schuldgefühle oder: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann.“
2.2.3 Die Hintergründe widersprüchlicher Gottesbilder
3. Die Auswirkungen der Schlüsselposition und des Schlüsselwortes auf das Gottesbild
3.1 Die Schlüsselposition
3.2 Das Schlüsselwort
3.3 Der Weg der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schlüsselwort
3.4 Mögliche Gründe für unterlassene Aufarbeitung
4. Dämonische Gottesbilder
4.1 Was heißt ‚dämonisch’?
4.2 Die dämonischen Gottesbilder im Einzelnen
4.2.1 Der ‚strafende Richtergott’
4.2.2 Der Willkürgott
4.2.3 Der strenge und allmächtige Vatergott
4.2.4 Der dämonische Todes-Gott
4.2.5 Der Buchhalter- und Gesetzesgott
4.2.6 Der Leistungsgott
4.3 Schlussfolgerungen
5. Der Gott Jesu Christi
5.1 Der Einstieg Gottes in die menschliche Krisengeschichte
5.2 Ein Beispiel für heilsame Gottesbilder des Neuen Testaments: Der barmherzige ‚mütterliche’ Vater
6. Henri J. M. Nouwen: „Du bist der geliebte Mensch“

Teil III. Fazit: Worauf es ankommt

Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ (Joh 10,10)

„Was bringt`s?“ – so lautet die Frage, an der sich gegenwärtig der Wert einer Sache oder Handlung messen lassen muss. ‚Effizienz’ ist das große Stichwort, das alle Lebensbereiche durchdringt und an der sich letztendlich auch der Wert des Einzelnen misst. Wir alle haben diese Maxime mehr oder weniger internalisiert und ergeben uns der Illusion, eines Tages vollkommen den Ansprüchen zu genügen!

Und Gott? Welche Rolle spielt Gott in diesem Kampf? Befreit er uns aus dem Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Haben unsere Schwächen und unser Scheitern wenigstens in unserer Beziehung zu ihm Berechtigung? Bei vielen – so scheint es – ist dem nicht so. Im Gegenteil: Viele Christen tragen ein Gottesbild in sich, das sie in ihrer Lebensfreude zusätzlich einschränkt. Sie befinden sich in der ausweglosen Situation, es nicht nur ihrem Umfeld, sondern auch ihrem Gott recht machen zu müssen und dabei zu erfahren, dass sie an ihren Idealen immer wieder scheitern. Die Bibel lesen sie als eine Ansammlung von Anforderungen, Geboten und Verboten. Insgeheim kann es sein, dass sie erkennen, dass dieser Weg nicht in die Weite und in das von Jesus verheißene „Leben in Fülle“ führt. Die – oft unbewusste – Angst vor der Strafe Gottes und vor dem Misslingen ihres Lebens hält sie jedoch davor ab, den Kurs zu ändern und gegen die Stimme des inneren Anklägers zu handeln. Die Konsequenz ist, dass sie von diesem Gott loskommen wollen, es aber nicht schaffen, weil die Furcht vor seiner ‚gerechten’ Strafe zu groß ist. Dadurch verstärken sich die Schuldgefühle, die einhergehen mit dem Bewusstsein, diesen Gott nicht zu ‚lieben’ und deshalb zusätzlich versagt zu haben.[1]

Der Psychoanalytiker C. G. Jung beschäftigt sich mit der Frage, wie ein „Leben in Fülle“ zu erreichen ist. Er kritisiert einen Glauben, der Gott versteht als forderndes Gegenüber, das dem Menschen sagt – bspw. durch die Bibel –, was objektiv zu tun oder zu lassen ist. Seiner Meinung nach ist gelingendes Leben nur dann möglich, wenn Gott als Teil der eigenen Seele erkannt wird, wenn Religion die Seele des Menschen berührt und zur Entfaltung bringt. Er propagiert daher einen Weg, der von äußeren Idealmaßstäben befreit, die Regungen der Seele sowie des Unbewussten aufwertet und ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt.

Diesen Weg der ganzheitlichen Selbstwerdung mit möglichen Hindernissen auf demselben werden in vorliegender Arbeit untersucht und dargelegt. Das Anliegen dieser Arbeit ist dabei ein grundlegend theologisches: es geht um die Frage nach gelingendem Leben – einem „Leben in Fülle“.

Im ersten, psychoanalytischen Teil, wird C. G. Jungs Theorie der Individuation beleuchtet. Die Bewusstwerdung des eigenen Schattens sowie die Aussöhnung mit ihm ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Individuation, der zur Ganzheit und zur Selbst- oder Gottesbegegnung führt.[2] Mitentscheidend für eine gelungene Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten ist das Verständnis von Schuld und Moral sowie das Verständnis von Gut und Böse. Aus diesem Grund wird Jungs Theorie der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten untersucht, sowie sein Verständnis von Schuld, moralischem Handeln und dem Bösen ausgeführt. Da Jung dem Symbol eine wichtige Bedeutung für die Individuation beimisst, fällt sein Verständnis des symbolischen Lebens und dessen Bedeutung für gelingendes Leben ebenfalls in den Blick.

Im zweiten Teil erfolgt eine Konkretisierung der vorangegangenen Ausführungen. Aus Sicht der Entwicklungs- und Pastoralpsychologie wird die Frage der Entstehung (dämonsicher) Gottesbilder und deren unbewusster Auswirkung auf die Selbstwerdung beleuchtet. Dabei soll gezeigt werden, inwiefern eine Konfrontation mit dem überkommenen Gottesbild hilfreich für gelingende Gottes- oder Selbstbegegnung ist. Es werden einzelne dämonische Gottesbilder näher erläutert und mit dem Gleichnis vom „Barmherzigen Vater“ konfrontiert. Abschließend soll Henri Nouwen als ein Beispiel für gelungene Individuation sowie die Relevanz heilsamer Gottesbilder auf seinem Weg kurz vorgestellt werden.

Teil I. C. G. Jungs Theorie der Individuation:
Der Weg vom Ich zum Selbst

1. Die Individuation

Individuation ist das Leben in Gott.“[3]

Das Ziel der psychologischen Entwicklung ist die Individuation, respektive die Selbstwerdung. Dies geschieht, indem der Einzelne die Erkenntnis und das Wissen um das eigene Wesen vermehrt und auf diesem Weg zum eigenen Selbst durchdringt. So kann er seine Individualität, Einzigartigkeit und Ganzheit zu entfalten.[4]

Für Jung bedeutet Individuation „zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst zu werden.“[5] Dieses Selbst steht für Jung als Begriff für all die seelischen Regungen und Bestimmungen, die den Inbegriff der menschlichen Ganzheit erahnen lassen, ohne diese Ganzheit jedoch letzten Endes bestimmen zu können.

Bei der Individuation wird das Bewusstsein durch die Analyse und Integration der Abwehrmechanismen (zum Beispiel die Projektion des Schattens, s. 3.2.2) erweitert. Dadurch wird der Mensch zu einem ganzen, unteilbaren und von anderen Menschen, zu denen er immer in Beziehung steht, unterschiedenen Individuum.

Ziel des Individuationsprozesses ist das Streben nach psychischer Ganzheit. Diese „Ganzheit ist keine Vollkommenheit, sondern eine Vollständigkeit“[6], bei der nicht nur die guten Eigenschaften, zu denen das Bekenntnis nicht schwer fällt, sondern auch das Dunkle, Destruktive oder Verdrängte, das Abgelehnte sowie die verworfenen Qualitäten erhellt und integriert werden. Der Mensch wird sich bewusst, in welcher Hinsicht er ein einzigartiges menschliches Wesen ist und in welcher er andererseits zugleich auch nicht mehr ist als ein gewöhnlicher Mann oder eine gewöhnliche Frau. „Individuation kann daher nur einen psychologischen Entwicklungsprozess bedeuten, der die gegebenen individuellen Bestimmungen erfüllt, mit anderen Worten, den Menschen zu dem bestimmten Einzelwesen macht, das er nun einmal ist.“[7]

Das menschliche Individuum ist kollektiv, und daher in keinem Gegensatz zur Kollektivität, denn es stellt eine lebendige Einheit aus lauter universalen Faktoren dar. Deshalb kann es bei der Individuation nicht um individualistische Eigenart gehen, die im Widerspruch zu dieser „Grundtatsache des lebendigen Wesens“[8] steht, sondern es geht um eine lebendige Zusammenwirkung aller Faktoren, die an sich zwar universal sind, aber stets nur in individueller Form vorkommen. Eine Gefahr der intensiven Beschäftigung mit der inneren Welt besteht darin, dass sie zu Narzissmus oder Individualismus führen kann, bei dem der Einzelne sich absichtlich gegenüber dem Kollektiv in seiner vermeintlichen Eigenart erhebt. Jung geht es genau um das Gegenteil, nämlich um eine bessere und völligere Erfüllung der kollektiven Bestimmung durch die Berücksichtigung der Eigenart des Individuums. Die volle individuelle Berücksichtigung dieser universalen Faktoren bringt auch „eine individuelle Wirkung hervor, die durch nichts anderes, am wenigsten durch Individualismus, überboten werden kann.“[9]

Jung setzt das ‚Ich’ mit dem Bewusstsein gleich und ordnet es somit dem ‚Selbst’ unter, das Bewusstes und Unbewusstes beinhaltet. „Wenn unbewußte Prozesse überhaupt existieren, gehören sie sicherlich zur Totalität des Individuums, wenn sie auch keine Bestandteile des bewußten Ich bilden. Wären sie ein Teil des Ich, so müssten sie bewußt sein, da alles, was in unmittelbarer Beziehung zum Ich steht, bewußt ist […]. Sogenannte unbewußte Phänomene stehen so wenig in Beziehung zum Ich, daß man öfters nicht zögert, selbst ihre Existenz zu leugnen. […] Es ist jedoch ein Vorurteil, anzunehmen, daß etwas, das man nie gedacht hat, innerhalb der Psyche nicht vorkomme.“[10]

Die psychologische Entwicklung des Menschen aus dem Schoß des Kollektivs zu seiner Einzigartigkeit ist im Wesentlichen ein Bewusstwerdungsprozess: zunächst geht es darum, ein bewusstes Ich zu entwickeln, d.h. sich seiner selbst bewusst zu werden. Doch bleibt man an diesem Punkt stehen, kreist man nur um die eigene Selbstbehauptung. Die große Herausforderung liegt darin, den eigenen, bewussten Standpunkt aufgeben zu können um vom Ich zum Selbst zu gelangen, dem innersten Personenkern, der das bewusste Ich und den unbewussten Schatten umschließt.

Dieser Weg kann von keiner äußeren Instanz gefordert werden. „Es handelt sich vielmehr um die irrationale Notwendigkeit eines sogenannten geistigen Lebens, das er [der Betreffende] aber weder von Universitäten, noch von Bibliotheken, noch auch von Kirchen beziehen kann. Denn er kann es nicht annehmen, weil es nur seinen Kopf berührt, nicht aber sein Herz ergreift.“[11] Nicht einmal der Einzelne kann sich selbst willentlich dafür entscheiden, diesen steinigen Weg der Individuation zu begehen. Vielmehr ist es Bestimmung. Diese Bestimmung, von der Jung spricht, ist ein irrationaler Faktor, ein inneres Angerufen werden, ein Getrieben werden, das Befolgen müssen eines inneren Gesetzes. Christlicherseits würde man anstatt von Bestimmung von Berufung reden, das heißt vom Angesprochen werden des einzelnen Menschen durch Gott. Im Kern ist damit allerdings dasselbe gemeint, was Jung unter Bestimmung versteht.[12] Jeder Mensch ist dazu ins Leben gerufen, (sich) selbst zu werden und seine ursprünglich angelegte Persönlichkeit zu entfalten. Den unwiderstehlichen inneren Drang dazu, aufzubrechen und diesen Weg zu gehen, spüren allerdings wenige. Genauer gesagt handelt es sich Jung zufolge bei den Berufenen um eine Minderheit.[13]

Man kann sich diese Bestimmung, wie schon erwähnt, also nicht aussuchen oder sich dafür entscheiden, geschweige denn, dass der Berufene diesen Weg gerne oder freiwillig gehen würde. „Ebenso sehr, wie der Glaube, die intakte Gottesbeziehung, dem Menschen geschenkt und durch Gnade zuteil wird, wird ihm der Individuationsweg, der Weg auf seine Mitte, sein Selbst hin, auferlegt.“[14] Doch nur wer im Laufe der Zeit bewusst zur ihm entgegentretenden Bestimmung ja sagen kann, wird zur Persönlichkeit. Darin liegt das Erlösende und Befreiende jeder echten Persönlichkeit, dass „sie sich mit freiwilliger Entscheidung ihrer Bestimmung zum Opfer bringt“[15], das heißt, den Wunsch nach Kontrolle aufgibt und das Ich dem Unbekannten unterwirft.

2. Der Prozess des Bewusstwerdens

„Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ (Mt 10,39)

Der natürliche Individuationsweg verläuft zunächst unbewusst. Oftmals treffen Schicksalsschläge den Menschen und zerschlagen Träume, Wünsche, Ideale oder selbstgesteckte Ziele, um an deren Stelle vom Selbst erhobene Ziele zu setzen. Immer wieder werden dem Menschen Opfer abverlangt, die er nicht bereit ist zu erbringen und die oftmals keinen Sinn zu ergeben scheinen. Er fühlt sich vom Schicksal, respektive vom Selbst geknechtet, ohne sich der Form dieses Verhältnisses bewusst zu werden.

Dieser natürliche, unbewusst verlaufende Reifungsprozess kann durch einen aktiven, bewusst gestalteten ersetzt werden, den der Einzelne mit offenen Augen erlebt. Die Möglichkeit zur Umkehr, zur Bewusstwerdung seines Schicksals ergibt sich vor allem immer dann, wenn die Not am größten ist und einen neuen Schritt nach vorne verlangt.

Für die Bestimmung zur Individuation ist das dafür zur Verfügung stehende energetische Potential von Bedeutung. Jung nennt diese Lebensenergie Libido. Diese bedarf eines Wirkungsfeldes, das sich zunächst im Unbewussten eröffnet. Sie bemächtigt sich bestimmter unbewusster Inhalte, wodurch diese belebt werden und Einfluss auf das Individuum nehmen. Bei diesem Prozess handelt es sich um das Austragen einer paradoxen Situation, denn anders als im Unbewussten, in dem Gegensätze konfliktfrei nebeneinander existieren können, weil es als raum- und zeitloses System nicht der gerichteten Gesetzlichkeit untersteht, sind die Bewusstseinsinhalte immer mit einer bestimmten Wertigkeit ausgestattet.

Infolge eines Libidoüberschusses wird also bei der Bewusstwerdung – laut Jung – ein unbewusster Inhalt angeregt (affiziert), der mit einem bewussten Inhalt einer bestimmten Wertigkeit aufeinander trifft. Ist der unbewusste Inhalt unvereinbar mit der Wertigkeit des Bewusstseins, so entsteht eine Konfliktsituation. Da sich diese Inhalte der bewussten Kontrolle entziehen, ja sogar mit dem Bewusstsein unvereinbar sind, bildet das Individuum Abwehrreaktionen, Ersatzhandlungen und Symptome und entwickelt dadurch zunächst einen so genannten Komplex. Dieser ist also dann gegeben, „wenn unbewusste Inhalte affiziert werden und dem Bewusstsein zugeführt werden wollen.“[16] Während Freud die Komplexe ausschließlich vom Kranken her sah, bedeuten sie bei Jung durchaus nicht immer eine krankhafte Störung. Vielmehr sind sie normalerweise energetisch geladene Brennpunkte seelischen Lebens, die notwendig sind, um die seelische Aktivität lebendig zu halten.[17] Das Symptom ist der wahrnehmbare Ausdruck vor dem Hintergrund des Komplexes. Es ist sozusagen eine Kompensation, ein Kompromiss und ein Ersatz für das nicht gelebte oder nicht gewagte Leben, wodurch sich die Libido – die überschüssige Lebenskraft - äußert. Auch wenn Symptome und Komplexe von vornherein unangepasste Reaktionen und somit nicht angenehm sind, arrangieren sich viele Menschen mit diesen. Sie finden ihren Ausdruck in der Regel in gesellschaftlich anerkannten Möglichkeiten symptomatischer Handlungen wie eben die Flucht in die verschiedensten Süchte oder aber auch psychosomatisches Krankwerden.

Die Symptome übernehmen die Vertretung von unbewussten Inhalten im Bewusstsein und gestatten, den Forderungen des Selbst zu entschlüpfen.[18] Der Sinn des Symptoms ist dabei die Abführung überschüssiger Libido auf eine dem Bewusstsein genehme Weise.

Dem Berufenen, der mindestens ebenso sehr wie jeder andere mit Symptomen und Komplexen zu kämpfen hat, ist ein Verharren in diesen über längere Zeit nicht möglich. Er vermag sich nicht mit der Situation zu arrangieren, sondern fühlt sich mit der Zeit unfrei und in eine psychische Not gedrängt. Dadurch sieht er sich innerlich gezwungen, sich mit den Symptomen auseinanderzusetzen. Hierin äußert sich das Wesen der Individuation.[19] Der Berufene nimmt sich dieser Fehlhaltungen an und erweitert das Bewusstseinsfeld, indem er unbewusste Inhalte darin integriert. Tragischerweise können Komplexe, Jung zufolge, nie gelöst werden und bleiben immer mit dem Bewusstsein inkompatibel. Die Kunst liegt also darin, diesen zunächst unbewussten Inhalt zu integrieren und die Spannung auszuhalten, ohne dass dieser für das Bewusstsein bedrohlich wird.

Einerseits wird das Bewusstsein durch den größeren Umfang, in den es aufgenommen wurde, derart erweitert und gefestigt, dass es zunehmend imstande ist, einen unverträglichen Inhalt in sein System aufzunehmen und die dadurch entstehende Paradoxie zu ertragen. Andererseits muss in der Auseinandersetzung mit dem Symptom der dahinter liegende unbewusste Inhalt aufgedeckt werden. Dieser affizierte Inhalt ist völlig fremd und daher bedrohlich. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass sich das Bewusstsein dagegen wehrt, da seine Inhalte sich durch diese unbewussten Gegeninhalte zu Recht in ihrer Existenz bedroht fühlen.

Dieses Geschehen darf in seiner Bedeutung und Gefahr keineswegs unterschätzt werden. Für ein schwaches Bewusstsein sind die unbewussten Inhalte eine reale Bedrohung und können zu psychischen Störungen wie Psychosen oder Neurosen[20] führen. Die Synthese von bewussten und unbewussten Inhalten stellt eine Höchstleistung der seelischen Bemühung und der Konzentration psychischer Kräfte dar, wenn sie bewusst vollzogen wird. Die Synthese kann zwar unter Umständen auch unbewusst vorbereitet, in die Wege geleitet und bis zu einem gewissen Grade vollzogen werden. An einem bestimmten Punkt brechen die bis dahin unbewussten Inhalte dann aber spontan ins Bewusstsein durch und legen diesem die unter Umständen gewaltige Aufgabe auf, die eingebrochenen Inhalte zu assimilieren; mit dem Ziel, die Existenzmöglichkeiten beider Systeme, des Ichbewusstseins einerseits und des eingebrochenen Komplexes andererseits, zu wahren.[21] „Die Eröffnung des Unbewussten bedeutet den Ausbruch eines großen seelischen Leidens, denn es ist gerade so, wie wenn eine blühende Zivilisation dem Einbruch von Barbarenhorden preisgegeben, oder wie wenn fruchtbares Ackerland durch Zerstörung der Schutzdämme dem Wüten eines Wildbaches ausgeliefert würde.“[22]

Jung vergleicht diese Auseinandersetzung mit dem Jakobskampf am Jabbok (Gen 32, 24-32), bei dem Jakob des Nachts mit dem Engel kämpft. Bei Anbruch des Tages zieht Jakob, wenn auch gezeichnet durch einen Schlag in die Seite, als Gesegneter mit dem neuen Namen Israel (= Gottesstreiter) weiter. Jung sieht in diesem Kampf symbolisch den Prozess der Individuation dargestellt, bei dem Jakob psychologisch betrachtet für das Bewusste steht und der Engel für das Unbewusste. Jung bezeichnet diesen Kampf als „eine heroische oder tragische, d.h. eine schwerste Aufgabe“[23], die eine Passion des Ich bedeutet. Es handelt sich um ein Leiden des empirischen, gewöhnlichen Menschen, dem es zustößt, seiner Eigenwilligkeit beraubt und in einen größeren Umfang, der ihm bislang unbekannt war, aufgenommen zu werden. Das Ich leidet sozusagen an einer „Vergewaltigung durch das Selbst“[24]. Es steht dem Nichts gegenüber, das den Menschen nötigt, sich mit ihm auseinander zu setzen, bis es Gestalt und Form annimmt. Die Erschütterung ist so groß, dass das Bewusstsein zunächst seine Orientierung verliert und ein Großteil der Libido dafür verwendet wird, diese Spannung und Heimatlosigkeit aushalten zu können.

Es wird deutlich, dass das Bewusstwerden ein Prozess ist, der mit Konflikten, Desorientierung, Desintegration und Leiden verbunden ist. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen davor zurückschrecken, diesen Prozess einzugehen, aus Angst, durch die negativen Inhalte der anderen Seite ihrer Persönlichkeit die Kontrolle über sich zu verlieren.[25] „Wenn das Ich der inneren Stimme völlig unterliegt, dann wirken ihre Inhalte, wie wenn es ebensoviele Teufel wären, das heißt es folgt eine Katastrophe. Unterliegt das Ich aber nur zum Teil und kann es sich vor dem gänzlichen Verschlungenwerden retten, dann kann es die Stimme assimilieren, und dann stellt es sich heraus, dass das Böse nur ein böser Schein war, in Wirklichkeit aber ein Bringer des Heils und der Erleuchtung.“[26] Es ist, als wenn sich auf dem Höhepunkt der Krise das Zerstörerische in das Heilende umkehrte. Das Bewusstsein wird mit der Zeit durch Erschöpfung dazu gezwungen, Macht abzugeben und sich einem Größeren zu überlassen. Dabei überlässt es sich jedoch nicht dem Unbewussten, sondern einem Dritten. Dieses so genannte Dritte bildet nun als die neue Bewusstseinsstufe, welche die Integration des unbewussten, affizierten Inhaltes ermöglicht, gleichsam einen Boden auf dem Höhepunkt des Leidensweges. Er vermag die Paradoxie inkompatibler Inhalte aufzufangen und dem Leben ein neues Gesicht zu verleihen.[27] Dieses Dritte ist das Selbst, der Ort der Gottesbeziehung, die nicht fassbare Ganzheit, die Bewusstes und Unbewusstes, ja selbst Polaritäten und Gegensätzlichkeiten umgreift und damit für Jung die „psychische Realpräsenz des Christus“[28] darstellt.

Ist der Prozess, dessen Ausgang immer offen ist, positiv verlaufen, so hat sich das Bewusstsein erweitert und der Leidenszustand ist – auch wenn die Spannung zwischen Bewusstsein und Unbewussten nicht ganz aufgehoben ist – unbemerkt in einen (zumindest eine Zeit lang) ausgeglichenen, ruhigen Zustand übergegangen. Graf Dürckheim, der sich der Jungschen Psychologie verpflichtet weiß, beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: „Es sind Stunden, in denen wir an die Grenzen unserer menschlichen Macht und Weisheit gelangten, scheiterten, dann aber fähig waren, uns zu unterwerfen. Und im Augenblick des Loslassens und Eingehens des alten Ichs und seiner Welt verspürten wir in uns das Aufgehen einer anderen Wirklichkeit. So mancher hat es erfahren, wenn der Tod ganz nah war, in Bombennächten in schwerer Krankheit oder anderen Weisen drohender Vernichtung, wie gerade in dem Augenblick, in dem die Angst ihren Höhepunkt erreichte und die innere Abwehr zusammenbrach, wenn er sich jetzt unterwarf und die Situation annahm […] schlagartig ganz ruhig wurde, unversehens ohne Angst war und spürte, daß etwas in ihm lebendig ist, an das kein Tod und keine Vernichtung herankommt. […] Der Mensch weiß nicht, was es ist, aber er fühlt sich in einer anderen Kraft.“[29]

Die geheimnisvolle Kraft, die dies ermöglicht, wird von Jung als Gnade bezeichnet.[30]

3. Der Schatten

„Der «Mann ohne Schatten» ist […] der statistisch häufigste Menschentypus, welcher wähnt, nur das zu sein, das er selber von sich selber zu wissen beliebt. Leider bildet weder der sogenannte religiöse Mensch noch der unzweifelhaft wissenschaftlich eingestellte eine Ausnahme von der Regel.“[31]

3.1 Inhalt und Entstehung

Am Beginn der Individuation steht die Auseinandersetzung mit dem eigenen, persönlichen Schatten, die für die Entwicklung der Persönlichkeit von zentraler Bedeutung ist.[32] „Die Begegnung mit sich selbst bedeutet zunächst die Begegnung mit dem eigenen Schatten. Der Schatten ist allerdings ein Engpaß, ein schmales Tor, dessen peinliche Enge keinem, der in den tiefen Brunnen hinabsteigt, erspart bleibt.“[33] Jung erkennt im Schatten, den er mit dem persönlichen Unbewussten gleichsetzt, einen lebendigen Teil der Persönlichkeit, der in der psychischen Entwicklung nicht ausgetragen werden konnte und der nun in irgendeiner Form mitleben will. Der Schatten speist sich aus den Resten der nahen und fernen Vergangenheit, weshalb er nicht wie das bewusste Ich auf der Höhe des eigenen Zeitgeistes steht.[34] Näherhin handelt es sich um jenen gleichgeschlechtlichen Persönlichkeitsanteil[35], der in der Bewusstseinsentwicklung „vergessen, verkannt, unterdrückt und um seiner Unverträglichkeit willen ins Unbewußte verwiesen“[36] wurde. Da der Schatten das unbewusste Spiegelbild des gelebten Bewusstseins darstellt, kann er als alter ego bezeichnet werden. Er ist ein Teil des Selbst, das ich auch bin und zwar nicht auf der Bewusstseinsebene, sondern in der Welt der totalen psychischen Wirklichkeit, die sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste beinhaltet.

Jung versteht unter dem Schatten „den ‚negativen’ Teil der Persönlichkeit, nämlich die Summe der versteckten, unvorteilhaften Eigenschaften, der mangelhaft entwickelten Funktionen und Inhalte des persönlich Unbewußten.“[37] Der Schatten ist zum einen moralisch und geistig minderwertig und enthält alle Unwerte und Gegenwerte des Ich. D.h., in ihm sammelt sich das, was an der menschlichen Trägheit, Bosheit und Unzulänglichkeit teilhat, das, wogegen sich das Ich wehrt. „Alle Aussagen [C. G. Jungs; Anm. d. Verf.] über den persönlichen Schatten berücksichtigend, darf wohl gesagt werden, daß er vor allem dadurch charakterisiert ist, daß seine Inhalte […] ausgezeichnet sind durch Unvereinbarkeit mit der moralischen Instanz des Ich.“[38]

Des Weiteren gehört zum Schatten das nicht gelebte oder versäumte Leben im Sinne nicht genutzter Möglichkeiten bei der Entfaltung und Entwicklung der jeweiligen Persönlichkeit. Diese Möglichkeiten wurden entweder abgewehrt, aufgrund von bestimmten psychischen Strukturen nicht wahrgenommen oder unterschwellig ausgeblendet. Der Mensch vermag das in ihm angelegte Potential sowie die Ganzheit der Wirklichkeit jeweils nur bruchstückhaft und selektiv wahrzunehmen. Es lässt sich nicht vermeiden, dass einzelne Eigenschaften besser entwickelt und gefördert werden als andere. Welche aber gepflegt werden und welche nicht, hängt einerseits von der Weltanschauung der Eltern andererseits von weiteren Umständen des Umfeldes ab.[39]

Vorwiegend im Kindesalter übernimmt der Mensch zunächst unkritisch die Meinungen und Überzeugungen der Erziehungspersonen und des Kollektivs. Dazu gehören auch Be- und Verurteilungen bezüglich des eigenen Lebenswertes (vgl. Teil II.). Das Kind erhält sie als Werte übermittelt und internalisiert sie, wodurch sie zu eigenen Haltungen werden. All das, was nicht in das übermittelte und internalisierte Konzept zu passen scheint, wird abgewehrt und verdrängt, weil es eine Bedrohung des Weltbildes und damit einhergehend eine Verunsicherung der psychischen Stabilität darstellt. Mit anderen Worten: „Inkompatible psychische Inhalte werden vom Ich zurückgewiesen, umgedeutet oder nicht zur Kenntnis genommen, also aus dem Blickfeld der bewußten Persönlichkeit verdrängt.“[40] Dieses Verdrängte bildet nun den Inhalt des Schattens, der keinesfalls objektiv – d.h. allgemein anerkannt – moralisch schlecht sein muss. Entscheidend ist, dass es als solches erlebt wird! Deshalb spricht Jung hier von einem individuellen Schatten, der bei jedem Menschen variiert, der das eigentliche Gegenüber unseres persönlichen (bewussten) Ich darstellt und im Gleichschritt mit diesem wächst und sich verdichtet.[41]

Jungs Typenlehre verdeutlicht, dass der Schatten unter dem Aspekt des nicht gelebten Lebens durchaus positive Inhalte aufweist.[42] Die inferiore Einstellung und die Funktionen, die in der Entwicklung benachteiligt worden sind, sind dennoch keimhaft vorhanden und führen ein minderwertiges Schattendasein. Sie gehören dem an, was Jung als den Schatten definiert und verfügen über ein Libidopotential (Energiepotential), das dem der Lichtseite des Bewusstseins entspricht (im Sinne des Gegensatzes), mit dem sie immer wieder versuchen, aus ihrem schattenhaften Dasein herauszutreten. Da die Inhalte unbewusst sind, vermögen sie sich der Kontrolle des Bewusstseins zu entziehen, wenn sie aktiviert werden. Das macht ihre destruktive Kraft aus. Dem Schatten kommt dadurch eine Art „Querschlägerfunktion“[43] zu, die jedoch durchaus von fruchtbarer, positiver Art sein kann.

Die Auseinandersetzung mit dem Schatten ist entscheidend auf dem Weg zum Selbst. Damit entscheidet sich der weitere Verlauf des Prozesses der Individuation. Jung weist darauf hin, dass die Bearbeitung des Schattens nie abgeschlossen werden kann, sie somit eine Lebensaufgabe bleibt.[44]

3.2 Der Umgang mit dem persönlichen Schatten

3.2.1 Annahme des Schattens

Es war einmal ein Jüngling, der vom Vater in die weite Welt hinaus gesandt wurde, um etwas Rechtes zu lernen. Dreimal nacheinander kam er wieder nach Hause und gab auf die Frage des Vaters, was er denn gelernt habe das erste Mal zur Antwort: „Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen“, das zweite Mal: „Ich habe gelernt, was die Vögel sprechen“, das dritte Mal: „Ich habe gelernt, was die Frösche quaken.“ Daraufhin verstieß der Vater seinen Sohn im Zorn.

Dieser ging auf Wanderschaft und kam zu einer Burg, in der er übernachten wollte. Der Burgherr konnte ihm allerdings nur den Turm zur Verfügung stellen, in dem wilde bellende Hunde hausten, die schon manchen verschlungen hatten. Der Jüngling aber hatte keine Angst und wagte sich in den Turm hinein. Dort sprach er wohlwollend mit den bellenden Hunden, die ihm verrieten, dass sie nur deshalb so wild seien, weil sie verwunschen seien und einen großen Schatz hüteten. Sie kämen solange nicht zur Ruhe, bis dieser gehoben sei. Und sie zeigten ihm den Weg zum Schatz und halfen ihm dabei, ihn auszugraben. Der Burgherr ward darüber so erfreut, dass er den Jüngling an Sohnes statt annahm und alle in der Umgebung freuten sich, da das Bellen der Hunde von nun an nicht mehr gehört ward.[45]

Der Weg zum Selbst geht also über den Dialog mit den eigenen Leidenschaften, Problemen, Ängsten und Wunden, mit all dem, was der Verstand gerne ausblenden möchte und was Energie verschlingt, dadurch dass man es nicht annehmen kann. „Die Konfrontierung mit dem Schatten heißt […], sich seines eigenen Weges schonungslos kritisch bewusst zu werden.“[46] Die Entwicklung der Persönlichkeit gelingt nur dann, wenn der Schatten durchgearbeitet und integriert wird. „Dann werden sie [die Hunde; Anm. d. Verf.] dir sagen, daß sie, die Verstoßenen, Verachteten und Gefürchteten, nur darum so unruhig sich gebärden, weil sie als deine treuesten und besten Freunde deine Aufmerksamkeit auf den verborgenen Schatz lenken wollten, der im Grunde deiner Seele auf dich wartete und den zu heben deine Aufgabe ist. ‚Mensch, werde wesentlich!’, komme zu dir selbst, weg von der Oberfläche, hin zu der Tiefe, da der Goldschatz ruht – das ist der eigentliche Sinn aller ‚bellenden Hunde’, aller neurotischen Konflikte, Nöte und Katastrophen. […] Schon mancher hat dort Licht gefunden, wo er nur Dunkel wähnte.“[47]

Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem Minderwertigen in sich formulierte Johannes Tauler schon ca. 600 Jahre vor C. G. Jung in drastischen und zugleich tiefsinnigen Worten: „Das Pferd macht den Mist in dem Stall, und obgleich der Mist Unsauberkeit und üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld, und daraus wachsen der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, die niemals so wüchsen, wäre der Mist nicht da. Nun, dein Mist, das sind die eigenen Mängel, die du nicht beseitigen, nicht überwinden noch ablegen kannst, die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willens Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld, daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle, wonnigliche Frucht.“[48]

3.2.2 Verdrängung und Projektion

„Eine bloße Unterdrückung des Schattens ist ebenso wenig ein Heilmittel, wie Enthauptung gegen Kopfschmerzen.“[49]

Es ist notwendig, sich mit dem Schatten auseinanderzusetzen, da sich die verdrängten Inhalte ansonsten an anderen Orten ihren Weg bahnen und in den Weg stellen, und zwar keineswegs an unwesentlichen, sondern gerade an den empfindlichsten Stellen. Eine Verdrängung sperrt die Hunde in den Turm ein. Doch dabei muss man ständig in Angst leben, ob die Hunde nicht doch ausbrechen und einen verschlingen.

Wenn eine Minderwertigkeit ins Bewusstsein rückt, ergibt sich die Chance, sie zu korrigieren. Wird sie allerdings verdrängt und aus dem Bewusstsein isoliert, besteht nicht nur keine Möglichkeit, sie zu korrigieren, sondern darüber hinaus die Gefahr, dass in einem Augenblick der Unachtsamkeit das Verdrängte plötzlich ausbricht. Jedenfalls bildet es ein unbewusstes Hindernis, das alle gut gemeinten Versuche zum Scheitern bringt.[50]

„Wenn die Menschen aber dazu erzogen werden, die Schattenseiten ihrer Natur deutlich zu sehen, so ist zu hoffen, dass sie auf diesem Wege auch ihre Mitmenschen besser verstehen und lieben lernen. Eine Abnahme der Heuchelei und eine Zunahme der Selbsterkenntnis können nur gute Folgen haben für die Berücksichtigung des Nächsten; Denn nur allzuleicht ist man geneigt, die Unbilligkeit und Vergewaltigung, die man der eigenen Natur antut, auch auf die Mitmenschen zu übertragen.“[51]

Hier klingt ein weiteres Wirkungsfeld des Schattens an: die Projektion.

Die Projektion negativer Eigenschaften dürfte sehr verbreitet sein, denn während der Erziehung wurde uns immer wieder eingeschärft, dass ‚negativ’ soviel bedeutet wie ‚abzulehnen’. Anstatt uns also mit dem, was uns an uns selbst nicht gefällt anzufreunden, verdrängen und projizieren wir all das auf unser Umfeld. Jedoch: Die Vorwürfe, die der Vater dem Sohn im Märchen von den bellenden Hunden entgegenschleudert, sind letztlich nur Stücke aus der Biographie des Vaters. So weit, wie er die Motive seines Sohnes durchschaut bzw. zu durchschauen glaubt, wird seine eigene Motivation sichtbar, denn der Vater versteht seinen Sohn nur in Analogie zu seinen eigenen Erfahrungen. So z. Bsp., dass er es auf den Tod nicht ausstehen kann, dass der Sohn seine Zeit mit ‚Nutzlosem’ ‚vergeudet’. Ob die Vorwürfe nun passen oder nicht, sei dahingestellt. Am ehesten treffen sie allerdings dort zu, wo sie entspringen: im Ich des Vaters. In der Projektion verlegt er gewissermaßen Teile seiner Seele nach außen in seinen Sohn. Er findet sie in seinem Sohn oder auch in anderen Menschen und Dingen, mit denen er in einer affektiven Beziehung steht. Normalerweise ist diese Funktion völlig unbewusst und kann es auch bleiben, es sei denn, dass sich Konflikte einstellen. Dem Projektionsträger – wie in diesem Beispiel meist Objekt intensiver Liebe oder intensiven Hasses – wird die Schuld für Misslingen zur Last gelegt oder irgendeine Verfehlung bzw. eine Normüberschreitung vorgeworfen. Je heftiger dabei die Anklage ausfällt, desto größer ist der Anteil des beteiligten Schattens. Er wird ausgelagert und auf einen Menschen oder ein Objekt projiziert. Dies kann sich allerdings verheerend auf das menschliche Miteinander auswirken, denn in der Projektion kann man das Böse ohne Gefahr für sich selbst bekämpfen und auszurotten versuchen. „Die Beseitigung des Splitters im Auge des Bruders wird zur kläglichen Lebensaufgabe, weil sich damit am Balken im eigenen Auge vorbeisehen läßt.“[52] Man sucht sich Sündenböcke, um sich des eigenen Wertes sowie der eigenen moralischen Überlegenheit vergewissern zu können. Was jedoch verfolgt wird – und zwar vielfach bis aufs Blut – ist das auf den anderen projizierten Böse, Minderwertige und Schwache der Verfolger selbst.

Die Integration kann dadurch geschehen, dass im Übeltäter, den man im Gegenüber sieht, ein Aspekt der eigenen unbewussten Psyche erkannt wird, und zwar einer, der noch unterentwickelt ist und zur Entwicklung gelangen will. Bezogen auf das Märchen der bellenden Hunde bedeutet dies, dass der Vater, indem er seinem Sohn zürnt und diesen verjagt, auch einen Teil von sich nicht annehmen kann.

Es ist Teil des Menschseins, blinde Flecken zu haben, d.h. Tendenzen und Züge, die wir weit von uns weisen, die wir nicht akzeptieren wollen und deshalb auf die Umwelt verlagern. Dort werden sie mit aller Entrüstung und allem ach so gerechtem Zorn zu bekämpft – blind für die Tatsache, dass der Feind eigentlich im eigenen Lager sitzt. Dabei bedarf es für die Eingliederung dieser Tendenzen nicht mehr, als dass wir uns selbst ebenso gütig und verständnisvoll behandeln wie unsere Freunde oder Menschen, die uns am Herzen liegen. Wie Jung sehr treffend formuliert, „ist das Sich-selbst-annehmen der Inbegriff des moralischen Problems und der Kern einer ganzen Weltanschauung. […] Was ich dem Geringsten unter meinen Brüdern tue, das habe ich Christo getan. Wenn ich aber nun entdecken sollte, daß der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Frechste aller Beleidiger, ja der Feind selbst in mir ist, ja daß ich selbst des Almosens meiner Güte bedarf, daß ich mir selbst der zu liebende Feind bin, was dann? […] Nach außen verbergen wir es und leugnen es ab, diesem Geringsten in uns je begegnet zu sein. Und sollte Gott es selber sein, der in solch verächtlicher Gestalt an uns herantritt, so hätten wir ihn tausendmal verleugnet, noch ehe überhaupt ein Hahn gekräht hätte.“[53]

Wer, sei es auf dem Weg der Psychologie oder im geistlichen Leben, hinter seine eigenen Kulissen geblickt hat, „der muß gestehen, daß es das Allerschwierigste, ja das Unmögliche ist, sich selber in seinem erbärmlichen So-sein anzunehmen.“[54] Dies ist für Jung der Grund dafür, weshalb der Mensch in der Regel dazu neigt, das Nichtwissen um sich selbst und die geschäftige Bekümmerung um andere der Auseinandersetzung mit sich selbst vorzuziehen.[55]

Resümierend lässt sich festhalten: Diese dunkle Seite in uns kann, laut Jung, nicht wegdiskutiert, sondern höchstens ignoriert, verdrängt, isoliert und projiziert werden. Dadurch jedoch werden wir schuldig, da wir uns selbst ausweichen auf Kosten unserer Persönlichkeitsentwicklung, die „als Ziel das Aufgehobensein der Ich-Persönlichkeit im Selbst anstrebt.“[56] Die wesentliche ethische Aufgabe des Menschen ist es, den Drang der Natur zur Entwicklung zur psychischen Ganzheit zu unterstützen und nach Kräften voranzutreiben.[57]

Jung weist darauf hin, dass das Unbewusste dem Bewusstsein einen Streich spielen kann und dadurch eine echte Konfrontation mit dem Schatten doch nicht zustande kommt, selbst wenn der Einzelne dies will. Es kann vorkommen, dass man das Dunkle zwar sieht, sich aber im gleichen Augenblick sagt, dass es ja gar nicht so schlimm sei. Andererseits kann man es mit der Reue übertreiben, weil es schön ist, sich in den Affekten der Reue, Melancholie etc. zu wälzen. Diese Unehrlichkeit bewirkt, dass es zu keiner echten Konfrontation mit dem Schatten kommt. Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern es dem Menschen gegeben ist, willentlich diesen Prozess zu fördern. Sicherlich ist dies im Rahmen seiner individuellen Möglichkeiten gegeben. Letztlich ist Individuation aber Gnade.[58] Der Sinn und das Ziel dieses Bewusstwerdungsprozesses sind die Verwirklichung der ursprünglich angelegten Persönlichkeit mit all ihren Aspekten: Es ist die (Wieder-)Herstellung und Entfaltung der ursprünglich angelegten Ganzheit.

3.3 Gelungene Auseinandersetzung: Persönlichkeitsentfaltung hin zur Ganzheit

„Der wesentliche Zweck des opus psychologicum ist die Bewusstwerdung, d.h. zunächst die Bewusstmachung der bis dahin projizierten Inhalte. Die Bemühung führt allmählich zur Erkenntnis des anderen Menschen, sowohl wie zur Selbsterkenntnis und damit zur Unterscheidung zwischen dem, was einer wirklich ist, und dem, was in ihn projiziert wird, oder was er von sich aus selbst phantasiert.“[59]

Für den Mutigen, der vor seiner Schattenseite nicht zurückschreckt, ergibt sich die Chance zur eigenständigen Entwicklung. Seine Persönlichkeit reift, weil er den Kampf und die Anstrengung, ja, letztendlich die Wahrheit nicht scheut.[60] Der Destruktivität wird die Spitze gebrochen, weil der ‚Feind’ erkannt ist und sein Unwesen nicht mehr unbehelligt treiben kann. „Es zeigt sich nun, dass der Schatten nicht nur eine Querschlägerfunktion aufweist, sondern dass sich hinter dieser diejenige Funktion verbirgt, die gleichsam den Schlüssel zum Paradies enthält.“[61] Es vollzieht sich eine Wandlung: Die bellenden Hunde, die vom Bewusstsein die nötige Achtung erfahren, erhalten schließlich eine Erlöserfunktion und zeigen uns unseren Schatz, den der Verstand alleine nie finden kann. Hilfe kommt nun gerade von da, wo es das Bewusstsein am wenigsten erwartet hätte, ja von dort, wo ihm ehemals Angst und Schrecken erwuchsen. „Auch das Dunkle gehört zu meiner Ganzheit, und indem ich mir meines Schattens bewusst werde, erlange ich auch die Erinnerung wieder, daß ich ein Mensch bin wie alle anderen.“[62]

[...]


[1] Vgl. Jörg Müller, Heilung durch Versöhnung, S. 55-58.

[2] Im Rahmen dieser Arbeit werde ich vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit dem individuellen Schatten auf dem Weg der Individuation eingehen. Die spezifische Auseinandersetzung mit der Anima/ dem Animus werde ich dabei nicht explizit erörtern.

[3] C. G. Jung, Band 18/2, S. 773.

[4] Der vereinigende Aspekt der Individuation wird durch die Etymologie des Begriffes unterstützt: „Ich gebrauche den Ausdruck »Individuation« im Sinne jenes Prozesses, welcher ein psychologisches »Individuum«, d.h. eine gesonderte, unteilbare Einheit, ein Ganzes erzeugt.“ Ders., Band 9/1, S. 293.

[5] Ders., Band 7, S. 191.

[6] Ders., Band 16/2, S. 254. [Zitat im Original kursiv].

[7] Ders., Band 7, S. 192. [Hervorhebung im Original].

[8] Ebd., S. 192.

[9] Ebd., S. 192. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 191.

[10] Ders., Band 9/1, S.293. Bezüglich des Schattens hat das Ich die Aufgabe, diesen zu erkennen und zu integrieren. Vgl. Andrew Samuels, Wörterbuch, S.100-102.

[11] C. G. Jung, Band 8, S. 405.

[12] Ich werde die beiden Begriffe synonym verwenden.

[13] Diese Feststellung hat Jung wiederholt die Kritik eingebracht, seine Psychoanalyse sei nur für einen beschränkten Kreis der Analysanden bestimmt. Dem hält Andrew Samuels entgegen, dass sich der Individuationsprozess zwar leichter anhand dramatischer Beispiele demonstrieren lässt, aber häufig ganz unauffällig stattfindet. Die bewirkte Wandlung kann sowohl aus einem natürlichen Ereignis (zum Beispiel Geburt oder Tod) als auch gelegentlich aus einem Vorgang resultieren, der mit Hilfe einer spezifischen psychologischen Technik erzielt wird. Andrew Samuels, Wörterbuch, S. 108.

[14] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 61.

[15] C. G. Jung, Band 17, S. 204.

[16] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 11.

[17] Vgl. Irene Beck, Problem des Bösen, S. 32.

[18] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 12.

[19] Vgl. ebd., S. 12.

[20]Bei der Neurose bestehen zwei Tendenzen, die zueinander in striktem Gegensatz stehen, und von denen die eine unbewußt ist. “ Der Mensch steht also zwischen zwei konträren Positionen, wobei er sich nicht für eine der beiden entscheiden kann. C. G. Jung, Band 7, S .20. Zitat im Original kursiv.

[21] Vgl. ders., Band 8, S. 241.

[22] Ders., Band 11, S. 372.

[23] Ebd., S. 171.

[24] Vgl. ebd., S. 171.

[25] Weitere Gründe können u.a. sein: Bequemlichkeit, Trägheit, eine allgemeine Passivität, pathologisch überzogene Selbstgefälligkeit, oder das Unvermögen der sittlichen Person, sich selbst infrage stellen zu können. Vgl. Klaus Harre, Das Problem der Schuld, S. 44.

[26] C. G. Jung, Band 17, S. 209.

[27] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 15.

[28] Gerhard Wehr, C. G. Jung und das Christentum, S. 79.

[29] Karlfried Graf Dürckheim, Überweltliches Leben in der Welt, S. 20.

[30] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 16.

[31] C. G. Jung, Band 8, S. 239.

[32] Jung kennt neben dem persönlichen Schatten auch noch den kollektiven Schatten, der als die Schattenseite des archetypischen Seelenhintergrundes verstanden werden kann. Dieser archetypische Schatten wird synonym mit der Formulierung ‚das (machtvolle) Böse’ verwendet (siehe Exkurs). Vgl. Klaus Harre, Das Problem der Schuld, S. 33, Fußnote 48.

[33] C. G. Jung, Band 9/1, S. 31.

[34] Vgl. Toni Wolff, Studien zu C. G. Jungs Psychologie, S. 151f.

[35] Die Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht findet in der Integration der Anima (beim Mann) sowie mit dem Animus (bei der Frau) statt. Jeder Mensch – so meint Jung – hat in sich eine Anima und einen Animus, weibliche und männliche Seelenkräfte. Animus meint Tatkraft, Verstand, Wille, Ideale, Kreativität, aber auch im negativen Sinne Sturheit und Tyrannei. Anima steht für Mütterlichkeit, Zärtlichkeit, Beziehungsfähigkeit, Wachstum, das Bergende und Pflegende. Im negativen Sinn bezeichnet Anima das Verschlingende. Normalerweise projiziert der Mann in der ersten Lebenshälfte seine Anima auf die Frau und umgekehrt. Doch im Zuge der Individuation ist es notwendig, diese Projektion zurück zu nehmen und die gegengeschlechtlichen Anteile zu integrieren. Nur so wird der Mann zum ganzen Mann und die Frau zur ganzen Frau. Wenn der Mann seine Anima integriert hat, hat er es nicht mehr nötig, die Frau zu entwerten. Er achtet sie vielmehr und erfährt von ihr Inspiration. Die Frau, die ihren Animus in sich entfaltet, wird nicht mehr gegen den Mann kämpfen, sondern sich von ihm befruchten lassen. Eine gelungene Integration der Anima/des Animus führt zu einer ausgewogenen Entfaltung des eigenen Geschlechts, das die Anteile des anderen Geschlechts zu integrieren vermag. Jung bezeichnet die Auseinandersetzung mit dieser gegengeschlechtlichen psychischen Instanz als die schwierigere Stufe der Individuation, die auf die Auseinandersetzung mit dem Schatten folgt „Ist die Auseinandersetzung mit dem Schatten das Gesellenstück, so ist diejenige mit der Anima das Meisterstück.“ C. G. Jung, Band 9/1, S.38. Vgl. auch Anselm Grün, Ein ganzer Mensch sein, S. 18f.

[36] Vgl. Liliane Frey-Rohn, Von Freud zu Jung, S. 92f.

[37] Vgl. C. G. Jung, Band 7, S.71, Fußnote 5.

[38] Klaus Harre, Das Problem der Schuld, S. 34.

[39] Vgl. ders., Durchbruch zur Persönlichkeit, S. 100.

[40] Ders., Das Problem der Schuld, S. 35.

[41] Parallel dazu spricht Jung von einem kollektiven Schatten, der dann entsteht, wenn eine Gruppe, ein Staat etc. bestimmte Wirklichkeiten kollektiv ausblenden. Dies kann sehr gefährlich werden, wenn das Unbewusste bspw. auf andere Gesellschaftsschichten projiziert wird. Exemplarisch kann hier die Diskussion um die Euthanasie genannt werden. Eine Gesellschaft, die sich über Leistung und ein stetig wachsendes Bruttoinlandsprodukt definiert, hat Schwierigkeiten im Umgang mit alten Menschen, die in Bezug auf diese Ziele ‚nutzlos’ sind. Nicht am Umgang mit den Zielen, sondern vielmehr am Umgang mit Randgruppen und Minderheiten lässt sich somit – Jung zufolge – der Zustand einer Gruppe oder Gesellschaft erkennen.

[42] Jung unterscheidet in seiner Typenlehre zwischen Einstellungen und Funktionen. Einstellungen (Introversion und Extroversion) bezeichnen den Zugang zur Welt. Beim Introvertierten bewirkt nicht ein Objekt an sich eine Zuwendung, sondern das innere Getroffen-Werden, welches das Objekt auslöst. Dagegen ist der Extrovertierte fähig, sich ganz der Außenwelt hinzugeben. Er lebt so, dass das Objekt in seinem Bewusstsein eine größere Rolle spielt als seine subjektive Ansicht. Die Funktionen dagegen bezeichnen die Weise, wie dieser Zugang zur Welt erschlossen wird. Sie werden ebenso zweigeteilt und lassen sich in rationale und irrationale Funktionen scheiden. Irrational verwendet Jung nicht im Sinn von widervernünftig sondern eher das, was außervernünftig, d.h. mit dem Verstand nicht nachprüfbar ist. Als rationale Grundfunktionen gelten Denken und Fühlen. Denken ist das Wissen darum, was eine Sache ist, sowie deren Benennung und Verknüpfung mit anderen Sachen. Mit Fühlen meint Jung etwas anderes als Affekt oder Gefühl, nämlich, einen wertenden Standpunkt oder eine Perspektive gegenüber diesem Inhalt einzunehmen. Denken und Fühlen basieren auf dem, was gemeinhin mit Vernunft bezeichnet wird. Diesen beiden rationalen Grundfunktionen stehen zwei irrationale, die Intuition und die Empfindung gegenüber. „ Intuition sowohl wie Empfindung sind psychologische Funktionen, die ihre Vollkommenheit in der absoluten Wahrnehmung des überhaupt Geschehenden erreichen.“ C. G. Jung, Band 6, S. 483. Die Intuition richtet die Wahrnehmung nach Innen, die Empfindung richtet sie nach Außen. Der Intuitive empfängt Eindrücke aus der Innenwelt, wodurch diese bunter, interessanter und schillernder wird. Die Empfindung ist in erster Linie Sinnesempfindung, d.h. Perzeption (Reizaufnahme) vermittelst der Sinnesorgane. Jeder Mensch verfügt nun über eine dominante Einstellung, die sich im Laufe der Kindheit etabliert. Insofern diese Einstellung habituell ist und den Charakter des Individuums dadurch besonders prägt, spricht Jung von einem psychologischen Typus. Die Konstruktion dieser Systematik stellt eine Anwendung des Gegensatzkonzeptes dar, wobei es Jung nicht primär um den Gegensatz rational-irrational geht, sondern um den innerhalb der rationalen oder irrationalen Kategorie, also bspw. dem Gegensatz von Denken und Fühlen. Die Gefahr ist nun, dass die rezessive Einstellung und Funktion(en) in den Schatten treten und unterentwickelt bleiben. Vgl. ebd., S. 357-440. Vgl. auch Andrew Samuels, Wörterbuch, S. 224-226. und Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 30-33.

[43] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 33.

[44] C. A. Meier, Persönlichkeit, S. 132.

[45] Vgl. Wilhelm Laiblin, Märchen, S. 295-297.

[46] Jolande Jakobi, Die Psychologie von C. G. Jung, S. 171.

[47] Wilhelm Laiblin, Die Symbolik, S. 112.

[48] Johannes Tauler, Predigten I, S. 43f.

[49] C.G. Jung, Band 11, S. 83.

[50] Vgl. ebd., S. 83.

[51] Ders., Band 7, S. 28.

[52] Isidor Baumgartner, Pastoralpsychologie, S. 593.

[53] C. G. Jung, Band 11, S. 367.

[54] Ebd., S. 368.

[55] Vgl. ebd., S. 368.

[56] Klaus Harre, Das Problem der Schuld, S. 41.

[57] Vgl. C. G. Jung, Band 10. S. 510.

[58] Vgl. ebd., S. 42, Fußnote 74.

[59] Ders., Band 16, S. 280.

[60] Vgl. Jolande Jakobi, Die Psychologie von C. G. Jung, S. 91.

[61] Esther Rötlisberger, Individuation und Selbstwerdung, S. 14.

[62] C. G. Jung, Band 16, S. 64.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Macht Glaube frei?
Untertitel
Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C.G.Jungs
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Fakultät für Katholische Theologie)
Veranstaltung
Praktische Theologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
94
Katalognummer
V162030
ISBN (eBook)
9783640765997
ISBN (Buch)
9783640766338
Dateigröße
894 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Andreas Rieck studierte Katholische Theologie (Abschluss Diplom) an der Universität Tübingen und Fribourg (CH). Schwerpunkt seines Studiums ist die Verbindung von Theologie und Psychologie, insbesondere der Tiefenpsychologie von C.G.Jung.
Schlagworte
Gottesbilder, Individuation, persönlicher Schatten, Entwicklung, Karl Frielingsdorf, Dämonische Gottesbilder, Heilende Gottesbilder, Entwicklungspsychologie, Religion, Theologie, C.G.Jung, Gut und Böse, Henry Nouwen, Gott, Tiefenpsychologie, Unbewusstes, Leben, Freiheit, Wachstum, Gnade, Berufung, Bestimmung, Komplex, Symptom, Geliebt
Arbeit zitieren
Andreas Rieck (Autor:in), 2006, Macht Glaube frei?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162030

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Macht Glaube frei?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden