Heinrich Manns "Die kleine Stadt" - Ein Roman als "opera in musica"?


Magisterarbeit, 2007

91 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhalt

I. EINFÜHRUNG

II. FÄUSTE, KEHLEN, BEINE − DIE KLEINE STADT: EIN SCHAUSPIEL?
1. Als noch Langeweile und wenig Bewegung den Ort beherrscht: Ausgangssituation und szenisch-dramatische Grundlagen für ein kleines Welttheater
2. Ein komisches Spiel im komödiantischen Spieltrieb
2.1 Semantische Komödie und komische Katharsis
2.2 Ars comica - die Kunst der sprachkomischen Kombination und Variation

III. OPERA IN MUSICA: DIE KLEINE STADT ALS MUSIKALISCHES WERK?
1. Vivere d ’ aria e d ’ amore
2. Chorische Interaktionen
3. Vom adagio zum staccato

IV. SCHLUSSBEMERKUNG

LITERATURVERZEICHNIS

I. EINFÜHRUNG

Wohlverstanden habe ich ihn von jeher als den Urheber, nicht nur des leidenschaftlichsten Gesanges, auch des gehobenen Gefühles seiner Mitwelt empfunden. Es ist folgenreich, eine einzige ‚kleine Stadt’ singend zu machen: in meinem so benannten Roman tut es der Dirigent Enrico Dorlenghi. Der Maestro Puccini hat es für eine Welt getan.1

Giacomo Puccini ist bekannt als einer der bedeutendsten Komponisten in der Nachfolge Verdis, der es versteht, mit stimmungsvoller Atmosphäre, emotional ausdrucksstarken Arien und farbig vielfältigen Orchesterklängen einen großen Eindruck in der italienischen Oper zu hinterlassen. Durch neue Mittel gelingt es ihm, sich von romantisch-fantastischen Ansätzen zu distanzieren, einen für ihn stereotypen Stil zu finden und eine eigene Tonsprache zu schaffen: „Im Mittelpunkt seiner Opern steht immer die Gesangslinie, die er vor allen Dingen in den Frauenrollen edel und strahlend gestaltet.“2 Außerdem werden „Spannung und dichte Atmosphäre [ ] durch die Anwendung von Leit- und Erinnerungsmotiven erzielt.“3 Heinrich Mann verspürt für seine Musik eine große Faszination, die erstmals im November 1900 bei einer zufälligen Begegnung entflammt, und welche sich ihm als unvergessliches Datum einprägt:

Mir war nichts bewußt, als ich [...] auf der hinteren Plattform einer langsamen Pferdebahn von Florenz bergan nach Fiesole fuhr. Ich fuhr oder ging dort alle Tage, dieses Mal spielte am Weg ein Leierkasten [...], der mich mit dem Maestro Puccini bekannt machte. [...] Die wenigen Takte, die ein Wind mir zutrug, veranlaßten mich, von meinem Tram abzuspringen. Ich stand und ließ mich entzücken.4

Dieses Gefühl der Entzückung vermag nicht nur die Begeisterung für eine sinnlich geprägte Melodik auszulösen, sondern gleichermaßen die Inspiration für ein neues Romankonzept zu sein. Überträgt Puccini nach Ansicht Manns sowohl Leidenschaft als auch ein gehobenes Gefühl auf seine Mitwelt, scheint der deutsche Schriftsteller diese beiden Motive auf ein komprimiertes Wirkungsfeld zu projizieren: auf eine überschaubar italienische Gemeinschaft, die 1909 unter dem Titel Die kleine Stadt für seine Leserschaft zugänglich wird.

Mit folgenden Worten versucht Heinrich Mann in einem Brief an Fräulein Lucia Dora Frost die Wurzeln dieses Romans zu umschreiben: „Sie haben Recht: was ich aufsuchte in meiner ‚kleinen Stadt’, waren die Wirkungen des Enthusiasmus, war die ‚Steigerung an fremder Schönheit und Größe’, wie Sie sagen.“5 Dieses Vorhaben ist kaum besser umzusetzen als in einer „mittelmeerisch-sonnige[n] Szenerie“6, die für ein leichtes Leben bekannt ist und es erlaubt, emotionsreich Liebe, Leben und Leidenschaft nach außen zu tragen. „Dies italienische Volk bot sich mir für die Darstellung meiner Dinge an durch seine naive Empfindungsfreudigkeit und seine freie Geste“7 - eine Charakterisierung, die zeigt: Hier ist nicht die Rede vom „langen Umgang[] mit Florenz, einer Stadt der alten Tragik und des ewigen Wohlklanges“[8], wie es beispielsweise in der Künstlernovelle Pippo Spano9 der Fall ist. „Kreischtöne vom Balkon“10 oder „ein Geheul, Pfeifen und Gebrüll“ (155), das die Protagonisten der Kleinen Stadt oftmals in schiefen Lauten an den Tag legen, dürften einem Italienbild der „hysterischen Renaissance“11 nicht gerecht werden. Sie streben vielmehr nach libertin revolutionären Gemeinschaftsidealen, berücksichtigt man, dass während eines Kriegsgefechtes in Bezzecca „gleich bei [Apotheker und Wirt] der General Garibaldi selber stand“ (10).12 Nicht in Florenz ist ihre Niederlassung, sondern mit „hundert Figuren in einer Dekoration wie etwa die Bergstadt Palestrina; eine ganze Stadt in all ihrer Bewegtheit, mit Kämpfen, Liebe, Musik, dem Tod durch Leidenschaft, den versöhnten Gegnern aus Verständnis und Nachsicht: Das Leben Italiens, wie einer damals es sah.“13

Dieses Bild zeichnet sich nicht nur durch eindrucksvolle „Farben und Linien [aus], die [dort] Land und Kunst haben“14, sondern vor allem durch eine Gesellschaft, deren Form sich nach einem lebensbejahendem Miteinander gestaltet:

Früher brauchte ich in meinen Romanen ein empfindendes Einzelwesen [wie Malvolto aus Pippo Spano ], um es einer unzulänglichen Welt entgegenzusetzen. Zuletzt gefiel es mir, zum Träger meiner Empfindungsformen ein Volk zu machen, eine Gemeinschaft von Durchschnittsmenschen, woraus sie schwankend und in den Brechungen des Alltags hervorsteigen.15

Liegt die Besonderheit Puccinis Opern darin, dass ihre Gesangslinien sich mit edel und strahlend kreierten Frauenrollen auszeichnen, verbirgt sich Heinrich Manns Träger neuer Empfindungsformen komprimiert hinter ähnlicher Gestalt. Ihre nähere Betrachtung erscheint einleitend notwendig, um das südländische Gemeinschaftswesen herauszustellen, da es unmittelbar mit dem zentralen Sujet dieser Arbeit zusammenhängt. Es handelt sich um ein „prachtvolles Weib“ (20), das den Namen eines Landes der fremden Schönheit und Größe trägt: Italia, „eine schwarze, lachende Person“ (19), die „durch ihre kommunikativen Qualitäten lebendig und erotisch erscheint“16. Mit ihr nimmt Mann „Abschied von der Femme fragile, wie sie für seine Novellen des Jugendwerks typisch war“17. „Die derbe Schwarze“ (26) weist zwar sowohl mit ihrem exotisch wirkenden Erscheinungsbild als auch mit ihrer „kokett[en]“ (23) und verführerischen Art Merkmale einer Femme fatale auf. „[Diese] ist Ausdruck eines Krisenphänomens [...], handelt es sich bei [ihr] doch um Projektionen des Weiblichen eines in der Krise befindlichen männlichen (Selbst-) Bewußtseins“18, und „repräsentiert vielmehr einen toten Lustkörper“19. Doch indem Italia „lachte mit großen Zähnen“ (23), scheint sie die Männer mit Vitalität anstecken und nicht ihrem Leben ein Ende bereiten zu wollen. Sie übt weder eine sexuell vampirische Wirkung auf sie aus, wie dies üblicherweise tropische Kreolinnen in dekadenten Gefilden tun:

Alle Welt hat von diesen farbigen, für die Europäer geradezu todbringenden Frauen, von diesen bezaubernden Vampiren sprechen hören! Indem sie ihr Opfer durch furchtbare Verführungskünste trunken machen, saugen sie es bis auf den letzten Tropfen Geld und Blut aus und lassen ihm nach einem drastischen Ausdruck ihrer Heimat nur seine Tränen zu trinken und sein Herz zu verzehren übrig.20

Noch saugt sie Blut und Kraft aus einem überreflektiert lebensschwachen Künstlertypus, was Malvolto in Pippo Spano durch Gemma widerfährt:

Sie flatterte an der Mauer empor, sie haschte nach seiner Hand, ihre Füße suchten die Lücken zwischen den Steinen, und so gelangte sie hinauf bis zu seinen Küssen [...]. Gemma biß, stumm und wild, ihren Geliebten in den Hals [...]. Sie begehrte dorthin, sie ließ sich hinab und zog ihn hinein in ihr gewalttätiges Reich, zwischen Sträucher voll roter Blüten, die alle bluteten.21

Italia richtet ihre Verführungskünste vielmehr auf verschiedene Nutznießer, die, indem sie „krebsrot“ (72) vor Scham und Erregung werden, keineswegs Opfer sind: „Um sie für sich zu gewinnen, kitzelte sie [den Tabakhändler und Apotheker] mit den Augen und zur Sicherheit auch noch den Leutnant“ (72).22 Kommt sie in Berührung eines Vogelmotivs, entwickelt sie sich nicht zum vampirartigen Flattergeschöpf, das zum entscheidenden Biss ansetzt. Ihre Begegnung beschränkt sich auf harmlos friedfertige Tauben, die nur an blutloser Nahrung interessiert sind:

Italia kam näher; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, Hüften und Augen drehte sie hin und her und kaute dabei. Wie sie die Tauben sah, machte sie sich heran und hielt ihnen, zärtlich kreischend, die Handfläche mit Brot hin. Zugleich hob sie den Kopf, nach Beifall. (70)

Das Interesse liegt im Darbieten ihrer weiblich wohlgenährten Reize, um Anerkennung vom Stadtpublikum zu erhalten.23 Als „die Lustige“ (26) strahlt sie Sympathie und „gute Laune“24 aus. Sie entspricht weder dem schwachen, zerbrechlichen Bild einer Femme fragile noch der klassischen Rolle einer Femme fatale. Im „malerische[n] Kostüm“ (184) einer „Romagnolin“ (184) steht sie auch während der fiktiven Opernaufführung im Roman, in der Armen Tonietta, als einzelnes Sinnbild für eine gesamte Volksgemeinschaft Italiens und manifestiert durch ihre Wesenszüge einen neuen „Ort der Identitätsbildung“25, der sich gegen dekadente Krisenphänomene zu wehren scheint. Ihre „großen, neugierigen Tieraugen“ (259) gleichen denen einer „sphinx bon enfant“26, wie George Sand sie hat, die nicht nur „Trost und Segen der Natur in das alte Klosterzimmer“27 trägt, in dem der ausschweifend arbeitende Künstler Flaubert „eine Hygiene der Ungesundheit“28 pflegt und als „durch lange Unnatur Erschöpfter ringt“29, sondern die auch als Volkskind Betitelte ihre Interessen auf das Wohl der Bürgerwelt richtet. Hat Italia gleichermaßen Züge einer „warmblütige[n] Faunin“30, die mit ihren Augen - halb Mensch, halb Tier - eine Verbindung zum natürlichen Leben herstellt, bestätigt sich: Auch „[sie] hat eine volkstümliche Wirkung“31. Ihre erotische Sinnlichkeit, die „mit großen Fächerschlägen“ (178) begleitet wird, liefert für viele Bewohner den Anreiz, sich einem Netz von Begierden und Affären hinzugeben, und bestärkt Ariane Martin darin, für Die kleine Stadt „die Libido [als] Katalysator des Handelns und der Bewegung“32 zu sehen. Es scheint zutreffend, dass Erregbarkeit sie zu einer „Praxis der Demokratie“33 führt, zumal die Stadt „ältere Ursprünge als Rom [hatte]! [Denn:] Jahrhundertelang hatte ein Venustempel ihren Platz eingenommen“ (57).

Doch dass die Sopranistin Italia mit „ihrer dicken Kehlstimme“ (26) lacht und als „die größte Sängerin“ (184) betitelt wird, findet in ihrer Erotischen Politik wenig Beachtung. Damit verblasst ein Element, das für den neuen Ort der Identitätsbildung, sprich für eine temperamentvoll bewegte Gesellschaftsform, unverzichtbar und mindestens von ebenbürtiger Wichtigkeit ist: die Musik. Nicht ohne Grund findet Heinrich Mann „[d]ie Kunstform, die [ihren] Ansprüchen genügt, [...] in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts“34, und dies nicht allein, indem er die Figur des Maestro Dorlenghi mit Giacomo Puccini vergleicht. Erzielen dessen Opern Spannung und Dichte durch die Anwendung von Leit- und Erinnerungsmotiven, zeigen sich in der Kleinen Stadt neben Italias strahlender Natur auch Analogien, indem regelmäßig ein zitternder Fensterladen oder der Geist eines uralten Brabrà wiederkehrt, um als variierendes Gerüst durch die Romanhandlung zu führen. Zudem liefert ein „großer Cinquecentist“ (58), der seiner Heimatstadt eine Madonna überreicht, nicht nur einen die Venusstatue ergänzenden historischen Ursprung, sondern gleichermaßen musikalisch geprägte Wurzeln. Denn ein Künstler des Cinquecento verkörpert die „Kultur und Kunst des 16. Jahrhunderts in Italien“35, jene Zeit, in der die Anfänge des Humanismus und Opernbegriffes liegen.36 Äußert der Advokat: „Beachten Sie die Feinheit des Kolorits!“ (58), muss sich dies nicht ausschließlich „auf die aus der Renaissance stammende lokale Kunstproduktion“37 beschränken. Der Vorgang der Kolorierung existiert auch als musikwissenschaftlicher Terminus, der die Zerlegung „einzelne[r] Gerüsttöne oder Tonschritte in Gruppen von kleinen, schnelleren Noten“38 umfasst. Des weiteren wird die Figur der Madonna in musikalische Gefilde transportiert, indem die Stadtbewohner ihre Bezeichnung auf die singende „Primadonna assoluta, [dem] Fräulein Flora Garlinda“ (23), als auch auf die Sopranistin Italia übertragen.39

Wie Martin den zentralen Bezug zur Musik inhaltlich-thematisch auf die Alba-Nello- Novelle zu reduzieren, da das Liebespaar ästhetisch dem fiktiven Operntod der verlobten Hauptdarsteller Tonietta und Piero nacheifert und damit seine dekadente, vom Volk ausgegrenzte Geschichte vorprägt, scheint unzureichend. Ihr Verlauf demonstriert zwar „die Unmöglichkeit eines als Kunst inszenierten Lebens“40 und verabschiedet es, „indem [er] die tödliche Konsequenz eines sublimierten Ideals, wie es Alba verkörpert, gestaltet.“41 Die Wirkung, die die Aufführung der Armen Tonietta auf die Gesellschaft hat, betont jedoch eine weit bedeutendere Einflussnahme auf die ganze Stadt: „Mama Paradisi und ihre Töchter ließen Tränen fließen, und die Witwe Pastecaldi schluchzte kindlich“ (163); „[d]iese Musik macht, daß man den Kopf verliert und plaudert“ (162); „in diesen Klängen erweitert [die Bühne] sich mir zu einem Lande unendlicher Liebe. Ein ganzes Volk hält sich umschlungen und verbrüdert sich“ (170). Ein „erhitzte[r] Saal“ (173) zeigt, dass vor allem bewegte Melodien das Temperament einer südländischen Kultur zum Kochen bringen. Klaus Matthias, der sich vorwiegend mit dem semantischen Gehalt der Musikalität in Heinrich Manns Romanen auseinandersetzt, beruft sich dabei auf Nietzsche: „[Er] bringt seine Idealvorstellung auf die Formel ‚Il faut méditerraniser la musique’ [...] [und bezeichnet] den Süden ‚als eine große Schule der Genesung, im Geistigen und Sinnlichsten’.“42 Untrennbar mit dem Wesen einer italienischen Volkskultur verbunden unterliegt diese Arbeit nun davon ausgehend dem Versuch, Ariane Martins durch das Sinnbild Italias aufkeimenden Libido-Gedanken zu erweitern, indem das zweidimensionale Korrelat von Erotik und Politik aufgebrochen werden soll: Die Musik gilt es, als antreibende Kraft für demokratisierende Vorgänge und folglich als zentraler Urheber für die vom Schriftsteller gewünschte enthusiastische Wirkung des Romans herausstellen. Immerhin äußert die Figur des Maestro Enrico Dorlenghi, der Die kleine Stadt augenscheinlich singend macht, ein für die Handlung und Sprache ausschlaggebendes Postulat: „[U]nd aus den Glockentönen, die mir [ ] entgegenschweben, aus dem Gehämmer der Schmiede, aus allem wird Musik“ (125).

Welche Wirkung damit auf das Gesellschaftsleben erzielt wird, und inwieweit sie sich von Mann als folgenreich betiteln lässt, wird sich im Verlauf daraus begründen lassen, dass der Kapellmeister seine Äußerung nicht auf die im Roman aufgeführte italienische Oper Die Arme Tonietta bezieht. Sondern „aus allem“ meint die Aktionen, Sprechhandlungen, Geräusche und Gesten sämtlicher Dorfbewohner. Die kleine Stadt soll jedoch nicht von vorn herein als eine episch aufgeführte Oper aufgefasst werden, sondern sie ist unter dem Titel opera in musica zu untersuchen, der neutral auf musikalische Elemente im Text anspielt und gattungsspezifisch offen bleibt. Denn der italienische Begriff bedeutet in der deutschen Übersetzung nichts anderes als „musikalisches Werk“ und ist vergleichbar mit dem ursprünglichen, formal noch nicht festgelegten Opernbegriff:

Der Begriff Oper leitet sich ab aus dem italienischen Wort opera (Pl. Opere, »Werk«, zu lat. opus, Pl. opera). Man benutzte im 16. und frühen 17. Jh. den Begriff in diesem weiten Sinn völlig unspezifisch für verschiedene Formen von geschriebenen oder improvisierten Stücken [...]. In diesem weiten Sinn fungiert der Begriff opera auch für Werke, die mit begleitetem Gesang eine Handlung auf der Bühne darstellen.43

Spielen im Text Sujets aus dem Bereich der Oper zwar eine bedeutende Rolle, ermöglicht jedoch die im weiten Sinn aufzufassende Formulierung nicht nur eine Tagung in L ü beck. München 1973, S. 235-364, hier S. 288. Das italienische Temperament mit der Kunstform Musik zu verknüpfen, unternimmt bereits der Advokat mit seiner Äußerung in Bezug auf die Opernsänger: „Die Beständigkeit des Bürgers hat mich im Grunde immer gelangweilt; ich war zur Lebensweise des Künstlers geboren, ich, und jetzt entdecke ich mein Temperament“ (132).

stiltechnische Annäherung an die Musikalität im Text, die in der Forschung bisher relativ unberücksichtigt blieb: Wie manifestiert sie sich sprachlich? Wie wird Die kleine Stadt singend gemacht? Spiegelt sich darin eine eigene Tonsprache, wie sie bei Puccinis Opern und Italias leicht lebendiger Ausdrucksform vorzufinden ist? Sondern sie erlaubt in gleichem Maße die Einbeziehung erzähltheoretischer sowie dramatisch organisierter Phänomene. Denn im neutralen Blick einer opera in musica gilt es, „[d]ie Architektur dieses ganz musikalischen Buches“44, die Besonderheiten seines Stils ausfindig zu machen, „der mit allem Dagewesenen bricht, [...] was bisher Epik hieß“45.

II. FÄUSTE, KEHLEN, BEINE − DIE KLEINE STADT: EIN SCHAUSPIEL?

Was bis zur Romanveröffentlichung im Jahre 1909 Epik hieß, bedarf im Folgenden keiner expliziten Auflistung. Es soll vielmehr von den technischen Besonderheiten der Kleinen Stadt ausgegangen werden, die zu „lebenspritzender Gestaltung und berückender Bildhaftigkeit“46 führen. „Weil nun die formalen Strukturen von Literatur für den Romantiker Heinrich Mann im Einklang stehen mit den weltanschaulich- inhaltlichen, der intellektuellen Einsicht wie der emotionalen Wahrnehmung, wählt er seiner demokratischen Gesinnung entsprechend für Die kleine Stadt [...] die Gattung Roman. [...] [D]er soziale Romancier [hat damit] bewußt ein demokratisches Medium gewählt“47, um eine bestimmte Empfindungsform darzustellen. Doch diese zeichnet sich im Bergstädtchen Palestrina vor allem durch den expressiven Gefühlsausdruck der temperamentvoll agierenden Bewohner aus. Denn alle, die in die südländische Mentalität eingeweiht sind, wissen, „daß in Italien jede Handlung Schauspiel ist oder doch zumindest werden kann.“48 So lässt Maximilian Brand ein Jahr nach der Veröffentlichung die Assoziation zu einer dramatischen Organisiertheit des Romans entfachen, indem er in der Zeitschrift Die Schaub ü hne schreibt: „Wie Marionetten hüpfen sie, wie bunte große, kleine Puppen, auf diesem kleinen Welttheater, herum, plappern und zappeln aneinander vorbei.“49 Allein ein Figurennetz gestrickt aus schauspielgetränkten Fäden liefert Material genug, um die Epik Heinrich Manns als außergewöhnliche auszuzeichnen. Doch die Betrachtung dieser einzelnen Maschen soll vielmehr Grundlage dafür sein, ihr mit dem anschließenden Übergang in die Musikalität zur Krönung zu verhelfen.

1. Als noch Langeweile und wenig Bewegung den Ort beherrscht: Ausgangssituation und szenisch-dramatische Grundlagen für ein kleines Welttheater

Jedes Schauspiel benötigt für seine Aufführung einen Austragungsort: die Bühne. Spielen sich auf ihr verschiedene Situationen und Szenen ab, kommen die entsprechend abgestuften Wirkungsgrade vor allem dann zur Geltung, wenn sie durch spielerisch wechselnde Beleuchtungseffekte inszeniert werden. Zu Beginn des Romans bleibt zwar außer ein „Jawohl [...] nichts Tatsächliches mehr zu sagen“ (9): Sowohl das Warten auf die Post, die „wieder Verspätung“ (9) hat, birgt kein neues, sondern ein täglich sich wiederholendes Ereignis; als auch die Aussage „Alle wussten es, ließen sich aber gern zum zehntenmal dadurch aufbringen“ (17) spricht für eine abwechslungslose Regularität im Alltag, die durch unscheinbar wirkende Partikel wie „stets“ (9), „immer“ (11) oder „niemals“ (11) forciert wird und im Grunde kaum einer theatralisch dramatischen Umsetzung bedarf. Doch auch trotz des „regelmäßige[n] Lebens“ (120) verfügen die Dorfbewohner für ihr kleines Welttheater von Anfang an über einen „Schauplatz des Außerordentlichen“ (39):

[D]er Platz schlief [ ] in seiner weißen Sonne, winklig beleckt von den Schatten. Der des Palazzo Torroni, am Eingang des Corso, lief spitz hinüber zum Dom, und vor der buckligen Kirchenfront malten die beiden säulentragenden Löwen ihr schwarzes Abbild aufs Pflaster. Wildgezackt sprang der Schatten des Glockenturms bis an den Brunnen vor. Neben dem Turm aber wich das Dunkel zurück, tief in den Winkel, worin man das Haus des Kaufmannes Mancafede wusste. (11)

Der Platz Torroni entspricht mit seinem anthropomorph wirkenden Subjektstatus insofern einem Orts- und Handlungszentrum, als nahezu sämtliche volksträchtigen Augenblicke und Szenenabläufe des kleinen Städtchens sich auf ihm ereignen. Gegenüber dem intriganten Savezzo erscheint er gegen Ende sogar im richtenden Maß als „Schauplatz [s]einer Niederlage“ (402). Präsentiert er sich im wechselseitigen Spiel von Schatten und Licht, erinnert er an Beleuchtungsmechanismen für eine Theaterbühne, die diverses Bühneninventar wie Gebäude oder Statuen in den Vordergrund heben oder manch anderes wieder im Hintergrund verschwinden lassen. Entscheidende Akzente werden gesetzt. Und obwohl der Platz schläft, versetzen ihn das spitze Hinüberlaufen, das wildgezackte Springen sowie das Zurückweichen von Hell und Dunkel in Bewegung. Diese gilt in der Ausgangssituation noch als Mangelware, schließlich „muß [man] bei seinen ruhigen Gewohnheiten bleiben“ (41). Neben des Advokaten Morgengang, den er in siebenundzwanzig Jahren „nicht sechsmal versäumt“

(41) hat, vermögen sich ausschweifende, lebenslustige Beschäftigungen nur im Verborgenen hinter übermäßig fettreichem und rauschhaftem Genuss abzuspielen.50 Dass sie daher keineswegs natürlich, sondern vielmehr als eine auf dem Stadtschauplatz einstudierte Aktion erscheint, zeigt der erste Auftritt der Hühnerlucia, deren „Geschichte [genauso] alt war [wie die des schönen Weibes Nino] und [ ] alle, sogar der Reisende, sie kannten“ (10):

Ihre Stunde war da: schon klapperten ihre Holzschuhe in der Gasse neben dem Café. Mit ihrem Gegacker, das lauter war als das der Hennen, mit ihrer Nase, die schärfer war als die Hühnerschnäbel, flügelschlagend mit ihren langen Armen, scheuchte sie das Federvieh zum Brunnen und ließ es aus der Pfütze trinken. Die Kinder kreischten um sie her, die Alte in ihren bunten Lappen wie ein großes, mageres Huhn kopflos kreuz und quer flatterte. Ringsum gingen Fensterläden auf; an der Ecke schräg vor dem Café drängten über den Arkaden des Rathauses drei Beamte sich in eins der alten Pfeilerfenster; die dicke Mama Paradisi sah aus ihrem Hause herab; dahinten im Corso sogar streckte Rina, die kleine Magd des Tabakhändlers, den Kopf heraus [...]. Inzwischen schloß die Kleine ihr Fenster, Mama Paradisi das ihre; die Hühnerlucia und all ihr Lärm waren bis morgen dahin in die Gasse; und der Platz schlief weiter. (10-11)

Die Stunde, in der die Hühnerlucia ihren Auftritt hat, impliziert: Die von ihr entfachte Bewegung erhält trotz chaotischen Durcheinanders aufgrund eines lebendig lärmintensiven Geflatters, Gegackers, Kinderkreischens und Klappens der Fensterläden einen Beigeschmack der rituellen Regelmäßigkeit, da die Szene auf einen bestimmten Zeitraum des Tages begrenzt ist. Indem sie sich in der narrativen Sequenz des Romans als eine iterative Erzählung herausstellt, weil ihre einmalige Schilderung mehrere Fälle desselben Ereignisses zusammenfasst, erhält diese Wirkung ihre Verstärkung.51 Der Auftakt ihrer Aktion gleicht dem Antreiben eines Leierkastens, auf dessen Walze bestimmte Melodieverläufe notiert sind, die sich durch Kurbeln gleichmäßig abspielen lassen: Denn nach dem zeitmäßig pointierten Aufklappen der Fensterläden erscheinen die Bewegungsvorgänge klar festgelegt und auf bestimmte Rollen verteilt. Indem die Alte gackert, ihre Nase dem schärfsten aller Hühnerschnabel gleicht und ihre Arme wie Flügel schlagen, vollzieht sie ihren Auftritt als große, magere Leithenne und wird ihrem identitätsprägenden Namen täglich aufs Neue gerecht. Andere Protagonisten wirken des weiteren künstlich positioniert, indem sie an eine ähnliche Sequenz aus Heinrich Manns Roman In einer Familie erinnern, in der Dora und Wellkamp kurz vor einem Besuch der Wagnerschen Oper Tannh ä user stehen:

Die beiden hohen Figuren, die Dame ganz hell gekleidet, der Mann in schwarzem Gesellschaftsanzug, konnten, wie sie dort im Schatten neben einander standen, so daß für die Andern, im Licht Sitzenden die Konturen ihrer modernen Toiletten verschwammen, den Eindruck machen, als seien sie aus einem alten Gemälde hervorgetreten. Die dunkle Holztäfelung des Speisesaales bildete den charakteristischen Hintergrund.52

Wird das Paar neben einer malerisch sich abstufenden Schattierung und Linienführung mit einem vom Speisesaal stammenden Bilderrahmen ausstaffiert, stilisiert es sich zum künstlichen Gegenstand eines Gemäldes. Drängen sich demgegenüber drei Beamte unter den Rahmen eines alten Pfeilerfensters, das sich über den Konturen der Rathausarkaden abzeichnet, gleichen sie in Analogie dazu wie Statisten, die in der ihnen angewiesenen Stellung so lange verharren, bis die Fensterläden wieder geschlossen werden. Denn das ist das Signal dafür, dass die Hühnerlucia und all ihr Lärm bis morgen dahin sind, der Platz wieder weiterschläft und die Bewegung sich mit ihrem dramatisch-szenisch wirkenden Auftritt bis zum nächsten Tag verabschieden muss. Dass ihr Erscheinen im Bild der Lucia sich als eine theatralisch einstudierte Vorstellung greifen lässt, unterstreichen zudem Evaluierungen wie „Heute war sie gut“ (114) bzw. das qualitativ wechselnde Rollenspiel: „Man sah sie stehn und Flügel schlagen mit ihren langen Armen [...] und die Alte verrenkte umsonst ihr krummschnäbeliges, rotes kleines Gesicht, um lauter zu gackern als alle“ (114).

Geht aus ihren fuchtelnden Verrenkungen ein errötetes Antlitz hervor, vermag dies auf eine körperbeanspruchende Anstrengung zurückführen, lenkt aber gleichermaßen die Aufmerksamkeit auf eine dynamische Ausdrucksform, die für einen Schauspieler unverzichtbar ist: das Zusammenspiel von Mimik und Gestik. „Vor allem das Drama gehört - durch die Aufführung - zu den für Gesten vorrangig prädisponierten literarischen Gattungen.“53 Für die adäquate Vermittlung ihres italienischen Pathos bedienen sich die Stadtbewohner doch zunächst einer abwechslungsreichen Gesichterschau, um ihren rasch wechselnden Emotionscharakter treffend hervorzubringen: „Alle bekamen gekränkte Mienen“ (12) für den Ausdruck der Empörung über eine überflüssig gestellte Frage. „Sogleich bekamen alle lauschende Mienen“ (18), um das Knarren der ankommenden Postkutsche zu vernehmen und das Gefühl der Neugier zu veranschaulichen. Von einem „neidische[n]“ (10) Gesicht über eines „wie ein Hungernder“ (25) oder das „böse“ (26) wie von „Hexen“ (26) reicht eine sozialkritischen Schreibens eine immer noch spürbare Faszination an bestimmten Motiven und Verfahrensweisen dieser Zeit nachweisbar ist, steht der Aspekt in dieser Arbeit nicht zentral zur Diskussion. Dora und Wellkamp als künstliche Gemäldefiguren sollen ausschließlich eine statische Positionierung untermalen, die innerhalb eines theatralisch aufgeführten Rituals bestimmten kleinstädtischen Aktanten zugewiesen scheint.

Darstellungspalette bis zu „lauter achtungsvolle[n] Gesichter[n]“ (15). Jede Situation fordert eine entsprechende Veränderung der mimischen Züge, da jedes Antlitz fortwährend wechselt, je nach der Richtung, in welcher unser Seelenleben tätig ist, ob wir uns in einer gehobenen oder gedrückten Stimmung befinden, ob wir uns geistig anstrengen oder ruhen, ob angenehme oder widrige Sinneseindrücke uns beherrschen, ob wir einen Gegenstand scharf beobachten oder unsere Gedanken in die Ferne schweifen lassen, oder ob wir unseren Willen unserer Umgebung kundtun und die Handlungen anderer zu beeinflussen trachten.54

Den fortwährenden Wechsel im Mienenspiel begleiten pantomimische Ausführungen, die dem gewünschten Ausdruck zur Intensivierung verhelfen, da sie als „Mittel der Hervorhebung, der Akzentuierung, der Kursivierung oder Unterstreichung [...] von Inhalten“55 fungieren:

»Er war ein Löwe«, wiederholte der andere Alte, fuhr mit der Hand durch seinen riesenhaften Schnauzbart und sah alle von oben an. Plötzlich machte er sich klein und tat eine Gebärde, als streichelte er ein Kind. »Aber auch ein Engel war er [...].« (10)

Das „Tun“ einer Gebärde steht den mimischen Variationen der Dorfbewohner in nichts nach und drängt sich mit seiner emphatischen Benennung ins Rampenlicht der Aktion. Beherrscht noch Langeweile und Monotonie das alltägliche Kleinstadtgeschehen, so findet zumindest durch exponierten Körpereinsatz eine Form von Bewegung statt, was ihr Inszeniertsein erneut bestätigt. Üben sich die Stadtbewohner im Metier eines abwechslungsfördernden Schauspiels, erscheint die Bandbreite der Gesten groß: Mal rücken die Hände in eine „zusammengelegte“ (18) Position, mal changieren sie in eine „gerundete“ (18). Es wird ein „verächtliche[s] Achselzucken“ (14) ausgeführt, „sich den Finger auf die Lippen [gelegt]“ (16), „die ausgebreiteten Arme tobend über der Menge [geschwenkt]“ (21) oder „mit [ihnen] stürmisch über [den] Schultern [gerudert]“ (23). Sind Gesten oft gestellt oder gelegt sowie Aussagen gemacht oder getan - „»Jawohl«, machten Apotheker und Gemeindesekretär (9)“, „»Versteht sich«, machten die anderen“

(18) -, weicht der Ausdruck verschiedener Stimmungen, Eindrücke oder Empfindungen einer Figur der mechanischen Ausführung. Es heißt nicht: „Saverio rief überrascht“, sondern: Er „stellte die Hand an den Mund. »Herr Advokat!«“ (38). Eine narrative Vermittlung des Gefühls, mit der Begegnung nicht gerechnet zu haben, schwindet für die szenische Darstellung einer unnatürlichen Pose, die die Situation als gespielte entlarvt, sie aber gleichermaßen im unmittelbaren Leseerlebnis vor Augen führt und vergegenwärtigt.

Die „stumme Sprache des Antlitzes“56 sowie des Gebärdenspiels „sagt oft mehr als noch so eindringlich gesprochene Reden“57, weshalb „[d]er Advokat fuchtelte, bevor er sprechen konnte“ (13) und sein Bruder Galilelo dies mit der Aussage „Nun gut, man schweigt“ (64) bestätigt, um dabei theatralisch „stumm den Mund“ (64) zu verziehen. „Malandrini zwinkerte“ (40), anstatt eine Frage mündlich zu beantworten. Und auch der Maestro verzichtet auf Rede, denn „seine empörten Worte schienen ihm, noch bevor er sie aussprach, widerlegt durch das Lächeln [Floras]“ (118).

Ist die wortlose Ausdrucksform es, die „alle Völker verstehen und die doch in keiner Schule gelehrt wird und in keiner Grammatik zu finden ist, die das Kind ebenso versteht, wie der Sprachgelehrte“58, ermöglicht sie eine Verständigung sowohl mit „Fremden“ (9,22), „Reisende[n]“ (9,10) anderer Länder als auch mit komödiantischen „Wesen“ (19,22) aus der weiten Welt, die ihre Auftritte in für die italienischen Kleinbürger kultur- und sprachfremden europäischen Großstädten wie „Paris und London“ (81) haben. Noch findet der Advokat „es schwerer als in seinen Studentenerinnerungen, mit ihnen anzuknüpfen“ (20). Aber sein „lautloses Lachen“

(38) dürfte der Grundstein für einen kommunikativen Austausch mit den bühnenerprobten Opernsängern sein, da es sich vom wortlos agierenden Lächeln Floras kaum unterscheidet. „[Schielte] die Gruppe der Bürger zu den Komödianten hinüber“

(20), verspricht eine gemeinsame Verständigungsbasis die baldige Auflösung der zu Anfang positionierten Separation.

Hat Mimik syntaktisch oftmals Subjektstatus, um für die Figuren eine bestimmte Handlungsführung zu übernehmen - nicht der Apotheker selbst, sondern „[s]eine braunen Hundeaugen jubelten in der Erinnerung“ (10) -, und ist „[i]m Drama der Ort der Geste die sog[enannte] Regieanweisung [bzw.] [sind] Gesten [ ] hier Teil von Handlungsanweisungen“59, findet Brands Einschätzung der Kleinen Stadt als Theater, in dem man die Menschen wie Marionetten tanzen lässt, ihre Berechtigung - man beachte hierbei das Lächeln des Kapellmeisters „wie eine Puppe“ (75). Anstatt selbstbestimmt zu handeln, stellen sie auf dem für ein kleines theatrum mundi bereitgestellten Bühnenplatz Torroni eine ihnen zugeteilte Rolle zur Schau:

»Welttheater« meint deshalb hier nicht nur allgemein die szenische Darstellung eines Geschehens, dessen Figuren Welt und Menschheit repräsentieren, sondern darüber hinaus ein Spiel im Spiel, das von einem übergeordneten Rahmen her initiiert, beobachtet, gelenkt und beurteilt wird.60

Zappeln und hüpfen die italienischen Marionetten zwar nach Regeln göttlicher Spielleiter - „über ihren Köpfen schwebend Mars, Venus und Athene“ (277)61 - scheinen ihre Bewegungs- und Rollenzuweisungen jedoch fortdauernd von einem Vermittlungssystem der Bühne abzuhängen: „Das [...] wird bei der Theateraufführung [...] durch den Nebentext des literarischen Dramas [...] herausgefordert.“62 Verblose, auf die notwendigste Information beschränkte Formulierungen klammern oftmals erzähltechnisch dehnende, figuren-, handlungs- sowie ortsbeschreibende Ausführungen aus: „Ein Krach: mehrere Stühle waren umgeflogen“ (235). Was Korthals den „gewissen sprachlichen ‚Tick’ eines Erzählers“63 nennt, schwindet zeitweise für eine neutral regiesteuernde Textoberfläche. Gestik-, mimik- und situationsanweisende Ein- Wort-Partizipien wie „blinzelnd“ (21), „fuchtelnd“ (24) oder durch Kommata abgetrennte schauspielbezogene Bühneninstruktionen wie „ängstlich und zäh“ (21), „stimmlos vom Schelten“ (24) bekräftigen dieses telegrammstilistische Wie des darzustellenden Ausdrucks.

In entsprechenden Kostümen - „die Alte in ihren bunten Lappen“ (11), der Advokat in „seine[m] schwarzen Rock [...] mit rauhen, gelben Manschetten, die bis über die Korallenknöpfe herausfielen“ (15) - oszillieren die Stadtprotagonisten dabei zwischen der Rolle aktiv agierender Schauspieler und der eines Beifall spendenden Publikums: „Ein Halbkreis von Zuschauern folgte [Don Taddeos und des Advokaten] Bewegungen“

(68); man schrie sich ab und an ein beifallspendendes „Bravo“ (16) zu; „und ein Händeklatschen, irgendwo ausgebrochen, griff um sich, sprang über den Platz“ (27). Das Spiel im Spiel zeigt in einer ›theatralische[n] Doppelung‹ die gleichzeitige Anwesenheit von Spielern und Zuschauern als konstitutive Bedingung des Theaters [...]. [Sie] sind in diesem Zusammenwirken ebenso Produzenten wie Produkte des theatralen Ereignisses, Teil der Wirklichkeit und Abbild der Wirklichkeit.64

Das Volk konstituiert sich von Anbeginn des Romans als dramatis persona und verfügt mit Bühne, Kostümen, Mimik, Gestik und Rollenzuweisung im darstellenden, regieanweisenden Nebentextmodus über ein dramatisches Grundinventar. Worte wie „alle“ (10) oder „[m]an“ (15) fordern jedoch nicht ausschließlich eine gesellschaftliche Einheitspräsentation.65 Um in die Theateraufführung individuell wiederkehrende Erkennungsmerkmale zu streuen, werden bestimmten Auftritten neben kennzeichnenden Einzelnamen vor allem Eigenarten in der Körpersprache auferlegt: Savezzos linkes Auge beginnt immer wieder „auf seine pockennarbige Nase zu schielen“ (17); Alfos „einfältigste[s] Lächeln legt[] seine weißen Zähne frei“ (17), da er den „[S]chöne[n]“ (17) zu spielen hat. Und der Advokat zeigt sich entweder „schwänzelnd“ (9) oder macht „einen großen Kratzfuß“ (23). „Mit anderen Worten, das mit der Menschlichkeit gleichgesetzte Volk ist kein Brei, sondern eine körnige Masse, in der jedes Körnchen seine Eigenart behält und um seine Identität weiß.“66

Beherrscht die theatrale Ausgangssituation Langeweile mit wenig Fortschritt im kleinstädtischen Leben, inszenieren für das noch im festen Gefüge verharrende Welttheater exponierte Mimik, Gestik und iterativ szenisch erzählte Auftritte Bewegungsformen mechanischer Natur, die das Volk grundlegend dafür rüstet, bei der Ankunft der Operntruppe zumindest in den Startlöchern zu stehen für einen Wettlauf Richtung geistiges Ja des vom Advokaten mehrfach unternommenen Anfeuerungsversuchs „Wollen wir, ja oder nein, den Fortschritt?“ (18). Vorsicht gebührt jedoch jeglichen Übertreibungen in der schauspielerischen Körperarbeit: „Adäquatheit von Bewegung und Inhalt im Ausdruck wird gefordert, eine Anpassung der Gebärde ans Wort und des Wortes an die Gebärde.“67 Führen die Bewohner bereits im Auftakt der in fünf Akte gegliederten Handlung das Armrudern stürmisch und die Gestikulationen „mit Wucht“ (22) aus, ohne dabei Gewichtiges oder überhaupt nichts zu sagen, weist der geschehensdarstellend geprägte Roman auf eine mögliche Spezifizierung dramatischer Bauformen: auf den eines komisch komödiantisch organisierten Spieltriebs.

2. Ein komisches Spiel im komödiantischen Spieltrieb

2.1 Semantische Komödie und komische Katharsis

„Ich sehe das nun seit dreißig Jahren, und es bleibt immer komisch“ (114), äußert sich der Advokat während einer der iterativ wiederkehrenden Hühnerlucia-Passagen und scheint damit einen komödiantischen Spieltrieb zu bezeichnen, da Komik ein häufiges Phänomen dieser Darstellungsart ist:

Die Gattung Komödie verweist [ ] auf eine überhistorisch allgemeine Theorie des Komischen, die sie nicht narrativ vermittelt, sondern dramatisch unvermittelt aktualisiert, also in Form von sprachlich-gestischen Handelns.68

Dies resultiert aus dem Ansatz: „Der Ort des Komischen ist die Welt des Handelns [...]. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Theorie des Komischen zu einem Komplement der Theorie des Handelns.“69 Sind die pragmatisch mimischen und gestikulierenden Aktionen der Stadtbewohner an Übertreibungen gebunden und von Normgrenzen sprengender Qualität, erfüllen sie durch ihr nonverbales Verhalten eine Voraussetzung, situationskomisch zu sein. Denn ihr von der Regel abweichendes Auftreten ist an eine Kontrastsituation gebunden, die grundlegend ist, um Erheiterung zu stiften: Sie ist „eine Inkongruenz, etwas in sich Widersprüchliches, Gegensinniges, [die] als Ursache der komischen Wirkung angesehen wird“70. Ihr geht beim wahrnehmenden Beobachter eine sich anspannende, an der Norm ausgerichtete Erwartungshaltung voraus, die unerfüllt bleibt und sich in einer unerwarteten Umsetzung löst.

Hängt der empfundene Komikgrad zwar von der Beurteilung eines subjektiven Betrachterauges ab, weist die Hühnereintreiberin der Kleinen Stadt unbestreitbar die theoretische, in ihr exemplarisch veranlagte Ausgangskonstellation vor, um als erheiterungsauslösendes Objekt zu gelten: Obwohl der Name Lucia, ihre Bezeichnung als Alte sowie die Holzschuhe auf menschliche Attribute schließen lassen und daraufhin die Gestalt einer Frau erwartet wird, hüllen sich ihre Artikulation, Gebärde und eines ihrer Gesichtsorgane in den Mantel einer kontrastiven Tiermetaphorik, mit der nicht gerechnet wird. Das Überzogene ihres anormal wirkenden Auftretens unterstreichen nebenbei ausdruckssteigernde Komparativformen sowie fehlende Illusionsvermittler, da ohne die Subjunktion „als ob“ oder die Verwendung des Konjunktiv der Irrealität ihre Absurdität im Ist-Zustand als unmittelbar real empfunden wird und mit dem ausgeknipsten Licht des Scheins an Intensität gewinnt.

Insgesamt artikuliert sie sich nicht in Redegestalt, sondern sie gackert, und dies lauter als die für Hennen angemessene Intonation; sie flattert flügelschlagend, anstatt ihre zur Komödie und Komik zu veranschaulichen, da dieses Feld in den meisten Untersuchungen des Romans bisher nur begrenzt Erwähnung fand. Auf dieser Grundlage fußt dann im späteren Analyseverlauf der Begründungsversuch einer im Analogon dazu stehenden musikalischen Sparte.

Arme anthropomorph zu betätigen und forciert den für Menschen ungewöhnlichen Bewegungsapparat, indem sie es kopflos sowie kreuz und quer tut; ihre auf den Geruchssinn ausgerichtete Nase wird schließlich mit einem funktional oppositionellen, zur Nahrungsaufnahme dienenden Hühnerschnabel gleichgesetzt, der dieselbe herausstehende Form besitzt, den das menschliche Organ jedoch nach der Vermengung mit ihm darin übertrumpft, indem es nun polyphon schärfer zu riechen und ein schärferes Profil zu besitzen vermag.71 Die tierische Wortwahl und syntaktische Raffinessen betreten das Feld der Sprachkomik, deren technische Kniffe den Effekt der normabweichenden Übertreibung strategisch lenken. Im Dienst der praktischen Aufbereitung vermittelt vor allem sie dem wahrnehmenden (Leser-)Subjekt die erheiternde Wirkungsintensität, die von der alten Hühnerlucia ausgeht, und verdient deshalb im Anschluss an weitere semantisch-komische Werte in der Kleinen Stadt gesonderte Betrachtung.

Doch zunächst gilt es zu klären: Auf welche Weise erfolgt eine psychische Entspannung, nach der die kontrastiv tensionsgeladene Gestricktheit von Komik schreit? Beurteilt man ihre Gesetzmäßigkeiten nach der „Pragmatik spielerischen Handelns“72, liegt ihre Wirkung „eine[r] elementare[n] Affinität von Spiel und Heiterkeit [zugrunde], die sich äußert in der Körperreaktion des Lachens“73. Es befreit von der Spannung einer bezugslos gewordenen Erwartung:

Das Lachen angesichts des Komischen ist ein Akt der Befreiung, der komischen Katharsis. [...] Nachdem gelacht wurde, ist die Welt wieder ins Lot gebracht, die komische Verstrickung ist, indem sie im Lachen fallengelassen wurde, negiert.74

[...]


1 Heinrich Mann über Giacomo Puccini. Vgl. Sigrid Anger (Hg.): Heinrich Mann. 1871-1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Berlin/Weimar 1977, S. 113.

2 Harenberg Kulturf ü hrer. Oper. Hrsg. v. Meyers Lexikonverlag. Mannheim 2007, S. 455.

3 Ebd.

4 Anger: Heinrich Mann. 1871-1950, S. 114.

5 Heinrich Mann: Die kleine Stadt. Brief an Fr ä ulein Lucia Dora Frost. In: Die Zukunft. Berlin 18. Jg. Bd. 70. Nr. 21 vom 19. Februar 1910, S. 265-266, hier S. 265.

6 Ulrich Weisstein: Die kleine Stadt. In: Ders.: Heinrich Mann. Eine historisch-kritische Einf ü hrung in sein dichterisches Werk. Tübingen 1962, S. 96-110, hier S. 96.

7 Anger: Heinrich Mann. 1871-1950, S. 466.

8 Ebd., S. 546.

9 An gegebener Stelle werden Passagen, Sachverhalte oder Texteigentümlichkeiten aus Pippo Spano einfließen, da die Novelle mit einem dekadenten, über die Maße reflektierenden Tragödienschreiber Mario Malvolto einen weit auseinanderklaffenden Antagonismus zwischen Kunst und Leben exemplarisch zu demonstrieren vermag, als ideales Vergleichsmaterial entgegen einer die Synthese befürwortenden Volksgemeinschaft.

10 Heinrich Mann: Die kleine Stadt. Frankfurt am Main 2003, S. 131. Alle Seitenangaben, die im Text in Klammern folgen, beziehen sich auf diese Ausgabe.

11 Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918). In: Ders.: Das essayistische Werk. Bd. 4. Hrsg. v. Hans Bürgin. Frankfurt a. M./Hamburg 1968, S. 404.

12 „Garibaldi verkörpert wie kein anderer die italienische Nationalbewegung - das Risorgimento - als Volksbewegung“, indem er Italien im 19. Jahrhundert zur Einigung führte. Vgl. Friederike Hausmann: Garibaldi. Die Geschichte eines Abenteurers, der Italien zur Einheit verhalf. Berlin 1985, S. 7.

13 Anger: Heinrich Mann. 1871-1950, S. 546.

14 Ebd., S. 466.

15 Ebd.

16 Ariane Martin: Erotische Politik. Heinrich Manns erz ä hlerisches Fr ü hwerk. Würzburg 1993, S. 211.

17 Ebd., S. 15.

18 Carola Hilmes: Die Femme fatale: ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990, S. 75-76.

19 Ebd., S. 28.

20 Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München 1963, S. 138.

21 Heinrich Mann: K ü nstlernovellen. Pippo Spano. Schauspielerin. Die Branzilla. Stuttgart 1987, S. 31.

22 Wenn von einer Opferrolle gesprochen werden kann, dann in Verbindung mit dem Priester Don Taddeo, dem Italia aufgrund ihrer auch bei ihm wirkenden Verführungskünste als „das Weib von Babel“ (140) erscheint. Babel bzw. Babylon wurde im Alten Testament von den Propheten zum Sinnbild der lasterhaften, gottfeindlichen Stadt gemacht. Als sündhafter Ort des Verfalls kann er symbolisch für den Verlust des Priesters Beherrschung über seine Askese gewertet werden. Babel vermag auch „Wirrsal“ zu bedeuten - „denn dort hat der Herr die Sprache aller Welt verwirrt“ (Vgl. Genesis, 11, 9) - und verweist auf die Macht Italias, mit ihrem kitzelnden Blick den männlichen Stadtbewohnern jegliche Sinne zu rauben bzw. zu verwirren. Doch auch der Priester muss keines Todes bangen: Der „Hüter des Geistes [ist nur] dem Fleisch erlegen“ (315) und fühlt mit natürlichem Trieb einen Teil des weltlichen Lebens.

23 Denkt man an Italias Nachname „Molesin“ (22), unterstreicht er die Vorstellung eines prachtvollen Frauenkörpers mit üppigen Rundungen, die vor allem in südlichen Ländern zum Begriff der Weiblichkeit gehören: Das darin enthaltene feminine italienische Nomen mole steht für „enormes Ausmaß“ oder „enormer Umfang“ und veranschaulicht ihre Wohlgenährtheit, die oftmals eine Eigenschaft der Ausgeglichenheit mit einschließt: „Diese hier [...] ist nicht leicht aufzureiben, sie ißt zu viele Makkaroni“ (72). Italienische Wortbedeutung vgl. Anton Reininger (Hg.): Langenscheidts Handw ö rterbuch Italienisch. Teil I. Italienisch-Deutsch. Berlin/München 1998, S. 539.

24 Martin: Erotische Politik, S. 210.

25 Ebd., S. 212.

26 Renate Werner: Heinrich Mann. Eine Freundschaft. Gustave Flaubert und George Sand. Text, Materialien, Kommentar. München 1976, S. 30.

27 Ebd.

28 Ebd., S. 17.

29 Ebd., S. 30.

30 Ebd.

31 Martin: Erotische Politik, S. 210.

32 Ebd., S. 209.

33 Ebd., S. 243.

34 Monika Hocker verweist in diesem Zusammenhang auf „die in dieser Zeit volkstümliche und bewußtseinsbildende Wirkung“ der italienischen Oper und „den Einfluß Verdis auf die Bewegung des Risorgimento “. Vgl. Monika Hocker: Spiel als Spiegel der Wirklichkeit. Die zentrale Bedeutung der Theaterauff ü hrungen in den Romanen Heinrich Manns. Bonn 1977, S. 109.

35 Die Bedeutung ist abzuleiten aus dem gleichlautenden italienischen Wort (mil) cinquecento, das nach den Jahreszahlen mit „(tausend) fünfhundert“ zu übersetzen ist. Vgl. Duden. Das gro ß e Fremdw ö rterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdw ö rter. 3., überarbeitete Auflage. Hg. v. Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim u.a. 2003, S. 266.

36 Das Genre der Oper entstand Ende des 16. Jahrhunderts in Italien im akademischen Gesprächskreis der Florentiner Camerata. Darin fanden Dichter, Musiker, Philosophen und Adlige als Humanisten zusammen und versuchten, das antike Drama wiederzubeleben, in dem auch Gesangssolisten, Chor und Orchester ihre Rolle hatten: „Niveau und Physiognomie der O[per] resultierten aus der Begegnung einer humanistisch-idealen Geisteshaltung, die sich in tätiger Rückbesinnung der Antike und des antiken Mythos annahm.“36 Vgl. Günther Massenkeil/Marc Honegger/Ralf Noltensmeier (Hg.): Das neue Lexikon der Musik. In vier Bänden. Dritter Band. Kum bis Reig. Stuttgart/Weimar 1996, S. 503. Wie bereits mit dem Beispiel der Venus angedeutet, sind auch in der Kleinen Stadt Rückgriffe auf antike Mythen, Institutionen und Funktionen nachzuweisen, die in den unterschiedlichen Kapiteln jeweils Erwähnung finden werden. Zur Bedeutung verfremdeter Kunstzitate bei Heinrich Mann vgl. Lea Ritter-Santini: Die Verfremdung des optischen Zitats. Anmerkungen zu Heinrich Manns Roman „ Die G ö ttinnen “. In: Dies.: Lesebilder. Essays zur europ ä ischen Literatur. Stuttgart 1978, S. 7-47.

37 Martin: Erotische Politik, S. 241.

38

„[V]on lat. colorare = färben, ausschmücken. [...] Durch die K[olorierung] werden [ ] Tonschritte verschiedener Intervallgröße melodisch ausgefüllt [...]. Die melodische Vorlage wird demzufolge [...] in eine neue Melodiegestalt umgebildet.“ Vgl. Massenkeil/Honegger/Noltensmeier: Das neue Lexikon der Musik. Zweiter Band. Exe bis Kul, S. 741-742. Inwieweit sich ein schneller werdendes Tempo im Romanverlauf bemerkbar macht, wird im späteren Verlauf der Arbeit aufgegriffen.

39 Flora Garlinda erhält von Alba den Madonnentitel: „Du sollst die Madonna nicht ansehen, ich bin eifersüchtig auf sie“ (306). Italia hingegen bekommt vom Priester diesen Status auferlegt: „Die Madonna! Ich darf der Madonna nicht mehr ins Gesicht sehen“ (315), um daraufhin nicht von „[i]hre[r] Stimme!“ (316) verfolgt zu werden: „Sie nahte, schwoll an, sie lachte wie der Dämon“ (316).

40 Martin: Erotische Politik, S. 143.

41 Ebd., S. 144.

42 Im Vergleich zur deutschen Musik fügt er hinzu, dass Nietzsche als Deutscher „[diese] als Geschmack und Gesundheit verderbend beiseite läßt“. Vgl. Klaus Matthias: Heinrich Mann und die Musik. In: Ders. (Hg.): Heinrich Mann 1871/1971. Bestandsaufnahme und Untersuchung. Ergebnisse der Heinrich-Mann-

43 Friedrich Blume (Begr.)/Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklop ä die der Musik. 20 Bände in zwei Teilen. Sachteil in acht Bänden. Sachteil 7. Mut-Que. Kassel u.a. 1997, S. 635.

44 Maximilian Brand: Heinrich Manns neuer Roman. In: Die Schaub ü hne. Berlin 6. Jg. Nr. 12 vom 24. März 1910, S. 310-312, hier S. 311.

45 Ebd.

46 Heinrich Mann: Briefe an Ludwig Ewers. 1889-1913. Hrsg. v. Ulrich Dietzel u. Rosemarie Eggert. Berlin/Weimar 1980, S. 477.

47 Martin: Erotische Politik, S. 181.

48 Weisstein: Die kleine Stadt, S. 105.

49 Brand: Heinrich Manns neuer Roman, S. 310. Allgemein gefasst lautet eine mögliche Umschreibung eines szenisch darstellenden theatrum mundi: „Vorstellung der Welt als eines Theaters, auf dem die Menschen (vor Gott) ihre Rollen spielen“, gemäß der philosophischen Auffassung als Marionetten. Vgl. Günther u. Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler-Literatur-Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 1990, S. 502.

50 Indizien, die das Verborgene aufdecken, sind die im Text aufgerufenen Krankheitsbilder, die im alltäglichen Auftreten für den Apotheker und Arzt keine Behandlungsausnahmen mehr sind. Dazu zählen: a) „Sodbrennen“ (13); es ist bekannt, dass der brennende Schmerz entweder durch zu fetthaltiges Essen entsteht oder durch zu hohen Alkoholkonsum, der in der Kleinen Stadt mit Wein oder Vermouth ständig präsent ist; er kann aber auch psychische Ursachen haben in Form von Frustrationsgefühlen wie Langeweile aufgrund zu „wenig Bewegung [...] am Ort“ (13); b) eine „dreitägige Indigestion“ (100) nach ausgiebigem Verzehr von Filet; c) „der Zucker“ (43), der vor allem bei der Leitfigur des Advokaten festzustellen ist.

51 Nach Genette entspricht die narrative Frequenz den „Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese“. Die iterative Erzählung ist eine Variante von insgesamt vier Typen und umfasst: „[E]in einziges Mal[ ] erzählen, was n-mal passiert.“ Durch eine „sylleptische Formulierung“ erhält das Ereignis der Hühnerlucia diesen Status: „Ihre Stunde war da“ impliziert, dass es täglich zu diesem Zeitpunkt eintritt. Im weiteren Romanverlauf reicht ein Stichwort wie „Kot der Hühner“ (84) oder eine Ankündigung durch „Die Hühnerlucia! [...] Da ist sie!“ (114), um das einmalig gedehnt erzählte Szenario ins Gedächtnis zu rufen und es dort erneut zu reproduzieren. Auf diese Weise wird nicht nur die Regelmäßigkeit des Ereignisses betont, sondern die alte Frau in bunten Lappen manifestiert sich als Leitmotiv, deren fliegenden und flatternden Eigenschaften - wie die Analyse noch zeigen wird - auch bei Auftritten anderer Identitäten eine Rolle spielt. Inwieweit und warum sich dabei eine Variation der Vogelmetaphorik vollzieht, wird sich allmählich herausstellen. Ansatzweise lässt sie sich mit der traditionellen Erzählform Genettes begründen. Spricht er von der „Wiederkehr desselben Ereignisses“, meint er damit „eine Reihe ähnlicher Ereignisse“, denn: „In Wirklichkeit ist ‚die Wiederholung’ ein Konstrukt des Geistes, der aus jedem Einzelfall alles Individuelle eliminiert.“ So wird auch bei der iterativ geschilderten Vogelpassage etwas Spezifisches sichtbar: Steht „sogar“ die Rina am Fenster, impliziert die Betonung eine Ausnahme innerhalb der Regel. Erzähltheoretische Zitate vgl. Abschnitt Singulativ/iterativ, 3. Kapitel Frequenz, aus: Gérard Genette: Die Erz ä hlung. München 1994, S. 81-91.

52 Heinrich Mann: In einer Familie. Frankfurt am Main 2000, S. 176-177. Als eines seiner Frühwerke gilt dieser Text mit seiner Darstellung von detailreichen Nuancen, Reizüberflutungen und hysterischen Seelenzuständen als geeigneter Gegenstand, um die dekadent geprägte Stimmung des Fin de Si è cle zu erfassen. Auch wenn in Heinrich Manns Die kleine Stadt trotz Akzentverschiebung in Richtung

53 Kai Luehrs-Kaiser: Exponiertheit als Kriterium von Gesten. In: Gestik. Figuren des K ö rpers in Text und Bild. Hrsg. v. Margreth Egidi u.a. Tübingen 2000, S. 43-52, hier S. 43.

54 Prof. Dr. Med. H. Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen. Stuttgart 1923, S. 3.

55 Luehrs-Kaiser: Exponiertheit als Kriterium von Gesten, S. 44.

56 Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen, S. 1.

57 Ebd.

58 Ebd.

59 Luehrs-Kaiser: Exponiertheit als Kriterium von Gesten, S. 44.

60 Günter Niggl: Formen des Welttheaters im modernen deutschen Drama. In: Franz Link/Günter Niggl (Hg.): Theatrum Mundi. G ö tter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 1981, S. 347-365, hier S. 347.

61 Mars: „der römische Gott des Krieges“; Venus: „italische Göttin, die für das Ackerland und die Gärten sorgte und [...] mit Aphrodite gleichgesetzt [wurde]; Athene: „Tochter des Zeus [...] [sowie] die Schutzgöttin des Krieges, der Weisheit und der Künste“. Vgl. Michael Grant/John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München 2004, S. 272, S. 420 und S. 79.

62 Holger Korthals: Zwischen Drama und Erz ä hlung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur. Berlin 2003, S. 108.

63 Ebd., S. 129. Im Unterschied dazu benennt Korthals auch das für dramatische Texte charakteristische Personenverzeichnis, dessen Namen konsequent vor die entsprechenden Satzanfänge platziert werden. In der Kleinen Stadt sind die Figuren zwar Bestandteil eines gattungsspezifisch nur aus einem Haupttext bestehenden Romans, doch entsteht durch die syntagmatisch reihende Auflistung der Namen mit ihrer Berufsbezeichnung ein vergleichbares Verzeichnis: „[d]er Advokat Belotti“ (9), „der Apotheker Acquistipace“ (9), „de[r] Gastwirt[] Malandrini“ (13), „der Kaufmann Mancafede“ (13), „de[r] Kutscher Masetti“ (21) etc. Im Grunde entsteht daraus ein „Register sozialer Typen“, in dem bereits durch die Nennung der Eigennamen „die einzelnen Figuren individuell charakterisiert [sind]“; vgl. Martin: Erotische Politik, S. 207. Der sprachliche „Tick“ eines Erzählers fällt im Übrigen gänzlich aus, wenn im Text jegliche Kommentierung wie „er sagte“ zwischen der Wechselrede ausfällt und nur noch das Redekriterium der Dialogizität besteht, welche sich im späteren Verlauf noch zeigen wird.

64 Bernhard Greiner: Die Kom ö die. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen. Tübingen 1992, S. 5.

65 Vgl. beispielsweise: „Alle Köpfe senkten sich“ (13); „Man lächelte“ (15).

66 Rolf N. Linn: Garibaldi, das Volk und Don Taddeo. Bemerkungen zu Heinrich Manns „ Die kleine Stadt “. In: Klaus Matthias (Hg.): Heinrich Mann 1871/1971. Bestandsaufnahme und Untersuchung. Ergebnisse der Heinrich-Mann-Tagung in L ü beck. München 1973, S. 111-123, hier S. 117.

67 Luehrs-Kaiser: Exponiertheit als Kriterium von Gesten, S. 44. Luehrs-Kaiser lehnt sich mit diesen Worten an eine bereits von Shakespeares im Sprachrohr Hamlets geäußerten Forderung.

68 Rainer Warning: Theorie der Kom ö die. Eine Skizze. In: Ralf Simon (Hg.): Theorie der Kom ö die - Poetik der Kom ö die. Bielefeld 2001, S. 31-46, hier S. 31-32. Es werden im Anschluss weder umfassende Theorien der Komödie noch deren polemisch diskutiertes Verhältnis zum Komischen erörtert. Dazu liegen bereits zahlreich divergierende Ansätze vor, die im Überblick gebenden Abriss den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit sollen vereinzelte, exemplarische Aspekte aus der Kleinen Stadt dazu dienen, nicht nur ein weiteres Kriterium für die dramatisch unmittelbare Gestricktheit des Romans zu benennen, sondern auch semantische sowie sprachliche Bezüge

69 Karlheinz Stierle: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Kom ö die. In: Ders.: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975, S. 56-97, hier S. 57.

70 Britta Krengel: Heinrich Manns „ Madame Legros “. Revolution und Komik. Frankfurt am Main 2001, S. 144. Krengel untersucht umfassend die Rolle der Komik im Drama nach allgemein wissenschaftlich fundierten Ansätzen, um sie anschließend auf Heinrich Manns Madame Legros anwenden zu können. In Bezug auf die Inkongruenz- und Kontrasttheorie deutet sie verschiedene Auslegungsvarianten an, bezeichnet diesen Ansatz aber generell als den übereinstimmend gemeinsamen Nenner der divergierenden Komikkonzepte.

71 Dieser Aspekt verbindet Komik mit der Gestalt des grotesken Leibes, denn: „Die Vermengung menschlicher und tierischer Züge ist tatsächlich eine der ältesten Formen der Groteske.“ Bachtin konnotiert damit alles, „was aus dem Körper herausragt oder herausstrebt, was die Grenzen des Leibes überschreiten will“. Wird die Bedeutung der Nase im zur Zeugung vorgesehenen Phallus gesehen, spielt dies auf Folgendes an: „Der groteske Leib ist ein werdender Leib. Er ist niemals fertig, niemals abgeschlossen [...] [und umfasst] deshalb jene Teile, jene Stellen, wo der Leib über sich hinauswächst, wo er seine Grenzen überschreitet, wo er einen neuen (zweiten) Leib zeugt.“ So veranschaulicht er den unaufhörlichen Prozess „des sich ewig erneuernden Lebens, das nie versiegende Gefäß von Tod und Zeugung“. Eine sprachliche „Groteskisierung“ der ineinanderfließenden Körperteile erfolgt durch das hier doppelt konnotierte Adjektiv „schärfer“, das sowohl die feinfühlig riechende Funktion der Nase impliziert als auch das scharfe, kantige Profil des Hühnerschnabels. Inwieweit eine Dialogizität im Sinne Bachtins in der Kleinen Stadt zum Tragen kommt, erfährt an späterer Stelle eine ausführlichere Schilderung. Zitate vgl. Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1985, S. 15-18.

72 Warning: Theorie der Kom ö die, S. 34.

73 Ebd.

74 Stierle: Komik der Handlung, S. 73.

Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Heinrich Manns "Die kleine Stadt" - Ein Roman als "opera in musica"?
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Note
1,8
Autor
Jahr
2007
Seiten
91
Katalognummer
V161736
ISBN (eBook)
9783640750733
ISBN (Buch)
9783640751372
Dateigröße
783 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich, Manns, Stadt, Roman
Arbeit zitieren
Sonja van Eys (Autor:in), 2007, Heinrich Manns "Die kleine Stadt" - Ein Roman als "opera in musica"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161736

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